Die »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« entstanden in den Jahren 1884-1897. Sie wurden zuerst im Sammelwerk »Kürschners Deutsche National-Literatur« veröffentlicht.
Kapitel
I. Einleitung
II. Die Entstehung der Metamorphosenlehre
III. Die Entstehung von Goethes Gedanken über die Bildung der Tiere
IV. Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes Schriften über organische Bildung
V. Abschluss über Goethes morphologische Anschauungen
VII. Über die Anordnung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes
VIII. Von der Kunst zur Wissenschaft
X. Wissen und Handeln im Lichte der goetheschen Denkweise
XI. Verhältnis der goetheschen Denkweise zu anderen Ansichten
XII. Goethe und die Mathematik
XIII. Das geologische Grundprinzip Goethes
XIV. Die meterologischen Vorstellungen Goethes
XV. Goethe und der naturwissenschaftliche Illusionismus
XVI. Goethe als Denker und Forscher
XVII. Goethe gegen den Atomismus
XVIII. Goethes Weltanschauung in seinen »Sprüchen in Prosa«
I. Einleitung
Am 18. August des Jahres 1787 schrieb Goethe von Italien aus an Knebel: »Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um etwas Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.« [WA 8, 250] [1]. In diesen Worten liegt der Gesichtspunkt, aus dem wir Goethes wissenschaftliche Arbeiten zu betrachten haben. Es handelt sich bei ihm nie um die Entdeckung neuer Tatsachen, sondern um das Eröffnen eines neuen Gesichtspunktes, um eine bestimmte Art die Natur anzusehen. Es ist wahr, daß Goethe eine Reihe großer Einzelentdeckungen gemacht hat, wie jene des Zwischenknochens und der Wirbeltheorie des Schädels in der Osteologie, der Identität aller Pflanzenorgane mit dem Stammblatte in der Botanik usf. Aber als belebende Seele aller dieser Einzelheiten haben wir eine großartige Naturanschauung zu betrachten, von der sie getragen werden, haben wir in der Lehre von den Organismen vor allem eine großartige, alles übrige in den Schatten stellende Entdeckung ins Auge zu fassen: die des Wesens des Organismus selbst. Jenes Prinzip, durch welches ein Organismus das ist, als das er sich darstellt, die Ursachen, als deren Folge uns die Äußerungen des Lebens erscheinen, und zwar alles, was wir in prinzipieller Hinsicht diesbezüglich zu fragen haben, hat er dargelegt. [2] Es ist dies vom Anfange an das Ziel alles seines Strebens in bezug auf die organischen Naturwissenschaften; bei Verfolgung desselben drängen sich ihm jene Einzelheiten wie von selbst auf. Er mußte sie finden, wenn er im weiteren Streben nicht gehindert sein wollte. Die Naturwissenschaft vor ihm, die das Wesen der Lebenserscheinungen nicht kannte und die Organismen einfach nach der Zusammensetzung aus Teilen, nach deren äußerlichen Merkmalen untersuchte, so wie man dieses bei unorganischen Dingen auch macht, mußte auf ihrem Wege oft den Einzelheiten eine falsche Deutung geben, sie in ein falsches Licht setzen. An den Einzelheiten als solchen kann man natürlich einen solchen Irrtum nicht bemerken. Das erkennen wir eben erst, wenn wir den Organismus verstehen, da die Einzelheiten für sich, abgesondert betrachtet, das Prinzip ihrer Erklärung nicht in sich tragen. Sie sind nur durch die Natur des Ganzen zu erklären, weil es das Ganze ist, das ihnen Wesen und Bedeutung gibt. Erst nachdem Goethe eben diese Natur des Ganzen enthüllt hatte, wurden ihm jene irrtümlichen Auslegungen sichtbar; sie waren mit seiner Theorie der Lebewesen nicht zu vereinigen, sie widersprachen derselben. Wollte er auf seinem Wege weiter gehen, so mußte er dergleichen Vorurteile wegschaffen. Dies war beim Zwischenknochen der Fall. Tatsachen, die nur dann von Wert und Interesse sind, wenn man eben jene Theorie besitzt, wie die Wirbelnatur der Schädelknochen, waren jener älteren Naturlehre unbekannt. Alle diese Hindernisse mußten durch Einzelerfahrungen aus dem Wege geräumt werden. So erscheinen uns denn die letzteren bei Goethe nie als Selbstzweck; sie müssen immer gemacht werden, um einen großen Gedanken, um jene zentrale Entdeckung zu bestätigen. Es ist nicht zu leugnen, daß Goethes Zeitgenossen früher oder später zu denselben Beobachtungen kamen, und daß heute vielleicht alle auch ohne Goethes Bestrebungen bekannt wären; aber noch viel weniger ist zu leugnen, daß seine große, die ganze organische Natur umspannende Entdeckung bis heute von keinem zweiten unabhängig von Goethe in gleich vortrefflicher Weise ausgesprochen worden ist [3], ja es fehlt uns bis heute an einer auch nur einigermaßen befriedigenden Würdigung derselben. Es erscheint im Grunde gleichgültig, ob Goethe eine Tatsache zuerst oder nur wiederentdeckt hat; sie gewinnt durch die Art, wie er sie seiner Naturanschauung einfügt, erst ihre wahre Bedeutung. Das ist es, was man bisher übersehen hat. Man hob jene besonderen Tatsachen zu sehr hervor und forderte dadurch zur Polemik auf. Wohl wies man oft auf Goethes Überzeugung von der Konsequenz der Natur hin, allein man beachtete nicht, daß damit nur ein ganz nebensächliches, wenig bedeutsames Charakteristikon der Goetheschen Anschauungen gegeben ist und daß es beispielsweise in bezug auf die Organik die Hauptsache ist, zu zeigen, welcher Natur das ist, welches jene Konsequenz bewahrt. Nennt man da den Typus, so hat man zu sagen, worinnen die Wesenheit des Typus im Sinne Goethes besteht.
Das Bedeutsame der Pflanzenmetamorphose liegt z. B. nicht in der Entdeckung der einzelnen Tatsache, daß Blatt, Kelch, Krone usw. identische Organe seien, sondern in dem großartigen gedanklichen Aufbau eines lebendigen Ganzen durcheinander wirkender Bildungsgesetze, welcher daraus hervorgeht und der die Einzelheiten, die einzelnen Stufen der Entwicklung, aus sich heraus bestimmt. Die Größe dieses Gedankens, den Goethe dann auch auf die Tierwelt auszudehnen suchte, geht einem nur dann auf, wenn man versucht, sich denselben im Geiste lebendig zu machen, wenn man es unternimmt ihn nachzudenken. Man wird dann gewahr, daß er die in die Idee übersetzte Natur der Pflanze selbst ist, die in unserem Geiste ebenso lebt wie im Objekte; man bemerkt auch, daß man sich einen Organismus bis in die kleinsten Teile hinein belebt, nicht als toten, abgeschlossenen Gegenstand, sondern als sich Entwickelndes, Werdendes, als die stetige Unruhe in sich selbst vorstellt. Indem wir nun im folgenden versuchen, alles hier Angedeutete eingehend darzulegen, wird sich uns zugleich das wahre Verhältnis der Goetheschen Naturanschauung zu jener unserer Zeit offenbaren, namentlich zur Entwicklungstheorie in moderner Gestalt.
[1] [Alle Stellen aus von Goethe verfaßten Briefen sind zitiert nach der sog. Weimarer Ausgabe (= WA) oder Sophien-Ausgabe von Goethes Werken, Abteilung IV: Briefe, 50 Bde., Weimar 1887-1912; die beiden Ziffern beziehen sich auf Band und Seitenzahl dieser Abteilung. – Hinzufügungen des Herausgebers sind in eckige Klammern gesetzt.]
[2] Wer ein solches Ziel von vornherein für unerreichbar erklärt, der wird zum Verständnis Goethescher Naturanschauungen nie kommen; wer dagegen vorurteilslos, diese Frage offenlassend, an das Studium derselben geht, der wird sie nach Beendigung desselben gewiß bejahend beantworten. Es könnten wohl manchem durch einige Bemerkungen Goethes selbst Bedenken aufsteigen, wie z. B. folgende ist: Wir hätten.. ohne Anmaßung, die ersten Triebfedern der Naturwirkungen entdecken zu wollen, auf Äußerung der Kräfte, durch welche die Pflanze ein und dasselbe Organ nach und nach umbildet, unsere Aufmerksamkeit gerichtet.² Allein solche Aussprüche richten sich bei Goethe nie gegen die prinzipielle Möglichkeit, die Wesenheit der Dinge zu erkennen, sondern er ist nur vorsichtig genug über die physikalisch-mechanischen Bedingungen, welche dem Organismus zugrunde liegen, nicht vorschnell abzuurteilen, da er wohl wußte, daß solche Fragen nur im Laufe der Zeit gelöst werden können.
[3] Damit wollen wir keineswegs sagen, Goethe sei in dieser Hinsicht überhaupt nie verstanden worden. Im Gegenteil: Wir nehmen in dieser Ausgabe selbst wiederholt Anlaß, auf eine Reihe von Männern hinzuweisen, die uns als Fortsetzer und Ausarbeiter Goethescher Ideen erscheinen. Namen wie Voigt, Nees von Esenbeck, d’Alton (der ältere und der jüngere), Schelver, C. G. Carus, Martius u. a. gehören in diese Reihe. Aber diese bauten eben auf der Grundlage der in den Goetheschen Schriften niedergelegten Anschauungen ihre Systeme auf, und man kann gerade von ihnen nicht sagen, daß sie auch ohne Goethe zu ihren Begriffen gelangt wären, wogegen allerdings Zeitgenossen des letzteren – z. B. Josephi von Göttingen – selbständig auf den Zwischenknochen, oder Oken auf die Wirbeltheorie gekommen sind.
II. Die Entstehung der Metamorphosenlehre
Wenn man der Entstehungsgeschichte von Goethes Gedanken über die Bildung der Organismen nachgeht, so kommt man nur allzuleicht in Zweifel über den Anteil, den man der Jugend des Dichters, d. h. der Zeit vor seinem Eintritte in Weimar zuzuschreiben hat. Goethe selbst dachte sehr gering von seinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen in dieser Zeit: »Von dem …, was eigentlich äußere Natur heißt, hatte ich keinen Begriff und von ihren sogenannten drei Reichen nicht die geringste Kenntnis.« (Siehe Goethes Naturwissenschaftliche Schriften in Kürschners Deutscher National-Literatur [4], 1. Band [S. 64]. [Im folgenden mit Natw. Schr. abgekürzt.]) Auf diese Äußerung gestützt, denkt man sich meistens den Beginn seines naturwissenschaftlichen Nachdenkens erst nach seiner Ankunft in Weimar. Dennoch erscheint es geboten, noch weiter zurückzugehen, wenn man nicht den ganzen Geist seiner Anschauungen unerklärt lassen will. Die belebende Gewalt, welche seine Studien in jene Richtung lenkte, die wir später darlegen wollen, zeigt sich schon in frühester Jugend.
Als Goethe an die Leipziger Hochschule kam, herrschte in den naturwissenschaftlichen Bestrebungen daselbst noch ganz jener Geist, der für einen großen Teil des achtzehnten Jahrhunderts charakteristisch ist und der die gesamte Wissenschaft in zwei Extreme auseinanderwarf, welche zu vereinigen man kein Bedürfnis fühlte. Auf der einen Seite stand die Philosophie Christian Wolffs (1679-1754), welche sich ganz in einem abstrakten Elemente bewegte; auf der anderen die einzelnen Wissenschaftszweige, welche in der äußerlichen Beschreibung unendlicher Einzelheiten sich verloren und denen jedes Bestreben mangelte, in der Welt ihrer Objekte ein höheres Prinzip aufzusuchen. Jene Philosophie konnte den Weg aus der Sphäre ihrer allgemeinen Begriffe in das Reich der unmittelbaren Wirklichkeit, des individuellen Daseins nicht finden. Da wurden die selbstverständlichsten Dinge mit aller Ausführlichkeit behandelt. Man erfuhr, daß das Ding ein Etwas sei, welches keinen Widerspruch in sich habe, daß es endliche und unendliche Substanzen gebe usw. Trat man aber mit diesen Allgemeinheiten an die Dinge selbst heran, um deren Wirken und Leben zu verstehen, so stand man völlig ratlos da; man konnte keine Anwendung jener Begriffe auf die Welt, in der wir leben und die wir verstehen wollen, machen. Die uns umgebenden Dinge selbst aber beschrieb man in ziemlich prinziploser Weise, rein nach dem Augenschein, nach ihren äußerlichen Merkmalen. Es standen sich hier eine Wissenschaft der Prinzipien, welcher der lebendige Gehalt, die liebevolle Vertiefung in die unmittelbare Wirklichkeit fehlte, und eine prinziplose Wissenschaft, welche des ideellen Gehaltes ermangelte, gegenüber ohne Vermittlung, jede für die andere unfruchtbar. Goethes gesunde Natur fand sich von beiden Einseitigkeiten in gleicher Weise abgestoßen [5] und im Widerstreite mit ihnen entwickelten sich bei ihm Vorstellungen, die ihn später zu jener fruchtbaren Naturauffassung führten, in welcher Idee und Erfahrung in allseitiger Durchdringung sich gegenseitig beleben und zu einem Ganzen werden.
Der Begriff, den jene Extreme am wenigsten erfassen konnten, entwickelte sich daher bei Goethe zuerst: der Begriff des Lebens. Ein lebendes Wesen stellt uns, wenn wir es seiner äußeren Erscheinung nach betrachten, eine Menge von Einzelheiten dar, die uns als dessen Glieder oder Organe erscheinen. Die Beschreibung dieser Glieder, ihrer Form, gegenseitigen Lage, Größe usw. nach, kann den Gegenstand weitläufigen Vortrages bilden, dem sich die zweite der von uns bezeichneten Richtungen hingab. Aber in dieser Weise kann man auch jede mechanische Zusammensetzung aus unorganischen Körpern beschreiben. Man vergaß völlig, daß bei dem Organismus vor allem festgehalten werden müsse, daß hier die äußere Erscheinung von einem inneren Prinzipe beherrscht wird, daß in jedem Organe das Ganze wirkt. Jene äußere Erscheinung, das räumliche Nebeneinander der Glieder kann auch nach der Zerstörung des Lebens betrachtet werden, denn sie dauert ja noch eine Zeitlang fort. Aber was wir an einem toten Organismus vor uns haben, ist in Wahrheit kein Organismus mehr. Es ist jenes Prinzip verschwunden, welches alle Einzelheiten durchdringt. Jener Betrachtung, welche das Leben zerstört, um das Leben zu erkennen, setzt Goethe frühzeitig die Möglichkeit und das Bedürfnis einer höheren entgegen. Wir sehen dies schon in einem Briefe aus der Straßburger Zeit vom 14. Juli 1770, wo er von einem Schmetterlinge spricht: »Das arme Tier zittert im Netz, streift sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ja unversehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück und bei der Gelegenheit, wie bei jeder andern, ein hauptsächliches Hauptstück: das Leben [WA 1, 238] Derselben Anschauung sind ja auch die Worte im »Faust« [1. Teil/Studierzimmer] entsprungen
»Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben;
Dann hat er die Teile in der Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.«
Bei dieser Negation einer Auffassung blieb aber Goethe, wie dies bei seiner Natur wohl vorauszusetzen ist, nicht stehen, sondern er suchte seine eigene immer mehr auszubilden, und wir erkennen in den Andeutungen, welche wir über sein Denken von 1769-1775 haben, gar oft schon die Keime für seine späteren Arbeiten. Er bildet sich hier die Idee eines Wesens aus, bei dem jeder Teil den andern belebt, bei dem ein Prinzip alle Einzelheiten durchdringt. Im »Faust« [1. Teil/Nacht] heißt es:
»Wie im Unding das Urding erquoll,
Lichtsmacht durch die Nacht scholl,
Durchdrang die Tiefen der Wesen all,
Daß aufkeimte Begehrungs-Schwall
Und die Elemente sich erschlossen,
Mit Hunger ineinander ergossen,
Alldurchdringend, alldurchdrungen.«
Dieses Wesen wird so gedacht, daß es in der Zeit steten Veränderungen unterworfen ist, daß aber in allen Stufen der Veränderungen sich immer nur ein Wesen offenbart, das sich als das Dauernde, Beständige im Wechsel behauptet. Im »Satyros« heißt es von jenem Urdinge weiter:
»Und auf und ab sich rollend ging
Das all und ein’ und ewig’ Ding,
Immer verändert, immer beständig!«
Man vergleiche damit, was Goethe im Jahre 1807 als Einleitung zu seiner Metamorphosenlehre schrieb: »Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.« (Natw. Schr., 1. Bd. [S. 8]) Diesem Schwankenden stellt er dort die Idee oder »ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes« als das Beständige entgegen. Man wird aus obiger Stelle aus »Satyros« deutlich genug erkennen, daß der Grund zu den morphologischen Gedanken schon in der Zeit vor dem Eintritte in Weimar gelegt wurde.
Das, was aber festgehalten werden muß, ist, daß jene Idee eines lebenden Wesens nicht gleich auf einen einzelnen Organismus angewendet, sondern daß das ganze Universum als ein solches Lebewesen vorgestellt wird. Hierzu ist freilich in den alchymistischen Arbeiten mit Fräulein von Klettenberg und in der Lektüre des Theophrastus Paracelsus nach seiner Rückkehr von Leipzig (1768/69) die Veranlassung zu suchen. Man suchte jenes das ganze Universum durchdringende Prinzip durch irgendeinen Versuch festzuhalten, es in einem Stoffe darzustellen. [6] Doch bildet diese ans Mystische streifende Art der Weltbetrachtung nur eine vorübergehende Episode in Goethes Entwicklung und weicht bald einer gesunderen und objektiveren Vorstellungsweise. Die Anschauung von dem ganzen Weltall als einem großen Organismus, wie wir sie oben in den Stellen aus »Faust« und »Satyros« angedeutet fanden, bleibt aber noch aufrecht bis in die Zeit um 1780, wie wir später aus dem Aufsatze »Die Natur« sehen werden. Sie tritt uns im »Faust« noch einmal entgegen, und zwar da, wo der Erdgeist als jenes den All-Organismus durchdringende Lebensprinzip dargestellt wird [1. Teil/Nacht]:
»In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben.«
Während sich so bestimmte Anschauungen in Goethes Geist entwickelten, kam ihm in Straßburg ein Buch in die Hand, welches eine Weltanschauung, die der seinigen gerade entgegengesetzt ist, zur Geltung bringen wollte. Es war Holbachs »Système de la nature«. [7] Hatte er bis dahin nur den Umstand zu tadeln gehabt, daß man das Lebendige wie eine mechanische Zusammenhäufung einzelner Dinge beschrieb, so konnte er in Holbach einen Philosophen kennenlernen, der das Lebendige wirklich für einen Mechanismus ansah. Was dort bloß aus einer Unfähigkeit, das Leben in seiner Wurzel zu erkennen, entsprang, das führte hier zu einem das Leben ertötenden Dogma. Goethe sagt darüber in »Dichtung und Wahrheit« (III. Teil, 11. Buch): »Eine Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als wir; denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben.« Goethe konnte darinnen nichts finden als »bewegte Materie« und im Gegensatze dazu bildeten sich seine Begriffe von Natur immer klarer aus. Wir finden sie im Zusammenhange dargestellt in seinem Aufsatz »Die Natur« [8], welcher um das Jahr 1780 geschrieben ist. Da in diesem Aufsatze alle Gedanken Goethes über die Natur, welche wir bis dahin nur zerstreut angedeutet finden, zusammengestellt sind, so gewinnt er eine besondere Bedeutung. Die Idee eines Wesens, welches in beständiger Veränderung begriffen ist und dabei doch immer identisch bleibt, tritt uns hier entgegen: »Alles ist neu und immer das Alte.« »Sie (die Natur) verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr,« aber »ihre Gesetze sind unwandelbar.« Wir werden später sehen, daß Goethe in der unendlichen Menge von Pflanzengestalten die eine Urpflanze sucht. Auch diesen Gedanken finden wir hier schon angedeutet: »Jedes ihrer (der Natur) Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles Eins aus.« Ja sogar die Stellung, welche er später Ausnahmefällen gegenüber einnahm, nämlich sie nicht einfach als Bildungsfehler anzusehen, sondern aus Naturgesetzen zu erklären, spricht sich hier schon ganz deutlich aus: »Auch das Unnatürlichste ist Natur« und »ihre Ausnahmen sind selten.« [9] Wir haben gesehen, daß Goethe sich schon vor seinem Eintritte in Weimar einen bestimmten Begriff von einem Organismus ausgebildet hatte. Denn wenngleich der erwähnte Aufsatz »Die Natur« erst lange nach demselben entstanden ist, so enthält er doch größtenteils frühere Anschauungen Goethes. Auf eine bestimmte Gattung von Naturobjekten, auf einzelne Wesen hatte er diesen Begriff noch nicht angewendet. Dazu bedurfte es der konkreten Welt der lebenden Wesen in unmittelbarer Wirklichkeit. Der durch den menschlichen Geist hindurchgegangene Abglanz der Natur War durchaus nicht das Element, welches Goethe anregen konnte. Die botanischen Gespräche bei Hofrat Ludwig in Leipzig blieben ebenso ohne tiefere Wirkung, wie die Tischgespräche mit den medizinischen Freunden in Straßburg. In bezug auf die wissenschaftlichen Studien erscheint uns der junge Goethe ganz als der die Frische ursprünglichen Anschauens der Natur entbehrende Faust, welcher seine Sehnsucht nach derselben mit den Worten ausspricht [1. Teil/Nacht]:
»Ach! könnt’ ich doch auf Bergeshöhn
In deinem (des Mondes) lieben Lichte gehn,
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben.«
Wie eine Erfüllung dieser Sehnsucht erscheint es uns, wenn ihm bei seinem Eintritte in Weimar gegönnt ist, »Stuben-und Stadtluft mit Land-, Wald- und Gartenatmosphäre zu vertauschen« (Natw. Schr., 1. Bd., S. 64).
Als die unmittelbare Anregung zum Studium der Pflanzen haben wir des Dichters Beschäftigung mit dem Pflanzen von Gewächsen in den ihm von dem Herzoge Karl August geschenkten Garten zu betrachten. Die Empfangnahme desselben von seiten Goethes erfolgte am 21. April 1776 und das von R. Keil herausgegebene »Tagebuch« meldet uns von nun an oft von Goethes Arbeiten in diesem Garten, die eines seiner Lieblingsgeschäfte werden. Ein weiteres Feld für Bestrebungen in dieser Richtung bot ihm der Thüringerwald, wo er Gelegenheit hatte, auch die niederen Organismen in ihren Lebenserscheinungen kennenzulernen. Es interessieren ihn besonders die Moose und Flechten. Am 31. Oktober 1777 bittet er Frau von Stein um Moose von allen Sorten und womöglich mit den Wurzeln und feucht, damit sie sich wieder fortpflanzen. Es muß uns höchst bedeutsam erscheinen, daß Goethe sich hier schon mit dieser tiefstehenden Organismenwelt beschäftigte und später die Gesetze der Pflanzenorganisation doch von den höheren Pflanzen ableitete. Wir haben dies in Erwägung dieses Umstandes nicht, wie viele tun, einer Unterschätzung der Bedeutung der weniger entwickelten Wesen, sondern vollbewußter Absicht zuzuschreiben.
Nun verläßt der Dichter das Reich der Pflanzen nicht mehr. Schon sehr früh mögen wohl Linnés Schriften vorgenommen worden sein. Wir erfahren von der Bekanntschaft mit denselben zuerst aus den Briefen an Frau von Stein im Jahre 1782.
Linnés Bestrebungen gingen dahin, eine systematische Übersichtlichkeit in die Kenntnis der Pflanzen zu bringen. Es sollte eine gewisse Reihenfolge gefunden werden, in der jeder Organismus an einer bestimmten Stelle steht, so daß man ihn jederzeit leicht auffinden könne, ja daß man überhaupt ein Mittel der Orientierung in der grenzenlosen Menge der Einzelheiten hätte. Zu diesem Zwecke mußten die Lebewesen nach Graden ihrer Verwandtschaft untersucht und diesen entsprechend in Gruppen zusammengestellt werden. Da es sich dabei vor allem darum handelte, jede Pflanze zu erkennen und ihren Platz im Systeme leicht aufzufinden, so mußte man insbesondere auf jene Merkmale Rücksicht nehmen, welche die Pflanzen voneinander unterscheiden. Um eine Verwechslung einer Pflanze mit einer anderen unmöglich zu machen, suchte man vorzüglich diese unterscheidenden Kennzeichen auf. Dabei wurden von Linné und seinen Schülern äußerliche Kennzeichen, Größe, Zahl und Stellung der einzelnen Organe als charakteristisch angesehen. Die Pflanzen waren auf diese Weise wohl in eine Reihe geordnet, aber so, wie man auch eine Anzahl unorganischer Körper hätte ordnen können: nach Merkmalen, welche dem Augenscheine, nicht der in neren Natur der Pflanze entnommen waren. Sie erschienen in einem äußerlichen Nebeneinander, ohne inneren, notwendigen Zusammenhang. Bei dem bedeutsamen Begriffe, den Goethe von der Natur eines Lebewesens hatte, konnte ihm diese Betrachtungsweise nicht genügen. Es war da nirgends nach dem Wesen der Pflanze geforscht. Goethe mußte sich die Frage vorlegen: Worin besteht dasjenige »Etwas«, welches ein bestimmtes Wesen der Natur zu einer Pflanze macht? Er mußte ferner anerkennen, daß dieses Etwas in allen Pflanzen in gleicher Weise vorkomme. Und doch war die unendliche Verschiedenheit der Einzelwesen da, welche erklärt sein wollte. Wie kommt es, daß jenes Eine sich in so mannigfaltigen Gestalten offenbart? Dies waren wohl die Fragen, welche Goethe beim Lesen der Linnéschen Schriften aufwarf, denn er sagt ja selbst von sich: »Das, was er – Linné – mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur Vereinigung anstreben«.
Ungefähr in dieselbe Zeit, wie die erste Bekanntschaft mit Linné, fällt auch die mit den botanischen Bestrebungen des Rousseau. Am 16. Juni 1782 schreibt Goethe an [Herzog] Karl August: »In Rousseaus Werken finden sich ganz allerliebste Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf das faßlichste und zierlichste einer Dame vorträgt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und eine Beilage zum Emil. Ich nehme daher den Anlaß, das schöne Reich der Blumen meinen schönen Freundinnen aufs neue zu empfehlen.« [WA 5, 347] Rousseaus Bestrebungen in der Pflanzenkunde mußten auf Goethe einen tiefen Eindruck machen. Das Hervorheben einer aus dem Wesen der Pflanzen hervorgehenden und ihm entsprechenden Nomenklatur, die Ursprünglichkeit des Beobachtens, das Betrachten der Pflanze um ihrer selbst willen, abgesehen von. allen Nützlichkeitsprinzipien, die uns bei Rousseau entgegentreten, alles das war ganz im Sinne Goethes. Beide hatten ja auch das gemeinsam, daß sie nicht durch ein speziell herangezogenes wissenschaftliches Bestreben, sondern durch allgemein menschliche Motive zum Studium der Pflanze gekommen waren. Dasselbe Interesse fesselte sie an denselben Gegenstand.
Die nächsten eingehenden Beobachtungen der Pflanzenwelt fallen in das Jahr 1784. Wilhelm Freiherr von Gleichen, genannt Rußwurm, hatte damals zwei Schriften herausgegeben, welche Untersuchungen zum Gegenstande hatten, die Goethe lebhaft interessierten: »Das Neueste aus dem Reiche der Pflanzen« (Nürnberg 1764) und »Auserlesene mikroskopische Entdeckungen bei Pflanzen, Blumen und Blüten, Insekten und anderen Merkwürdigkeiten« (Nürnberg 1777-81). Beide Schriften behandelten die Befruchtungsvorgänge an der Pflanze. Der Blütenstaub, die Staubfäden und Stempel wurden sorgfältig untersucht und die dabei stattfindenden Prozesse auf schön ausgeführten Tafeln dargestellt. Diese Untersuchungen machte nun Goethe nach. Am 12. Januar 1785 schreibt er an Frau von Stein: »Ein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des v. Gleichen, genannt Rußwurm, mit Frühlingsantritt nachzubeobachten und zu kontrollieren.« [WA 7, 8] In demselben Frühlinge wurde auch die Natur des Samens studiert, wie uns ein Brief an Knebel vom 2. April 1785 zeigt: »Die Materie vom Samen habe ich durchgedacht, soweit meine Erfahrungen reichen.« [WA 7, 36] Bei allen diesen Untersuchungen handelt es sich bei Goethe nicht um das Einzelne; das Ziel seiner Bestrebungen ist, das Wesen der Pflanze zu erforschen. Er meldet davon am 8. April 1785 an Merck, daß er in der Botanik »hübsche Entdeckungen und Kombinationen gemacht hat«. [WA 7, 41] Auch der Ausdruck Kombinationen beweist uns hier, daß er darauf ausgeht, denkend sich ein Bild der Vorgänge in der Pflanzenwelt zu entwerfen. Das Studium der Botanik näherte sich jetzt rasch einem bestimmten Ziele. Wir müssen dabei nun freilich daran denken, daß Goethe im Jahre 1784 den Zwischenknochen entdeckt hat, wovon wir unten ausdrücklich sprechen wollen und daß er damit dem Geheimnis, wie die Natur bei der Bildung organischer Wesen verfährt, um eine bedeutende Stufe nähergerückt war. Wir müssen ferner daran denken, daß der erste Teil von Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte« 1784 abgeschlossen wurde und daß Gespräche über Gegenstände der Natur zwischen Goethe und Herder damals sehr häufig waren. So berichtet Frau von Stein an Knebel am 1. Mai 1784: »Herders neue Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren … Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen ist, wird äußerst interessant.« [Zur deutschen Literatur und Geschichte, hrsg. von H. Düntzer, Bd. 1, Nürnberg 1857, S. 120.] Wir sehen daraus, welcher Art Goethes Interesse für die größten Fragen der Wissenschaft damals war. Es muß uns also jenes Nachdenken über die Natur der Pflanze und die Kombinationen, die er darüber im Frühling 1785 macht, ganz erklärlich erscheinen. Mitte April dieses Jahres geht er nach Belvedere eigens um seine Zweifel und Fragen zur Lösung zu bringen und am 15. Juni [1786!] macht er an Frau von Stein folgende Mitteilung: »Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich dir nicht ausdrücken, mein langes Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt ruckts auf einmal, und meine stille Freude ist unaussprechlich.« [WA 7, 229] Kurz vorher will er sogar eine kleine botanische Abhandlung für Knebel schreiben, um ihn für diese Wissenschaft zu gewinnen. [11] Die Botanik zieht ihn so an, daß seine Reise nach Karlsbad, die er am 20. Juni 1785 antritt, um den Sommer dort zuzubringen, zu einer botanischen Studienreise wird. Knebel begleitete ihn. In der Nähe von Jena treffen sie einen 17-jährigen Jüngling, [Friedrich Gottlieb] Dietrich, dessen Blechtrommel zeigte, daß er eben von einer botanischen Exkursion heimkehrt. Über diese interessante Reise erfahren wir näheres aus Goethes »Geschichte meines botanischen Studiums« und aus einigen Mitteilungen von [Ferdinand] Cohn [12] in Breslau, der dieselben einem Manuskripte Dietrichs entlehnen konnte. In Karlsbad bieten nun gar oft botanische Gespräche eine angenehme Unterhaltung. Nach Hause zurückgekehrt widmet Goethe sich mit großer Energie dem Studium der Botanik; er macht an der Hand von Linnés Philosophia [13] Beobachtungen über Pilze, Moose, Flechten und Algen, wie wir solches aus seinen Briefen an Frau von Stein ersehen. Erst jetzt, wo er bereits selbst vieles gedacht und beobachtet, wird ihm Linné nützlicher, er findet bei ihm Aufschluß über viele Einzelheiten, die ihm bei seinen Kombinationen vorwärts helfen. Am 9. November 1785 berichtet er an Frau von Stein: »Ich lese im Linné fort, denn ich muß wohl, ich habe kein ander Buch. Es ist die beste Art ein Buch gewiß zu lesen, die ich öfters praktizieren muß, besonders da ich nicht leicht ein Buch auslese. Dieses ist aber vorzüglich nicht zum Lesen, sondern zum Rekapitulieren gemacht und tut mir nun die trefflichsten Dienste, da ich über die meisten Punkte selbst gedacht habe.« [WA 7, 118] Während dieser Studien wurde ihm immer klarer, daß es doch nur eine Grundform sei, welche in der unendlichen Menge einzelner Pflanzenindividuen erscheint, es wurde ihm auch diese Grundform selbst immer anschaulicher, er erkannte ferner, daß in dieser Grundform die Fähigkeit unendlicher Abänderung liege, wodurch die Mannigfaltigkeit aus der Einheit erzeugt wird. Am 9. Juli 1786 schreibt er an Frau von Stein: »Es ist ein Gewahrwerden der … Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt.« [WA 7, 242] Nun handelte es sich vor allem darum, das Bleibende, Beständige, jene Urform, mit welcher die Natur gleichsam spielt, im einzelnen zu einem plastischen Bilde auszubilden. Dazu bedurfte es einer Gelegenheit, das wahrhaft Konstante, Dauernde in der Pflanzenform von dem Wechselnden, Unbeständigen zu trennen. Zu Beobachtungen dieser Art hatte Goethe noch ein zu kleines Gebiet durchforscht. Er mußte eine und dieselbe Pflanze unter verschiedenen Bedingungen und Einflüssen beobachten; denn nur dadurch fällt das Veränderliche so recht in die Augen. Bei Pflanzen verschiedener Art fällt es uns weniger auf. Dieses alles brachte die beglükkende Reise nach Italien, welche er am 3. September von Karlsbad aus angetreten hatte. Schon an der Flora der Alpen ward manche Beobachtung gemacht. Er fand hier nicht bloß neue von ihm noch nie gesehene Pflanzen, sondern auch solche, die er schon kannte, aber verändert. »Wenn in der tiefern Gegend Zweige und Stengel stärker und mastiger waren, die Augen näher aneinanderstanden und die Blätter breit waren, so wurden höher ins Gebirg hinauf Zweige und Stengel zarter, die Augen rückten auseinander, so daß von Knoten zu Knoten ein größerer Zwischenraum stattfand und die Blätter sich lanzenförmiger bildeten. Ich bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und überzeugte mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten wären. Auch am Walchensee bemerkte ich längere und schlankere Binsen als im Unterlande«. [14] Ähnliche Beobachtungen wiederholten sich. In Venedig am Meere entdeckt er verschiedene Pflanzen, welche ihm Eigenschaften zeigen, die ihnen nur das alte Salz des Sandbodens, mehr aber die salzige Luft geben konnte. Er fand da eine Pflanze, die ihm wie unser »unschuldiger Huflattich« erschien, »hier aber mit scharfen Waffen bewaffnet und das Blatt wie Leder, so auch die Samenkapseln, die Stiele, alles war mastig und fett.« [15] Da sah Goethe alle äußeren Merkmale der Pflanze, alles was an ihr dem Augenscheine angehört, unbeständig, wechselnd. Er zieht daraus den Schluß, daß also in diesen Eigenschaften das Wesen der Pflanze nicht liege, sondern tiefer gesucht werden müsse. Von ähnlichen Beobachtungen, wie hier Goethe, ging auch Darwin aus, als er seine Zweifel über die Konstanz der äußeren Gattungs- und Artformen zur Geltung brachte. Die Resultate aber, welche von den beiden gezogen werden, sind durchaus verschieden. Während Darwin in jenen Eigenschaften das Wesen des Organismus in der Tat für erschöpft hält und aus der Veränderlichkeit den Schluß zieht: Also gibt es nichts Konstantes im Leben der Pflanzen ,geht Goethe tiefer und zieht den Schluß: Wenn jene Eigenschaften nicht konstant sind, so muß das Konstante in einem anderen, welches jenen veränderlichen Äußerlichkeiten zugrunde liegt, gesucht werden. Dieses letztere auszubilden wird Goethes Ziel, während Darwins Bestrebungen dahin gehen, die Ursachen jener Veränderlichkeit im einzelnen zu erforschen und darzulegen. Beide Betrachtungsweisen sind notwendig und ergänzen einander. Man geht ganz fehl, wenn man Goethes Größe in der organischen Wissenschaft darinnen zu finden glaubt, daß man in ihm den bloßen Vorläufer Darwins sieht. Seine Betrachtungsweise ist eine viel breitere; sie umfaßt zwei Seiten: 1. Den Typus, d. i. die sich im Organismus offenbarende Gesetzlichkeit, das Tier-Sein im Tiere, das sich aus sich herausbildende Leben, das Kraft und Fähigkeit hat, sich durch die in ihm liegenden Möglichkeiten in mannigfaltigen, äußeren Gestalten (Arten, Gattungen) zu entwickeln. 2. Die Wechselwirkung des Organismus und der unorganischen Natur und der Organismen untereinander (Anpassung und Kampf ums Dasein). Nur die letztere Seite der Organik hat Darwin ausgebildet. Man kann also nicht sagen: Darwins Theorie sei die Ausbildung von Goethes Grundideen, sondern sie ist bloß die Ausbildung einer Seite der letzteren. Sie blickt nur auf jene Tatsachen, welche veranlassen, daß sich die Welt der Lebewesen in einer gewissen Weise entwickelt, nicht aber auf jenes »Etwas«, auf welches jene Tatsachen bestimmend einwirken. Wenn die eine Seite allein verfolgt wird, so kann sie auch durchaus nicht zu einer vollständigen Theorie der Organismen führen, sie muß wesentlich im Geiste Goethes verfolgt werden, sie muß durch die andere Seite von dessen Theorie ergänzt und vertieft werden. Ein einfacher Vergleich wird die Sache deutlicher machen. Man nehme ein Stück Blei, mache es durch Erhitzen flüssig und gieße es dann in kaltes Wasser. Das Blei hat zwei aufeinander folgende Stadien seines Zustandes durchgemacht; das erste wurde bewirkt durch die höhere, das zweite durch die niedrigere Temperatur. Wie sich die beiden Stadien gestalten, das hängt nun nicht allein von der Natur der Wärme, sondern ganz wesentlich auch von jener des Bleies ab. Ein anderer Körper würde, durch dieselben Medien gebracht, ganz andere Zustände zeigen. Auch die Organismen lassen sich von den sie umgebenden Medien beeinflussen, auch sie nehmen, durch letztere veranlaßt, verschiedene Zustände an und zwar durchaus ihrer Natur entsprechend, entsprechend jener Wesenheit, die sie zu Organismen macht. Und diese Wesenheit findet man in Goethes Ideen. Derjenige, der ausgerüstet mit dem Verständnisse dieser Wesenheit ist, der wird erst imstande sein zu begreifen, warum die Organismen auf bestimmte Veranlassungen gerade in einer solchen und keiner andern Weise antworten (reagieren). Ein solcher wird erst imstande sein, sich über die Veränderlichkeit der Erscheinungsformen der Organismen und die damit zusammenhängenden Gesetze der Anpassung und des Kampfes ums Dasein die richtigen Vorstellungen zu machen. [16]
Der Gedanke der Urpflanze bildet sich immer bestimmter, klarer in Goethes Geist aus. Im botanischen Garten zu Padua (Italienische Reise, 27. Sept. 1786), wo er unter einer ihm fremden Vegetation einhergeht, wird ihm der »Gedanke immer lebendiger, daß man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln könne«. Am 17. November 1786 schreibt er an Knebel: »So freut mich doch mein bißchen Botanik erst recht in diesen Landen, wo eine frohere, weniger unterbrochene Vegetation zu Hause ist. Ich habe schon recht artige, ins allgemeine gehende Bemerkungen gemacht, die auch dir in der Folge angenehm sein werden.« [WA 8, 58] Am 19. Februar 1787 (siehe Italienische Reise) schreibt er in Rom, daß er auf dem Wege sei, »neue schöne Verhältnisse zu entdecken, wie die Natur solch ein Ungeheures, das wie nichts aussieht, aus dem Einfachen das Mannigfaltigste entwickelt.« Am 25. März bittet er, Herdern zu sagen, daß er mit der Urpflanze bald zustande ist. Am 17. April (siehe Italienische Reise) schreibt er in Palermo von der Urpflanze die Worte nieder: »Eine solche muß es doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.« Er hat im Auge den Komplex von Bildungsgesetzen, welcher die Pflanze organisiert, sie zu dem macht, was sie ist und wodurch wir bei einem bestimmten Objekte der Natur zu dem Gedanken kommen: Dieses ist eine Pflanze -, das ist die Urpflanze. Als solche ist sie ein Ideelles, nur im Gedanken Festzuhaltendes; sie gewinnt aber Gestalt, sie gewinnt eine gewisse Form, Größe, Farbe, Zahl ihrer Organe usw. Diese äußere Gestalt ist nichts Festes, sondern sie kann unendliche Veränderungen erleiden, welche alle jenem Komplexe von Bildungsgesetzen gemäß sind, aus ihm mit Notwendigkeit: folgen. Hat man jene Bildungsgesetze, jenes Urbild der Pflanze erfaßt, so hat man das in der Idee festgehalten, was bei jedem einzelnen Pflanzenindividuum die Natur gleichsam zugrunde legt und woraus sie dasselbe als eine Folge ableitet und entstehen läßt. Ja man kann selbst jenem Gesetze gemäß Pflanzengestalten erfinden, welche aus dem Wesen der Pflanze mit Notwendigkeit folgen und existieren könnten, wenn die notwendigen Bedingungen dazu einträten. Goethe sucht so gleichsam das im Geiste nachzubilden, was die Natur bei der Bildung ihrer Wesen vollzieht. Er schreibt am 17. Mai 1787 [17] an Herder: »Ferner muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin und daß es das einfachste ist, was nur gedacht werden kann… Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.« Es tritt nun hier noch eine weitere Verschiedenheit der Goetheschen Auffassung von der Darwins hervor, namentlich, wenn man berücksichtigt, wie letztere gewöhnlich vertreten wird. [18] Diese nimmt an, daß die äußeren Einflüsse wie mechanische Ursachen auf die Natur eines Organismus einwirken und ihn dementsprechend verändern. Bei Goethe sind die einzelnen Veränderungen verschiedene Äußerungen des Urorganismus, der in sich selbst die Fähigkeit hat, mannigfache Gestalten anzunehmen und in einem bestimmten Falle jene annimmt, welche den ihn umgebenden Verhältnissen der Außenwelt am angemessensten ist. Diese äußeren Verhältnisse sind bloß Veranlassung, daß die inneren Gestaltungskräfte in einer besonderen Weise zur Erscheinung kommen. Diese letzteren allein sind das konstitutive Prinzip, das Schöpferische in der Pflanze. Daher nennt es Goethe am 6. September 1787 [19] auch ein hen kai pan (Ein und Alles) der Pflanzenwelt.
Wenn wir nun auf diese Urpflanze selbst eingehen, so ist darüber folgendes zu sagen. Das Lebendige ist ein in sich beschlossenes Ganze, welches seine Zustände aus sich selbst setzt. Sowohl im Nebeneinander der Glieder, wie in der zeitlichen Aufeinanderfolge der Zustände eines Lebewesens ist eine Wechselbeziehung vorhanden, welche nicht durch die sinnenfälligen Eigenschaften der Glieder bedingt erscheint, nicht durch mechanisch-kausales Bedingtsein des Späteren von dem Früheren, sondern welche von einem höheren über den Gliedern und Zuständen stehenden Prinzipe beherrscht wird. Es ist in der Natur des Ganzen bedingt, daß ein bestimmter Zustand als der erste, ein anderer als der letzte gesetzt wird; und auch die Aufeinanderfolge der mittleren ist in der Idee des Ganzen bestimmt; das Vorher ist von dem Nachher und umgekehrt abhängig; kurz, im lebendigen Organismus ist Entwicklung des einen aus dem andern, ein Übergang der Zustände ineinander, kein fertiges, abgeschlossenes Sein des Einzelnen, sondern stetes Werden. In der Pflanze tritt dieses Bedingtsein jedes einzelnen Gliedes durch das Ganze insofern auf, als alle Organe nach derselben Grundform gebaut sind. Am 17. Mai 1787 [20] schreibt Goethe diesen Gedanken an Herder mit den Worten: »Es war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ (der Pflanze), welches wir gewöhnlich als Blatt ansprechen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Rückwärts und vorwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man sich eins ohne das andere nicht denken darf.« Während beim Tiere jenes höhere Prinzip, das jedes Einzelne beherrscht, uns konkret entgegentritt als dasjenige, welches die Organe bewegt, seinen Bedürfnissen gemäß gebraucht usw., entbehrt die Pflanze noch eines solchen wirklichen Lebensprinzipes; bei ihr offenbart sich dasselbe erst in der unbestimmteren Weise, daß alle Organe nach demselben Bildungstypus gebaut sind, ja daß in jedem Teile der Möglichkeit nach die ganze Pflanze enthalten ist und durch günstige Umstände aus demselben auch hervorgebracht werden kann. Goethe wurde dieses besonders klar, als in Rom Rat Reiffenstein bei einem Spaziergange mit ihm hier und da einen Zweig abreißend behauptete, derselbe müsse in die Erde gesteckt, fortwachsen und sich zur ganzen Pflanze entwickeln. Die Pflanze ist also ein Wesen, welches in aufeinanderfolgenden Zeiträumen gewisse Organe entwickelt, welche alle sowohl untereinander, wie jedes einzelne mit dem Ganzen nach ein und derselben Idee gebaut sind. Jede Pflanze ist ein harmonisches Ganze von Pflanzen. [21], Als Goethe dieses klar vor Augen stand, handelte es sich für ihn nur noch um die Einzelbeobachtungen, die es ermöglichten, die verschiedenen Stadien der Entwicklung, welche die Pflanze aus sich heraus setzt, im besonderen darzulegen. Auch dazu war schon das Nötige geschehen. Wir haben gesehen, daß Goethe schon im Frühjahr 1785 Samen untersucht hat; von Italien aus meldet er Herdern am 17. Mai 1787, daß er den Punkt, wo der Keim steckt, ganz klar und zweifellos gefunden habe. Damit war für das erste Stadium des Pflanzenlebens gesorgt. Aber auch die Einheit des Baues aller Blätter zeigte sich bald anschaulich genug. Neben zahlreichen anderen Beispielen fand Goethe in dieser Hinsicht vor allem am frischen Fenchel den Unterschied der unteren und oberen Blätter, die aber trotzdem immer dasselbe Organ sind. Am 25. März [22] bittet er Herdern zu melden, daß seine Lehre von den Kotyledonen so sublimiert sei, daß man schwerlich wird weitergehen können. Es war nur noch ein kleiner Schritt zu tun, um auch die Blütenblätter, die Staubgefäße und Stempel als metamorphosierte Blätter anzusehen. Dazu konnten die Untersuchungen des englischen Botanikers Hill führen, welche damals allgemeiner bekannt wurden und die Umbildungen einzelner Blütenorgane in andere zum Gegenstande haben.
Indem die Kräfte, welche das Wesen der Pflanze organisieren, ins wirkliche Dasein treten, nehmen sie eine Reihe räumlicher Gestaltungsformen an. Es handelt sich nun um den lebendigen Begriff, welcher diese Formen rückwärts und vorwärts verbindet.
Wenn wir die Metamorphosenlehre Goethes, wie sie uns aus dem Jahre 1790 vorliegt, betrachten, so finden wir darinnen, daß bei Goethe dieser Begriff der des wechselnden Ausdehnens und Zusammenziehens ist. Im Samen ist die Pflanzenbildung am stärksten zusammengezogen (konzentriert). Mit den Blättern erfolgt hierauf die erste Entfaltung, Ausdehnung der Bildungskräfte. Was im Samen auf einen Punkt zusammengedrängt ist, das tritt in den Blättern räumlich auseinander. Im Kelche ziehen sich die Kräfte wieder an einem Achsenpunkte zusammen; die Krone wird durch die nächste Ausdehnung bewirkt; Staubgefäße und Stempel entstehen durch die nächste Zusammenziehung; die Frucht durch die letzte (dritte) Ausdehnung, worauf sich die ganze Kraft des Pflanzenlebens (dies entelechische Prinzip) wieder im höchst zusammengezogenen Zustande im Samen verbirgt. Während wir nun so ziemlich alle Einzelheiten des Metamorphosengedankens bis zur endlichen Verwertung in dem 1790 erschienenen Aufsatze verfolgen können, wird es mit dem Begriffe der Ausdehnung und Zusammenziehung nicht so leicht gehen. Doch wird man nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß dieser übrigens tief in Goethes Geist wurzelnde Gedanke auch schon in Italien mit dem Begriffe der Pflanzenbildung verwebt wurde. Da der Inhalt dieses Gedankens die durch die bildenden Kräfte bedingte größere oder geringere räumliche Entfaltung ist, also in dem liegt, was sich an der Pflanze dem Auge unmittelbar darbietet, so wird er wohl dann am leichtesten entstehen, wenn man den Gesetzen der natürlichen Bildung gemäß die Pflanze zu zeichnen unternimmt. Nun fand Goethe in Rom einen strauchartigen Nelkenstock, welcher ihm die Metamorphose besonders klar zeigte. Darüber schreibt er nun: »Zur Aufbewahrung dieser Wundergestalt kein Mittel vor mir sehend, unternahm ich es, sie genau zu zeichnen, wobei ich immer zu mehrerer Einsicht in den Grundbegriff der Metamorphose gelangte.« [23] Solche Zeichnungen sind vielleicht noch öfters gemacht worden und dies konnte dann zu dem in Rede stehenden Begriff führen.*
Im September 1787 bei seinem zweiten Aufenthalte in Rom trägt Goethe seinem Freunde Moritz die Sache vor; er findet dabei, wie lebendig, anschaulich die Sache bei einem solchen Vortrage wird. Es wird immer auf geschrieben, wie weit sie gekommen sind. Aus dieser Stelle und einigen anderen Äußerungen Goethes erscheint es wahrscheinlich, daß auch die Niederschrift der Metamorphosenlehre wenigstens aphoristisch noch in Italien geschehen ist. Er sagt weiter: »Auf diese Art – im Vortrage mit Moritz – konnt’ ich allein etwas von meinen Gedanken zu Papier bringen.« [24] Es ist nun keine Frage, daß am Ende des Jahres 1789 und am Anfange des Jahres 1790 die Arbeit in der Gestalt, wie sie uns jetzt vorliegt, niedergeschrieben wurde; allein Inwieweit diese letztere Niederschrift bloß redaktioneller Natur war und was noch hinzukam, das wird schwer zu sagen sein. Ein für die nächste Ostermesse angekündigtes Buch, welches etwa dieselben Gedanken hätte enthalten können, verleitete ihn im Herbste 1789, seine Ideen vorzunehmen und ihre Veröffentlichung zu befördern. Am 20. November schreibt er dem Herzoge, daß er angespornt sei, seine botanischen Ideen zu schreiben. Am 18. Dezember überschickt er die Schrift bereits dem Botaniker Batsch in Jena zur Durchsicht; am 20. geht er selbst dorthin, um sich mit Batsch zu besprechen; am 22. meldet er Knebel, daß Batsch die Sache gut aufgenommen habe. Er kehrt nach Hause zurück, arbeitet die Schrift noch einmal durch, überschickt sie dann wieder an Batsch, der sie am 19. Januar 1790 zurückschickt. Welche Erlebnisse nun die Handschrift sowohl wie die Druckschrift machte, hat Goethe selbst ausführlich erzählt (siehe Natw. Schr., 1. Bd. [S. 91ff.]). Die große Bedeutung der Metamorphosenlehre, sowie das Wesen derselben im einzelnen werden wir unten [570ff.] in dem Aufsatze: »Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes Schriften über organische Bildung« abhandeln.
[4](Siehe Goethes Naturwissenschaftliche Schriften in Kürschners Deutscher National-Literatur (4), I. Band ES. 64.)
[5] Siehe »Dichtung und Wahrheit³, II. Teil, 6. Buch.
[6] »Dichtung und Wahrheit³, II. Teil, 8. Buch.
[7] »Dichtung und Wahrheit«, III. Teil, 11. Buch.
[8] [Natw. Schr., 2. Bd., S. 5 ff.; bezüglich dieses Aufsatzes vgl. man auch die Ausführungen Rudolf Steiners in »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung«, Gesamtausgabe Dornach 1960, S. 138 (Anm. zu S. 28) und »Methodische Grundlagen der Anthroposophie 1884-1901³, Gesamtausgabe Dornach 1961, S. 320ff.]
[9] Siehe über die Autorschaft dieses Aufsatzes Anmerkung 1 am Schlusse dieser Schrift. [Rudolf Steiner hatte die Absicht, für die Sonderausgabe sämtlicher Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften«, 1.-5. Aufl., Dornach 1926, an dieser und weiteren 35 bereits von ihm bezeichneten Stellen – diese Stellen tragen im vorliegenden Text sämtlich einen – Anmerkungen zu schreiben. Er konnte diese Absicht nicht mehr verwirklichen.]
10 Vgl. Natw. Schr., 1. Bd. [S. 68].
[11] »Gerne schickte ich dir eine kleine botanische Lektion, wenn sie nur schon geschrieben wäre.« [Brief an Knebel vom] 2. April 1785. [WA 7, 36]
[12] [»Deutsche Rundschau« (Berlin etc.) Bd. XXVIII (Juli-Sept.) 1881, S. 34 f.]
[13] [Karl von Linné, »philosophia botanica³, Stockholm 1751.]
[14] Italienische Reise, 8. Okt. 1786.
[15] Italienische Reise, 8. Sept. 1786.
[16] Unnötig wohl ist es zu sagen, daß die moderne Deszendenztheorie damit durchaus nicht bezweifelt werden soll, oder daß ihre Behauptungen damit eingeschränkt werden sollen; im Gegenteil, es wird ihnen erst eine sichere Basis geschaffen.
[17] Italienische Reise.
[18] Wir haben hier weniger die Entwicklungslehre derjenigen Naturforscher, die auf dem Boden der sinnenfälligen Empirie stehen, vor Augen, als vielmehr die theoretischen Grundlagen, die Prinzipien, die dem Darwinismus zugrunde gelegt werden. Vor allem natürlich die Jenaische Schule mit Haeckel an der Spitze; in diesem Geiste ersten Ranges hat wohl die Darwinsche Lehre mit aller ihrer Einseitigkeit ihre konsequente Ausgestaltung gefunden.
[19] Italienische Reise.
[20] Italienische Reise.
[21] In welchem Sinne diese Einzelheiten zum Ganzen stehen, werden wir an verschiedenen Stellen Gelegenheit haben auszuführen. Wollten wir einen Begriff der heutigen Wissenschaft für ein solches Zusammenwirken von belebten Teilwesen zu einem Ganzen entlehnen, so wäre es etwa der eines Stockes» in der Zoologie. Es ist dies eine Art Staat von Lebewesen, ein Individuum, das wieder aus selbständigen Individuen besteht, ein Individuum höherer Art.
[22] Italienische Reise.
[23] [Italienische Reise / Störende Naturbetrachtungen; vgl. auch den Brief Goethes an Knebel vom 18. Aug. 1787 (WA 8, 251).]
[24] [Italienische Reise, 28. Sept. 1787.]
III. Die Entstehung von Goethes Gedanken über die Bildung der Tiere
Lavaters großes Werk: »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« erschien in den Jahren 1775-1778. Goethe hatte daran regen Anteil genommen, nicht nur dadurch, daß er die Herausgabe leitete, sondern indem er auch selbst Beiträge lieferte. Besonders interessant ist es nun aber, daß wir in diesen Beiträgen schon den Keim zu seinen späteren zoologischen Arbeiten finden können.
Die Physiognomik suchte in der äußeren Form des Menschen dessen Inneres, dessen Geist zu erkennen. Man behandelte die Gestalt nicht um ihrer selbst willen, sondern als Ausdruck der Seele. Goethes plastischer, zur Erkenntnis äußerer Verhältnisse geschaffener Geist blieb dabei nicht stehen. Mitten in jenen Arbeiten, welche die äußere Form nur als Mittel zur Erkenntnis des Inneren behandelten, ging ihm die Bedeutung der ersteren, der Gestalt, in ihrer Selbständigkeit auf. Wir sehen dieses aus seinen Arbeiten über die Tierschädel aus dem Jahre 1776, welche sich im 2. Bande, 2. Abschnitt der »Physiognomischen Fragmente« eingeschaltet finden.25 Er liest in diesem Jahre Aristoteles über die Physiognomik26, findet sich dadurch zu obigen Arbeiten angeregt, zugleich aber versucht er es, den Unterschied des Menschen von den Tieren zu untersuchen. Er findet diesen Unterschied in dem durch das Ganze des menschlichen Baues bedingten Hervortreten des Hauptes, in der hohen Ausbildung des menschlichen Gehirnes, zu dem alle Teile des Körpers als zu ihrer Zentralstätte hinweisen. »Wie die ganze Gestalt als Grundpfeiler des Gewölbes dasteht, in dem sich der Himmel bespiegeln soll.«27 Das Gegenteil davon findet er nun beim tierischen Baue. »Der Kopf an das Rückgrat nur angehängt! Das Gehirn, Ende des Rückenmarks, hat nicht mehr Umfang, als zur Auswirkung der Lebensgeister und zu Leitung eines ganz gegenwärtig sinnlichen Geschöpfes nötig ist.«28 Mit diesen Andeutungen hat sich Goethe über die Betrachtung einzelner Zusammenhänge des Äußeren mit dem Inneren des Menschen erhoben zur Auffassung eines großen Ganzen und zur Anschauung der Gestalt als solcher. Er ist zur Ansicht gekommen, daß das Ganze des menschlichen Baues die Grundlage bildet zu seinen höheren Lebensäußerungen, daß in der Eigentümlichkeit dieses Ganzen die Bedingung liegt, welche den Menschen an die Spitze der Schöpfung stellt. Was wir uns dabei vor allem gegenwärtig halten müssen, ist, daß Goethe die tierische Gestalt in der ausgebildeten menschlichen wieder aufsucht; nur daß dort die mehr den animalischen Verrichtungen dienenden Organe in den Vordergrund treten, gleichsam der Punkt sind, auf den die ganze Bildung hindeutet und dem sie dient, während die menschliche Bildung jene Organe besonders ausbildet, welche den geistigen Funktionen dienen. Schon hier finden wir: Was Goethe als tierischer Organismus vorschwebt, ist nicht mehr dieser oder jener sinnlich-wirkliche, sondern ein ideeller, der sich bei den Tieren mehr nach einer niederen, bei dem Menschen nach einer höheren Seite ausbildet. Schon hier liegt der Keim zu dem, was Goethe später Typus nannte und womit er »kein einzelnes Tier«, sondern die »Idee« des Tieres bezeichnen wollte. Ja noch mehr: Schon hier findet man einen Anklang an ein später von ihm ausgesprochenes, in seinen Konsequenzen wichtiges Gesetz, daß nämlich »die Mannigfaltigkeit der Gestalt daher entspringt, daß diesem oder jenem Teil ein Übergewicht über die andern zugestanden ist.«29 Es wird ja schon hier der Gegensatz von Tier und Mensch darinnen gesucht, daß sich eine ideelle Gestalt nach zwei verschiedenen Richtungen hin ausbildet, daß jedesmal ein Organsystem das Übergewicht gewinnt und das ganze Geschöpf davon seinen Charakter erhält.
In demselben Jahre (1776) finden wir aber auch, daß Goethe Klarheit darüber gewinnt, wovon auszugehen ist, wenn man die Gestalt des tierischen Organismus betrachten will. Er erkannte, daß die Knochen die Grundfesten der Bildung sind30, ein Gedanke, den er später aufrechterhalten hat, indem er bei den anatomischen Arbeiten durchaus von der Knochenlehre ausging. In diesem Jahre schreibt er den in dieser Hinsicht wichtigen Satz nieder31: »Die beweglichen Teile formen sich nach ihnen (den Knochen), eigentlicher zu sagen, mit ihnen und treiben ihr Spiel nur insoweit es die festen vergönnen.« Auch eine weitere Andeutung in Lavaters Physiognomik: »Man kann es schon bemerkt haben, daß ich das Knochensystem für die Grundzeichnung des Menschen – den Schädel für das Fundament des Knochensystems und alles Fleisch beinahe nur für das Kolorit dieser Zeichnung halte«32, mag wohl auf Goethes Anregung, der sich mit Lavater oft über diese Dinge besprach, geschrieben worden sein. Sie sind ja mit den von Goethe verfaßten »Andeutungen«33 identisch. Nun macht aber Goethe eine weitere Bemerkung dazu, welche wir besonders berücksichtigen müssen: »Diese Anmerkung (daß man an den Knochen und namentlich am Schädel am stärksten sehen kann, wie die Knochen die Grundfesten der Bildung sind), die hier (bei Tieren) unleugbar ist, wird bei der Anwendung auf die Verschiedenheit der Menschenschädel großen Widerspruch zu leiden haben.« 34 Was tut Goethe hier anderes, als das einfachere Tier im zusammengesetzten Menschen wieder aufsuchen, wie er sich später (1795) ausdrückt! Wir gewinnen hieraus die Überzeugung, daß die Grundgedanken, auf welchen später Goethes Gedanken über die Bildung der Tiere aufgebaut werden sollten, aus der Beschäftigung mit Lavaters Physiognomik heraus im Jahre 1776 sich bei ihm festsetzten.
In diesem Jahre beginnt auch Goethes Studium des Einzelnen der Anatomie. Am 22. Januar 1776 schreibt er an Lavater: »Der Herzog hat mir sechs Schädel kommen lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Euer Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht ohne mich fanden.« [WA 3, 20] Die weiteren Anregungen zu einem eingehenderen Studium der Anatomie boten ihm die Beziehungen zur Universität Jena. Wir haben die ersten Andeutungen hierüber aus dem Jahre 1781. In dem von Keil herausgegebenen Tagebuche bemerkt er unter dem 15. Oktober 1781, daß er nach Jena mit dem alten Einsiedel ging und dort Anatomie trieb. Hier war ein Gelehrter, der Goethes Studien ungeheuer förderte: Loder. Derselbe führt ihn denn auch weiter in die Anatomie ein, wie er am 29. Oktober 1781 an Frau von Stein35 und am 4. November an Karl August36 schreibt. In letzterem Briefe spricht er nun auch die Absicht aus, den »jungen Leuten« der Zeichenakademie »das Skelett zu erklären und sie zur Kenntnis des menschlichen Körpers anzuführen«. Er setzt hinzu: »Ich tue es zugleich um meinet- und ihretwillen, die Methode, die ich gewählt habe, wird sie diesen Winter über völlig mit den Grundsäulen des Körpers bekannt machen.« Die Einzeichnungen im Tagebuch Goethes zeigen, daß er diese Vorlesungen wirklich gehalten und am 16. Januar beendet hat. Gleichzeitig wird wohl viel mit Loder über den Bau des menschlichen Körpers verhandelt worden sein. Unter dem 6. Januar bemerkt das Tagebuch: Demonstration des Herzens durch Loder. Haben wir nun gesehen, daß Goethe schon 1776 weitausblickende Gedanken über den Bau der tierischen Organisation hegte, so ist keinen Augenblick daran zu zweifeln, daß seine jetzigen eingehenden Beschäftigungen mit Anatomie über die Betrachtung der Einzelheiten hinaus sich zu höheren Gesichtspunkten erhoben. So schreibt er an Lavater und Merck am 14. November 1781, er behandele »die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt«. [WA 5, 217 u. 220] Bei Betrachtung eines Textes bilden sich in unserem Geiste Bilder und Ideen, die von jenem hervorgerufen, erzeugt erscheinen. Als einen solchen Text behandelte Goethe die Knochen, d. h. indem er sie betrachtet, gehen ihm Gedanken über alles Leben und alles Menschliche auf. Es mußten sich bei ihm also bei diesen Betrachtungen bestimmte Ideen über die Bildung des Organismus geltend gemacht haben. Nun haben wir aus dem Jahre 1782 eine Ode von Goethe: »Das Göttliche«, welche uns einigermaßen erkennen läßt, wie er über die Beziehung des Menschen zur übrigen Natur damals dachte. Die erste Strophe heißt:
»Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein Unterscheidet ihn
Von allen Wesen, Die wir kennen.«
Indem in den ersten zwei Zeilen dieser Strophe der Mensch nach seinen geistigen Eigenschaften erfaßt wird, sagt Goethe, diese allein unterscheiden ihn von allen anderen Wesen der Welt. Dieses »allein« zeigt uns ganz klar, daß Goethe den Menschen seiner physischen Konstitution nach durchaus in Übereinstimmung mit der übrigen Natur auffaßte. Es wird bei ihm der Gedanke, auf den wir schon oben aufmerksam machten, immer lebendiger, daß eine Grundform die Gestalt des Menschen sowohl wie der Tiere beherrsche, daß sie bei ersterem sich nur zu einer solchen Vollkommenheit steigere, daß sie fähig ist, der Träger eines freien geistigen Wesens zu sein. Seinen sinnenfälligen Eigenschaften nach muß auch der Mensch, wie es in jener Ode weiter heißt:
»Nach ewigen, ehrnen
Großen Gesetzen
Seines … Daseins
Kreise vollenden.«
Aber diese Gesetze bilden sich bei ihm nach einer Seite aus, die es ihm möglich macht, daß er das »Unmögliche« vermag:
»Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick Dauer verleihen.«
Nun muß man dazu noch bedenken, daß, während sich diese Anschauungen bei Goethe immer bestimmter ausbildeten, er in lebendigem Verkehre mit Herder stand, der im Jahre 1783 seine »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« aufzuzeichnen begann. Dieses Werk ging beinahe hervor aus den Unterhaltungen der beiden, und manche Idee wird wohl auf Goethe zurückzuführen sein. Die Gedanken, welche hier ausgesprochen werden, sind oft ganz Goethisch, nur in Herders Weise gesagt, so daß wir aus denselben einen sicheren Schluß auf die damaligen Gedanken Goethes machen können.
Herder hat nun im ersten Teil37 von dem Wesen der Welt folgende Auffassung. Es muß eine Hauptform vorausgesetzt werden, welche durch alle Wesen hindurchgeht und sich in verschiedener Weise verwirklicht. »Vom Stein zum Kristall, vom Kristall zu den Metallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier, von diesem zum Menschen sahen wir die Form der Organisation steigen, mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfs vielartiger werden, und sich endlich alle in der Gestalt des Menschen, sofern diese sie fassen konnte, vereinen.« Der Gedanke ist ganz klar: Eine ideelle, typische Form, die als solche selbst nicht sinnenfällig wirklich ist, realisiert sich in einer unendlichen Menge räumlich voneinander getrennter und ihren Eigenschaften nach verschiedenen Wesen bis herauf zum Menschen. Auf den niederen Stufen der Organisation verwirklicht sie sich stets nach einer bestimmten Richtung; nach dieser bildet sie sich besonders aus. Indem diese typische Form bis zum Menschen heransteigt, nimmt sie alle Bildungsprinzipien, die sie bei den niederen Organismen immer nur einseitig ausgebildet hat, die sie auf verschiedene Wesen verteilt hat, zusammen, um eine Gestalt zu bilden. Daraus geht auch die Möglichkeit einer so hohen Vollkommenheit beim Menschen hervor. Bei ihm hat die Natur auf ein Wesen verwendet, was sie bei den Tieren auf viele Klassen und Qrdnungen zerstreut hat. Dieser Gedanke wirkte ungemein fruchtbar auf die nachherige deutsche Philosophie. Es sei hier die Darstellung, welche Oken später für dieselbe Vorstellung gegeben hat, zu ihrer Verdeutlichung erwähnt. Er sagt38: »Das Tierreich ist nur ein Tier, d. h. die Darstellung der Tierheit mit allen ihren Organen jedes für sich ein Ganzes. Ein einzelnes Tier entsteht, wenn ein einzelnes Organ sich vom allgemeinen Tierleib ablöst und dennoch die wesentlichen Tierverrichtungen ausübt. Das Tierreich ist nur das zerstückelte höchste Tier: Mensch.
Es gibt nur eine Menschenzunft, nur ein Menschengeschlecht, nur eine Menschengattung, eben weil er das ganze Tierreich ist.« So gibt es z. B. Tiere, bei denen die Tastorgane ausgebildet sind, ja die ganze Organisation auf die Tätigkeit des Tastens hinweist und in ihr das Ziel findet, andere, bei denen besonders die Freßwerkzeuge ausgebildet sind usf., kurz bei jeder Tiergattung tritt einseitig ein Organsystem in den Vordergrund; das ganze Tier geht in demselben auf; alles übrige tritt bei ihm in den Hintergrund. In der menschlichen Bildung nun bilden sich alle Organe und Organsysteme so aus, daß eines dem andern Raum genug zur freien Entwicklung läßt, daß jedes einzelne in jene Schranken zurücktritt, welche nötig erscheinen, um alle andern in gleicher Weise zur Geltung kommen zu lassen. So entsteht ein harmonisches Ineinanderwirken der einzelnen Organe und Systeme zu einer Harmonie, welche den Menschen zum vollkommensten, die Vollkommenheiten aller übrigen Geschöpfe in sich vereinigenden Wesen macht. Diese Gedanken haben nun auch den Inhalt der Gespräche Goethes mit Herder gebildet, und Herder verleiht ihnen in folgender Weise Ausdruck: daß »das Menschengeschlecht als der große Zusammenfluß niederer organischer Kräfte« anzusehen ist, »die in ihm zur Bildung der Humanität kommen sollten«. Und an einem anderen Orte: »Und so können wir annehmen: daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln. «39
Um den Anteil, welchen Goethe an Herders Werke »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« nahm, zu kennzeichnen, wollen wir folgende Stelle aus einem Briefe Goethes an Knebel vom 8. Dezember 1783 anführen: »Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte, wie Du Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten Kapitel haben wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind köstlich . . . Welt- und Naturgeschichte rast jetzt recht bei uns.« [WA 6, 224] Die Ausführungen Herders im 3. Buch VI und im 4. Buch 1, daß die in der menschlichen Organisation bedingte aufrechte Haltung und was damit zusammenhängt, die Grundbedingung seiner Vernunfttätigkeit ist, erinnert direkt an das, was Goethe 1776 im 2. Abschnitt des zweiten Bandes der »Physiognomischen Fragmente« Lavaters über den Geschlechtsunterschied des Menschen von den Tieren angedeutet hat, und was wir schon oben erwähnt haben. Es ist nur eine Ausführung jenes Gedankens. Das alles berechtigt uns aber anzunehmen, daß Goethe und Herder in bezug auf ihre Ansichten über die Stellung des Menschen in der Natur in jener Zeit (1783ff.) der Hauptsache nach einig waren.
Nun bedingt eine solche Grundanschauung aber, daß jedes Organ, jeder Teil eines Tieres sich im Menschen müsse wiederfinden lassen, nur in die durch die Harmonie des Ganzen bedingten Schranken zurückgedrängt. Ein Knochen z. B. muß allerdings bei einer bestimmten Tiergattung zu seiner besonderen Ausbildung kommen, muß sich hier vordrängen, allein er muß sich bei allen übrigen auch wenigstens angedeutet finden, ja er darf beim Menschen nicht fehlen. Nimmt er dort jene Gestalt an, welche ihm vermöge seiner eigenen Gesetze zukommt, so hat er sich hier einem Ganzen zu fügen, seine eigenen Bildungsgesetze denen des ganzen Organismus anzupassen. Fehlen aber darf er nicht, wenn nicht in der Natur ein Riß geschehen soll, wodurch die konsequente Ausgestaltung eines Typus gestört würde.
So stand es mit den Anschauungen bei Goethe, als er auf einmal eine Ansicht gewahr wurde, welche diesen großen Gedanken durchaus widersprach. Den Gelehrten der damaligen Zeit war es vornehmlich darum zu tun, Kennzeichen zu finden, welche eine Tiergattung von der andern unterscheiden. Der Unterschied der Tiere von dem Menschen sollte darin bestehen, daß die ersteren zwischen den beiden symmetrischen Hälften des Oberkiefers einen kleinen Knochen, den Zwischenknochen haben, der die oberen Schneidezähne enthält, und welcher dem Menschen fehlen soll. Als Merck im Jahre 1782 anfing, sich lebhaft für die Knochenlehre zu interessieren und sich um Beihilfe an einige der bekanntesten Gelehrten damaliger Zeit wandte, erhielt er von einem derselben, dem bedeutenden Anatomen Sömmerring, am 8. Oktober 1782 folgende Auskunft über den Unterschied von Tier und Mensch40: »Ich wünschte, daß Sie Blumenbach nachsähen, wegen des ossis intermaxillaris, der ceteris paribus der einzige Knochen ist, den alle Tiere vom Affen an, selbst der Orang Utang eingeschlossen, haben, der sich hingegen nie beim Menschen findet; wenn Sie diesen Knochen abrechnen, so fehlt Ihnen nichts, um nicht alles vom Menschen auf die Tiere transferieren zu können. Ich lege deshalb einen Kopf von einer Hirschkuh bei, um Sie zu überzeugen, daß dieses os intermaxillare (wie es Blumenbach) oder os incisivum (wie es Camper nennt) selbst bei Tieren vorhanden ist, die keine Schneidezähne in der obern Kinnlade haben.« Obwohl Blumenbach an den Schädeln ungeborener oder junger Kinder eine Spur quasi rudimentum des ossis intermaxillaris fand, ja sogar an einem solchen Schädel einmal zwei völlig abgesonderte kleine Knochenkerne als wahren Zwischenknochen fand, so gab er die Existenz eines solchen doch nicht zu. Er sagt davon: »Es ist noch himmelweit vom wahren osse intermaxillari verschieden.« Camper, der berühmteste Anatom der Zeit, war derselben Ansicht. Der letztere sagt41 z. B. von den Zwischenknochen: »die nimmer by menschen gevonden wordt, zelfs niet by de Negers.« Merck war für Camper von der innigsten Verehrung durchdrungen und befaßte sich mit seinen Schriften.
Nicht nur Merck, sondern auch Blumenbach und Sömmerring standen mit Goethe im Verkehre. Der Briefwechsel mit ersterem zeigt uns, daß Goethe an dessen Knochenuntersuchungen den innigsten Anteil nahm und über diese Dinge seine Gedanken mit ihm austauschte. Am 27. Oktober 1782 ersuchte er Merck, ihm etwas von Campers Inkognito zu schreiben und ihm dessen Briefe zu schicken.42 Ferner haben wir im April des Jahres 1783 einen Besuch Blumenbachs in Weimar zu verzeichnen. Im September desselben Jahres geht Goethe nach Göttingen, um dort Blumenbach und alle Professoren zu besuchen. Am 28. September schreibt er an Frau von Stein: »Ich habe mir vorgenommen alle Professoren zu besuchen und Du kannst denken, was das zu laufen gibt, um in ein paar Tagen herumzukommen.« [WA 6, 202] Er geht hierauf nach Kassel, wo er mit Forster und Sömmerring zusammentrifft. Von dort aus schreibt er an Frau von Stein am 2. Oktober: »Ich sehe sehr schöne und gute Sachen und werde für meinen stillen Fleiß belohnt. Das Glücklichste ist, daß ich nun sagen kann, ich bin auf dem rechten Wege und es geht mir von nun an nichts verloren.« [WA 6, 204]
In diesem Verkehr wird Goethe wohl zuerst auf die herrschenden Ansichten über den Zwischenknochen aufmerksam geworden sein. Bei seinen Anschauungen mußten ihm diese sofort als ein Irrtum erscheinen. Die typische Grundform, nach welcher alle Organismen gebaut sein müssen, wäre damit vernichtet. Bei Goethe konnte kein Zweifel obwalten, daß auch dieses Glied, welches bei allen höheren Tieren mehr oder weniger ausgebildet zu finden ist, auch an der Bildung der menschlichen Gestalt teil haben müsse, und hier nur zurücktreten werde, weil die Organe der Nahrungsaufnahme überhaupt hinter denen, welche geistigen Funktionen dienen, zurücktreten. Goethe konnte vermöge seiner ganzen Geistesrichtung nicht anders denken, als daß ein Zwischenknochen auch beim Menschen vorhanden sei. Es handelte sich nur um den empirischen Nachweis desselben, nur darum, welche Gestalt er bei dem Menschen annimmt, inwiefern er sich in das Ganze des Organismus hier einfügt. Dieser Nachweis gelang ihm nun im Frühling des Jahres 1784 in Gemeinschaft mit Loder, mit dem er in Jena Menschen- und Tierschädel verglich. Goethe kündigte die Sache am 27. März sowohl der Frau von Stein43 wie auch Herder44 an.
Man darf nun diese einzelne Entdeckung gegenüber den großen Gedanken, von denen sie getragen ist, nicht überschätzen; sie hatte auch für Goethe nur den Wert, ein Vorurteil hinwegzuräumen, welches hinderlich erschien, wenn seine Ideen bis in die äußersten Kleinigkeiten eines Organismus konsequent verfolgt werden sollten. Als einzelne Entdeckung erblickte sie auch Goethe nie, immer nur im Zusammenhange mit seiner großen Naturanschauung. So haben wir es zu verstehen, wenn er in dem obenerwähnten Briefe an Herder sagt: »Es soll Dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie!« Und gleich erinnert er den Freund an weitere Ausblicke: »ich habe mir’s auch in Verbindung mit Deinem Ganzen gedacht, wie schön es da wird.« Die Behauptung: die Tiere haben einen Zwischenknochen, der Mensch aber keinen, konnte für Goethe keinen Sinn haben. Liegt es in den einen Organismus bildenden Kräften, bei den Tieren zwischen den beiden Oberkieferknochen einen Zwischenknochen einzuschieben, so müssen dieselben bei dem Menschen an jener Stelle, wo sich bei den Tieren jener Knochen befindet, in wesentlich derselben, nur der äußeren Erscheinung nach verschiedenen Weise tätig sein. Weil Goethe sich den Organismus nie als tote, starre Zusammensetzung, sondern immer als aus seinen inneren Bildungskräften hervorgehend dachte, so mußte er sich fragen: Was machen diese Kräfte im Oberkiefer des Menschen? Es konnte sich gar nicht darum handeln, ob der Zwischenknochen vorhanden, sondern wie er beschaffen ist, was für eine Bildung er annimmt. Und dieses mußte empirisch gefunden werden.
Bei Goethe wurde nun der Gedanke immer reger, ein größeres Werk über die Natur auszuarbeiten. Wir können dies aus verschiedenen Äußerungen entnehmen. So schreibt er im November 1784 an Knebel, als er ihm die Abhandlung über seine Entdeckung überschickt: »Ich habe mich enthalten, das Resultat, worauf schon Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzo merken zu lassen, daß man nämlich den Unterschied des Menschen vom Tier in nichts einzelnem finden könne.« [WA 6, 389] Hier ist vor allem wichtig, daß Goethe sagt, er habe sich enthalten, den Grundgedanken schon jetzo merken zu lassen; er will das also später in einem größeren Zusammenhange tun. Ferner zeigt uns diese Stelle, daß die Grundgedanken, die uns bei Goethe vor allem interessieren: die großen Ideen über den tierischen Typus längst vor jener Entdeckung vorhanden waren. Denn Goethe gesteht hier selbst, daß sie sich schon in Herders Ideen angedeutet finden; die Stellen aber, in denen dies geschieht, sind vor der Entdeckung des Zwischenknochens geschrieben. Die Entdeckung des Zwischenknochens ist somit nur eine Folge jener großen Anschauungen. Für jene, welche diese Anschauungen nicht hatten, mußte sie unverständlich bleiben. Es war ihnen das einzige naturhistorische Merkmal genommen, wodurch sie den Menschen von den Tieren schieden. Von jenen Gedanken, welche Goethe beherrschten und die wir früher andeuteten, daß die bei den Tieren zerstreuten Elemente sich in der einen menschlichen Gestalt zu einer Harmonie vereinigen und so trotz der Gleichheit alles Einzelnen eine Differenz im Ganzen begründen, welche dem Menschen seinen hohen Rang in der Reihe der Wesen anweist, davon hatten sie wenig Ahnung. Ihr Betrachten war kein ideelles, sondern ein äußerliches Vergleichen; und für das letztere war allerdings der Zwischenknochen beim Menschen nicht da. Was Goethe verlangte: mit den Augen des Geistes zu sehen, dafür hatten sie wenig Verständnis. Das begründete denn auch den Unterschied des Urteiles zwischen ihnen und Goethe. Während Blumenbach, der die Sache doch auch ganz deutlich sah, zu dem Schlusse kam: »Es ist doch himmelweit verschieden vom wahren osse intermaxillari«, urteilt Goethe: Wie läßt sich eine noch so große äußere Verschiedenheit bei der notwendigen inneren Identität erklären. Goethe wollte nun offenbar diesen Gedanken konsequent ausarbeiten und er hat sich besonders in den nun folgenden Jahren viel damit beschäftigt. Am 1. Mai 1784 schreibt Frau von Stein an Knebel45: »Herders neue Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren. .. Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen ist, wird äußerst interessant.« In welchem Grade in Goethe der Gedanke lebte, seine Anschauungen über die Natur in ein einem größeren Werke darzustellen, das wird uns besonders anschaulich, wenn wir sehen, daß er bei jeder neuen Entdeckung, die ihm gelingt, nicht umhin kann, Freunden gegenüber die Möglichkeit einer Ausdehnung seiner Gedanken auf die ganze Natur ausdrücklich hervorzuheben. Im Jahre 1786 schreibt er an Frau von Stein, er wolle seine Ideen über die Weise, wie die Natur mit einer Hauptform gleichsam spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt, »auf alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich« ausdehnen. Und da in Italien der Metamorphosengedanke für die Pflanze bis in alle Einzelheiten plastisch vor seinem Geiste steht, schreibt er in Neapel am 17. Mai 1787 nieder: »Dasselbe Gesetz wird sich auf alles … Lebendige anwenden lassen.«46 Der erste Aufsatz der »Morphologischen Hefte« (1817) enthält die Worte: »Mag daher das, was ich mir in jugendlichem Mute öfters als ein Werk träumte, nun als Entwurf, ja als fragmentarische Sammlung hervortreten.« Daß ein solches Werk von Goethes Hand nicht zustande kam, müssen wir beklagen. Nach alledem, was vorliegt, wäre es eine Schöpfung geworden, welche alles, was von dergleichen in der neueren Zeit geleistet wurde, weit hinter sich gelassen hätte. Es wäre ein Kanon geworden, von dem jede Bestrebung auf naturwissenschaftlichem Gebiete ausgehen müßte und an dem man ihren geistigen Gehalt prüfen könnte. Der tiefste philosophische Geist, welchen nur Oberflächlichkeit Goethe absprechen kann, hätte sich hier verbunden mit einer liebevollen Versenkung in das sinnlich-erfahrungsgemäß Gegebene; fern von jeder einseitigen Systemsucht, welche durch ein allgemeines Schema alle Wesen zu umfassen glaubt, würde hier jeder einzelnen Individualität ihr Recht widerfahren sein. Wir hätten es hier mit dem Werke eines Geistes zu tun, bei dem nicht ein einzelner Zweig menschlichen Strebens mit Zurücksetzung aller anderen sich hervortut, sondern bei dem die Totalität menschlichen Seins immer im Hintergrunde schwebt, wenn er ein einzelnes Gebiet behandelt. Dadurch bekommt jede einzelne Tätigkeit ihre gehörige Stelle im Zusammenhange des Ganzen. Die objektive Versenkung in die betrachteten Gegenstände verursacht, daß der Geist in ihnen völlig aufgeht, so daß uns Goethes Theorien so erscheinen, als ob sie nicht ein Geist von den Gegenständen abstrahierte, sondern als ob sie die Gegenstände selbst in einem Geiste bildeten, der sich bei der Betrachtung selbst vergißt. Diese strengste Objektivität würde Goethes Werk zum vollendetsten Werke der Naturwissenschaft machen; es wäre ein Ideal, dem jeder Naturforscher nachstreben müßte; es wäre für den Philosophen ein typisches Musterbild für die Auffindung der Gesetze objektiver Weltbetrachtung. Man kann annehmen, daß die Erkenntnistheorie, welche jetzt als eine philosophische Grundwissenschaft allerwärts auftritt, erst dann wird fruchtbar werden können, wenn sie ihren Ausgangspunkt von Goethes Betrachtungs- und Denkweise nehmen wird. Goethe selbst gibt den Grund, warum dieses Werk nicht zustande kam, in den Annalen zu 1790 mit den Worten an: »Die Aufgabe war so groß, daß sie in einem zerstreuten Leben nicht gelöst werden konnte.«
Wenn man von diesem Gesichtspunkte ausgeht, so gewinnen die einzelnen Fragmente, welche uns von Goethes Naturwissenschaft vorliegen, eine ungeheure Bedeutung. Ja wir lernen sie erst recht schätzen und verstehen, wenn wir sie als hervorgehend aus jenem großen Ganzen betrachten.
Im Jahre 1784 sollte aber, gleichsam bloß als Vorübung, die Abhandlung über den Zwischenknochen ausgearbeitet werden. Veröffentlicht sollte sie zunächst nicht werden, denn Goethe schreibt am 6. März 1785 an Sömmerring darüber: »Da meine kleine Abhandlung gar keinen Ansprach an Publizität hat und bloß als ein Konzept anzusehen ist, so würde mir alles, was Sie mir über diesen Gegenstand mitteilen wollen, sehr angenehm sein.« [WA 7, 21] Dennoch wurde sie mit aller Sorgfalt und mit Zuhilfenahme aller nötigen Einzelstudien ausgeführt. Es wurden sogleich junge Leute zu Hilfe genommen, welche nach Campers Methode osteologische Zeichnungen unter Goethes Leitung auszuführen hatten. Er bittet deshalb am 23. April [1784] Merck [WA 6, 267f.] um Auskunft über diese Methode und läßt sich von Sömmerring [WA 6, 277] Campersche Zeichnungen schicken. Merck, Sömmerring und andere Bekannte werden um Skelette und Knochen aller Art ersucht. Am 23. April schreibt er an Merck, daß ihm folgende Skelette sehr angenehm sein würden: ». . . eine Myrmecophaga, Bradypus, Löwen, Tiger oder dergleichen.« [WA 6, 268] Am 14. Mai [WA 6, 278] ersucht er Sömmerring um den Schädel von dessen Elefantenskelett und den Schädel des Nilpferdes, am 16. September um die Schädel von folgenden Tieren: »Wilde Katze, Löwe, junger Bär, Incognitum, Ameisenbär, Kamel, Dromedar, Seelöwe.« [WA 6, 357] Auch um einzelne Auskünfte werden die Freunde ersucht, so Merck um die Beschreibung des Gaumenteiles seines Rhinozeros und insbesondere um Aufklärung darüber, »wie eigentlich das Horn des Rhinoceros auf dem Nasenknochen sitzt«. [WA 6, 267] Goethe ist in dieser Zeit ganz in jene Studien vertieft. Der erwähnte Elefantenschädel wird durch Waitz von vielen Seiten nach Campers Methode gezeichnet [WA 6, 356], von Goethe mit einem großen Schädel seines Besitzes und mit anderen Tierschädeln verglichen, da er entdeckte, daß an jenem Schädel die meisten Suturen noch unverwachsen waren. [WA 6, 293 f.] Er macht an diesem Schädel noch eine wichtige Bemerkung. Man nahm bis dahin an, daß bei allen Tieren bloß die Schneidezähne im Zwischenknochen eingefügt seien, während die Eckzähne dem Oberkieferbein angehörten; nur der Elefant sollte eine Ausnahme machen. Bei ihm sollten die Eckzähne im Zwischenknochen enthalten sein. Daß dies nicht der Fall ist, zeigt ihm nun ebenfalls jener Schädel, wie er in einem Brief an Herder schreibt. [WA 6, 308] Auf einer Reise nach Eisenach [WA 6, 278] und Braunschweig, die Goethe in diesem Sommer [1784] unternimmt, begleiten ihn seine osteologischen Studien. Auf letzterer will er in Braunschweig einem »ungeborenen Elefanten in das Maul sehen und mit Zimmermann ein wackeres Gespräch führen«. [WA 6, 332] Er schreibt von diesem Fötus weiter an Merck: »Ich wollte, wir hätten den Fötus, den sie in Braunschweig haben, in unserm Kabinette, er sollte in kurzer Zeit seziert, skelettiert und präpariert sein. Ich weiß nicht, wozu ein solches Monstrum in Spiritus taugt, wenn man es nicht zergliedert und den innern Bau erklärt.« [WA 6, 332 u. 333] Aus diesen Studien ging denn jene Abhandlung hervor, welche im 1. Bande [S. 277] der Naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners National-Literatur mitgeteilt wird. Bei Abfassung derselben ist Goethen Loder sehr behilflich. Unter dessen Beistande kommt eine lateinische Terminologie zustande. Loder besorgt ferner eine lateinische Übersetzung. [WA 6, 407] Im November 1784 schickt Goethe die Abhandlung an Knebel [WA 6, 389 f.] und schon am 19. Dezember an Merck [WA 6, 409 f.], obwohl er noch kurz vorher (2. Dezember) glaubt, daß vor Ende des Jahres nicht viel daraus werden wird. [WA 6, 400 f.] Das Werk war mit den nötigen Zeichnungen versehen. Wegen Camper war die erwähnte lateinische Übersetzung beigefügt. Merck sollte das Werk an Sömmerring schicken. Dieser erhielt es im Januar 1785. Von da ging die Sache an Camper. Wenn wir nun einen Blick auf die Art der Aufnahme werfen, die Goethes Abhandlung gefunden, so tritt uns ein recht unerquickliches Bild entgegen. Niemand hat anfangs das Organ, ihn zu verstehen außer Loder, mit dem er zusammen gearbeitet, und Herder. Merck hat über die Abhandlung Freude, ist aber von der Wahrheit des Asserti nicht durchdrungen. [WA 7, 11 f.] Sömmerring schreibt in dem Briefe, mit dem er die Ankunft der Abhandlung Merck anzeigt: »Die Hauptidee hatte schon Blumenbach. Im Paragraph, der sich anfängt: , sagt er [Goethe], ; schade nur, daß diese niemals da gewesen. Ich habe nun Kinnbacken von Embryonen, von drei Monaten bis zum Adulto vor mir, und an keinem ist jemals eine Grenze vorwärts zu sehen gewesen. Und durch den Drang der Knochen gegen einander die Sache zu erklären? Ja, wenn die Natur als ein Schreiner mit Keil und Hammer arbeitete!«47 Am 13. Februar 1785 schreibt Goethe an Merck: »Von Sömmerring habe ich einen sehr leichten Brief. Er will mir’s gar ausreden. Ohe!« [WA 7, 12] – Und Sömmerring schreibt am 11. Mai 1785 an Merck: »Goethe will, wie ich aus seinem gestrigen Briefe sehe, von seiner Idee in Ansehung des ossis intermaxillaris noch nicht ab.«48
Und nun Camper.49 Am 16. September 178550 teilte er Monsieur de Merck mit, daß die beigegebenen Tafeln durchaus nicht nach seiner Methode gezeichnet seien. Er findet dieselben sogar recht tadelnswert. Das Äußere des schönen Manuskriptes wird gelobt, die lateinische Übersetzung getadelt, ja dem Autor sogar der Rat erteilt, sich hierinnen auszubilden. Drei Tage später51 schreibt er, daß er eine Zahl von Beobachtungen über den Zwischenknochen gemacht habe, daß er aber fortfahren müsse zu behaupten, der Mensch habe keinen Zwischenknochen. Er gibt alle Beobachtungen Goethes zu, nur nicht die auf den Menschen bezüglichen. Am 21. März 178652 schreibt er noch einmal, daß er aus einer großen Zahl von Beobachtungen zu dem Schlusse gekommen sei: der Zwischenknochen existiere beim Menschen nicht. Campers Briefe zeigen deutlich, daß er den besten Willen hatte in die Sache einzudringen, daß er aber nicht imstande war, Goethe auch nur im geringsten zu verstehen.
Loder sah Goethes Entdeckung sogleich in dem rechten Lichte. Er hebt sie in seinem »Anatomischen Handbuch« von 178853 hervor und behandelt sie von nun an in allen seinen Schriften wie eine der Wissenschaft vollgültig angehörige Sache, an welcher nicht der mindeste Zweifel sein kann.
Herder schreibt darüber an Knebel: »Goethe hat uns seine Abhandlung vom Knochen vorgelegt, die sehr einfach und schön ist; der Mensch geht auf dem wahren Naturwege, und das Glück geht ihm entgegen«.54 Herder war eben imstande, die Sache mit dem »geistigen Auge«, mit dem sie Goethe ansah, zu betrachten. Ohne dieses konnte man mit ihr nichts anfangen. Man kann dies am besten aus folgendem sehen. Wilhelm Josephi (Privatdozent an der Universität Göttingen) schreibt in seiner »Anatomie der Säugetiere« 1787: »Man nimmt die ossa intermaxillaria mit als ein Hauptunterscheidungszeichen der Affen vom Menschen an; indes meinen Beobachtungen nach hat der Mensch ebenfalls solche ossa intermaxillaria wenigstens in den ersten Monaten seines Seins, welche aber gewöhnlich schon früh, und zwar schon im Mutterleibe mit den wirklichen Oberkiefern vorzüglich nach außen verwachsen, so daß öfters noch gar keine merkliche Spur davon zurückbleibt.« Hier ist Goethes Entdeckung allerdings auch vollkommen ausgesprochen, aber nicht als eine aus der konsequenten Durchführung des Typus geforderte, sondern als der Ausdruck eines unmittelbar in die Augen fallenden Tatbestandes. Wenn man bloß auf letzteren angewiesen ist, dann hängt es allerdings nur vom glücklichen Zufalle ab, ob man gerade solche Exemplare findet, an denen man die Sache genau sehen kann. Faßt man aber die Sache in Goethes ideeller Weise, so dienen diese besonderen Exemplare bloß zur Bestätigung des Gedankens, bloß dazu das, was die Natur sonst verbirgt, offen zu demonstrieren; es kann aber die Idee selbst an jedem beliebigen Exemplare verfolgt werden, jedes zeigt einen besonderen Fall derselben. Ja, wenn man die Idee besitzt, ist man imstande, durch dieselbe gerade jene Fälle zu finden, in denen sie sich besonders ausprägt. Ohne dieselbe aber ist man dem Zufalle anheimgegeben. Man sieht in der Tat, daß, nachdem Goethe durch seinen großen Gedanken die Anregung gegeben hatte, man durch Beobachtung zahlreicher Fälle sich von der Wahrheit seiner Entdeckung allmählich überzeugt hat.
Merck blieb wohl stets schwankend. Am 13. Februar 1785 schickt ihm Goethe eine gesprengte obere Kinnlade vom Menschen und vom Trichechus und gibt ihm Anhaltspunkte, die Sache zu verstehen. Aus Goethes Brief vom 8. April scheint es, daß Merck einigermaßen gewonnen war. Bald aber änderte er seine Ansicht wieder, denn am 11. November 1786 schreibt er an Sömmerring55: »Wie ich höre, hat Vicq d’Azyr sogar Goethes sogenannte Entdekkung in sein Werk aufgenommen.«
Sömmerring stand nach und nach von seinem Widerstande ab. In seinem Werke: »Vom Baue des menschlichen Körpers« sagt er (S. 160): »Goethes sinnreicher Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre, daß der Zwischenknochen der Oberkinnlade dem Menschen mit den übrigen Tieren gemein sei, von 1785, mit sehr richtigen Abbildungen, verdiente öffentlich bekannt zu sein.«
Schwerer war wohl Blumenbach zu gewinnen. In seinem »Handbuch der vergleichenden Anatomie«, 180556, sprach er noch die Behauptung aus: der Mensch habe keinen Zwischenknochen. In seinem 1830-32 geschriebenen Aufsatze: »Principes de Philosophie Zoologique« kann aber Goethe schon von Blumenbachs Bekehrung sprechen.57 Er trat nach persönlichem Verkehre auf Goethes Seite.58 Am 15. Dezember 1825 liefert er Goethe sogar ein schönes Beispiel zur Bestätigung seiner Entdeckung. Ein Athlet aus dem Hessischen suchte bei Blumenbachs Kollegen Langenbeck Hilfe wegen eines »ganz tierisch prominierenden os intermaxillare«.59 Von späteren Anhängern Goethescher Ideen werden wir noch zu sprechen haben. Hier sei nur noch erwähnt, daß M. J. Weber die Trennung des bereits mit der Oberkinnlade verwachsenen Zwischenknochens durch verdünnte Salpetersäure gelungen ist.60
Goethe setzte seine Knochenstudien auch nach Vollendung jener Abhandlung fort. Die gleichzeitigen Entdeckungen in der Pflanzenkunde machen sein Interesse an der Natur noch zu einem regeren. Fortwährend borgt er einschlägige Objekte von seinen Freunden. Am 7. Dezember 178561 ist Sömmerring sogar schon ärgerlich, »daß ihm Goethe nicht seine Köpfe wieder schickt«. Aus einem Briefe Goethes an Sömmerring vom 8. Juni 1786 erfahren wir, daß er bis dahin noch immer Schädel von letzterem hatte.
Auch in Italien begleiteten ihn seine großen Ideen. Während sich der Gedanke der Urpflanze in seinem Geiste ausgestaltete, kommt er auch zu Begriffen über die Gestalt des Menschen. Am 20. Januar 1787 schreibt Goethe in Rom: »Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet, und ich habe mir die Kenntnis des menschlichen Körpers, bis auf einen gewissen Grad, nicht ohne Mühe erworben. Hier wird man durch die ewige Betrachtung der Statuen immerfort, aber auf eine höhere Weise, hingewiesen. Bei unserer medizinisch-chirurgischen Anatomie kommt es bloß darauf an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle schöne Form darbieten.
In dem großen Lazarett San Spirito hat man den Künstlern zulieb einen sehr schönen Muskelkörper dergestalt bereitet, daß die Schönheit desselben in Verwunderung setzt. Er könnte wirklich für einen geschundenen Halbgott, für einen Marsyas gelten.
So pflegt man auch, nach Anleitung der Alten, das Skelett nicht als eine künstlich zusammengereihte Knochenmasse zu studieren, vielmehr zugleich mit den Bändern, wodurch es schon Leben und Bewegung erhält.«62
Es handelte sich bei Goethe hier vor allem darum, die Gesetze kennenzulernen, nach denen die Natur die organischen und vorzüglich die menschlichen Gestalten bildet, die Tendenz, welche sie bei der Formung derselben verfolgt. So wie er in der Reihe der unendlichen Pflanzengestalten die Urpflanze aufsucht, mit der man noch Pflanzen ins Unendliche erfinden kann, die konsequent sein müssen, d. h. welche jener Naturtendenz vollkommen gemäß sind und welche existieren würden, wenn die geeigneten Bedingungen da wären; ebenso hatte es Goethe in bezug auf die Tiere und den Menschen darauf angelegt, »ideale Charaktere zu entdecken«, welche den Gesetzen der Natur vollkommen gemäß sind. Bald nach seiner Rückkehr aus Italien erfahren wir, daß Goethe »fleißig in anatomicis« ist und im Jahre 1789 schreibt er an Herder: »Ich habe eine neuentdeckte Harmoniam naturae vorzutragen.« Was hier neu entdeckt wurde, dürfte nun ein Teil der Wirbeltheorie des Schädels sein. Die Vollendung dieser Entdeckung fällt aber in das Jahr 1790. Was er bis dahin wußte, war, daß alle Knochen, welche das Hinterhaupt bilden, drei modifizierte Rückenmarkswirbel darstellen. Goethe dachte sich die Sache folgendermaßen. Das Gehirn stellt nur eine Rückenmarksmasse zur höchsten Stufe vervollkommnet dar. Während im Rückenmarke die vorzugsweise den niedrigeren organischen Funktionen dienenden Nerven enden und von dort ausgehen, enden und beginnen im Gehirne die den höheren (geistigen) Funktionen dienenden Nerven, vorzugsweise die Sinnesnerven. Im Gehirne erscheint nur ausgebildet, was im Rückenmarke der Möglichkeit nach schon angedeutet ist. Das Gehirn ist ein vollkommen ausgebildetes Mark, das Rückenmark ein noch nicht zur vollen Entfaltung gekommenes Gehirn. Nun sind den Partien des Rückenmarkes die Wirbelkörper der Wirbelsäule vollkommen angebildet, sind deren notwendige Umhüllungsorgane. Es erscheint nun auf das höchste wahrscheinlich, daß wenn das Gehirn ein Rückenmark auf höchster Potenz ist, auch die dasselbe umhüllenden Knochen nur höher ausgebildete Wirbelkörper seien. Das ganze Haupt erscheint auf diese Weise schon vorgebildet in den niedrigerstehenden körperlichen Organen. Es sind die auch schon auf untergeordneter Stufe tätigen Kräfte auch hier wirksam, nur bilden sie sich im Kopfe zu der höchsten in ihnen liegenden Potenz aus. Wieder handelte es sich für Goethe nur um den Nachweis, wie sich denn die Sache der sinnenfälligen Wirklichkeit nach eigentlich gestaltet? Vom Hinterhauptbein, dem hinteren und vorderen Keilbein, sagt Goethe, erkannte er diese Verhältnisse sehr bald; daß aber auch das Gaumbein, die obere Kinnlade und der Zwischenknochen modifizierte Wirbelkörper seien, erkannte er auf seiner Reise nach Norditalien, als er auf den Dünen des Lido einen geborstenen Schafschädel fand. Dieser Schädel war so glücklich auseinandergefallen, daß in den einzelnen Stücken genau die einzelnen Wirbelkörper zu erkennen waren. Goethe zeigte diese schöne Entdeckung am 30. April 1790 der Frau von Kalb an mit den Worten: »Sagen Sie Herdern, daß ich der Tiergestalt und ihren mancherlei Umbildungen um eine ganze Formel näher gerückt bin und zwar durch den sonderbarsten Zufall.« [WA 9, 202]
Dies war eine Entdeckung von der weittragendsten Bedeutung. Es war damit bewiesen, daß alle Glieder eines organischen Ganzen der Idee nach identisch sind und daß »innerlich ungeformte« organische Massen sich nach außen in verschiedener Weise aufschließen, daß es ein und dasselbe ist, was auf niederer Stufe als Rückenmarksnerv, auf höherer als Sinnesnerv sich zu dem die Außenwelt aufnehmenden, ergreifenden, erfassenden Sinnesorgane aufschließt. Jedes Lebendige war damit in seiner von innen heraus sich formenden, gestaltenbildenden Kraft aufgezeigt; es war als wahrhaft Lebendiges jetzt erst begriffen. Goethes Grundideen waren jetzt auch in bezug auf die Tierbildung zu einem Abschlusse gekommen. Es war die Zeit zur Ausarbeitung derselben gekommen, obwohl er den Plan dazu schon früher hatte, wie uns der Briefwechsel Goethes mit F. H. Jacobi beweist. Als er im Juli 1790 dem Herzoge in das schlesische Lager folgte, war er dort (in Breslau) vorzugsweise mit seinen Studien über die Bildung der Tiere beschäftigt. Er begann dort auch wirklich seine diesbezüglichen Gedanken aufzuzeichnen. Am 31. August 1790 schreibt er an Friedrich von Stein: »In allem dem Gewühle hab’ ich angefangen, meine Abhandlung über die Bildung der Tiere zu schreiben.« [WA 9, 223]
In einem umfassenden Sinn enthält die Idee des Tiertypus das Gedicht: »Die Metamorphose der Tiere«, das 1820 im zweiten der »Morphologischen Hefte« zuerst erschienen ist.63 In den Jahren 1790-95 nahm von naturwissenschaftlichen Arbeiten die Farbenlehre Goethe vorzüglich in Anspruch. Zu Anfang des Jahres 1795 war Goethe in Jena, wo auch die Gebrüder v. Humboldt, Max Jacobi und Schiller anwesend waren. In dieser Gesellschaft brachte Goethe seine Ideen über vergleichende Anatomie vor. Die Freunde fanden seine Darstellungen so bedeutsam, daß sie ihn aufforderten, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Wie aus einem Schreiben Goethes an Jacobi den Älteren hervorgeht [WA 10, 232], hat Goethe dieser Aufforderung sogleich in Jena Genüge getan, indem er das im 1. Bande von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners National-Literatur [S. 241-275] abgedruckte Schema einer vergleichenden Knochenlehre Max Jacobi diktierte. Die einleitenden Kapitel wurden 1796 weiter ausgeführt [Ebenda S. 325 ff.]. In diesen Abhandlungen sind Goethes Grundanschauungen über Tierbildung ebensosehr wie in seiner Schrift: »Versuch, die Metamorphose der Pflanze zu erklären« jene über Pflanzenbildung enthalten. Im Verkehre mit Schiller – seit 1794 – trat ein Wendepunkt seiner Anschauungen ein, indem er sich von nun an seiner eigenen Verfahrungs- und Forschungsweise gegenüber betrachtend verhielt, wobei ihm seine Anschauungsweise gegenständlich wurde. Wir wollen nach diesen historischen Betrachtungen uns nun zum Wesen und der Bedeutung von Goethes Anschauungen über die Bildung der Organismen wenden.
25 Vgl. Natw. Schr., 2. Bd., S. 68ff.
26 [Brief an J. K. Lavater, etwa 20.März 1776; WA 3, 42.]
27 Vgl. Natw. Schr., 2. Bd., S. 69 [Eingang].
28 Ebenda.
29 Siehe Natw. Schr., 1. Bd., S. 247.
30 Siehe Natw. Schr., 2. Bd. [S. 68 f.].
31 Ebenda [S. 69].
32 Lavaters Fragmente II, 143.
33 Siehe Natw. Schr., 2. Bd. [S. 69].
34 [Ebenda.]
35 »Ein beschwerlicher Liebesdienst, den ich übernommen habe, führt mich meiner Liebhaberei näher. Loder erklärt mir alle Beine und Muskeln, und ich werde in wenig Tagen vieles fassen.« [WA 5, 207]
36 »Mir hat er (Loder) in diesen acht Tagen, die wir, freilich soviel als meine Wächterschaft litt, fast ganz dazu anwandten, Osteologie und Myologie durchdemonstriert.³ [WA 5, 211]
37 [Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1. Teil, 5. Buch, in: Herders Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan; Berlin 1877-1913, 13. Bd., S. 167.]
38 Oken, Lehrbuch der Naturphilosophie. 2. Aufl., Jena 1831,S. 389.
39 Herder, a. a. 0. 1. Teil, 5. Buch, bzw. I. Teil, 2. Buch. 40 Briefe an J. H. Merck, Darmstadt 1835 [S. 354 f.]. 41 In: »Natuurkundige verhandelingen over den orang Outang.. .«. Amsterdam 1782, p. 75, ß 2.
42 [WA 6,75]
43 »Es ist mir ein köstliches Vergnügen geworden, ich habe eine anatomische Entdeckung gemacht, die wichtig und schön ist.« [WA 6, 259]
44 »Ich habe gefunden – weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freude macht – das os intermaxillare am Menschen!« [WA 6, 258]
45 Wir führten ihre Worte schon oben [S. 26] in anderem Zusammenhange an. 46 [Italienische Reise.] 47 Briefe an J. H. Merck, S. 438.
48 Ebenda S. 448. 49 Man nahm bisher an, daß Camper die Abhandlung anonym erhalten habe. Sie kam ihm auf einem Umwege zu: Goethe schickte sie erst an Sömmerring, dieser an Merck und der letztere sollte sie an Camper gelangen lassen. Nun befindet sich aber unter den Briefen Mercks an Camper, die noch ungedruckt sind, und die sich im Originale in der »Bibliothéque de la société néerlandaise pour les progrËs de la médecine« zu Amsterdam befinden, ein Brief vom 17. Januar 1785 mit folgender Stelle (wir zitieren buchstäblich): Goethe, PoËte ce’le’bre, conseiller intime du Duc de Weimar, vient de m’envoier un specimen osteologicum, que dost vous etre envoie apres que Mr. Sömring l’aura …. . C’est un petit traite’ sur l’os intermaxillaire, qui nous apprend entre autres la verite’, que le Triche(chus) a 4 dents incisives et que le Chameau a en deux.³ Ein Brief vom 10. März 1785 zeigt an, daß Merck die Abhandlung demnächst an Camper schicken wird, wobei wieder der Name Goethe ausdrücklich vorkommt: «J’aurai l’honneur de vous envoier le specimen osteolog. de Mr. de Goethe, mon ami, par une voie, qui ne sera pas conteuse un de ces jours.« Am 28. April 1785 spricht Merck die Hoffnung aus, daß Camper die Sache erhalten habe, wobei wieder »Goethe« vorkommt. Es ist somit wohl kein Zweifel, daß Camper den Verfasser kannte.
50 Briefe an J. H. Merck, S. 466.
51 Ebenda, S. 469.
52 Ebenda S. 481.
53 Goethes Annalen zu 1790.
54 Knebels Literarischer Nachlaß etc., hg. v. Varnhagen v. Ense u. Th. Mundt, Leipzig 1835, II. Bd., S.236.
55 [Rudolf Wagner, Samuel Thomas von Sömmerrings Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen, 1. Abt.:] Briefe berühmter Zeitgenossen an Sömmerring [Leipzig 1844] S. 293.
56 Ebenda – s. Anm. 55 -S. 22.
57 Natw. Schr., 1. Bd., S.405.
58 Gespräche mit Eckermann, 2. Aug. 1830.
59 Goethes Naturwissenschaftliche Korrespondenz (1812-1832), hg. v. F. Th. Bratranek, 1. Bd., S. 51.
60 [Froriep, Notizen aus dem Gebiet der Natur- und Heilkunde, Bd. 19, 1828, S.283.]
61 Briefe an J. H. Merck, S. 476.
62 [Italienische Reise.]
63 Vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 344ff., wo einzelnes noch in Anmerkungen gesagt ist
IV. Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes Schriften über organische Bildung
Die hohe Bedeutung von Goethes morphologischen Arbeiten ist darin zu suchen, daß in denselben die theoretische Grundlage und die Methode des Studiums organischer Naturen festgestellt ist, welches eine wissenschaftliche Tat ersten Ranges ist.
Will man dieses in der richtigen Weise würdigen, so muß man sich vor allem den großen Unterschied gegenwärtig halten, welcher zwischen Erscheinungen der anorganischen und solchen der organischen Natur besteht. Eine Erscheinung der ersteren Art ist z. B. der Stoß zweier elastischer Kugeln aufeinander. Ist die eine Kugel ruhend und stößt die andere in einer gewissen Richtung und mit einer gewissen Geschwindigkeit auf dieselbe, so erhält jene ebenfalls eine gewisse Bewegungsrichtung und eine gewisse Geschwindigkeit. Handelt es sich nun darum, eine solche Erscheinung zu begreifen, so kann dies nur dadurch erreicht werden, daß wir das, was unmittelbar für die Sinne da ist, in Begriffe verwandeln. Es muß uns dieses in dem Maße gelingen, daß nichts Sinnenfällig-Wirkliches bleibt, welches wir nicht begrifflich durchdrungen hätten. Wir sehen die eine Kugel ankommen, an die andere stoßen, letztere sich weiter bewegen. Wir haben diese Erscheinung begriffen, wenn wir aus Masse, Richtung und Geschwindigkeit der ersten und aus der Masse der anderen die Geschwindigkeit und Richtung von letzterer angeben können; wenn wir einsehen, daß unter den gegebenen Verhältnissen jene Erscheinung mit Notwendigkeit eintreten müsse. Das letztere heißt aber nichts anderes, als: Es muß dasjenige, was sich unseren Sinnen darbietet, als eine notwendige Folge dessen erscheinen, was wir ideell vorauszusetzen haben. Ist das letztere der Fall, so können wir sagen, daß sich Begriff und Erscheinung decken. Es ist nichts im Begriffe, was nicht auch in der Erscheinung wäre und nichts in der Erscheinung, was nicht auch im Begriffe wäre. Nun haben wir auf jene Verhältnisse, als deren notwendige Folge eine Erscheinung der unorganischen Natur auftritt, näher einzugehen. Hier tritt der wichtige Umstand ein, daß die sinnlich wahrnehmbaren Vorgänge der unorganischen Natur durch Verhältnisse bedingt werden, welche ebenfalls der Sinnenwelt angehören. In unserem Falle kommen Masse, Geschwindigkeit und Richtung, also durchaus Verhältnisse der Sinnenwelt in Betracht. Es tritt nichts weiteres als Bedingung der Erscheinung auf. Nur die unmittelbar sinnlich-wahrnehmbaren Umstände bedingen sich untereinander. Eine begriffliche Erfassung solcher Vorgänge ist also nichts anderes als eine Ableitung von Sinnenfällig-Wirklichem aus Sinnenfällig-Wirklichem. Räumlich-zeitliche Verhältnisse, Masse, Gewicht oder sinnlich wahrnehmbare Kräfte wie Licht oder Wärme sind es, welche Erscheinungen hervorrufen, die wieder in dieselbe Reihe gehören. Ein Körper wird erwärmt und vergrößert dadurch sein Volumen; das erste wie das zweite gehört der Sinnenwelt an, sowohl die Ursache wie die Wirkung. Wir brauchen also, um solche Vorgänge zu begreifen, gar nicht aus der Sinnenwelt herauszugehen. Wir leiten nur innerhalb derselben eine Erscheinung aus der andern ab. Wenn wir also eine solche Erscheinung erklären, d. h. begrifflich durchdringen wollen, so haben wir in den Begriff keine anderen Elemente aufzunehmen als solche, welche auch anschaulich mit unseren Sinnen wahrzunehmen sind. Wir können alles anschauen, was wir begreifen wollen. Und darin besteht das Decken von Wahrnehmung (Erscheinung) und Begriff. Es bleibt uns nichts dunkel in den Vorgängen, weil wir die Verhältnisse kennen, aus denen sie folgen. Hiermit haben wir das Wesen der unorganischen Natur entwickelt und zugleich gezeigt, inwiefern wir dieselbe, ohne über sie hinauszugehen, aus sich selbst erklären können. An dieser Erklärbarkeit hat man nun niemals gezweifelt, seit man überhaupt angefangen hat, über die Natur dieser Dinge zu denken. Man hat zwar nicht immer den obigen Gedankengang durchgemacht, aus welchem die Möglichkeit einer Deckung von Begriff und Wahrnehmung folgt; doch hat man nie Anstand genommen, die Erscheinungen auf die angedeutete Weise aus der Natur ihres eigenen Wesens zu erklären.64
Anders aber verhielt es sich bis zu Goethe mit den Erscheinungen der organischen Welt. Beim Organismus erscheinen die für die Sinne wahrnehmbaren Verhältnisse, z. B. Form, Größe, Farbe, Wärmeverhältnisse eines Organes, nicht bedingt durch Verhältnisse der gleichen Art. Man kann z. B. von der Pflanze nicht sagen, daß Größe, Form, Lage usw. der Wurzel die sinnlich-wahrnehmbaren Verhältnisse am Blatte oder an der Blüte bedingen. Ein Körper, bei dem dies der Fall wäre, wäre nicht ein Organismus, sondern eine Maschine. Man muß vielmehr zugestehen, daß alle sinnlichen Verhältnisse an einem lebenden Wesen nicht als Folge von andern sinnlich-wahrnehmbaren Verhältnissen erscheinen65, wie dies bei der unorganischen Natur der Fall ist. Alle sinnlichen Qualitäten erscheinen hier vielmehr als Folge eines solchen, welches nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist. Sie erscheinen als Folge einer über den sinnlichen Vorgängen schwebenden höheren Einheit. Nicht die Gestalt der Wurzel bedingt jene des Stammes und wiederum die Gestalt von diesem jene des Blattes usw., sondern alle diese Formen sind bedingt durch ein über ihnen Stehendes, welches selbst nicht wieder sinnlich-anschaulicher Form ist; sie sind wohl füreinander da, nicht aber durcheinander. Sie bedingen sich nicht untereinander, sondern sind alle bedingt von einem anderen. Wir können hier das, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht wieder aus sinnlich wahrnehmbaren Verhältnissen ableiten, wir müssen in den Begriff der Vorgänge Elemente aufnehmen, welche nicht der Welt der Sinne angehören, wir müssen über die Sinnenwelt hinausgehen. Es genügt die Anschauung nicht mehr, wir müssen die Einheit begrifflich erfassen, wenn wir die Erscheinungen erklären wollen. Dadurch aber tritt eine Entfernung von Anschauung und Begriff ein; sie scheinen sich nicht mehr zu decken; der Begriff schwebt über der Anschauung. Es wird schwer, den Zusammenhang beider einzusehen. Während in der unorganischen Natur Begriff und Wirklichkeit eins waren, scheinen sie hier auseinanderzugehen und eigentlich zwei verschiedenen Welten anzugehören. Die Anschauung, welche sich den Sinnen unmittelbar darbietet, scheint ihre Begründung, ihre Wesenheit nicht in sich selbst zu tragen. Das Objekt scheint aus sich selbst nicht erklärbar, weil sein Begriff nicht von ihm selbst, sondern von etwas anderem entnommen ist. Weil das Objekt nicht von Gesetzen der Sinnenwelt beherrscht erscheint, doch aber für die Sinne da ist, ihnen erscheint, so ist es, als wenn man hier vor einem unlösbaren Widerspruche in der Natur stünde, als wenn eine Kluft bestünde zwischen anorganischen Erscheinungen, welche aus sich selbst zu begreifen sind, und organischen Wesen, bei denen ein Eingriff in die Gesetze der Natur geschieht, bei denen allgemeingültige Gesetze auf einmal durchbrochen würden. Diese Kluft nahm man in der Tat bis auf Goethe allgemein in der Wissenschaft an; erst ihm gelang es, das lösende Wort des Rätsels zu sprechen. Erklärbar aus sich selbst sollte, so dachte man vor ihm, nur die unorganische Natur sein; bei der organischen höre das menschliche Erkenntnisvermögen auf. Man wird die Größe der Tat, welche Goethe vollbracht hat, am besten ermessen, wenn man bedenkt, daß der große Reformator der neueren Philosophie Kant jenen alten Irrtum nicht nur vollkommen teilte, sondern sogar eine wissenschaftliche Begründung dafür zu finden suchte, daß es dem menschlichen Geiste nie gelingen werde, die organischen Bildungen zu erklären. Wohl sah er die Möglichkeit eines Verstandes ein – eines intellectus archetypus, eines intuitiven Verstandes -, dem es gegeben wäre, den Zusammenhang von Begriff und Wirklichkeit bei den organischen Wesen geradeso wie bei den Anorganismen zu durchschauen; allein dem Menschen selbst sprach er die Möglichkeit eines solchen Verstandes ab. Der menschliche Verstand soll nämlich nach Kant die Eigenschaft haben, daß er sich die Einheit, den Begriff einer Sache nur als hervorgehend aus der Zusammenwirkung der Teile – als durch Abstraktion gewonnenes analytisches Allgemeine – denken kann, nicht aber so, daß jeder einzelne Teil als der Ausfluß einer bestimmten konkreten (synthetischen) Einheit, eines Begriffes in intuitiver Form erschiene. Daher sei es diesem Verstande auch unmöglich, die organische Natur zu erklären, denn diese müßte ja aus dem Ganzen in die Teile wirkend gedacht werden. Kant sagt darüber: “Unser Verstand hat also das Eigene für die Urteilskraft, daß ihm Erkenntnis durch denselben, durch das Allgemeine, das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem nicht abgeleitet werden kann”.66 Wir müßten danach also bei den organischen Bildungen darauf verzichten, den notwendigen Zusammenhang der Idee des Ganzen, welche nur gedacht werden kann mit dem, was unseren Sinnen im Raume und in Zeit erscheint, zu erkennen. Wir müßten uns nach Kant darauf beschränken, einzusehen, daß ein solcher Zusammenhang existiert; die logische Forderung aber zu erkennen, wie der allgemeine Gedanke, die Idee aus sich heraustritt und als sinnenfällige Wirklichkeit sich offenbart, diese könne bei den Organismen nicht erfüllt werden. Wir müßten vielmehr annehmen, daß sich Begriff und Wirklichkeit hier unvermittelt gegenüberstünden und durch einen außerhalb der beiden liegenden Einfluß etwa auf dieselbe Weise zustande gebracht worden seien, wie der Mensch nach einer von ihm aufgeworfenen Idee irgendein zusammengesetztes Ding, z. B. eine Maschine aufbaut. Damit war die Möglichkeit einer Erklärung der Organismenwelt geleugnet, ihre Unmöglichkeit sogar scheinbar bewiesen.
So standen die Dinge, als Goethe sich daran machte, die organischen Wissenschaften zu pflegen. Aber er ging an das Studium derselben, nachdem er durch die wiederholte Lektüre des Philosophen Spinoza in der angemessensten Weise darauf vorbereitet war.
Zum ersten Male machte sich Goethe an Spinoza im Frühjahre 1774. Goethe sagt von dieser seiner ersten Bekanntschaft mit dem Philosophen in »Dichtung und Wahrheit«67: »Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hatte, geriet ich endlich an die Ethik dieses Mannes«. Im Sommer desselben Jahres traf Goethe mit Friedrich Jacobi zusammen. Letzterer, der sich ausführlicher mit Spinoza auseinandersetzte – wovon seine Briefe über die Lehre des Spinoza, 1785, zeugen -, war ganz dazu geeignet, Goethe tiefer in das Wesen des Philosophen einzuführen. Spinoza wurde damals auch viel besprochen, denn bei Goethe »war noch alles in der ersten Wirkung und Gegenwirkung, gärend und siedend«.68 Einige Zeit später fand er in der Bibliothek seines Vaters ein Buch, dessen Autor gegen Spinoza heftig kämpfte, ja ihn bis zur vollkommenen Fratze entstellte. Dies wurde der Anlaß, daß sich Goethe mit dem tiefen Denker noch einmal ernstlich beschäftigte. Er fand in seinen Schriften Aufschlüsse über die tiefsten wissenschaftlichen Fragen, die er damals aufzuwerfen fähig war. Im Jahre 1784 liest der Dichter Spinoza mit Frau von Stein. Er schreibt am 19. November 1784 an die Freundin: »Ich bringe den Spinoza lateinisch mit, wo alles viel deutlicher . . . ist.« [WA 6, 392] Die Wirkung dieses Philosophen auf Goethe war nun eine ungeheure. Goethe selbst war sich darüber stets klar. Im Jahre 1816 schreibt er an Zelter: »Außer Shakespeare und Spinoza wüßt’ ich nicht, daß irgend ein Abgeschiedener eine solche Wirkung auf mich getan (wie Linné).« [WA 27, 219] Er betrachtet also Shakespeare und Spinoza als die beiden Geister, welche auf ihn den größten Einfluß ausgeübt haben. Wie nun sich dieser Einfluß in bezug auf die Studien organischer Bildung äußerte, das wird uns am deutlichsten, wenn wir uns ein Wort über Lavater aus der »Italienischen Reise« vorhalten: Lavater vertrat eben auch jene damals allgemein gangbare Ansicht, daß ein Lebendiges nur durch einen nicht in der Natur der Wesen selbst gelegenen Einfluß, durch eine Störung der allgemeinen Naturgesetze entstehen könne. Darüber schrieb denn Goethe die Worte: »Neulich fand ich in einer leidig apostolisch-kapuzinermäßigen Deklamation des Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles, was Leben hat, lebt durch etwas außer sich. Oder so ungefähr klang’s. Das kann nun so ein Heidenbekehrer hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht beim Ärmel«.69 Dies ist nun ganz im Geiste Spinozas gesprochen. Spinoza unterscheidet drei Arten von Erkenntnis. Die erste Art ist jene, bei der wir uns bei gewissen gehörten oder gelesenen Worten der Dinge erinnern und uns von diesen Dingen gewisse Vorstellungen bilden, ähnlich denen, durch welche wir die Dinge bildlich vorstellen. Die zweite Art der Erkenntnis ist jene, bei welcher wir uns aus zureichenden Vorstellungen von den Eigenschaften der Dinge Gemeinbegriffe bilden. Die dritte Art der Erkenntnis ist nun aber diejenige, bei welcher wir von der zureichenden Vorstellung des wirklichen Wesens einiger Attribute Gottes zur zureichenden Erkenntnis des Wesens der Dinge fortschreiten. Diese Art der Erkenntnis nennt nun Spinoza scientia intuitiva, das anschauende Wissen. Diese letztere, die höchste Art der Erkenntnis, war es nun, die Goethe anstrebte. Man muß sich dabei vor allem klar sein, was Spinoza damit sagen will: Die Dinge sollen so erkannt werden, daß wir in ihrem Wesen einige Attribute Gottes erkennen. Der Gott Spinozas ist der Ideengehalt der Welt, das treibende, alles stützende und alles tragende Prinzip. Man kann sich nun dieses entweder so vorstellen, daß man es als selbständiges, für sich abgesondert von den endlichen Wesen existierendes Wesen voraussetzt, welches diese endlichen Dinge neben sich hat, sie beherrscht und in Wechselwirkung versetzt. Oder aber, man stellt sich dieses Wesen als aufgegangen in den endlichen Dingen vor, so daß es nicht mehr über und neben ihnen, sondern nur mehr in ihnen existiert. Diese Ansicht leugnet jenes Urprinzip keineswegs, sie erkennt es vollkommen an, nur betrachtet sie es als ausgegossen in die Welt. Die erste Ansicht betrachtet die endliche Welt als Offenbarung des Unendlichen, aber dieses Unendliche bleibt in seinem Wesen erhalten, es vergibt sich nichts. Es geht nicht aus sich heraus, es bleibt, was es vor seiner Offenbarung war. Die zweite Ansicht sieht die endliche Welt ebenso als eine Offenbarung des Unendlichen an, nur nimmt sie an, daß dieses Unendliche in seinem Offenbarwerden ganz aus sich herausgegangen ist, sich selbst, sein eigenes Wesen und Leben in seine Schöpfung gelegt hat, so daß es nur mehr in dieser existiert. Da nun Erkennen offenbar ein Gewahrwerden des Wesens der Dinge ist, dieses Wesen doch aber nur in dem Anteile, den ein endliches Wesen von dem Urprinzipe aller Dinge hat, bestehen kann, so heißt Erkennen ein Gewahrwerden jenes Unendlichen in den Dingen.70 Nun nahm man, wie wir oben ausgeführt haben, vor Goethe bei der unorganischen Natur wohl an, daß man sie aus sich selbst erklären könne, daß sie ihre Begründung und ihr Wesen in sich trage, nicht so aber bei der organischen. Hier konnte man jenes Wesen, welches sich in dem Objekte offenbart, nicht in dem letzteren selbst erkennen. Man nahm es daher außerhalb desselben an. Kurz: Man erklärte die organische Natur nach der ersten Ansicht, die anorganische nach der zweiten. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Erkenntnis hatte, wie wir gesehen haben, Spinoza bewiesen. Er war zu sehr Philosoph, als daß er diese theoretische Forderung auch auf die speziellen Zweige der Organik hätte ausdehnen können.* Dies blieb nun Goethe vorbehalten. Nicht nur der obige Ausspruch, sondern noch zahlreiche andere beweisen uns, daß er sich entschieden zur spinozistischen Auffassung bekannte. In »Dichtung und Wahrheit«71: »Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte.« Und in bezug auf das 1811 erschienene Buch Jacobis: »Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung« bemerkt Goethe72: »Wie konnte mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott. Mußte, bei meiner reinen, tiefen, angeborenen und geübten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte, mußte nicht ein so seltsamer, einseitig-beschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für ewig entfernen?« Goethe war sich des großen Schrittes, den er in der Wissenschaft vollführt, vollständig bewußt; er erkannte, daß er, indem er die Schranken zwischen anorganischer und organischer Natur brach und Spinozas Denkweise konsequent durchführte, eine bedeutsame Wendung der Wissenschaft herbeiführe. Wir finden diese Erkenntnis in dem Aufsatz »Anschauende Urteilskraft« ausgesprochen. Nachdem er die oben von uns mitgeteilte Kantsche Begründung der Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, einen Organismus zu erklären, in der »Kritik der Urteilskraft« gefunden, spricht er sich dagegen so aus: »Zwar scheint der Verfasser (Kant) hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen, so dürft’ es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen.« [Natw. Schr., 1. Bd. S. 116.]
Das Wesentliche eines Vorganges der unorganischen Natur oder anders gesagt: eines der bloßen Sinnenwelt angehörigen Vorganges besteht darin, daß er durch einen anderen ebenfalls nur der Sinnenwelt angehörigen Prozeß bewirkt und determiniert wird. Nehmen wir nun an, der verursachende Prozeß bestehe aus den Elementen m, c und r73, der bewirkte aus m’, c’ und r’; so ist immer bei bestimmten m, c, und r, m’, c’ und r’ eben durch jene bestimmt. Will ich nun den Vorgang begreifen, so muß ich den Gesamtvorgang, der sich aus der Ursache und Wirkung zusammensetzt, in einem gemeinsamen Begriffe darstellen. Dieser Begriff ist nun aber nicht derart, daß er im Vorgange selbst liegen und daß er den Vorgang bestimmen könnte. Er faßt nun beide Vorgänge in einen gemeinsamen Ausdruck zusammen. Er bewirkt und bestimmt nicht. Nur die Objekte der Sinnenwelt bestimmen sich. Die Elemente m, c und r sind auch für die äußeren Sinne wahrnehmbare Elemente. Der Begriff erscheint nur da, um dem Geiste als Mittel der Zusammenfassung zu dienen, er drückt etwas aus, was nicht ideell, nicht begrifflich, was sinnenfällig wirklich ist. Und jenes etwas, was er ausdrückt, dies ist sinnenfälliges Objekt. Auf der Möglichkeit, die Außenwelt durch die Sinne aufzufassen und ihre Wechselwirkung durch Begriffe auszudrücken, beruht die Erkenntnis der anorganischen Natur. Die Möglichkeit, auf diese Art Dinge zu erkennen, sah Kant für die einzige dem Menschen zukommende an. Dieses Denken nannte er diskursives; was wir erkennen wollen, ist äußere Anschauung; der Begriff, die zusammenfassende Einheit, bloßes Mittel. Wollten wir aber die organische Natur erkennen, so müßten wir das ideelle Moment, das Begriffliche nicht als ein solches fassen, das ein anderes ausdrückt, bedeutet, von diesem sich seinen Inhalt borgt, sondern wir müßten das Ideelle als solches erkennen; es müßte einen eigenen aus sich selbst, nicht aus der räumlich-zeitlichen Sinnenwelt stammenden Inhalt haben. Jene Einheit, welche dort unser Geist bloß abstrahiert, müßte sich auf sich selbst bauen, sie müßte sich aus sich heraus gestalten, sie müßte ihrem eigenen Wesen gemäß, nicht nach den Einflüssen anderer Objekte gebildet sein. Die Erfassung einer solchen aus sich selbst sich gestaltenden, sich aus eigener Kraft offenbarenden Entität sollte dem Menschen versagt sein. Was ist nun zu einer solchen Erfassung nötig? Eine Urteilskraft, welche einem Gedanken auch einen anderen als bloß einen durch die äußeren Sinne aufgenommenen Stoff verleihen kann, eine solche, welche nicht bloß Sinnenfälliges erfassen kann, sondern auch rein Ideelles für sich, abgesondert von der sinnlichen Welt. Man kann nun einen Begriff, der nicht durch Abstraktion aus der Sinnenwelt genommen ist, sondern der einen aus ihm und nur aus ihm fließenden Gehalt hat, einen intuitiven Begriff und die Erkenntnis desselben eine intuitive nennen. Was daraus folgt, ist klar: Ein Organismus kann nur im intuitiven Begriffe erfaßt werden. Daß es dem Menschen gegönnt sei, so zu erkennen, das zeigt Goethe durch die Tat.*
In der unorganischen Welt herrscht Wechselwirkung der Teile einer Erscheinungsreihe, gegenseitiges Bedingtsein der Glieder derselben durcheinander. In der organischen ist dies nicht der Fall. Hier bestimmt nicht ein Glied eines Wesens das andere, sondern das Ganze (die Idee) bedingt jedes Einzelne aus sich selbst, seinem eigenen Wesen gemäß. Dieses sich aus sich selbst Bestimmende kann man mit Goethe eine Entelechie nennen. Entelechie ist also die sich aus sich selbst in das Dasein rufende Kraft. Was in die Erscheinung tritt, hat auch sinnenfälliges Dasein, aber dies ist durch jenes entelechische Prinzip bestimmt. Daraus entspringt auch der scheinbare Widerspruch. Der Organismus bestimmt sich aus sich selbst, macht seine Eigenschaften einem vorausgesetzten Prinzipe gemäß, und doch ist er sinnlich-wirklich. Er ist also auf eine ganz andere Weise zu seiner sinnlichen Wirklichkeit gekommen als die andern Objekte der Sinnenwelt; er scheint daher auf nicht natürlichem Wege entstanden zu sein. Nun ist es aber auch ganz erklärlich, daß der Organismus in seiner Äußerlichkeit ebenso den Einflüssen der Sinnenwelt ausgesetzt ist, wie jeder andere Körper. Der vom Dache fallende Stein kann ebenso ein lebendes Wesen, wie einen unorganischen Körper treffen. Durch Aufnahme von Nahrung usw. ist der Organismus mit der Außenwelt im Zusammenhange; alle physischen Verhältnisse der Außenwelt wirken auf ihn ein. Natürlich kann dies auch nur insoferne stattfinden, als der Organismus Objekt der Sinnenwelt, räumlich-zeitliches Objekt ist. Dieses Objekt der Außenwelt nun, das zum Dasein gekommene entelechische Prinzip, ist die äußere Erscheinung des Organismus. Da er hier aber nicht nur seinen eigenen Bildungsgesetzen, sondern auch den Bedingungen der Außenwelt unterworfen ist, nicht nur so ist, wie er dem Wesen des sich aus sich selbst bestimmenden entelechischen Prinzipes gemäß sein sollte, sondern so, wie er von anderem abhängig, beeinflußt ist, so erscheint er gleichsam sich selbst nie ganz angemessen, nie bloß seiner eigenen Wesenheit gehorchend. Da tritt nun die menschliche Vernunft ein und bildet sich in der Idee einen Organismus, der nicht den Einflüssen der Außenwelt gemäß, sondern nur jenem Prinzipe entsprechend ist. Jeder zufällige Einfluß, der mit dem Organischen als solchem nichts zu tun hat, fällt dabei ganz weg. Diese rein dem Organischen im Organismus entsprechende Idee ist nun die Idee des Urorganismus, der Typus Goethes. Hieraus sieht man auch die hohe Berechtigung dieser Typusidee ein. Sie ist nicht ein bloßer Verstandesbegriff, sie ist dasjenige, was in jedem Organismus das wahrhaft Organische ist, ohne welches derselbe nicht Organismus wäre. Sie ist sogar reeller als jeder einzelne wirkliche Organismus, weil sie sich in jedem Organismus offenbart. Sie drückt auch das Wesen eines Organismus voller, reiner aus als jeder einzelne, besondere Organismus. Sie ist auf wesentlich andere Weise gewonnen als der Begriff eines unorganischen Vorganges. Jener ist abgezogen, abstrahiert aus der Wirklichkeit, er ist nicht in letzterer wirksam; die Idee des Organismus aber ist als Entelechie im Organismus tätig, wirksam; sie ist in der von unserer Vernunft erfaßten Form nur die Wesenheit der Entelechie selbst. Sie faßt die Erfahrung nicht zusammen; sie bewirkt das zu Erfahrende. Goethe drückt dies mit den Worten aus: »Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen, Vernunft erfordert.« (Sprüche in Prosa [Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 379]) Damit ist jene Art der Realität, die dem Goetheschen Urorganismus (Urpflanze oder Urtier) zukommt, erklärt. Diese Goethesche Methode ist offenbar die einzig mögliche, um in das Wesen der Organismenwelt einzudringen.
Beim Unorganischen ist es als wesentlich zu betrachten, daß die Erscheinung in ihrer Mannigfaltigkeit mit der sie erklärenden Gesetzlichkeit nicht identisch ist, sondern auf letztere, als auf ein ihr Äußeres, bloß hinweist. Die Anschauung – das materielle Element der Erkenntnis – die uns durch die äußeren Sinne gegeben ist, und der Begriff – das formelle – durch den wir die Anschauung als notwendig erkennen, stehen einander gegenüber als zwei einander zwar objektiv fordernde Elemente, aber so daß der Begriff nicht in den einzelnen Gliedern einer Erscheinungsreihe selbst liegt, sondern in einem Verhältnisse derselben zueinander. Dieses Verhältnis, welches die Mannigfaltigkeit in ein einheitliches Ganze zusammenfaßt, ist in den einzelnen Teilen des Gegebenen begründet, aber als Ganzes (als Einheit) kommt es nicht zur realen, konkreten Erscheinung. Zur äußeren Existenz – im Objekte – kommen nur die Glieder dieses Verhältnisses. Die Einheit, der Begriff kommt als solcher erst in unserem Verstande zur Erscheinung. Es kommt ihm die Aufgabe zu, das Mannigfaltige der Erscheinung zusammenzufassen, er verhält sich zu dem letzteren als Summe. Wir haben es hier mit einer Zweiheit zu tun, mit der mannigfaltigen Sache, die wir anschauen, und mit der Einheit, die wir denken. In der organischen Natur stehen die Teile des Mannigfaltigen eines Wesens nicht in einem solchen äußerlichen Verhältnisse zueinander. Die Einheit kommt mit der Mannigfaltigkeit zugleich, als mit ihr identisch in dem Angeschauten zur Realität. Das Verhältnis der einzelnen Glieder eines Erscheinungsganzen (Organismus) ist ein reales geworden. Es kommt nicht mehr bloß in unserem Verstande zur konkreten Erscheinung, sondern im Objekte selbst, in welch letzterem es die Mannigfaltigkeit aus sich selbst hervorbringt. Der Begriff hat nicht bloß die Rolle einer Summe, eines Zusammenfassenden, welches sein Objekt außer sich hat; er ist mit demselben vollkommen eins geworden. Was wir anschauen, ist nicht mehr verschieden von dem, wodurch wir das Angeschaute denken; wir schauen den Begriff als Idee selbst an. Daher nennt Goethe das Vermögen, wodurch wir die organische Natur begreifen, anschauende Urteilskraft. Das Erklärende – das Formelle der Erkenntnis, der Begriff – und das Erklärte – das Materielle, die Anschauung – sind identisch. Die Idee, durch welche wir das Organische erfassen, ist somit wesentlich verschieden von dem Begriffe, durch den wir das Unorganische erklären; sie faßt ein gegebenes Mannigfaltige nicht bloß – wie eine Summe – zusammen, sondern setzt ihren eigenen Inhalt aus sich heraus. Sie ist Resultat des Gegebenen (der Erfahrung), konkrete Erscheinung. Hierin liegt der Grund, warum wir in der unorganischen Naturwissenschaft von Gesetzen (Naturgesetzen) sprechen und die Tatsachen durch sie erklären, in der organischen. Natur dies dagegen durch Typen tun. Das Gesetz ist mit der Mannigfaltigkeit der Anschauung, die es beherrscht, nicht ein und dasselbe, es steht über ihr; im Typus aber ist Ideelles und Reales zur Einheit geworden, das Mannigfaltige kann nur als ausgehend von einem Punkte des mit ihm identischen Ganzen erklärt werden.
In der Erkenntnis dieses Verhältnisses zwischen der Wissenschaft des Unorganischen und jener des Organischen liegt das Bedeutsame Goethescher Forschung. Man irrt daher, wenn man heute vielfach die letztere für eine Vorausnahme jenes Monismus erklärt, welcher eine das Organische wie das Unorganische umfassende einheitliche Naturanschauung dadurch begründen will, daß er das erstere auf dieselben Gesetze – die mechanisch-physikalischen Kategorien und Naturgesetze – zurückzuführen bestrebt ist, von denen das letztere bedingt wird. Wie Goethe sich eine monistische Anschauung denkt, haben wir gesehen. Die Art, wie er das Organische erklärt, ist wesentlich verschieden von der, wie er beim Unorganischen vorgeht. Er will die mechanische Erklärungsweise streng abgelehnt wissen bei dem, was höherer Art ist (siehe »Sprüche in Prosa« [Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 413]). Er tadelt an Kieser und Link, daß sie die organischen Erscheinungen auf unorganische Wirkungsweisen zurückführen wollen. (Ebenda 1. Bd., S. 198 u. 206.)
Die Veranlassung zu der angedeuteten irrtümlichen Ansicht über Goethe hat das Verhältnis gegeben, in das er sich zu Kant in bezug auf die Möglichkeit einer Erkenntnis der organischen Natur gesetzt hat. Wenn aber Kant behauptet, daß unser Verstand die organische Natur nicht zu erklären vermag, so meint er damit gewiß nicht, daß sie auf mechanischer Gesetzlichkeit beruhe, und er sie nur als eine Folge mechanisch-physikalischer Kategorien nicht fassen kann. Der Grund von diesem Unvermögen liegt nach Kant vielmehr gerade darin, daß unser Verstand bloß Mechanisch-Physikalisches erklären könne und das Wesen des Organismus nicht dieser Natur ist. Wäre es dieses, so könnte der Verstand vermöge der ihm zu Gebote stehenden Kategorien es sehr wohl begreifen. Goethe denkt nun nicht etwa daran, die organische Welt trotz Kant als Mechanismus zu erklären; sondern er behauptet, daß uns das Vermögen keineswegs abgehe, die höhere Art der Naturwirksamkeit, welche das Wesen des Organischen begründet, zu erkennen.
Indem wir das vorhin Gesagte erwägen, tritt uns sogleich ein wesentlicher Unterschied zwischen anorganischer und organischer Natur entgegen. Weil dort jeder beliebige Prozeß einen anderen bewirken kann, dieser wieder einen anderen usf., so erscheint die Reihe der Vorgänge nirgends als eine geschlossene. Alles ist in steter Wechselwirkung, ohne daß sich eine gewisse Gruppe von Objekten der Einwirkung anderer gegenüber abzuschließen vermöchte. Die anorganischen Wirkungsreihen haben nirgends Anfang und Ende; das folgende steht mit dem vorhergehenden nur in einem zufälligen Zusammenhange. Fällt ein Stein zur Erde, so hängt es von der zufälligen Form des Objektes, auf welches er fällt, ab, welche Wirkung er ausübt. Anders nun ist die Sache in einem Organismus. Hier ist die Einheit das erste. Die auf sich gebaute Entelechie enthält eine Anzahl sinnlicher Gestaltungsformen, von denen eine die erste, eine andere die letzte sein muß; bei denen nur immer in ganz bestimmter Weise die eine auf die andere folgen kann, Die ideelle Einheit setzt aus sich heraus eine Reihe sinnenfälliger Organe in zeitlicher Aufeinanderfolge und in räumlichem Nebeneinandersein und schließt sich in ganz bestimmter Weise von der übrigen Natur ab. Sie setzt ihre Zustände aus sich heraus. Daher sind sie auch nur in der Weise zu begreifen, daß man das aus einer ideellen Einheit hervorgehende Gestalten aufeinanderfolgender Zustände verfolgt, d. h. ein organisches Wesen ist nur in seinem Werden, in seiner Entwicklung zu verstehen. Der unorganische Körper ist abgeschlossen, starr, nur von außen zu erregen, innen unbeweglich. Der Organismus ist die Unruhe in sich selbst, vom Innern heraus stets sich umbildend, verwandelnd, Metamorphosen bildend. Darauf beziehen sich folgende Aussprüche Goethes: »Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher? – Sie erfreut sich am Entwickeln; er wünscht alles festzuhalten, damit er es nutzen könne« (»Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 373) und »Die Vernunft hat nur über das Lebendige Herrschaft; die entstandene Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot.« [Ebenda S.373]
Der Organismus tritt uns in der Natur in zwei Hauptformen entgegen: als Pflanze und als Tier; in beiden auf verschiedene Weise. Die Pflanze unterscheidet sich vom Tiere durch den Mangel eines realen Innenlebens. Beim Tiere tritt das letztere als Empfindung, willkürliche Bewegung usw. auf. Die Pflanze hat ein solches seelisches Prinzip nicht. Sie geht noch ganz in ihrer Äußerlichkeit, in der Gestalt auf. Indem jenes entelechische Prinzip gleichsam von einem Punkte aus das Leben bestimmt, tritt es uns in der Pflanze in der Weise entgegen, daß alle einzelnen Organe nach demselben Gestaltungsprinzipe gebildet sind. Die Entelechie erscheint hier als Gestaltungskraft der einzelnen Organe. Letztere sind alle nach einem und demselben Bildungstypus gebaut, sie erscheinen als Modifikationen eines Grundorganes, als Wiederholung desselben auf verschiedenen Entwicklungsstufen. Das, was die Pflanze zur Pflanze macht, eine gewisse formbildende Kraft, ist in jedem Organe auf gleiche Weise wirksam. Jedes Organ erscheint so als identisch mit allen anderen und auch mit der ganzen Pflanze. Goethe drückt dies so aus: »Es ist mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf.«74 Die Pflanze erscheint so gleichsam aus lauter einzelnen Pflanzen zusammengesetzt, als ein komplizierteres Individuum, das wieder aus einfacheren besteht. Die Bildung der Pflanze schreitet also von Stufe zu Stufe vor und bildet Organe; jedes Organ ist mit jedem andern identisch, d. h. dem Bildungsprinzipe nach gleich, der Erscheinung nach verschieden. Die innere Einheit dehnt sich bei der Pflanze gleichsam in die Breite, sie lebt sich in der Mannigfaltigkeit aus, verliert sich in derselben, so daß sie nicht, wie wir dies später am Tiere sehen werden, ein mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattetes konkretes Dasein gewinnt, welches als Lebenszentrum der Mannigfaltigkeit der Organe gegenübertritt und sie als Vermittler mit der Außenwelt gebraucht.
Es entsteht nun die Frage: Wodurch wird jene Verschiedenheit in der Erscheinung der dem inneren Prinzipe nach identischen Pflanzenorgane herbeigeführt? Wie ist es den Bildungsgesetzen, die alle nach einem Gestaltungsprinzipe wirken, möglich, das eine Mal ein Laubblatt, das andere Mal ein Kelchblatt hervorzubringen? Die Verschiedenheit kann bei dem ganz in der Äußerlichkeit liegenden Leben der Pflanze auch nur auf äußerlichen, d. h. räumlichen Momenten beruhen. Als solche sieht Goethe nun eine abwechselnde Ausdehnung und Zusammenziehung an. Indem das entelechische, aus einem Punkte wirkende Prinzip des Pflanzenlebens ins Dasein tritt, manifestiert es sich als räumlich, die Bildungskräfte wirken im Raume. Sie erzeugen Organe von bestimmter räumlicher Form. Nun konzentrieren sich diese Kräfte entweder, sie streben gleichsam in einen einzigen Punkt zusammen; und dies ist das Stadium der Zusammenziehung, oder sie breiten sich aus, entfalten sich, sie trachten sich gewissermaßen voneinander zu entfernen: dies ist das Stadium der Ausdehnung. Im ganzen Leben der Pflanze wechseln drei Ausdehnungen mit drei Zusammenziehungen. Alles, was in die dem Wesen nach identischen Bildungskräfte der Pflanze Verschiedenes hineinkommt, rührt von dieser wechselnden Ausdehnung und Zusammenziehung her. Zuerst ruht die ganze Pflanze der Möglichkeit nach auf einen Punkt zusammengezogen im Samen (a). Daraus tritt sie nun hervor und entfaltet sich, dehnt sich aus in der Blattbildung (c). Die Bildungskräfte stoßen sich immer mehr ab, daher erscheinen die unteren Blätter noch roh, kompakt (cc’); je weiter aufwärts, desto gerippter, gezackter werden sie. Was sich vorher noch aneinanderdrängte, tritt jetzt auseinander (Blatt d und e). Was früher in aufeinanderfolgenden Zwischenräumen (zz’) stand, das tritt in der Keichbildung (f) wieder (Hier fehlt eine Abbildung) an einem Punkte des Stengels auf (w). Die letztere bildet die zweite Zusammenziehung. In der Blumenkrone tritt neuerdings eine Entfaltung, Ausbreitung ein. Die Blumenblätter (g) sind im Vergleiche zu den Kelchblättern feiner, zarter; was nur von einer geringeren Intensität auf einem Punkte, also von einer größeren Extension der Bildungskräfte herrühren kann. In den Geschlechtsorganen [Staubgefäßen (h) und Stempel (i)] tritt die nächste Zusammenziehung ein, worauf in der Fruchtbildung (k) eine neue Ausdehnung stattfindet. In dem aus der Frucht hervorgehenden Samen (a) erscheint wieder das ganze Wesen der Pflanze auf einen Punkt zusammengedrängt.75
Die ganze Pflanze stellt nur eine Entfaltung, eine Realisation des in der Knospe oder im Samen der Möglichkeit nach Ruhendem dar. Knospe und Same brauchen nur die geeigneten äußeren Einflüsse, um zu vollkommenen Pflanzenbildungen zu werden. Der Unterschied zwischen Knospe und Same ist nur dieser, daß der letztere unmittelbar die Erde zum Boden seiner Entfaltung hat, während die erstere im allgemeinen eine Pflanzenbildung auf einer Pflanze selbst darstellt. Der Same stellt ein Pflanzenindividuum höherer Art dar, oder, wenn man will, einen ganzen Kreis von Pflanzengebilden. Die Pflanze beginnt gleichsam mit jeder Knospenbildung ein neues Stadium ihres Lebens, sie regeneriert sich, sie konzentriert ihre Kräfte, um sie von neuem wieder zu entfalten. Die Knospenbildung ist also zugleich eine Unterbrechung der Vegetation. Das Pflanzenleben kann sich zur Knospe zusammenziehen, wenn die Bedingungen eigentlichen realen Lebens mangeln, um sich bei Eintritt derselben neuerdings zu entfalten. Die Unterbrechung der Vegetation im Winter beruht darauf. Goethe sagt darüber76: »Es ist gar interessant, zu bemerken, wie eine lebhaft fortgesetzte und durch starke Kälte nicht unterbrochene Vegetation wirkt; hier gibt’s keine Knospen, und man lernt erst begreifen, was eine Knospe sei.« Was also bei uns in der Knospe verborgen ruht, ist dort offen am Tage; es ist also wahres Pflanzenleben, was in der letzteren liegt; nur fehlen die Bedingungen seiner Entfaltung.
Man hat sich nun ganz besonders gegen den Begriff abwechselnder Ausdehnung und Zusammenziehung bei Goethe gewendet, Alle Angriffe darauf aber gehen von einem Mißverständnisse aus. Man glaubt, daß diese Begriffe nur dann Gültigkeit haben könnten, wenn sich eine physikalische Ursache für sie finden ließe, wenn man eine Wirkungsweise der in der Pflanze wirkenden Gesetze nachweisen könnte, aus welcher ein solches Ausdehnen und Zusammenziehen folge. Dies zeigt nur, daß man die Sache auf die Spitze statt auf die Basis stellt. Es ist nichts vorauszusetzen, was die Ausdehnung oder Zusammenziehung bewirkt; im Gegenteile: alles andere ist Folge der ersteren, sie bewirken eine fortschreitende Metamorphose von Stufe zu Stufe. Man kann sich eben den Begriff nicht in seiner selbsteigenen, in seiner intuitiven Form vorstellen; man verlangt, daß er das Resultat eines äußeren Vorganges darstellen soll. Man kann sich Ausdehnung und Zusammenziehung nur als bewirkt, nicht als bewirkend denken. Goethe sieht Ausdehnung und Zusammenziehung nicht so an, als ob sie aus der Natur der an der Pflanze vor sich gehenden unorganischen Prozesse folgen würden, sondern er betrachtet sie als die Art, wie sich jenes innere entelechische Prinzip gestaltet. Er konnte sie also nicht als Summe, als Zusammenfassung sinnenfälliger Vorgänge ansehen und aus solchen deduzieren, sondern er mußte sie als eine Folge des Innern einheitlichen Prinzips selbst ableiten.
Das Pflanzenleben wird unterhalten durch den Stoffwechsel. In bezug auf diesen tritt eine wesentliche Verschiedenheit zwischen jenen Organen ein, welche näher der Wurzel sind, d. h. dem Organe, das die Nahrungsaufnahme aus der Erde besorgt, und jenen, welche den bereits durch andere Organe hindurchgegangenen Nahrungsstoff bekommen. Erstere erscheinen unmittelbar von ihrer äußeren anorganischen Umgebung abhängig, diese dagegen von den ihnen vorhergehenden organischen Teilen. Jedes folgende Organ erhält daher eine gleichsam für sich, durch das vorhergehende zubereitete Nahrung. Die Natur schreitet vom Samen zur Frucht in einer Stufenfolge fort, so daß das Nachfolgende als Resultat des Vorangehenden erscheint. Und dieses Fortschreiten nennt Goethe ein Fortschreiten auf einer geistigen Leiter. Nichts weiter als das von uns Angedeutete liegt in seinen Worten, »daß ein oberer Knoten, indem er aus dem vorhergehenden entsteht und die Säfte mittelbar durch ihn empfängt, solche feiner und filtrierter erhalten, auch von der inzwischen geschehenen Einwirkung der Blätter genießen, sich selbst feiner ausbilden und seinen Blättern und Augen feinere Säfte zubringen müsse«. Alle diese Dinge werden verständlich, wenn man ihnen den von Goethe gemeinten Sinn beilegt.
Die hier dargelegten Ideen sind die im Wesen der Urpflanze gelegenen Elemente und zwar in der bloß dieser selbst angemessenen Weise, nicht so, wie sie in einer bestimmten Pflanze zur Erscheinung kommen, wo sie nicht mehr ursprünglich, sondern den äußeren Verhältnissen angemessen sind.
Beim Tierleben tritt nun freilich etwas anderes ein. Das Leben verliert sich hier nicht in der Äußerlichkeit, sondern es separiert sich, sondert sich von der Körperlichkeit ab und gebraucht die körperliche Erscheinung nur noch als sein Werkzeug. Es äußert sich nicht mehr als bloßes Vermögen, einen Organismus von innen heraus zu gestalten, sondern es äußert sich in einem Organismus als etwas, was noch außer dem Organismus, als dessen beherrschende Macht, da ist. Das Tier erscheint als eine in sich beschlossene Welt, ein Mikrokosmos in viel höherem Sinne als die Pflanze. Es hat ein Zentrum dem jedes Organ dient.
»So ist jeglicher Mund geschickt die Speise zu fassen,
Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und zahnlos
Oder mächtig der Kiefer gezähnt; in jeglichem Falle
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung.
Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze
Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.«77
Bei der Pflanze ist in jedem Organ die ganze Pflanze, aber das Lebensprinzip existiert nirgends als ein bestimmtes Zentrum, die Identität der Organe liegt in der Gestaltung nach denselben Gesetzen. Beim Tiere erscheint jedes Organ als aus jenem Zentrum kommend, das Zentrum bildet seinem Wesen gemäß alle Organe. Die Gestalt des Tieres ist also die Grundlage für sein äußerliches Dasein. Sie ist aber von innen bestimmt. Die Lebensweise muß sich also nach jenen inneren Gestaltungsprinzipien richten. Andrerseits ist die innere Bildung in sich unumschränkt, frei; sie kann sich den äußeren Einflüssen innerhalb gewisser Grenzen fügen; doch ist diese Bildung eine durch die innere Natur des Typus und nicht durch mechanische Einwirkungen von außen bestimmte. Die Anpassung kann also nicht so weit gehen, daß sie den Organismus nur als ein Produkt der Außenwelt erscheinen ließe. Seine Bildung ist eine in Grenzen eingeschränkte.
»Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie;
Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich.«78
Wäre jedes tierische Wesen nur den im Urtier liegenden Prinzipien gemäß, so wären sie alle gleich. Nun aber gliedert sich der tierische Organismus in eine Menge von Organsystemen, die jedes bis zu einem bestimmten Grad der Ausbildung kommen können. Dieses begründet nun eine verschiedenartige Entwicklung. Der Idee nach gleichberechtigt mit allen andern, kann sich doch ein System besonders in den Vordergrund drängen, kann den im tierischen Organismus liegenden Vorrat von Bildungskräften auf sich verwenden und ihn den anderen Organen entziehen. Das Tier erscheint so nach der Richtung jenes Organsystems hin besonders ausgebildet. Ein anderes Tier erscheint nach einer anderen Richtung gebildet. Hierin liegt die Möglichkeit der Differenzierung des Urorganismus bei seinem Übergange in die Erscheinung in Gattungen und Arten.
Die wirklichen (tatsächlichen) Ursachen der Differenzierung sind damit aber noch nicht gegeben. Hier treten in ihre Rechte: die Anpassung, welcher zufolge der Organismus den ihn umgebenden äußeren Verhältnissen gemäß gestaltet, und der Kampf ums Dasein, der darauf hinarbeitet, daß nur die den obwaltenden Umständen am besten angepaßten Wesen sich erhalten. Anpassung und Kampf ums Dasein könnten aber am Organismus gar nichts bewirken, wenn das den Organismus konstituierende Prinzip nicht ein solches wäre, das bei stets aufrecht erhaltener innerer Einheit die mannigfaltigsten Formen annehmen kann. Der Zusammenhang der äußeren Bildungskräfte mit diesem Prinzipe ist keineswegs so aufzufassen, als wenn die ersteren auf die letzteren etwa in der Art bestimmend einwirkten, wie ein unorganisches Wesen auf ein anderes. Die äußeren Verhältnisse sind zwar die Veranlassung, daß sich der Typus in einer bestimmten Form ausbildet; diese Form selbst aber ist nicht aus den äußeren Bedingungen, sondern aus dem inneren Prinzipe herzuleiten. Man wird bei dieser Erklärung die ersteren immer aufzusuchen haben, die Gestalt selbst aber hat man nicht als ihre Folge zu betrachten. Das Ableiten von Gestaltungsformen eines Organismus aus der umgebenden Außenwelt durch bloße Kausalität würde Goethe geradeso verworfen haben, wie er es mit dem teleologischen Prinzip getan hat, wonach die Form eines Organes auf einen äußeren Zweck, dem es zu dienen hätte, zurückgeführt wurde.
Bei denjenigen Organsystemen des Tieres, bei denen es mehr auf die Äußerlichkeit des Baues ankommt, z. B. bei den Knochen, da tritt auch jenes bei den Pflanzen beobachtete Gesetz wieder hervor, wie bei der Bildung der Schädelknochen. Die Gabe Goethes, die innere Gesetzmäßigkeit in rein äußerlichen Formen zu erkennen, tritt hier ganz besonders hervor.
Der Unterschied, der mit diesen Anschauungen Goethes zwischen Pflanze und Tier festgestellt wird, könnte belanglos erscheinen angesichts dessen, daß die neuere Wissenschaft Gründe zu berechtigten Zweifeln an einer festen Grenze zwischen Pflanze und Tier hat. Der Unmöglichkeit der Aufstellung einer solchen Grenze war sich aber Goethe schon bewußt (siehe Natw. Schr., 1. Bd., S. 11). Dennoch gibt es bestimmte Definitionen von Pflanze und Tier. Das hängt mit seiner ganzen Naturanschauung zusammen. Er nimmt in der Erscheinung überhaupt kein Konstantes, Festes an; denn in letzterer schwankt alles in steter Bewegung. Das im Begriffe festzuhaltende Wesen einer Sache ist aber nicht schwankenden Formen zu entnehmen, sondern gewissen mittleren Stufen, auf denen es sich beobachten läßt (siehe a. a. 0., S. 8). Es ist für Goethes Anschauung ganz natürlich, daß man bestimmte Definitionen aufstellt und diese trotzdem in der Erfahrung von gewissen Übergangsgebilden nicht festgehalten werden. Ja er sieht gerade darin das bewegliche Leben der Natur.
Mit diesen Ideen hat Goethe die theoretische Grundlage für die organische Wissenschaft begründet. Er hat das Wesen des Organismus gefunden. Man kann dieses leicht verkennen, wenn man verlangt, daß der Typus, jenes sich aus sich heraus gestaltete Prinzip (Entelechie), selbst durch etwas anderes erklärt werden solle. Aber dies ist eine unbegründete Forderung, weil der Typus, in intuitiver Form festgehalten, sich selbst erklärt. Für jeden, der jenes »Sich-nach-sich-selbst-Formen« des entelechischen Prinzipes erfaßt hat, bildet dieses die Lösung des Lebensrätsels. Eine andere Lösung ist unmöglich, weil jene das Wesen der Sache selbst ist. Wenn der Darwinismus einen Urorganismus voraussetzen muß, so kann man von Goethe sagen, daß er das Wesen jenes Urorganismus entdeckt hat.79 Goethe ist es, welcher mit dem bloßen Nebeneinanderreihen der Gattungen und Arten brach und eine Regeneration der organischen Wissenschaft dem Wesen des Organismus gemäß vornahm. Während die Vor-Goethesche Systematik ebenso viele verschiedene Begriffe (Ideen) brauchte, als äußerlich verschiedene Gattungen existieren, zwischen denen sich keine Vermittlung fand, erklärte Goethe, daß der Idee nach alle Organismen gleich, nur der Erscheinung nach verschieden sind; und er erklärte, warum sie es sind. Damit war die philosophische Grundlage für ein wissenschaftliches System der Organismen geschaffen. Es handelte sich nur noch um die Ausführung desselben. Es müßte gezeigt werden, wie alle realen Organismen nur Offenbarungen einer Idee seien und wie sie sich in einem bestimmten Falle offenbaren.
Die große Tat, welche damit in der Wissenschaft getan war, wurde auch mannigfach von tiefer gebildeten Gelehrten anerkannt. Der jüngere d’Alton80 schreibt am 6. Juli 1827 an Goethe: »Ich würde es für die schönste Belohnung erachten, wenn Euer Exzellenz, dem die Naturwissenschaft nicht allein eine völlige Umgestaltung in großartigen Überblicken und neuen Ansichten der Botanik, sondern selbst vielfache treffliche Bereicherungen in dem Gebiete der Knochenlehre verdankt, in vorliegenden Blättern ein beifallswertes Bestreben erkennten.« Nees von Esenbeck81 am 24. Juni 1820: »In ihrer Schrift, die Sie einen ›Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären‹ nannten, hat zuerst die Pflanze unter uns über sich selbst geredet und in dieser schönen Vermenschlichung auch mich, als ich noch jung war, bestrickt.« Endlich Voigt82 am 6. Juni 1831: »Mit lebhafter Teilnahme und untertänigem Dank habe ich die kleine Schrift über die Metamorphose empfangen, welche mich als so frühen Teilnehmer an dieser Lehre nun auch auf das verbindlichste historisch einverleibt. Es ist sonderbar, man ist gegen die animalische Metamorphose – ich meine nicht die alte der Insekten, sondern die von der Wirbelsäule ausgehende – billiger gewesen, als gegen die vegetabilische. Abgesehen von den Plagiaten und Mißbräuchen, möchte die stille Anerkennung darin ihren Grund haben, daß man bei ihr weniger zu riskieren glaubte. Denn beim Skelett bleiben die isolierten Knochen ewig dieselben, in der Botanik aber droht die Metamorphose die ganze Terminologie und folglich die Bestimmung der Spezies umzuwerfen, und da fürchten sich denn die Schwachen, weil sie nicht wissen, wohin so etwas führen könne.« Hier ist volles Verständnis der Goetheschen Ideen vorhanden. Es ist das Bewußtsein da, daß eine neue Art der Anschauung des Individuellen Platz greifen müsse; und aus dieser neuen Anschauung sollte erst die neue Systematik, die Betrachtung des Besonderen hervorgehen. Der auf sich selbst gebaute Typus enthält die Möglichkeit, bei seinem Eintreten in die Erscheinung unendlich mannigfaltige Formen anzunehmen; und diese Formen sind der Gegenstand unserer sinnlichen Anschauung, sie sind die im Raume und in der Zeit lebenden Gattungen und Arten der Organismen. Indem unser Geist jene allgemeine Idee, den Typus erfaßt, hat er das ganze Organismenreich in seiner Einheit begriffen. Wenn er nun die Gestaltung des Typus in jeder besonderen Erscheinungsform anschaut, wird ihm die letztere begreiflich; sie erscheint ihm als eine der Stufen, der Metamorphosen, in denen sich der Typus verwirklicht. Und diese verschiedenen Stufen aufzuzeigen, sollte das Wesen der durch Goethe zu begründenden Systematik sein. Sowohl im Tier- wie im Pflanzenreiche herrscht eine aufsteigende Entwicklungsreihe; die Organismen gliedern sich in vollkommene und unvollkommene. Wie ist dieses möglich? Die ideelle Form, der Typus der Organismen hat eben das Charakteristische, daß er aus räumlich zeitlichen Elementen besteht. Es erschien deshalb auch Goethe als eine sinnlich-übersinnliche Form. Er enthält räumlich-zeitliche Formen als ideelle Anschauung (intuitiv). Wenn er nun in die Erscheinung tritt, kann die wahrhaft (nicht mehr intuitiv) sinnliche Form jener ideellen völlig entsprechen oder nicht; es kann der Typus zu seiner vollkommenen Ausbildung kommen oder nicht. Die niederen Organismen sind eben dadurch die niederen, daß ihre Erscheinungsform nicht völlig dem organischen Typus entspricht. Je mehr äußere Erscheinung und organischer Typus in einem bestimmten Wesen sich decken, desto vollkommener ist dasselbe. Dies ist der objektive Grund einer aufsteigenden Entwicklungsreihe. Die Aufzeigung dieses Verhältnisses. bei jeder Organismenform ist die Aufgabe einer systematischen Darstellung. Bei Aufstellung des Typus, der Urorganismen, kann aber hierauf keine Rücksicht genommen werden; es kann sich dabei nur darum handeln, eine Form zu finden, welche den vollkommensten Ausdruck des Typus darstellt. Eine solche soll Goethes Urpflanze bieten.
Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, daß er bei Aufstellung seines Typus auf die Welt der Kryptogamen keine Rücksicht genommen habe. Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß dieses nur in völlig bewußter Weise geschehen kann, da er sich mit dem Studium dieser Pflanzen auch beschäftigt hat. Es hat aber seinen objektiven Grund. Die Kryptogamen sind eben jene Pflanzen, in denen die Urpflanze nur höchst einseitig zum Ausdrucke kommt; sie stellen die Pflanzenidee in einer einseitigen sinnenfälligen Form dar. Sie können an der aufgestellten Idee beurteilt werden; diese selbst aber kommt in den Phanerogamen erst zu ihrem völligen Ausbruche.
Was aber hier zu sagen ist, ist dieses, daß Goethe diese Ausführung seiner Grundgedanken nie vollbracht hat, daß er das Reich des Besonderen zu wenig betreten hat. Daher bleiben alle seine Arbeiten fragmentarisch. Seine Absicht, auch hier Licht zu schaffen, zeigen uns seine Worte in der »Italienischen Reise« (27. September 1786), daß es ihm mit Hilfe seiner Ideen möglich sein werde, »Geschlechter und Arten wahrhaft zu bestimmen, welches, wie mich dünkt, bisher sehr willkürlich geschieht«. Dieses Vorhaben hat er nicht ausgeführt, den Zusammenhang seiner allgemeinen Gedanken mit der Welt des Besonderen, mit der Wirklichkeit der einzelnen Formen nicht besonders dargelegt. Dies sah er selbst als einen Mangel seiner Fragmente an; er schreibt am 28. Juni 1828 darauf bezüglich an [F.J.] Soret von de Candolle: »Auch wird mir immer klarer, wie er die Intentionen ansieht, in denen ich mich fortbewege und die in meinem kurzen Aufsatze über die Metamorphose zwar deutlich genug ausgesprochen sind, deren Bezug aber auf die Erfahrungsbotanik, wie ich längst weiß, nicht deutlich genug hervorgeht.« [WA 44, 161] Dies ist wohl auch der Grund, warum Goethes Anschauungen so mißverstanden wurden; denn sie wurden es nur deshalb, weil sie überhaupt nicht verstanden wurden.
In Goethes Begriffen erhalten wir auch eine ideelle Erklärung für die durch Darwin und Haeckel gefundene Tatsache, daß die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Repetition der Stammesgeschichte repräsentiert. Denn für mehr als eine unerklärte Tatsache kann das, was Haeckel hier bietet, doch nicht genommen werden. Es ist die Tatsache*, daß jedes Individuum alle jene Entwicklungsstadien in abgekürzter Form durchmacht, welche uns zugleich die Paläontologie als gesonderte organische Formen aufweist. Haeckel und seine Anhänger erklären dieses aus dem Gesetze der Vererbung. Aber letzteres ist selbst nichts anderes als ein abgekürzter Ausdruck für die angeführte Tatsache. Die Erklärung dafür ist, daß jene Formen sowie jedes Individuum die Erscheinungsformen eines und desselben Urbildes sind, welches in aufeinanderfolgenden Zeitperioden die der Möglichkeit nach in ihm liegenden Gestaltungskräfte zur Entfaltung bringt. Jedes höhere Individuum ist eben dadurch vollkommener, daß es durch die günstigen Einflüsse seiner Umgebung nicht gehindert wird, sich seiner inneren Natur nach völlig frei zu entfalten. Muß das Individuum dagegen durch verschiedene Einwirkungen gezwungen auf einer niedrigeren Stufe stehenbleiben, so kommen nur einige von seinen inneren Kräften zur Erscheinung, und es ist dann bei ihm das ein Ganzes, was bei jenem vollkommeneren Individuum nur ein Teil eines Ganzen ist. Und auf diese Weise erscheint der höhere Organismus in seiner Entwicklung aus den niedrigeren zusammengesetzt oder auch die niedrigeren erscheinen in ihrer Entwicklung als Teile des höheren. Wir müssen daher in der Entwicklung eines höheren Tieres die Entwicklung aller niedrigeren wieder erblicken (biogenetisches Gesetz). Sowie der Physiker nicht damit zufrieden ist, bloß die Tatsachen auszusprechen und zu beschreiben, sondern nach den Gesetzen derselben forscht, d. h. nach den Begriffen der Erscheinungen, so kann es auch demjenigen, der in die Natur der organischen Wesen eindringen will, nicht genügen, wenn er bloß die Tatsachen der Verwandtschaft, Vererbung, Kampf ums Dasein usw. anführt, sondern er will die diesen Dingen zugrunde liegenden Ideen erkennen. Dieses Streben finden wir bei Goethe. Was dem Physiker die drei Keplerschen Gesetze, das sind dem Organiker die Goetheschen Typusgedanken. Ohne sie ist uns die Welt ein bloßes Labyrinth von Tatsachen. Dies wurde oft mißverstanden. Man behauptet, der Begriff der Metamorphose im Sinne Goethes wäre ein bloßes Bild, das sich im Grunde nur in unserem Verstande durch Abstraktion vollzogen hat. Es wäre Goethe unklar gewesen, daß der Begriff von Verwandlung der Blätter in Blütenorgane nur dann einen Sinn habe, wenn letztere, z. B. die Staubgefäße, einmal wirkliche Blätter waren. Allein dies stellt Goethes Anschauungen auf den Kopf. Es wird ein sinnenfälliges Organ zum prinzipiell ersten gemacht und das andere auf sinnenfällige Weise daraus abgeleitet. So hat es Goethe nie gemeint. Bei ihm ist dasjenige, welches der Zeit nach das erste ist, durchaus nicht auch der Idee, dem Prinzipe nach das erste. Nicht weil die Staubgefäße einmal wahre Blätter waren, sind sie letzteren heute verwandt; nein, sondern weil sie ideell, ihrem inneren Wesen nach verwandt sind, erschienen sie einmal als wahre Blätter. Die sinnliche Verwandlung ist nur Folge der ideellen Verwandtschaft und nicht umgekehrt. Heute ist der empirische Tatbestand der Identität aller Seitenorgane der Pflanze bestimmt, aber warum nennt man diese identisch? Nach Schleiden, weil sich dieselben an der Achse alle so entwickeln, daß sie als seitliche Hervorragungen hinausgeschoben werden, in der Weise, daß die seitliche Zellenbildung nur an dem ursprünglichen Körper bleibt und an der zuerst gebildeten Spitze sich keine neuen Zellen bilden. Dies ist eine rein äußerliche Verwandtschaft, und man betrachtet als die Folge davon die Idee der Identität. Anders ist die Sache wieder bei Goethe. Die Seitenorgane sind bei ihm ihrer Idee, ihrem inneren Wesen nach identisch; daher erscheinen sie auch nach außen als identische Bildungen. Die sinnenfällige Verwandtschaft ist bei ihm eine Folge der inneren, ideellen. Die Goethesche Auffassung unterscheidet sich von der materialistischen durch die Fragestellungen; beide widersprechen einander nicht, sie ergänzen einander. Goethes Ideen bilden zu jener die Grundlage. Nicht nur eine dichterische Prophezeiung späterer Entdekkungen sind Goethes Ideen, sondern selbständige theoretische Entdeckungen, die noch lange nicht genug gewürdigt sind, an denen die Naturwissenschaft noch lange zehren wird. Wenn die empirischen Tatsachen, die er benützte, längst durch genauere Detailforschungen überholt, teilweise sogar widerlegt sein werden; die aufgestellten Ideen sind ein für allemal grundlegend für die Organik, denn sie sind von jenen empirischen Tatsachen unabhängig. Wie jeder neu aufgefundene Planet nach Keplers Gesetzen um seinen Fixstern kreisen muß, so muß jeder Vorgang in der organischen Natur nach Goethes Ideen geschehen. Lange vor Kepler und Kopernikus sah man die Vorgänge am gestirnten Himmel. Diese fanden erst die Gesetze. Lange vor Goethe beobachtete man das organische Naturreich, Goethe fand dessen Gesetze. Goethe ist der Kopernikus und Kepler der organischen Welt.
Man kann sich das Wesen der Goetheschen Theorie auch auf folgende Weise klar machen. Neben der gewöhnlichen empirischen Mechanik, welche nur die Tatsachen sammelt, gibt es noch eine rationale Mechanik, welche aus der inneren Natur der mechanischen Grundprinzipien die aprioristischen Gesetze als notwendige deduziert. Sowie die erstere zur letzteren, so verhalten sich Darwins, Haeckels usw. Theorien zur rationalen Organik Goethes. Diese Seite seiner Theorie war Goethe vom Anfange an nicht sogleich klar. Später freilich spricht er sie schon ganz entschieden aus. Wenn er am 21. Januar 1832 an Heinr. Wilh. Ferd. Wackenroder schreibt: »Fahren Sie fort, mit allem, was Sie interessiert, mich bekannt zu machen; es schließt sich irgendwo an meine Betrachtungen an« [WA 49,211], so will er damit nur sagen, daß er die Grundprinzipien der organischen Wissenschaft gefunden habe, aus denen sich alles übrige müsse ableiten lassen. In früherer Zeit aber wirkte das alles unbewußt in seinem Geiste und er behandelte die Tatsachen darnach.83 Gegenständlich wurde es ihm erst durch jenes erste wissenschaftliche Gespräch mit Schiller, welches wir unten mitteilen.84 Schiller erkannte sogleich die ideelle Natur von Goethes Urpflanze und behauptete, einer solchen könne keine Wirklichkeit angemessen sein. Das regte Goethe an, über das Verhältnis dessen, was er Typus nannte, zur empirischen Wirklichkeit nachzudenken. Er traf hier auf ein Problem, welches zu den bedeutsamsten des menschlichen Forschens überhaupt gehört: das Problem des Zusammenhangs von Idee und Wirklichkeit, von Denken und Erfahrung. Das wurde ihm immer klarer: die einzelnen empirischen Objekte entsprechen keines seinem Typus vollkommen; kein Wesen der Natur war mit ihm identisch. Der Inhalt des Typusbegriffes kann also nicht aus der Sinnenwelt als solcher stammen, obwohl er an derselben gewonnen wird. Er muß also in dem Typus selbst liegen; die Idee des Urwesens konnte nur eine solche sein, welche vermöge einer in ihr selbst liegenden Notwendigkeit einen Inhalt aus sich entwickelt, der dann in anderer Form – in Form der Anschauung – in der Erscheinungswelt auftritt. Es ist in dieser Hinsicht interessant, zu sehen, wie Goethe selbst empirischen Naturforschern gegenüber für die Rechte der Erfahrung und die strenge Auseinanderhaltung von Idee und Objekt eintritt. Sömmerring übersendet ihm im Jahre 1786 ein Buch, in dem er (Sömmerring) den Versuch macht, den Sitz der Seele zu entdecken. Goethe findet in einem Briefe, den er am 28. August 1796 an Sömmerring richtet, daß dieser zu viel Metaphysik mit seinen Anschauungen verwoben habe; eine Idee über Gegenstände der Erfahrung habe keine Berechtigung, wenn sie über diese hinausginge, wenn sie nicht im Wesen der Objekte selbst begründet ist. Bei Objekten der Erfahrung sei die Idee ein Organ, das als notwendigen Zusammenhang zu fassen, was sonst im blinden Neben- und Nacheinander bloß wahrgenommen würde. Daraus aber, daß die Idee nichts Neues zu dem Objekte hinzubringen darf, folgt, daß das letztere selbst, seinem eigenen Wesen nach ein Ideelles ist, daß überhaupt die empirische Realität zwei Seiten haben muß: die eine, wonach sie Besonderes, Individuelles, die andere, wonach sie Ideell-Allgemeines ist.
Der Umgang mit den zeitgenössischen Philosophen sowie die Lektüre der Werke derselben führte Goethe manchen Gesichtspunkt in dieser Hinsicht zu. Schellings Werk »Von der Weltseele« und dessen »[Erster] Entwurf eines Systems der Naturphilosophie« ([Goethes] Annalen zu 1798-1799) sowie Steffens »Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft« wirkten befruchtend auf ihn ein. Auch mit Hegel wurde manches durchgesprochen. Diese Anregungen führten endlich dahin, daß Kant, mit dem sich Goethe schon einmal, durch Schiller angeregt, beschäftigt hatte, wieder vorgenommen wurde. 1817 (siehe Annalen) betrachtete er geschichtlich dessen Einfluß auf seine Ideen über Natur und natürliche Dinge. Diesem auf das Zentrale der Wissenschaft gehenden Nachdenken verdanken wir die Aufsätze:
Glückliches Ereignis,
Anschauende Urteilskraft,
Bedenken und Ergebung,
Bildungstrieb,
Das Unternehmen wird entschuldigt,
Die Absicht eingeleitet,
Der Inhalt bevorwortet,
Geschichte meines botanischen Studiums,
Entstehen des Aufsatzes über Metamorphose der Pflanzen.
Alle diese Aufsätze sprechen den oben schon angedeuteten Gedanken aus, daß jedes Objekt zwei Seiten hat: die eine unmittelbare seines Erscheinens (Erscheinungsform), die zweite, welche sein Wesen enthält. So gelangt Goethe zu der allein befriedigenden Naturanschauung, welche die eine wahrhaft objektive Methode begründet. Wenn eine Theorie die Idee als etwas dem Objekte selbst Fremdes, bloß Subjektives betrachtet, so kann sie nicht behaupten, wahrhaft objektiv zu sein, wenn sie sich nur überhaupt der Idee bedient. Goethe aber kann behaupten, nichts zu den Objekten hinzuzufügen, was nicht schon in ihnen selbst läge.
Auch ins Einzelne, Tatsächliche hin verfolgte Goethe jene Wissenszweige, auf welche seine Ideen Bezug hatten. Im Jahre 1795 (siehe K. A. Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen usw. I. Bd., Leipzig 1838, S. 49) hörte er bei Loder Bänderlehre; er verlor überhaupt in dieser Zeit die Anatomie und Physiologie nicht aus den Augen, was um so wichtiger erscheint, als er gerade damals seine Vorträge über Osteologie niederschrieb. 1796 wurden Versuche gemacht, Pflanzen im Finstern und unter farbigen Gläsern zu ziehen. Später wurde auch die Metamorphose der Insekten verfolgt.
Eine weitere Anregung kam von dem Philologen [F. A.] Wolf, der Goethe auf seinen Namensvetter Wolff aufmerksam machte [WA 27, 209 f.], welcher in seiner »Theoria generationis« schon im Jahre 1759 Ideen ausgesprochen hatte, die denen Goethes über die Metamorphose der Pflanzen ähnlich waren. Goethe wurde dadurch veranlaßt, sich mit Wolff eingehender zu beschäftigen, welches im Jahre 1807 geschah (siehe Annalen zu 1807 und Natw. Schr., 1. Bd., S. 5); er fand indes später, daß Wolff bei all seinem Scharfsinn gerade die Hauptsachen noch nicht klar waren. Den Typus als ein Unsinnliches, seinen Inhalt bloß aus innerer Notwendigkeit Entwickelndes, kannte er noch nicht. Er betrachtete die Pflanze noch als einen äußerlichen, mechanischen Zusammenhang von Einzelheiten.
Der Verkehr mit zahlreichen befreundeten Naturforschern sowie die Freude darüber, daß er bei vielen verwandten Geistern Anerkennung und Nachahmung seines Strebens gefunden hatte, brachten Goethe im Jahre 1807 auf den Gedanken, die bis dahin zurückgehaltenen Fragmente seiner naturwissenschaftlichen Studien herauszugeben. Von dem Vorhaben, ein größeres naturwissenschaftliches Werk zu schreiben, kam er allmählich ab. Es kam aber zur Herausgabe der einzelnen Aufsätze im Jahre 1807 noch nicht. Das Interesse an der Farbenlehre drängte die Morphologie wieder für einige Zeit in den Hintergrund. Das erste Heft derselben erschien erst im Jahre 1817. Bis 1824 erschienen dann zwei Bände, der erste in vier, der zweite in zwei Heften. Neben den Aufsätzen über Goethes eigene Ansichten finden wir hier Besprechungen bedeutenderer literarischer Erscheinungen aus dem Gebiete der Morphologie und auch Abhandlungen anderer Gelehrter, deren Ausführungen sich aber stets ergänzend zu Goethes Naturerklärung verhalten.
Zu einer intensiveren Beschäftigung fand sich Goethe in bezug auf die Naturwissenschaft noch zweimal aufgefordert. In beiden Fällen waren es bedeutende literarische Erscheinungen auf dem Gebiete dieser Wissenschaft, die mit seinen eigenen Bestrebungen innigst zusammenhingen. Das erste Mal ward durch die Arbeiten des Botanikers Martius über die Spiraltendenz die Anregung gegeben, das zweite Mal durch einen naturwissenschaftlichen Streit in der französischen Akademie der Wissenschaften.
Martius setzte die Pflanzenform in ihrer Entwicklung aus einer Spiral- und einer Vertikaltendenz zusammen. Die Vertikaltendenz bewirkt das Wachsen in der Richtung der Wurzel und des Stengels; die Spiraltendenz die Ausbreitung in den Blättern, Blüten usw. Goethe sah in diesem Gedanken nur eine mehr auf das Räumliche (vertikal, spiral) Rücksicht nehmende Ausbildung seiner bereits in der Schrift über die Metamorphose 1790 niedergelegten Ideen. Bezüglich des Beweises dieser Behauptung verweisen wir auf die Anmerkungen zu Goethes Aufsatz »Über die Spiraltendenz der Vegetation«85, aus denen hervorgeht, daß Goethe in demselben nichts wesentlich Neues gegenüber seinen früheren Ideen vorbringt. Wir möchten dieses besonders an jene richten, welche behaupten, daß hier sogar ein Rückschritt Goethes von früheren klaren Anschauungen bis zu den “tiefsten Tiefen der Mystik” wahrzunehmen sei.
Noch im höchsten Alter (1830-32) verfaßte Goethe zwei Aufsätze über den Streit der beiden französischen Naturforscher Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire. In diesen Aufsätzen finden wir noch einmal in schlagender Kürze die Prinzipien von Goethes Naturanschauung zusammengestellt.
Cuvier war ganz im Sinne der älteren Naturforscher Empiriker. Für jede Tierart suchte er einen ihr entsprechenden, besonderen Begriff. So viele einzelne Tierarten die Natur darbietet, so viele einzelne Typen glaubte er in den gedanklichen Aufbau seines Systems der organischen Natur aufnehmen zu müssen. Die einzelnen Typen standen bei ihm aber ganz unvermittelt nebeneinander. Was er nicht berücksichtigte, ist folgendes. Mit dem Besonderen als solchem, wie es uns unmittelbar in der Erscheinung gegenübertritt, ist unser Erkenntnisbedürfnis nicht befriedigt. Da wir aber einem Wesen der Sinnenwelt mit keiner anderen Absicht gegenübertreten, als eben dieses Wesen zu erkennen, so ist nicht anzunehmen, daß der Grund, warum wir uns mit dem Besonderen als solchem nicht befriedigt erklären, in unserem Erkenntnisvermögen liege. Er muß vielmehr im Objekte selbst liegen. Das Wesen des Besonderen selbst ist in dieser seiner Besonderheit eben durchaus noch nicht erschöpft; es drängt, um verstanden zu werden, zu einem solchen hin, welches kein Besonderes, sondern ein Allgemeines ist. Dieses Ideell-Allgemeine ist das eigentliche Wesen – die Essenz – eines jeden besonderen Daseins. Das letztere hat in der Besonderheit nur eine Seite seines Daseins, während die zweite das Allgemeine – der Typus – ist (siehe Goethes »Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 374). So ist es zu verstehen, wenn von dem Besonderen als einer Form des Allgemeinen gesprochen wird. Da das eigentliche Wesen, die Inhaltlichkeit des Besonderen somit das Ideell-Allgemeine ist, so ist es unmöglich, daß das letztere aus dem Besonderen hergeleitet, von ihm abstrahiert werde. Es muß, da es nirgends seinen Inhalt entlehnen kann, sich diesen Inhalt selbst geben. Das Typisch-Allgemeine ist mithin ein solches, bei dem Inhalt und Form identisch sind. Deswegen kann es aber auch nur als ein Ganzes erfaßt werden, unabhängig vom Einzelnen. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, an jedem Besonderen zu zeigen, wie dasselbe, seinem Wesen nach, sich dem Ideell-Allgemeinen unterordnet. Dadurch treten die besonderen Arten des Daseins in das Stadium gegenseitiger Bestimmtheit und Abhängigkeit. Was sonst nur als räumlich-zeitliches Neben-und Nacheinander wahrgenommen werden kann, wird im notwendigen Zusammenhange gesehen. Cuvier wollte aber von letzterer Anschauung nichts wissen. Sie war hingegen diejenige Geoffroy Saint-Hilaires. So stellt sich in Wirklichkeit jene Seite dar, von welcher aus Goethe für jenen Streit Interesse hatte. Die Sache wurde vielfach dadurch entstellt, daß man durch die Brille modernster Anschauungen die Tatsachen in einem ganz anderen Lichte erblickte, als in dem sie erscheinen, wenn man ohne Voreingenommenheit an sie herantritt. Geoffroy berief sich nicht nur auf seine eigenen Forschungen, sondern auch auf mehrere deutsche Gesinnungsgenossen und nennt unter diesen auch Goethe.
Das Interesse, welches Goethe an dieser Sache hatte, war ein außerordentliches. Er war hocherfreut, in Geoffroy Saint-Hilaire einen Genossen zu finden: »Jetzt ist Geoffroy Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert und ich juble mit Recht über den endlichen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die vorzüglich auch die meinige ist«, sagt er am 2. August 1830 zu Eckermann. Es ist überhaupt eine eigentümliche Erscheinung, daß Goethes Forschungen in Deutschland nur bei den Philosophen, weniger aber bei den Naturforschern, in Frankreich hingegen bei letzteren bedeutenderen Anklang fanden. De Candolle schenkte der Goetheschen Metamorphosenlehre die größte Aufmerksamkeit, behandelte überhaupt die Botanik in einer Weise, welche den Goetheschen Anschauungen nicht ferne stand. Auch war Goethes »Metamorphose« bereits durch [F. de] Gingins-Lassaraz ins Französische übersetzt. Unter solchen Verhältnissen konnte Goethe wohl hoffen, daß eine unter seiner Mitwirkung besorgte Übersetzung seiner botanischen Schriften ins Französische nicht auf unfruchtbaren Boden fallen werde. Eine solche lieferte denn auch 1831 unter Goethes fortwährender Beihilfe Friedrich Jakob Soret. Sie enthielt jenen ersten »Versuch« von 1790 (vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 17ff.); die Geschichte des botanischen Studiums Goethes (ebenda S. 61ff.) und die Wirkung seiner Lehre auf die Zeitgenossen (ebenda S. 194ff.), sowie einiges über de Candolle, französisch mit gegenüberstehendem deutschen Text.
64 Einige Philosophen behaupten, daß wir die Erscheinungen der Sinnenwelt wohl auf ihre ursprünglichen Elemente (Kräfte) zurückführen können, daß wir aber diese ebensowenig wie das Wesen des Lebens erklären können. Demgegenüber ist zu bemerken, daß jene Elemente einfach sind, d. i. sich nicht weiter aus einfacheren Elementen zusammensetzen lassen. In ihrer Einfachheit sie abzuleiten, zu erklären, ist aber eine Unmöglichkeit, nicht weil unser Erkenntnisvermögen begrenzt ist, sondern weil sie auf sich selbst beruhen; sie sind uns in ihrer Unmittelbarkeit gegenwärtig, sie sind in sich abgeschlossen, aus nichts weiterem ableitbar.
65 Dies ist eben der Gegensatz des Organismus zur Maschine. Bei der letzteren ist alles Wechselwirkung der Teile. Es existiert nichts Wirkliches in der Maschine selbst außer dieser Wechselwirkung. Das einheitliche Prinzip, welches das Zusammenwirken jener Teile beherrscht, fehlt im Objekte selbst und liegt außerhalb desselben in dem Kopfe des Konstrukteurs als Plan. Nur die äußerste Kurzsichtigkeit kann leugnen, daß gerade darinnen die Differenz zwischen Organismus und Mechanismus besteht, daß dasjenige Prinzip, welches das Wechselverhältnis der Teile bewirkt, beim letzteren nur außerhalb (abstrakt) vorhanden ist, während es bei ersterem in dem Dinge selbst wirkliches Dasein gewinnt. So erscheinen dann auch die sinnlich wahrnehmbaren Verhältnisse des Organismus nicht als bloße Folge auseinander, sondern als beherrscht von jenem inneren Prinzipe, als Folge eines solchen, das nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist. In dieser Hinsicht ist es ebensowenig sinnlich wahrnehmbar, wie jener Plan im Kopfe des Konstrukteurs, der ja auch nur für den Geist da ist; ja es ist im wesentlichen jener Plan, nur daß er jetzt eingezogen ist in das Innere des Wesens und nicht mehr durch Vermittlung eines Dritten – jenes Konstrukteurs – seine Wirkungen vollzieht, sondern dieses direkt selbst tut.
66 Kant, Kritik der Urteilskraft; Ausgabe von Kehrbach, S. 294.
67 III. Teil, 14. Buch.
68 [Dichtung und Wahrheit, III. Teil, 14. Buch.]
69 Italienische Reise, 5. Okt. 1787.
70 Einiger Attribute Gottes in denselben.
71 IV. Teil, 16. Buch.
72 Tag- und Jahres-Hefte 1811.
73 Masse, Richtung und Geschwindigkeit einer bewegten elastischen Kugel.
74 [Italienische Reise, 17. Mai 1787.]
75 Die Frucht entsteht durch Auswachsung des unteren Teiles des Stempels (Fruchtknotens 1); sie stellt ein späteres Stadium desselben dar. kann also nur getrennt gezeichnet werden. In der Fruchtbildung tritt die letzte Ausdehnung ein. Das Pflanzenleben differenziert sich 2n ein abschließendes Organ, eigentliche Frucht, und in den Samen; in der ersteren sind gleichsam alle Momente der Erscheinung vereinigt, sie ist bloße Erscheinung, sie entfremdet sich dem Leben, wird totes Produkt. Im Samen sind alle inneren, wesentlichen Momente des Pflanzenlebens konzentriert. Aus ihm entsteht eine neue Pflanze. Er ist fast ganz ideell geworden, die Erscheinung ist bei ihm auf ein Minimum reduziert.
76 Italienische Reise, 2. Dez. 1786.
77 [“Metamorphose der Tiere”]; vgl. Natw. Schr., 1. Bd., S. 344.
78 [Metamorphose der Tiere, a. a. 0. S.345.]
79 In der modernen Naturlehre versteht man unter Urorganismus gewöhnlich eine Urzelle (Urzytode), d. h. ein einfaches Wesen, welches auf der untersten Stufe der organischen Entwicklung steht. Man hat hier ein ganz bestimmtes, reales, sinnenfällig wirkliches Wesen im Auge. Wenn man im Goetheschen Sinne von Urorganismus spricht, so ist nicht dieses ins Auge zu fassen, sondern jene Essenz (Wesenheit), jenes gestaltende, entelechische Prinzip, welches bewirkt, daß jene Urzelle ein Organismus ist. Dieses Prinzip kommt im einfachsten Organismus ebenso wie im vollendetsten zur Erscheinung, nur in verschiedener Ausbildung. Es ist die Tierheit im Tiere, das, wodurch ein Wesen ein Organismus ist. Darwin setzt es von Anfang an voraus; es ist da, wird eingeführt und dann sagt er von ihm, daß es auf die Einflüsse der Außenwelt in dieser oder jener Weise reagierte. Es ist bei ihm ein unbestimmtes X, dieses unbestimmte X sucht Goethe zu erklären.
80 Goethes Naturwissenschaftliche Korrespondenz (1812-1832), hg. v. F.Th. Bratranek, 1. Bd., S. 28.
81 Ebenda, 2. Bd., S. 19 f.
82 Ebenda, 2. Bd., S. 330 f.
83 Goethe empfand dies sein unbewußtes Handeln oft als Dumpfheit. Siehe K. J. Schröer, Faust von Goethe, 6. Aufl., Stuttgart 1926, Bd. II,S. XXXIV ff.
84 Natw. Schr., 1. Bd., S. 108 ff.
85 Natw. Schr., 1. Bd., S.217ff.
V. Abschluss über Goethes morphologische Anschauungen
Wenn ich am Schlusse der Betrachtung über Goethes Metamorphosen-Gedanken auf die Anschauungen zurückblicke, die ich mich auszusprechen gedrungen fühlte, so kann ich mir nicht verhehlen, eine wie große Zahl hervorragender Vertreter verschiedener Richtungen der Wissenschaft anderer Ansicht sind. Ihre Stellung zu Goethe steht mir deutlich vor Augen; und das Urteil, das sie über meinen Versuch, den Standpunkt unseres großen Denkers und Dichters zu vertreten, aussprechen werden, dürfte im voraus zu ermessen sein.
In zwei Heerlager geteilt stehen sich die Ansichten über Goethes Bestrebungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete gegenüber.
Die Vertreter des modernen Monismus mit dem Professor Haeckel an der Spitze erkennen in Goethe den Propheten des Darwinismus, der sich das Organische ganz in ihrem Sinne von den Gesetzen beherrscht denkt, die auch in der unorganischen Natur wirksam sind. Was Goethe fehlte, sei nur die Selektionstheorie gewesen, durch welche erst Darwin die monistische Weltanschauung begründet und die Entwicklungstheorie zur wissenschaftlichen Überzeugung erhoben habe.
Diesem Standpunkte steht ein anderer gegenüber, welcher annimmt, die Typusidee bei Goethe sei weiter nichts als ein allgemeiner Begriff, eine Idee im Sinne der platonischen Philosophie. Goethe hätte zwar einzelne Behauptungen getan, die an die Entwicklungstheorie erinnern, wozu er durch den in seiner Natur gelegenen Pantheismus gekommen sei; bis zum letzten mechanischen Grunde fortzuschreiten hätte er aber kein Bedürfnis gefühlt. Von Entwicklungstheorie im modernen Sinne des Wortes könne daher bei ihm nicht die Rede sein.
Indem ich versuchte, Goethes Anschauungen ohne Voraussetzung irgendeines positiven Standpunktes, rein aus Goethes Wesen, aus dem Ganzen seines Geistes zu erklären, wurde klar, daß weder die eine noch die andere der erwähnten Richtungen – so außerordentlich bedeutend auch dasjenige ist, was sie beide zu einer Beurteilung Goethes geliefert haben – seine Naturanschauung vollkommen richtig interpretiert hat.
Die erste der charakterisierten Ansichten hat ganz recht, wenn sie behauptet, Goethe habe dadurch, daß er die Erklärung der organischen Natur anstrebte, den Dualismus bekämpft, der zwischen dieser und der unorganischen Welt unübersteigliche Schranken annimmt. Aber Goethe behauptete die Möglichkeit dieser Erklärung nicht deshalb, weil er sich die Formen und Erscheinungen der organischen Natur in einem mechanischen Zusammenhange dachte, sondern weil er einsah, daß der höhere Zusammenhang, in dem dieselben stehen, unserer Erkenntnis keineswegs verschlossen ist. Er dachte sich das Universum zwar in monistischer Weise als unentzweite Einheit – von der er den Menschen durchaus nicht ausschloß [siehe den Brief Goethes an F. H. Jacobi vom 23. Nov. 1801; WA 15, 280f.] -, aber deshalb erkannte er doch an, daß innerhalb dieser Einheit Stufen zu unterscheiden sind, die ihre eigenen Gesetze haben. Er verhielt sich schon seit seiner Jugend ablehnend gegenüber Bestrebungen, welche sich die Einheit als Einförmigkeit vorstellen und die organische Welt, wie überhaupt das, was innerhalb der Natur als höhere Natur erscheint, von den in der unorganischen Welt wirksamen Gesetzen beherrscht denken (siehe »Geschichte meines botanischen Studiums« in Natw. Schr., 1. Bd., S. 61ff.). Diese Ablehnung war es auch, welche ihn später zur Annahme einer anschauenden Urteilskraft nötigte, durch welche wir die organische Natur erfassen im Gegensatze zum diskursiven Verstande, durch den wir die unorganische Natur erkennen. Goethe denkt sich die Welt als einen Kreis von Kreisen, von denen jeder einzelne sein eigenes Erklärungsprinzip hat. Die modernen Monisten kennen nur einen einzigen Kreis, den der unorganischen Naturgesetze.
Die zweite der angeführten Meinungen über Goethe sieht ein, daß es sich bei ihm um etwas anderes handelt als beim modernen Monismus. Da aber ihre Vertreter es als ein Postulat der Wissenschaft ansehen, daß die organische Natur gerade so wie die unorganische erklärt werde und eine Anschauung wie die Goethes von vornherein perhorreszieren, so sehen sie es überhaupt als nutzlos an, auf seine Bestrebungen näher einzugehen.
So konnten Goethes hohe Prinzipien weder da noch dort zur vollen Geltung kommen. Und gerade diese sind das Hervorragende seiner Bestrebungen, sind das, was für denjenigen, der sich ihre ganze Tiefe vergegenwärtigt hat, auch dann an Bedeutung nicht verliert, wenn er einsieht, daß manches von den Einzelheiten Goethescher Forschung der Berichtigung bedarf.
Hieraus erwächst nun für denjenigen, der Goethes Anschauungen darzulegen versucht, die Forderung, über die kritische Beurteilung des einzelnen, was Goethe in diesem oder jenem Kapitel der Naturwissenschaft gefunden, hinweg den Blick auf das Zentrale Goethescher Naturanschauung zu lenken.
Indem ich dieser Forderung zu entsprechen suchte, liegt die Möglichkeit nahe, gerade von denjenigen mißverstanden zu werden, bei denen es mir am meisten leid tun würde, von den reinen Empirikern. Ich meine jene, welche den als tatsächlich nachzuweisenden Zusammenhängen der Organismen, dem empirisch gebotenen Stoffe nach allen Seiten nachgehen und die Frage nach den ursprünglichen Prinzipien der Organik als eine heute noch offene betrachten. Gegen sie können meine Ausführungen nicht gerichtet sein, denn sie berühren sie nicht. Im Gegenteile: Ich baue gerade auf sie einen Teil meiner Hoffnungen, weil sie die Hände nach allen Seiten noch frei haben. Sie sind es auch, die manches von Goethe Behauptete noch zu berichtigen haben werden, denn im Tatsächlichen irrte er zuweilen; hier kann natürlich auch das Genie die Schranken seiner Zeit nicht überwinden.
Im Prinzipiellen kam er aber zu Grundanschauungen, die für die Wissenschaft vom Organischen dieselbe Bedeutung haben wie Galileis Grundgesetze für die Mechanik.
Dies zu begründen, machte ich mir zur Aufgabe.
Mögen jene, die meine Worte nicht zu überzeugen vermögen, mindestens den redlichen Willen sehen, mit dem ich bemüht war, ohne Rücksicht auf Personen, nur der Sache zugewandt, das angedeutete Problem, Goethes wissenschaftliche Schriften aus dem Ganzen seiner Natur zu erklären, zu lösen und eine für mich erhebende Überzeugung auszusprechen.
Hat man in derselben Weise glücklich und erfolgreich begonnen, Goethes Dichtungen zu erklären, so liegt hierin schon die Forderung, alle Werke seines Geistes in diese Art der Betrachtung hereinzuziehen. Dies kann nicht für immer ausbleiben und ich werde nicht der letzte sein von denen, die sich herzlich freuen werden, wenn es meinem Nachfolger besser gelingt als mir. Möchten jugendlich strebende Denker und Forscher, namentlich jene, die mit ihren Ansichten nicht bloß in die Breite gehen, sondern direkt dem Zentralen unseres Erkennens ins Auge schauen, meinen Ausführungen einige Aufmerksamkeit schenken und in Scharen nachfolgen, um vollkommener auszuführen, was ich darzulegen bestrebt war.
VI. Goethes Erkenntnisart
Johann Gottlieb Fichte sandte im Juni 1794 die ersten Bogen seiner »Wissenschaftslehre« an Goethe. Dieser schrieb hierauf am 24. Juni an den Philosophen: »Was mich betrifft, werde ich Ihnen den größten Dank schuldig sein, wenn Sie mich endlich mit den Philosophen versöhnen, die ich nie entbehren und mit denen ich mich niemals vereinigen konnte.« [WA 10, 167] Was der Dichter hier bei Fichte, das hatte er früher bei Spinoza gesucht; später suchte er es bei Schelling und Hegel: eine philosophische Weltansicht, die seiner Denkweise gemäß wäre. Völlige Befriedigung aber brachte dem Dichter keine der philosophischen Richtungen, die er kennen lernte.
Das erschwert wesentlich unsere Aufgabe. Wir wollen Goethe von der philosophischen Seite näherkommen. Hätte er selbst einen wissenschaftlichen Standpunkt als den seinigen bezeichnet, so könnten wir uns auf diesen berufen. Das ist aber nicht der Fall. Und so obliegt uns denn die Aufgabe, aus alledem, was uns von dem Dichter vorliegt, den philosophischen Kern zu erkennen, der in ihm lag, und davon ein Bild zu entwerfen. Wir halten für den richtigen Weg, diese Aufgabe zu lösen, eine auf Grundlage der deutschen idealistischen Philosophie gewonnene Ideenrichtung. Diese Philosophie suchte ja in ihrer Weise denselben höchsten menschlichen Bedürfnissen zu genügen, denen Goethe und Schiller ihr Leben widmeten. Sie ging aus derselben Zeitströmung hervor. Sie steht daher auch Goethe viel näher als diejenigen Anschauungen, die heute vielfach die Wissenschaften beherrschen. Aus jener Philosophie wird sich eine Ansicht bilden lassen, als deren Konsequenz sich das ergibt, was Goethe dichterisch gestaltet, was er wissenschaftlich dargelegt hat. Aus unseren heutigen wissenschaftlichen Richtungen wohl nimmermehr. Wir sind heute sehr weit von jener Denkweise entfernt, die in Goethes Natur lag.
Es ist ja richtig: Wir haben auf allen Gebieten der Kultur Fortschritte zu verzeichnen. Daß das aber Fortschritte in die Tiefe sind, kann kaum behauptet werden. Für den Gehalt eines Zeitalters sind aber doch nur die Fortschritte in die Tiefe maßgebend. Unsere Zeit möchte man aber am besten damit bezeichnen, daß man sagt: Sie weist überhaupt Fortschritte in die Tiefe als für den Menschen unerreichbar zurück. Wir sind mutlos auf allen Gebieten geworden, besonders aber auf jenem des Denkens und des Wollens. Was das Denken betrifft: Man beobachtet endlos, speichert die Beobachtungen auf und hat nicht den Mut, sie zu einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung der Wirklichkeit zu gestalten. Die deutsche idealistische Philosophie aber zeiht man der Unwissenschaftlichkeit, weil sie diesen Mut hatte. Man will heute nur sinnlich schauen, nicht denken. Man hat alles Vertrauen in das Denken verloren. Man hält es nicht für ausreichend, in die Geheimnisse der Welt und des Lebens einzudringen; man verzichtet überhaupt auf jegliche Lösung der großen Rätselfragen des Daseins. Das einzige, was man für möglich hält, ist: die Aussagen der Erfahrung in ein System zu bringen. Dabei vergißt man nur, daß man sich mit dieser Ansicht einem Standpunkt nähert, den man längst für überwunden hält. Die Abweisung alles Denkens und das Pochen auf die sinnliche Erfahrung ist, tiefer erfaßt, doch nichts als der blinde Offenbarungsglaube der Religionen. Der letztere beruht doch nur darauf, daß die Kirche fertige Wahrheiten überliefert, an die man zu glauben hat. Das Denken mag sich abmühen, in ihren tieferen Sinn einzudringen; benommen aber ist es ihm, die Wahrheit selbst zu prüfen, aus eigener Kraft in die Tiefen der Welt zu dringen. Und die Erfahrungswissenschaft: was fordert sie vom Denken? Daß es lausche, was die Tatsachen sagen, und diese Aussagen auslege, ordne usw. Selbständig in den Kern der Welt einzudringen, versagt auch sie dem Denken. Dort fordert die Theologie blinde Unterwerfung des Denkens unter die Aussprüche der Kirche, hier die Wissenschaft blinde Unterwerfung unter die Aussprüche der Sinnenbeobachtung. Da wie dort gilt das selbständige, in die Tiefen dringende Denken nichts. Die Erfahrungswissenschaft vergißt nur eins. Tausende und aber Tausende schauten eine sinnenfällige Tatsache und gingen an ihr vorüber, ohne etwas Auffälliges an ihr zu merken. Dann kam einer, der sie anblickte und ein wichtiges Gesetz an ihr gewahr wurde. Woher kommt das? Doch nur davon, weil der Entdecker anders zu schauen verstand als seine Vorgänger. Er sah die Tatsache mit andern Augen an als seine Mitmenschen. Er hatte bei dem Schauen einen bestimmten Gedanken, wie man die Tatsache mit andern in Zusammenhang bringen müsse, was für sie bedeutsam sei, was nicht. Und so legte er sich denkend die Sache zurecht und er sah mehr als die andern. Er sah mit den Augen des Geistes. Alle wissenschaftlichen Entdeckungen beruhen darauf, daß der Beobachter in der durch den richtigen Gedanken geregelten Weise zu beobachten versteht. Das Denken muß die Beobachtung naturgemäß leiten. Das kann es nicht, wenn der Forscher den Glauben an das Denken verloren hat, wenn er nicht weiß, was er von dessen Tragweite zu halten hat. Die Erfahrungswissenschaft irrt ratlos in der Welt der Erscheinungen umher; die Sinnenwelt wird ihr eine verwirrende Mannigfaltigkeit, weil sie nicht die Energie im Denken hat, in das Zentrum zu dringen.
Man spricht heute von Erkenntnisgrenzen, weil man nicht weiß, wo das Ziel des Denkens liegt. Man hat keine klare Ansicht, was man erreichen will und zweifelt daran, daß man es erreichen wird. Wenn heute irgend jemand käme und uns mit Fingern auf die Lösung des Welträtsels zeigte, wir hätten nichts davon, weil wir nicht wüßten, was wir von der Lösung zu halten haben.
Und mit dem Wollen und Handeln ist es ja geradeso. Man weiß sich keine bestimmten Lebensaufgaben zu stellen, denen man gewachsen wäre. Man träumt sich in unbestimmte, unklare Ideale hinein und klagt dann, wenn man das nicht erreicht, wovon man kaum eine dunkle, viel weniger eine klare Vorstellung hat. Man frage einen der Pessimisten unserer Zeit, was er denn eigentlich will, und was er zu erreichen verzweifelt? Er weiß es nicht. Problematische Naturen sind sie alle, die keiner Lage gewachsen sind, und denen doch keine genügt. Man mißverstehe mich nicht. Ich will dem flachen Optimismus keine Lobrede halten, der, mit den trivialen Genüssen des Lebens zufrieden, nach nichts Höherem verlangt und deshalb nie etwas entbehrt. Ich will nicht den Stab brechen über Individuen, die die tiefe Tragik schmerzlich empfinden, die darinnen liegt, daß wir von Verhältnissen abhängig sind, die lähmend auf all unser Tun wirken, und die zu ändern, wir uns vergebens bestreben. Vergessen wir aber nur nicht, daß der Schmerz der Einschlag des Glückes ist. Man denke an die Mutter: wie wird ihr die Freude an dem Gedeihen ihrer Kinder versüßt, wenn sie es mit Sorgen, Leiden und Mühen dereinst errungen hat. Jeder besser denkende Mensch müßte ja ein Glück, das ihm irgendeine äußere Macht böte, zurückweisen, weil er doch nicht als Glück empfinden kann, was ihm als unverdientes Geschenk verabreicht wird. Wäre irgendein Schöpfer mit dem Gedanken an die Erschaffung des Menschen gegangen, daß er seinem Ebenbilde zugleich das Glück mit als Erbstück gäbe, so hätte er besser getan, ihn ungeschaffen zu lassen. Es erhöht die Würde des Menschen, daß grausam immer zerstört wird, was er schafft; denn er muß immer aufs neue bilden und schaffen; und im Tun liegt unser Glück, in dem, was wir selbst vollbringen. Mit dem geschenkten Glück ist es wie mit der geoffenbarten Wahrheit. Es ist allein des Menschen würdig, daß er selbst die Wahrheit suche, daß ihn weder Erfahrung noch Offenbarung leite. Wenn das einmal durchgreifend erkannt sein wird, dann haben die Offenbarungsreligionen abgewirtschaftet. Der Mensch wird dann gar nicht mehr wollen, daß sich Gott ihm offenbare oder Segen spende. Er wird durch eigenes Denken erkennen, durch eigene Kraft sein Glück begründen wollen. Ob irgendeine höhere Macht unsere Geschicke zum Guten oder Bösen lenkt, das geht uns nichts an; wir haben uns selbst die Bahn vorzuzeichnen, die wir zu wandeln haben. Die erhabenste Gottesidee bleibt doch immer die, welche annimmt, daß Gott sich nach Schöpfung des Menschen ganz von der Welt zurückgezogen und den letzteren ganz sich selbst überlassen habe.
Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.
Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.
Diese Ansicht ist in der Lage, zwei Dinge zu vereinigen, die man heute für völlig unvereinbar hält: empirische Methode und Idealismus als wissenschaftliche Weltansicht. Man glaubt, die Anerkennung der ersteren habe die Abweisung des letzteren im Gefolge. Das ist durchaus nicht richtig. Wenn man freilich die Sinne für die einzigen Auffassungsorgane einer objektiven Wirklichkeit hält, so muß man zu dieser Ansicht kommen. Denn die Sinne liefern bloß solche Zusammenhänge der Dinge, die sich auf mechanische Gesetze zurückführen lassen. Und damit wäre die mechanische Weltansicht als die einzig wahre Gestalt einer solchen gegeben. Dabei begeht man den Fehler, daß man die andern ebenso objektiven Bestandteile der Wirklichkeit, die sich auf mechanische Gesetze nicht zurückführen lassen, einfach übersieht. Das objektiv Gegebene deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich Gegebenen, wie die mechanische Weltauffassung glaubt. Das letztere ist nur die Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte desselben sind die Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind, freilich einer höheren, deren Organ das Denken ist. Auch die Ideen sind für eine induktive Methode erreichbar.
Die heutige Erfahrungswissenschaft befolgt die ganz richtige Methode: am Gegebenen festzuhalten; aber sie fügt die unstatthafte Behauptung hinzu, daß diese Methode nur Sinnenfällig-Tatsächliches liefern kann. Statt bei dem, wie wir zu unseren Ansichten kommen, stehenzubleiben, bestimmt sie von vornherein das Was derselben. Die einzig befriedigende Wirklichkeitsauffassung ist empirische Methode mit idealistischem Forschungsresultate. Das ist Idealismus, aber kein solcher, der einer nebelhaften, geträumten Einheit der Dinge nachgeht, sondern ein solcher, der den konkreten Ideengehalt der Wirklichkeit ebenso erfahrungsgemäß sucht wie die heutige hyperexakte Forschung den Tatsachengehalt.
Indem wir mit diesen Ansichten an Goethe herantreten, glauben wir in sein Wesen einzudringen. Wir halten an dem Idealismus fest, legen aber bei der Entwicklung desselben nicht die dialektische Methode Hegels, sondern einen geläuterten, höheren Empirismus zugrunde.
Ein solcher liegt auch der Philosophie Eduard v. Hartmanns zugrunde. Eduard v. Hartmann sucht in der Natur die ideengemäße Einheit, wie sie sich positiv für ein inhaltvolles Denken ergibt. Er weist die bloß mechanische Naturauffassung und den am Äußerlichen haftenden Hyper-Darwinismus zurück. Er ist in der Wissenschaft Begründer eines konkreten Monismus. In der Geschichte und Ästhetik sucht er die konkrete Idee. Das alles nach empirisch-induktiver Methode.
Hartmanns Philosophie ist von meiner nur durch die Pessimismus-Frage und durch die metaphysische Zuspitzung des Systems nach dem »Unbewußten« verschieden. Was den letzteren Punkt betrifft, wolle man weiter unten nachsehen. In bezug auf den Pessimismus aber sei folgendes bemerkt: Was Hartmann als Gründe für den Pessimismus anführt, d. h. für die Ansicht, daß uns nichts in der Welt voll befriedigen kann, daß stets die Unlust die Lust überwiegt, das möchte ich geradezu als das Glück der Menschheit bezeichnen. Was er vorbringt, sind für mich nur Beweise dafür, daß es vergebens ist, eine Glückseligkeit zu erstreben. Wir müssen eben ein solches Bestreben ganz aufgeben und unsere Bestimmung rein darinnen suchen, selbstlos jene idealen Aufgaben zu erfüllen, die uns unsere Vernunft vorzeichnet. Was heißt das anders, als daß wir nur im Schaffen, in rastloser Tätigkeit unser Glück suchen sollen?
Nur der Tätige und zwar der selbstlos Tätige, der mit seiner Tätigkeit keinen Lohn anstrebt, erfüllt seine Bestimmung. Es ist töricht, für seine Tätigkeit belohnt sein zu wollen; es gibt keinen wahren Lohn. Hier sollte Hartmann weiterbauen. Er sollte zeigen, was denn unter solchen Voraussetzungen die einzige Triebfeder aller unserer Handlungen sein kann. Es kann, wenn die Aussicht auf ein erstrebtes Ziel wegfällt, nur die selbstlose Hingabe an das Objekt sein, dem man seine Tätigkeit widmet, es kann nur die Liebe sein. Nur eine Handlung aus Liebe kann eine sittliche sein. Die Idee muß in der Wissenschaft, die Liebe im Handeln unser Leitstern sein. Und damit sind wir wieder bei Goethe angelangt. »Dem tätigen Menschen kommt es darauf an, daß er das Rechte tue, ob das Rechte geschehe, soll ihn nicht kümmern.» »Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren.«85 (»Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 464 u. 441.)
Ich bin zu meiner Weltansicht nicht allein durch das Studium Goethes oder etwa gar des Hegelianismus gekommen. Ich ging von der mechanisch-naturalistischen Weltauffassung aus, erkannte aber, daß bei intensivem Denken dabei nicht stehengeblieben werden kann. Ich fand, streng nach naturwissenschaftlicher Methode verfahrend, in dem objektiven Idealismus die einzig befriedigende Weltansicht. Die Art, wie ein sich selbst verstehendes, widerspruchsloses Denken zu dieser Weltansicht gelangt, zeigt meine Erkenntnistheorie.86 Ich fand dann, daß dieser objektive Idealismus seinem Grundzuge nach die Goethesche Weltansicht durchtränkt. So geht denn dann freilich der Ausbau meiner Ansichten seit Jahren parallel mit dem Studium Goethes; und ich habe nie einen prinzipiellen Gegensatz zwischen meinen Grundansichten und der Goetheschen wissenschaftlichen Tätigkeit gefunden. Wenn es mir wenigstens teilweise gelungen ist: erstens meinen Standpunkt so zu entwickeln, daß er auch in andern lebendig wird, und zweitens die Überzeugung herbeizuführen, daß dieser Standpunkt wirklich der Goethesche ist, dann betrachte ich meine Aufgabe als erfüllt.
85 Sprüche in Prosa, a.a.O. S. 464 und 441.
86 Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller. Berlin u. Stuttgart 1886, 6. Aufl. Gesamtausgabe Dornach 1960.
VII. Über die Anordnung der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes
Bei der Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die ich zu besorgen hatte, leitete mich der Gedanke: das Studium der Einzelheiten derselben durch die Darlegung der großartigen Ideenwelt zu beleben, die ihnen zugrunde liegt. Es ist meine Überzeugung, daß jede einzelne Behauptung Goethes einen völlig neuen und zwar den richtigen Sinn erhält, wenn man an sie mit dem vollen Verständnis für seine tiefe und umfassende Weltanschauung herantritt. Es ist ja nicht zu leugnen: Manche der Aufstellungen Goethes in naturwissenschaftlicher Beziehung erscheint ganz bedeutungslos, wenn man sie vom Standpunkte der mittlerweile so fortgeschrittenen Wissenschaft ansieht. Das kommt aber gar nicht weiter in Betracht. Es handelt sich darum: was sie innerhalb der Weltansicht Goethes zu bedeuten hat. Auf der geistigen Höhe, auf der der Dichter steht, ist auch das wissenschaftliche Bedürfnis ein gesteigertes. Ohne wissenschaftliches Bedürfnis gibt es aber keine Wissenschaft. Was für Fragen stellte Goethe an die Natur? Das ist das Wichtige. Ob und wie er sie beantwortet hat, das kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Haben wir heute zulänglichere Mittel, eine reichere Erfahrung: nun wohl, dann wird es uns gelingen, ausreichendere Lösungen der von ihm gestellten Probleme zu finden. Daß wir aber nicht mehr vermögen als eben dies: die von ihm vorgezeichneten Bahnen mit unseren größeren Mitteln zu wandeln, das sollen meine Darstellungen zeigen. Was wir von ihm lernen sollen, ist also vor allem das, wie man an die Natur Fragen zu stellen hat.
Man übersieht die Hauptsache, wenn man Goethe nichts anderes zugesteht, als daß er manche Beobachtung aufzuweisen habe, die von der späteren Forschung wieder gefunden, heute einen wichtigen Bestandteil unserer Weltanschauung bildet. Bei ihm kommt es gar nicht auf das überlieferte Ergebnis an, sondern auf die Art, wie er dazu gelangt. Treffend sagt er selbst: »Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt; sie können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.« [»Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 362.] Er kam zu einer durchaus naturgemäßen Methode. Er suchte diese Methode mit jenen Hilfsmitteln, die ihm zu Gebote standen, in die Wissenschaft einzuführen. Es mag nun sein, daß die hierdurch gewonnenen Einzelergebnisse durch die fortschreitende Wissenschaft umgewandelt worden sind; aber der wissenschaftliche Prozeß, der damit eingeleitet wurde, ist ein dauernder Gewinn der Wissenschaft.
Diese Gesichtspunkte konnten nicht ohne Einfluß auf die Anordnung des herauszugebenden Stoffes bleiben. Man kann mit einigem Schein von Recht fragen, warum ich, da ich schon einmal von der bisher üblichen Einteilung der Schriften abgegangen bin, nicht gleich jenen Weg betreten habe, der sich vor allem zu empfehlen scheint: die allgemein-naturwissenschaftlichen Schriften im 1. Bande, die organischen, mineralogischen und meteorologischen im 2. und die physikalischen Schriften im 3. Bande zu bringen. Es enthielte dann der 1. Band die allgemeinen Gesichtspunkte, die folgenden die besonderen Ausführungen der Grundgedanken. So verlockend das nun auch ist: es hätte mir nie einfallen können, diese Anordnung zu treffen. Ich hätte damit – um auf das Gleichnis Goethes noch einmal zurückzukommen – nicht erreichen können, was ich wollte: an den Steinen, die voran im Brette gewagt, den Plan des Spieles erkenntlich zu machen.
Nichts lag Goethe ferner, als in bewußter Weise von allgemeinen Begriffen auszugehen. Er geht immer von konkreten Tatsachen aus, vergleicht sie, ordnet sie. Darüber geht ihm die Ideengrundlage derselben auf. Es ist ein großer Irrtum, zu behaupten, nicht die Ideen seien das treibende Prinzip in Goethes Schaffen, weil er über die Idee des Faust jene sattsam bekannte Bemerkung gemacht. In der Betrachtung der Dinge bleibt ihm nach Abstreifung alles Zufälligen, Unwesentlichen etwas zurück, das Idee in seinem Sinne ist. Die Methode, der sich Goethe bedient, bleibt selbst da noch die auf reine Erfahrung gebaute, wo er sich zur Idee erhebt. Denn nirgends läßt er eine subjektive Zutat in seine Forschung einfließen. Er befreit nur die Erscheinungen von dem Zufälligen, um zu ihrer tieferen Grundlage vorzudringen. Sein Subjekt hat keine andere Aufgabe, als das Objekt so zurechtzulegen, daß es sein Innerstes verrät. »Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten.« [»Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 378.] Es kommt darauf an, diese Manifestationen in solchen Zusammenhang zu bringen, daß das »Wahre« erscheint. In der Tatsache, der wir beobachtend gegenübertreten, steckt schon das Wahre, die Idee; wir müssen nur die Hülle entfernen, die es uns verbirgt. In der Entfernung dieser Hülle besteht die wahre wissenschaftliche Methode. Goethe schlug diesen Weg ein. Und wir müssen ihm auf demselben folgen, wenn wir ganz in ihn eindringen wollen. Mit anderen Worten: Wir müssen mit Goethes Studien über die organische Natur beginnen, weil er mit ihnen begann. Hier enthüllte sich ihm zuerst ein reicher Gehalt von Ideen, die wir dann als Bestandteile in seinen allgemeinen und methodischen Aufsätzen wiederfinden. Wollen wir die letzteren verstehen, müssen wir uns mit jenem Gehalte bereits erfüllt haben. Die Aufsätze über Methode sind dem bloße Gedankengewebe, der nicht den Weg nachzugehen bemüht ist, den Goethe gegangen. Was dann die Studien über physikalische Erscheinungen betrifft, so entstanden sie bei Goethe erst als die Konsequenz seiner Naturanschauung.
VIII. Von der Kunst zur Wissenschaft
Wer sich die Aufgabe stellt, die Geistesentwicklung eines Denkers darzustellen, hat uns die besondere Richtung desselben auf psychologischem Wege aus den in seiner Biographie gegebenen Tatsachen zu erklären. Bei einer Darstellung von Goethe, dem Denker, ist die Aufgabe damit noch nicht erschöpft. Hier wird nicht nur nach einer Rechtfertigung und Erklärung seiner speziellen wissenschaftlichen Richtung, sondern und vorzüglich auch darnach gefragt, wie dieser Genius überhaupt dazu kam, auf wissenschaftlichem Gebiete tätig zu sein. Goethe hatte durch die falsche Ansicht seiner Zeitgenossen viel zu leiden, die sich nicht denken konnten, daß dichterisches Schaffen und wissenschaftliche Forschung sich in einem Geiste vereinigen lasse. Es handelt sich hier vor allem um Beantwortung der Frage: Welches sind die Motive, die den großen Dichter zur Wissenschaft getrieben? Liegt der Übergang von Kunst zur Wissenschaft rein in seiner subjektiven Neigung, in persönlicher Willkür? Oder war Goethes künstlerische Richtung eine solche, daß sie ihn mit Notwendigkeit zur Wissenschaft treiben mußte?
Wäre das erstere der Fall, dann hätte die gleichzeitige Hingabe an Kunst und Wissenschaft bloß die Bedeutung einer zufälligen persönlichen Begeisterung für beide Richtungen des menschlichen Strebens; wir hätten es mit einem Dichter zu tun, der zufällig auch ein Denker ist, und es hätte wohl sein können, daß bei einem etwas andern Lebensgange Goethe dieselben Wege in der Dichtung eingeschlagen, ohne daß er sich um die Wissenschaft auch nur bekümmert hätte. Beide Seiten dieses Mannes interessierten uns dann abgesondert als solche, beide hätten vielleicht für sich ein gut Teil den Fortschritt der Menschheit gefördert. Alles das wäre aber auch der Fall, wenn die beiden Geistesrichtungen auf zwei Persönlichkeiten verteilt gewesen wären. Der Dichter Goethe hätte mit dem Denker Goethe nichts zu tun.
Ist aber das zweite der Fall, dann war Goethes künstlerische Richtung eine solche, daß sie von innen heraus notwendig dazu drängte, durch wissenschaftliches Denken ergänzt zu werden. Dann ist es schlechterdings undenkbar, daß die beiden Richtungen auf zwei Persönlichkeiten verteilt gewesen wären. Dann interessiert uns jede der beiden Richtungen nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch wegen ihrer Beziehung auf die andere. Dann gibt es einen objektiven Übergang von Kunst zur Wissenschaft, einen Punkt, wo sich die beiden so berühren, daß Vollendung in dem einen Gebiete Vollendung in dem andern fordert. Goethe folgte dann nicht einer persönlichen Neigung, sondern die Kunstrichtung, der er sich ergab, weckte in ihm Bedürfnisse, denen nur in wissenschaftlicher Betätigung Befriedigung werden konnte.
Unsere Zeit glaubt das Richtige zu treffen, wenn sie Kunst und Wissenschaft möglichst weit auseinanderhält. Sie sollen zwei vollkommen entgegengesetzte Pole in der Kulturentwicklung der Menschheit sein. Die Wissenschaft soll uns – so denkt man – ein möglichst objektives Weltbild entwerfen, sie soll uns die Wirklichkeit im Spiegel zeigen oder mit andern Worten: sie soll mit Entäußerung aller subjektiven Willkür sich rein an das Gegebene halten. Für ihre Gesetze ist die objektive Welt maßgebend, ihr hat sie sich zu unterwerfen. Sie soll den Maßstab des Wahren und Falschen ganz und gar aus den Objekten der Erfahrung nehmen.
Ganz anders soll es bei den Schöpfungen der Kunst sein. Ihnen wird von der selbstschöpferischen Kraft des menschlichen Geistes das Gesetz gegeben. Für die Wissenschaft wäre jedes Einmischen der menschlichen Subjektivität Verfälschung der Wirklichkeit, Überschreitung der Erfahrung; die Kunst dagegen wächst auf dem Felde genialischer Subjektivität. Ihre Schöpfungen sind Gebilde menschlicher Einbildungskraft, nicht Spiegelbilder der Außenwelt. Außer uns, im objektiven Sein liegt der Ursprung wissenschaftlicher Gesetze; in uns, in unserer Individualität der der ästhetischen. Daher haben die letzteren nicht den geringsten Erkenntniswert, sie erzeugen Illusionen ohne den geringsten Wirklichkeitsfaktor.
Wer die Sache so faßt, wird nie Klarheit darüber gewinnen, welches Verhältnis Goethesche Dichtung zu Goethescher Wissenschaft hat. Dadurch wird aber beides mißverstanden. Die welthistorische Bedeutung Goethes liegt ja gerade darinnen, daß seine Kunst unmittelbar aus dem Urquell des Seins fließt, daß sie nichts Illusorisches, nichts Subjektives an sich trägt, sondern als die Künderin jener Gesetzlichkeit erscheint, die der Dichter in den Tiefen des Naturwirkens dem Weltgeiste abgelauscht hat. Auf dieser Stufe wird die Kunst die Interpretin der Weltgeheimnisse, wie es die Wissenschaft in anderem Sinne ist.
So hat Goethe auch stets die Kunst aufgefaßt. Sie war ihm die eine Offenbarung des Urgesetzes der Welt, die Wissenschaft war ihm die andere. Für ihn entsprangen Kunst und Wissenschaft aus einer Quelle. Während der Forscher untertaucht in die Tiefen der Wirklichkeit, um die treibenden Kräfte derselben in Form von Gedanken auszusprechen, sucht der Künstler dieselben treibenden Gewalten seinem Stoffe einzubilden. »Ich denke, Wissenschaft könnte man die Kenntnis des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wissen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur Tat verwendet; Wissenschaft wäre Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus, deshalb man sie auch praktische Wissenschaft nennen könnte. Und so wäre denn endlich Wissenschaft das Theorem, Kunst das Problem.«87 Was die Wissenschaft als Idee (Theorem) ausspricht, das soll die Kunst dem Stoffe einprägen, das soll ihr Problem werden. »In den Werken des Menschen wie in denen der Natur sind die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit wert«, sagt Goethe.88 Überall sucht er nicht nur das, was den Sinnen in der Außenwelt gegeben ist, sondern die Tendenz, durch die es geworden.
Diese wissenschaftlich aufzufassen, künstlerisch zu gestalten, das ist seine Sendung. Bei ihren eigenen Bildungen gerät die Natur »auf Spezifikationen wie in eine Sackgasse«; man muß auf das zurückgehen, was hätte werden sollen, wenn die Tendenz sich hätte ungehindert entfalten können, so wie der Mathematiker nie dieses oder jenes Dreieck, sondern immer jene Gesetzmäßigkeit im Auge hat, die jedem möglichen Dreiecke zugrunde liegt. Nicht was die Natur geschaffen, sondern nach welchem Prinzipe sie es geschaffen, darauf kommt es an. Dann ist dieses Prinzip so auszugestalten, wie es seiner eigenen Natur gemäß ist, nicht wie es in dem von tausend Zufälligkeiten abhängigen einzelnen Gebilde der Natur geschehen ist. Der Künstler hat »aus dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu entwickeln«.
Goethe und Schiller nehmen die Kunst in ihrer vollen Tiefe. Das Schöne ist »eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben«. Ein Blick in des Dichters »Italienische Reise« genügt, um zu erkennen, daß das nicht etwa eine Phrase, sondern tief-innerliche Überzeugung ist. Wenn er sagt: »Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist Gott«, so geht daraus hervor, daß ihm Natur und Kunst gleichen Ursprunges sind. Bezüglich der Kunst der Griechen sagt er in dieser Richtung folgendes: »Ich habe die Vermutung, daß sie nach den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur selbst verfährt und denen ich auf der Spur bin.« Und von Shakespeare: »Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist; er durchdringt die Welt wie jener, beiden ist nichts verborgen; aber wenn des Weltgeistes Geschäft ist, Geheimnisse vor, ja oft nach der Tat zu bewahren, so ist der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu verschwätzen.«
Hier ist auch an den Ausspruch von der »frohen Lebensepoche« zu erinnern, die der Dichter Kants »Kritik der Urteilskraft« schuldig geworden ist, und die er ja doch eigentlich nur dem Umstande dankte, daß er hier »Kunst-und Naturerzeugnisse eins behandelt sah wie das andere, daß sich ästhetische und teleologische Urteilskraft wechselweise erleuchteten.« »Mich freute«, sagt der Dichter, »daß Dichtkunst und vergleichende Naturkunde so nah miteinander verwandt seien, indem beide sich derselben Urteilskraft unterwerfen.« In dem Aufsatz: »Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort« [Natw. Schr., 2. Bd., S. 31ff.] stellt Goethe ganz in derselben Absicht seinem gegenständlichen Denken sein gegenständliches Dichten gegenüber.
So erscheint Goethe die Kunst ebenso objektiv wie die Wissenschaft. Nur die Form beider ist verschieden. Beide erscheinen als der Ausfluß eines Wesens, als notwendige Stufen einer Entwicklung. Jede Ansicht, die der Kunst oder dem Schönen eine isolierte Stellung außerhalb des Gesamtbildes menschlicher Entwicklung anweist, widerstrebt ihm. So sagt er: »Im Ästhetischen tut man nicht wohl, zu sagen: die Idee des Schönen; dadurch vereinzelt man das Schöne, das doch einzeln nicht gedacht werden kann«89 oder: »Der Stil ruht auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.«90 Die Kunst beruht also auf dem Erkennen. Das letztere hat die Aufgabe, die Ordnung, nach der die Welt gefügt ist, im Gedanken nachzuschaffen; die Kunst die, im einzelnen die Idee dieser Ordnung des Weltganzen auszubilden. Alles, was dem Künstler an Weltgesetzlichkeit erreichbar ist, das legt er in sein Werk. Dies erscheint somit als eine Welt im kleinen. Hierin liegt der Grund dafür, warum sich die Goethesche Kunstrichtung durch Wissenschaft ergänzen muß. Sie ist schon als Kunst ein Erkennen. Goethe wollte eben weder Wissenschaft noch Kunst; er wollte die Idee. Und diese spricht er aus oder stellt er dar, nach der Seite, nach der sie sich ihm gerade darbietet. Goethe suchte sich mit dem Weltgeiste zu verbünden und uns dessen Walten zu offenbaren; er tat es durch das Medium der Kunst oder der Wissenschaft, je nach Erfordernis. Nicht einseitiges Kunst- oder wissenschaftliches Streben lag in Goethe, sondern der rastlose Drang, »alle Wirkenskraft und Samen« zu schauen.
Dabei ist Goethe doch kein philosophischer Dichter, denn seine Dichtungen nehmen nicht den Umweg durch den Gedanken zur sinnenfälligen Gestaltung; sondern sie strömen unmittelbar aus der Quelle alles Werdens, wie seine Forschungen nicht mit dichterischer Phantasie durchtränkt sind, sondern unmittelbar auf dem Gewahrwerden der Ideen beruhen. Ohne daß Goethe ein philosophischer Dichter ist, erscheint seine Grundrichtung für den philosophischen Betrachter als eine philosophische.
Damit nimmt die Frage, ob Goethes wissenschaftliche Arbeiten philosophischen Wert haben oder nicht, eine durchaus neue Gestalt an. Es handelt sich darum, von dem, was vorliegt, zurück auf die Prinzipien zu schließen. Was müssen wir voraussetzen, daß uns Goethes wissenschaftliche Aufstellungen als Folge dieser Voraussetzungen erscheinen? Wir müssen aussprechen, was Goethe unausgesprochen gelassen hat, was aber allein seine Anschauungen verständlich macht.
87 »Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 535.
88 Ebenda S. 378.
89 »Sprüche in Prosa«, Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 379.
90 Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, in: Schriften zur Kunst 1788-1800.
IX. Goethes Erkenntnistheorie
Wir haben schon im vorigen Kapitel angedeutet, daß Goethes wissenschaftliche Weltanschauung als abgeschlossenes Ganzes, aus einem Prinzipe entwickelt, nicht vorliegt. Wir haben es nur mit einzelnen Manifestationen zu tun, aus denen wir sehen, wie sich dieser oder jener Gedanke im Lichte seiner Denkweise ausnimmt. Es ist dies der Fall in seinen wissenschaftlichen Werken, in den kurzen Andeutungen über diesen oder jenen Begriff, wie er sie in den »Sprüchen in Prosa« gibt, und in den Briefen an seine Freunde. Die künstlerische Ausgestaltung seiner Weltanschauung endlich, die uns ja auch die mannigfaltigsten Rückschlüsse auf seine Grundideen gestattet, liegt uns in seinen Dichtungen vor. Damit aber, daß wir rückhaltlos zugeben, daß Goethes Grundprinzipien von ihm nie als zusammenhängendes Ganzes ausgesprochen worden sind, wollen wir durchaus nicht zugleich die Behauptung gerechtfertigt finden, daß Goethes Weltanschauung nicht aus einem ideellen Zentrum entspringt, das sich in eine streng wissenschaftliche Fassung bringen läßt.
Wir müssen uns vor allem klar darüber sein, um was es sich hierbei handelt. Was in Goethes Geist als das innere, treibende Prinzip in allen seinen Schöpfungen wirkte, sie durchdrang und belebte, konnte sich als solches, in seiner Besonderheit nicht in den Vordergrund drängen. Eben weil es bei Goethe alles durchdringt, konnte es nicht als einzelnes zu gleicher Zeit vor sein Bewußtsein treten. Wäre das letztere der Fall gewesen, dann hätte es als Abgeschlossenes, Ruhendes vor seinen Geist treten müssen, anstatt daß es, wie es wirklich der Fall war, stets ein Tätiges, Wirkendes war. Dem Ausleger Goethes obliegt es, den mannigfachen Betätigungen und Offenbarungen dieses Prinzipes, seinem stetigen Flusse, zu folgen, um es dann in ideellen Umrissen auch als abgeschlossenes Ganzes zu zeichnen. Wenn es uns gelingt, den wissenschaftlichen Inhalt dieses Prinzipes klar und bestimmt auszusprechen und allseitig in wissenschaftlicher Folgerichtigkeit zu entwickeln, dann werden uns die exoterischen Ausführungen Goethes erst in ihrer wahren Beleuchtung erscheinen, weil wir sie als in ihrer Entwicklung, von einem gemeinsamen Zentrum aus, erblicken werden.
In diesem Kapitel soll uns Goethes Erkenntnistheorie beschäftigen. Was die Aufgabe dieser Wissenschaft anlangt, so ist leider seit Kant eine Verwirrung eingetreten, die wir hier kurz andeuten müssen, bevor wir zu dem Verhältnisse Goethes zu derselben übergehen.
Kant glaubte, die Philosophie vor ihm habe sich deshalb auf einem Irrwege befunden, weil sie die Erkenntnis des Wesens der Dinge anstrebte, ohne sich zuerst zu fragen, wie eine solche Erkenntnis möglich sei. Er sah das Grundübel alles Philosophierens vor ihm darin, daß man über die Natur des zu erkennenden Objektes nachdachte, bevor man das Erkennen selbst in bezug auf seine Fähigkeit geprüft hatte. Diese letztere Prüfung machte er daher zum philosophischen Grundproblem und inaugurierte damit eine neue Ideenrichtung. Die auf Kant fussende Philosophie hat seitdem unsägliche wissenschaftliche Kraft auf die Beantwortung dieser Frage verwendet; und heute mehr als je sucht man in philosophischen Kreisen der Lösung dieser Aufgabe näherzukommen. Die Erkenntnistheorie aber, die in der Gegenwart geradezu zur wissenschaftlichen Zeitfrage geworden ist, soll nichts weiter sein als die ausführliche Antwort auf die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? Auf Goethe angewendet, würde dann die Frage heißen: Wie dachte sich Goethe die Möglichkeit einer Erkenntnis?
Bei genauerem Zusehen stellt sich aber heraus, daß die Beantwortung der gestellten Frage durchaus nicht an die Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden darf. Wenn ich nach der Möglichkeit eines Dinges frage, dann muß ich vorher dasselbe erst untersucht haben. Wie aber, wenn sich der Begriff der Erkenntnis, den Kant und seine Anhänger haben, und von dem sie fragen, ob er möglich ist oder nicht, selbst als durchaus unhaltbar erwiese, wenn er vor einer eindringenden Kritik nicht standhalten könnte? Wenn unser Erkenntnisprozeß etwas ganz anderes wäre als das von Kant Definierte? Dann wäre die ganze Arbeit nichtig. Kant hat den landläufigen Begriff des Erkennens angenommen und nach seiner Möglichkeit gefragt.
Nach diesem Begriffe soll das Erkennen in einem Abbilden von außer dem Bewußtsein stehenden, an sich bestehenden Seinsverhältnissen bestehen. Man wird aber so lange über die Möglichkeit der Erkenntnis nichts ausmachen können, als man nicht die Frage nach dem Was des Erkennens selbst beantwortet hat. Damit wird die Frage: Was ist das Erkennen? zur ersten der Erkenntnistheorie gemacht. In bezug auf Goethe wird es also unsere Aufgabe sein, zu zeigen, was sich Goethe unter Erkennen vorstellte.
Die Bildung eines Einzelurteiles, die Feststellung einer Tatsache oder Tatsachenreihe, die man nach Kant schon Erkenntnis nennen könnte, ist im Sinne Goethes noch durchaus nicht Erkennen. Er hätte sonst vom Stil nicht gesagt, daß er auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis beruhe und dadurch im Gegensatze zur einfachen Naturnachahmung steht, bei welcher der Künstler sich an die Gegenstände der Natur wendet, mit Treue und Fleiß ihre Gestalten, ihre Farben auf das genaueste nachahmt, sich gewissenhaft niemals von ihr entfernt. Dieses Entfernen von der Sinnenwelt in ihrer Unmittelbarkeit ist bezeichnend für Goethes Ansicht vom wirklichen Erkennen. Das unmittelbar Gegebene ist die Erfahrung. Im Erkennen schaffen wir aber ein Bild von dem unmittelbar Gegebenen, das wesentlich mehr enthält, als was die Sinne, die doch die Vermittler aller Erfahrung sind, liefern können. Wir müssen, um im Goetheschen Sinne die Natur zu erkennen, sie nicht in ihrer Tatsächlichkeit festhalten, sondern sie muß sich im Prozesse des Erkennens als ein wesentlich Höheres entpuppen, als was sie im ersten Gegenübertreten erscheint. Die Millsche Schule nimmt an, alles, was wir mit der Erfahrung tun können, sei ein bloßes Zusammenfassen einzelner Dinge in Gruppen, die wir dann als abstrakte Begriffe festhielten. Das ist kein wahres Erkennen. Denn jene abstrakten Begriffe Mills haben keine andere Aufgabe, als das zusammenzufassen, was sich den Sinnen darbietet mit allen Qualitäten der unmittelbaren Erfahrung. Ein wahres Erkennen muß zugeben, daß die unmittelbare Gestalt der sinnenfällig-gegebenen Welt noch nicht ihre wesentliche ist, sondern daß sich uns diese erst im Prozesse des Erkennens enthüllt. Das Erkennen muß uns das liefern, was uns die Sinnenerfahrung vorenthält, was aber doch wirklich ist. Das Millsche Erkennen ist deshalb kein wahrhaftes Erkennen, weil es nur ein ausgebildetes sinnliches Erfahren ist. Es läßt die Dinge so, wie sie Augen und Ohren liefern. Nicht das Gebiet des Erfahrbaren sollen wir überschreiten und uns in ein Phantasiegebilde verlieren, wie es die Metaphysiker älterer und neuerer Zeit liebten, sondern wir sollen von der Gestalt des Erfahrbaren, wie sie sich uns in dem für die Sinne Gegebenen darstellt, zu einer solchen fortschreiten, die unsere Vernunft befriedigt.
Es tritt nun die Frage an uns heran: Wie verhält sich das unmittelbar Erfahrene zu dem im Prozesse des Erkennens entstandenen Bild der Erfahrung? Wir wollen diese Frage zuerst ganz selbständig beantworten und dann zeigen, daß die Antwort, die wir geben, eine Konsequenz der Goetheschen Weltanschauung ist.
Zunächst stellt sich uns die Welt als eine Mannigfaltigkeit im Raum und in der Zeit dar. Wir nehmen räumlich und zeitlich gesonderte Einzelheiten wahr: da diese Farbe, dort jene Gestalt; jetzt diesen Ton, dann jenes Geräusch usw. Nehmen wir zuerst ein Beispiel aus der unorganischen Welt und sondern wir ganz genau das, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, ab von dem, was der Erkenntnisprozeß liefert. Wir sehen einen Stein, der gegen eine Glastafel fliegt, dieselbe durchbohrt und dann nach einer gewissen Zeit zur Erde fällt. Wir fragen, was ist hier in unmittelbarer Erfahrung gegeben? Eine Reihe aufeinanderfolgender Gesichtswahrnehmungen, ausgehend von den Orten, die der Stein nacheinander eingenommen hat, eine Reihe von Schallwahrnehmungen beim Zerbrechen der Scheibe, das Hinwegfliegen der Glasscherben usw. Wenn man sich nicht täuschen will, so muß man sagen: der unmittelbaren Erfahrung ist nichts weiter gegeben als dieses zusammenhangslose Aggregat von Wahrnehmungsakten.
Dieselbe strenge Abgrenzung des unmittelbar Wahrgenommenen (der sinnlichen Erfahrung) findet man auch bei Volkelt in seiner ausgezeichneten Schrift »Kants Erkenntnistheorie nach ihren Grundprinzipien analysiert« [Hamburg 1879], die zu dem Besten gehört, was die neuere Philosophie hervorgebracht hat. Es ist aber durchaus nicht einzusehen, warum Volkelt die zusammenhangslosen Wahrnehmungsbilder als Vorstellungen auffaßt und sich damit von vornherein den Weg zu einer möglichen objektiven Erkenntnis abschneidet. Die unmittelbare Erfahrung von vornherein als ein Ganzes von Vorstellungen auffassen, ist doch entschieden ein Vorurteil. Wenn ich irgendeinen Gegenstand vor mir habe, so sehe ich an ihm Gestalt, Farbe, ich nehme eine gewisse Härte an ihm wahr usw. Ob dieses Aggregat von meinen Sinnen gegebenen Bildern ein außer mir Liegendes, ob es bloßes Vorstellungsgebilde ist: ich weiß es von vornherein nicht. So wenig ich von vornherein – ohne denkende Erwägung – die Erwärmung des Steines als Folge der erwärmenden Sonnenstrahlen erkenne, so wenig weiß ich, in welcher Beziehung die mir gegebene Welt zu meinem Vorstellungsvermögen steht.
Volkelt stellt an die Spitze der Erkenntnistheorie den Satz: »daß wir eine Mannigfaltigkeit so und so beschaffener Vorstellungen haben«.Daß wir eine Mannigfaltigkeit gegeben haben, ist richtig; aber woher wissen wir, daß diese Mannigfaltigkeit aus Vorstellungen besteht? Volkelt tut in der Tat etwas sehr Unstatthaftes, wenn er erst behauptet: wir müssen festhalten, was uns in unmittelbarer Erfahrung gegeben ist, und dann die Voraussetzung, die nicht gegeben sein kann, macht, daß die Erfahrungswelt Vorstellungswelt ist. Wenn wir eine solche Voraussetzung machen wie es die Volkeltsche ist, dann sind wir sofort zur oben gekennzeichneten falschen Fragestellung in der Erkenntnistheorie gezwungen. Sind unsere Wahrnehmungen Vorstellungen, dann ist unser gesamtes Wissen Vorstellungswissen und es entsteht die Frage: Wie ist eine Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstande möglich, den wir vorstellen?
Wo aber hat je eine wirkliche Wissenschaft mit dieser Frage etwas zu tun? Man betrachte die Mathematik! Sie hat ein Gebilde vor sich, das durch den Schnitt dreier Geraden entstanden ist: ein Dreieck. Die drei Winkel t, p, y stehen in einer konstanten Beziehung; sie machen zusammen einen gestreckten Winkel oder zwei Rechte aus 180 Grad). Das ist ein mathematisches Urteil. Wahrgenommen sind die Winkel t, p, y. Auf Grund denkender Erwägung stellt sich das obige Erkenntnisurteil ein. Es stellt einen Zusammenhang dreier Wahrnehmungsbilder her. Von einem Reflektieren auf irgendeinen hinter der Vorstellung des Dreieckes stehenden Gegenstand ist nicht die Rede. Und so machen es alle Wissenschaften.
Sie spinnen Fäden von Vorstellungsbild zu Vorstellungsbild, schaffen Ordnung in dem, was der unmittelbaren Wahrnehmung ein Chaos ist; nirgends aber kommt etwas außer dem Gegebenen in Betracht. Wahrheit ist nicht Übereinstimmung einer Vorstellung mit ihrem Gegenstande, sondern der Ausdruck eines Verhältnisses zweier wahrgenommener Fakta.
Wir kommen auf unser Beispiel von dem geworfenen Stein zurück. Wir verbinden die Gesichtswahrnehmungen, die von den einzelnen Orten, an denen sich der Stein befindet, ausgehen. Diese Verbindung gibt eine krumme Linie (Wurflinie); wir erhalten das Gesetz des schiefen Wurfes; wenn wir ferner die materielle Beschaffenheit des Glases in Betracht ziehen, dann den fliegenden Stein als Ursache, das Zerbrechen der Scheibe als Wirkung auffassen usw., so haben wir das Gegebene mit Begriffen so durchtränkt, daß es uns verständlich wird. Diese ganze Arbeit, welche die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung in eine begriffliche Einheit zusammenfaßt, vollzieht sich innerhalb unseres Bewußtseins. Der ideelle Zusammenhang der Wahrnehmungsbilder ist nicht durch die Sinne gegeben, sondern von unserem Geiste schlechterdings selbständig erfaßt. Für ein mit bloßem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen begabtes Wesen wäre diese ganze Arbeit einfach nicht da. Es würde für dasselbe die Außenwelt einfach jenes zusammenhangslose Wahrnehmungschaos bleiben, das wir als das uns zunächst (unmittelbar) Gegenübertretende charakterisiert haben.
So ist also der Ort, wo die Wahrnehmungsbilder in ihrem ideellen Zusammenhange erscheinen, wo den ersteren der letztere als deren begriffliches Gegenbild entgegengehalten wird, das menschliche Bewußtsein.
Wenn nun auch dieser begriffliche (gesetzliche) Zusammenhang seiner substantiellen Beschaffenheit nach im Bewußtsein produziert ist, so folgt daraus noch durchaus nicht, daß er auch seiner Bedeutung nach nur subjektiv ist. Er entspringt vielmehr ebensosehr seinem Inhalte nach aus der Objektivität, wie er seiner begrifflichen Form nach aus dem Bewußtsein entspringt. Er ist die notwendige objektive Ergänzung des Wahrnehmungsbildes. Gerade deswegen, weil das Wahrnehmungsbild ein unvollständiges, in sich unvollendetes ist, sind wir gezwungen, demselben als sinnlicher Erfahrung die notwendige Ergänzung hinzuzufügen. Wäre das unmittelbar Gegebene sich selbst so weit genug, daß uns nicht an jedem Punkte desselben ein Problem erwüchse, wir brauchten nimmermehr über dasselbe hinauszugehen. Aber die Wahrnehmungsbilder folgen durchaus nicht so aufeinander und auseinander, daß wir sie selbst als gegenseitige Folgen voneinander ansehen können; sie folgen vielmehr aus etwas anderem, was der sinnlichen Auffassung verschlossen ist. Es tritt ihnen das begriffliche Auffassen gegenüber und erfaßt auch jenen Teil der Wirklichkeit, der den Sinnen verschlossen bleibt. Das Erkennen wäre schlechterdings ein nutzloser Prozeß, wenn in der Sinnenerfahrung uns ein Vollendetes überliefert würde. Jedes Zusammenfassen, Ordnen, Gruppieren der sinnenfälligen Tatsachen hätte keinerlei objektiven Wert. Das Erkennen hat nur einen Sinn, wenn wir die den Sinnen gegebene Gestalt nicht als eine vollendete gelten lassen, wenn sie uns eine Halbheit ist, die noch Höheres in sich birgt, was aber nicht mehr sinnlich wahrnehmbar ist. Da tritt der Geist ein. Er nimmt jenes Höhere wahr. Deshalb darf das Denken auch nicht so gefaßt werden, als wenn es zu dem Inhalte der Wirklichkeit etwas hinzubrächte. Es ist nicht mehr und nicht weniger Organ des Wahrnehmens wie Auge und Ohr. So wie jenes Farben, dieses Töne, so nimmt das Denken Ideen wahr. Der Idealismus ist deshalb mit dem Prinzipe des empirischen Forschens ganz gut vereinbar. Die Idee ist nicht Inhalt des subjektiven Denkens, sondern Forschungsresultat. Die Wirklichkeit tritt uns, indem wir uns ihr mit offenen Sinnen entgegenstellen, gegenüber. Sie tritt uns in einer Gestalt gegenüber, die wir nicht als ihre wahre ansehen können; die letztere erreichen wir erst, wenn wir unser Denken in Fluß bringen. Erkennen heißt: zu der halben Wirklichkeit der Sinnenerfahrung die Wahrnehmung des Denkens hinzufügen, auf daß ihr Bild vollständig werde.
Es kommt alles darauf an, wie man sich das Verhältnis von Idee und sinnenfälliger Wirklichkeit denkt. Unter der letzteren will ich hier die Gesamtheit der durch die Sinne dem Menschen vermittelten Anschauungen verstehen. Da ist die am weitesten verbreitete Ansicht die, daß der Begriff bloß ein dem Bewußtsein angehöriges Mittel sei, durch das es sich der Daten der Wirklichkeit bemächtigt. Das Wesen der Wirklichkeit liegt im Ansich der Dinge selbst, so daß, wenn wir wirklich imstande wären, auf den Urgrund der Dinge zu kommen, wir uns doch nur des begrifflichen Abbildes desselben und keineswegs seiner selbst bemächtigen könnten. Da sind also zwei ganz getrennte Welten vorausgesetzt. Die objektive Außenwelt, die ihr Wesen, die Gründe ihres Daseins in sich trägt und die subjektiv-ideale Innenwelt, die ein begriffliches Abbild der Außenwelt sein soll. Die letztere ist für das Objektive ganz gleichgültig, sie wird von ihm nicht gefordert, sie ist nur für den erkennenden Menschen da. Die Kongruenz dieser beiden Welten würde das erkenntnistheoretische Ideal dieser Grundansicht sein. Ich rechne zur letzteren nicht nur die naturwissenschaftliche Richtung unserer Zeit, sondern auch die Philosophie Kants, Schopenhauers und der Neukantianer und nicht weniger die letzte Phase der Philosophie Schellings. Alle diese Richtungen stimmen darin überein, daß sie die Essenz der Welt in einem Transsubjektiven suchen und von ihrem Standpunkte aus zugeben müssen, daß die subjektiv-ideale Welt, die ihnen deshalb auch bloße Vorstellungswelt ist, nichts für die Wirklichkeit selbst, sondern einzig und allein etwas für das menschliche Bewußtsein bedeutet.
Ich habe bereits angedeutet, daß diese Ansicht zu der Konsequenz einer vollkommenen Kongruenz von Begriff (Idee) und Anschauung führt. Was sich in der letzteren vorfindet, müßte in ihrem begrifflichen Gegenbilde wieder enthalten sein, nur in ideeller Form. Hinsichtlich des Inhaltes müßten sich die beiden Welten vollständig decken. Die Verhältnisse der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit müßten sich genau in der Idee wiederholen; nur daß statt der wahrgenommenen Ausdehnung, Gestalt, Farbe usw. die entsprechende Vorstellung vorhanden sein müßte. Wenn ich z. B. ein Dreieck sehe, so müßte ich seine Umrisse, die Größe, Richtung seiner Seiten usw. im Gedanken verfolgen und mir eine begriffliche Photographie verfertigen. Bei einem zweiten Dreiecke müßte ich genau dasselbe machen und so bei jedem Gegenstande der äußeren und inneren Sinnenwelt. Es würde sich so jedes Ding seinem Orte, seinen Eigenschaften nach genau in meinem idealen Weltbilde wiederfinden.
Wir müssen uns nun fragen: Entspricht diese Konsequenz den Tatsachen? Ganz und gar nicht. Mein Begriff des Dreieckes ist ein einziger, der alle einzelnen, angeschauten Dreiecke umfaßt; und ich mag ihn noch so oft vorstellen, er bleibt immer derselbe. Meine verschiedenen Vorstellungen des Dreieckes sind alle miteinander identisch. Ich habe überhaupt nur einen Begriff des Dreieckes.
In der Wirklichkeit stellt sich jedes Ding dar als ein besonderes, vollbestimmtes »Dieses«, dem ebenso vollbestimmte, mit realer Wirklichkeit gesättigte »Jene« gegenüberstehen. Dieser Mannigfaltigkeit tritt der Begriff als strenge Einheit gegenüber. In ihm gibt es keine Besonderung, keine Teile, er vervielfältigt sich nicht, ist, unendlich oft vorgestellt, immer derselbe.
Es fragt sich nun: Was ist denn eigentlich der Träger dieser Identität des Begriffes? Seine Erscheinungsform als Vorstellung kann es in der Tat nicht sein, denn darin hatte Berkeley wohl vollkommen recht, daß er behauptet, die eine Vorstellung des Baumes von jetzt habe mit der desselben Baumes in einer Minute darauf, wenn ich zwischen beiden die Augen geschlossen halte, absolut nichts zu tun; ebensowenig die verschiedenen Vorstellungen eines Gegenstandes bei mehreren Individuen miteinander. Es kann die Identität also nur im Inhalte der Vorstellung, in deren Was liegen. Das Bedeutungsvolle, der Gehalt muß mir die Identität verbürgen.
Damit fällt aber auch jene Ansicht, die dem Begriffe oder der Idee allen selbständigen Inhalt abspricht. Dieselbe glaubt nämlich, die begriffliche Einheit sei als solche überhaupt ohne allen Inhalt; sie entstehe lediglich dadurch, daß gewisse Bestimmungen in den Erfahrungsobjekten hinweggelassen werden, das Gemeinsame hingegen herausgehoben und unserem Intellekte einverleibt werde behufs einer bequemen Zusammenfassung der Mannigfaltigkeit der objektiven Wirklichkeit nach dem Prinzipe, durch möglichst wenige allgemeine Einheiten – also nach dem Prinzipe des kleinsten Kraftmaßes – die gesamte Erfahrung mit dem Geiste zu umfassen. Neben der modernen Naturphilosophie steht Schopenhauer auf diesem Standpunkte. In seiner schroffsten und deshalb einseitigsten Konsequenz aber wird er vertreten in dem Schriftchen von Richard Avenarius: »Die Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung« [Leipzig 1876].
Diese Ansicht beruht aber lediglich auf einer vollständigen Verkennung nicht nur des Gehaltes des Begriffes, sondern auch der Anschauung.
Um hier Klarheit zu schaffen, ist es notwendig, auf den Grund zurückzugehen, der die Anschauung als ein Besonderes dem Begriffe als einem Allgemeinen gegenüberstellt.
Man wird sich fragen müssen: Worinnen liegt denn eigentlich das Charakteristikon des Besonderen? Ist dasselbe begrifflich zu bestimmen? Können wir sagen: Diese begriffliche Einheit muß in diese oder jene anschaulichen, besonderen Mannigfaltigkeiten zerfallen? Nein, ist die ganz bestimmte Antwort. Der Begriff selbst kennt die Besonderheit gar nicht. Sie muß also in Elementen liegen, die dem Begriffe als solchem gar nicht zugänglich sind.
Nachdem wir aber ein Zwischenglied zwischen Anschauung und Begriff nicht kennen – wollte man nicht etwa Kants phantastisch-mystische Schemen anführen, die aber heute doch nur für Tändelei gelten können -, so müssen diese Elemente der Anschauung selbst angehören. Der Grund der Besonderung kann nicht aus dem Begriffe abgeleitet, sondern muß innerhalb der Anschauung selbst gesucht werden. Das, was die Besonderheit eines Objektes ausmacht, läßt sich nicht begreifen, sondern nur anschauen. Darin liegt der Grund, warum jede Philosophie scheitern muß, die aus dem Begriffe selbst die ganze anschauliche Wirklichkeit ihrer Besonderheit nach ableiten (deduzieren) will. Da liegt auch der klassische Irrtum Fichtes, der die ganze Welt aus dem Bewußtsein ableiten wollte.
Wer diese Unmöglichkeit aber der Idealphilosophie als einen Mangel vorwirft und sie damit abfertigen will, der handelt in der Tat um nichts vernünftiger als der Philosoph [W. T.] Krug, ein Nachfolger Kants, der von der Identitätsphilosophie forderte, sie solle ihm seine Schreibfeder deduzieren.
Was die Anschauung wirklich wesentlich von der Idee unterscheidet, ist eben dieses Element, das nicht in Begriffe gebracht werden kann und das eben erfahren werden muß. Dadurch stehen sich Begriff und Anschauung zwar als wesensgleiche, jedoch verschiedene Seiten der Welt gegenüber. Und da die letztere den ersteren fordert, wie wir dargelegt haben, beweist sie, daß sie ihre Essenz nicht in ihrer Besonderheit, sondern in der begrifflichen Allgemeinheit hat. Diese Allgemeinheit muß aber der Erscheinung nach im Subjekte erst aufgefunden werden; denn sie kann zwar vom Subjekte an dem Objekte, nicht aber aus dem letzteren gewonnen werden.
Der Begriff kann seinen Inhalt nicht aus der Erfahrung entlehnen, denn er nimmt gerade das Charakteristische der Erfahrung, die Besonderheit, nicht in sich auf. Alles, was die letztere konstruiert, ist ihm fremd. Er muß sich also selbst seinen Inhalt geben.
Man sagt gewöhnlich, das Erfahrungsobjekt sei individuell, sei lebendige Anschauung, der Begriff dagegen abstrakt, gegen die inhaltsvolle Anschauung arm, dürftig, leer. Aber worin wird hier der Reichtum der Bestimmungen gesucht? In der Zahl derselben, die eben bei der Unendlichkeit des Raumes unendlich groß sein kann. Darum ist aber der Begriff nicht weniger vollbestimmt. Die Zahl von dort ist bei ihm durch Qualitäten ersetzt. So wie aber im Begriffe sich die Zahl nicht findet, so fehlt der Anschauung das Dynamisch-Qualitative der Charaktere. Der Begriff ist ebenso individuell, ebenso inhaltsvoll wie die Anschauung. Der Unterschied ist nur der, daß bei Erfassung des Inhalts der Anschauung nichts notwendig ist als offene Sinne, rein passives Verhalten der Außenwelt gegenüber, während der ideelle Kern der Welt im Geiste durch dessen eigenes spontanes Verhalten entstehen muß, wenn er überhaupt zum Vorschein kommen soll. Es ist eine ganz belanglose und müßige Redensart zu sagen: der Begriff sei der Feind der lebendigen Anschauung. Er ist ihr Wesen, das eigentlich treibende und wirkende Prinzip in ihr, fügt zu ihrem Inhalte den seinen hinzu, ohne den ersteren aufzuheben – denn er geht ihn als solcher nichts an – und er sollte der Feind der Anschauung sein! Feind ist er ihr nur, wenn eine sich selbst mißverstehende Philosophie den ganzen, reichen Inhalt der Sinnenwelt aus der Idee herausspinnen will. Denn sie liefert dann, statt der lebendigen Natur, ein leeres Phrasenschema.
Nur auf die von uns angedeutete Weise kommt man zu einer befriedigenden Erklärung dessen, was eigentlich Erfahrungswissen ist. Die Notwendigkeit, zur begrifflichen Erkenntnis fortzuschreiten, wäre schlechterdings nicht ein zusehen, wenn der Begriff nichts Neues zur sinnenfälligen Anschauung hinzubrächte. Das reine Erfahrungswissen dürfte keinen Schritt über die Millionen Einzelheiten hinausmachen, die uns in der Anschauung vorliegen. Das reine Erfahrungswissen muß konsequenterweise seinen eigenen Inhalt negieren. Denn wozu im Begriffe noch einmal schaffen, was in der Anschauung ja ohnehin vorhanden ist? Der konsequente Positivismus müßte nach diesen Erwägungen einfach jede wissenschaftliche Arbeit einstellen und sich auf die bloßen Zufälligkeiten verlassen. Indem er das nicht tut, führt er tatsächlich aus, was er theoretisch verneint. Überhaupt gibt sowohl der Materialismus wie der Realismus implicite zu, was wir behaupten. Deren Vorgehen hat nur eine Berechtigung von unserem Standpunkte aus, während es mit ihren eigenen theoretischen Grundanschauungen im schreiendsten Widerspruche steht.
Von unserem Standpunkte aus erklärt sich die Notwendigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und die Überschreitung der Erfahrung ganz widerspruchslos. Als das zuerst und unmittelbar Gegebene tritt uns die Sinnenwelt gegenüber; sie sieht uns wie ein ungeheures Rätsel an, weil wir das Treibende, Wirkende derselben in ihr selbst nimmermehr finden können. Da tritt die Vernunft hinzu und hält mit der idealen Welt der Sinnenwelt die prinzipielle Wesenheit gegenüber, die die Lösung des Rätsels bildet. So objektiv die Sinnenwelt, so objektiv sind diese Prinzipien. Daß sie für die Sinne nicht, sondern nur für die Vernunft zur Erscheinung kommen, ist für ihren Inhalt gleichgültig. Gäbe es keine denkenden Wesen, so kämen diese Prinzipien zwar niemals zur Erscheinung; sie wären deshalb aber nicht minder die Essenz der Erscheinungswelt.
Damit haben wir der transzendenten Weltansicht Lockes, Kants, des späteren Schelling, Schopenhauers, Volkelts, der Neukantianer und der modernen Naturforscher eine wahrhaft immanente gegenübergestellt.
Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewußtsein Fremden, Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem, was für die Vernunft zur Erscheinung kommt. Die transzendente Weltansicht betrachtet die begriffliche Erkenntnis als Bild der Welt, die immanente als die höchste Erscheinungsform derselben. Jene kann daher nur eine formale Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage gründet: Welches ist das Verhältnis von Denken und Sein? Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage: Was ist Erkennen? Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen Differenz von Denken und Sein aus, diese geht vorurteilslos auf das allein Gewisse, das Denken, los und weiß, daß sie außer dem Denken kein Sein finden kann.
Fassen wir die an der Hand erkenntnistheoretischer Erwägungen gewonnenen Resultate zusammen, so ergibt sich folgendes: Wir haben von der völlig bestimmungslosen, unmittelbaren Form der Wirklichkeit auszugehen, von dem, was den Sinnen gegeben ist, bevor wir unser Denken in Fluß bringen, von dem nur Gesehenen, nur Gehörten usw. Es kommt darauf an, daß wir uns bewußt sind, was uns die Sinne liefern und was das Denken. Die Sinne sagen uns nicht, daß die Dinge in irgendeinem Verhältnisse zueinander stehen, wie etwa, daß dieses Ursache, jenes Wirkung ist. Für die Sinne sind alle Dinge gleich wesentlich für den Weltenbau. Das gedankenlose Betrachten weiß nicht, daß das Samenkorn auf einer höheren Stufe der Vollkommenheit steht als das Staubkorn auf der Straße.
Für die Sinne sind beide gleichbedeutende Wesen, wenn sie äußerlich gleich aussehen. Napoleon ist auf dieser Stufe der Betrachtung nicht welthistorisch wichtiger als Hinz oder Kunz im abgelegenen Gebirgsdorfe. Bis hierher ist die Erkenntnistheorie von heute vorgedrungen. Daß sie aber diese Wahrheiten keineswegs erschöpfend durchdacht hat, das zeigt der Umstand, daß fast alle Erkenntnistheoretiker den Fehler machen, diesem vorläufig unbestimmten und bestimmungslosen Gebilde, dem wir auf der ersten Stufe unseres Wahrnehmens gegenübertreten, sogleich das Prädikat beizulegen, daß es Vorstellung sei. Das heißt doch gegen die eigene, eben gewonnene Einsicht in der gröbsten Weise verstoßen. So wenig wir, wenn wir bei der unmittelbaren Sinnesauffassung stehen bleiben, wissen, daß der fallende Stein die Ursache der Vertiefung an dem Orte ist, wo er aufgefallen, so wenig wissen wir, daß er Vorstellung ist. So wie wir zu jenem erst durch mannigfache Erwägungen gelangen können, so könnten wir auch zu der Erkenntnis, daß die uns gegebene Welt bloße Vorstellung sei, auch wenn sie richtig wäre, nur durch Nachdenken kommen. Ob das, was sie mir vermitteln, ein reales Wesen, ob es bloß Vorstellung ist, darüber geben mir die Sinne keinen Aufschluß. Die Sinnenwelt stellt sich uns gegenüber wie aus der Pistole geschossen. Wir müssen, wenn wir sie In ihrer Reinheit haben wollen, uns enthalten, ihr irgendein charakterisierendes Prädikat beizulegen. Wir können nur das eine sagen: Sie tritt uns gegenüber, sie ist uns gegeben. Damit ist über sie selbst eben noch gar nichts ausgemacht. Nur wenn wir so verfahren, versperren wir uns nicht den Weg zu einer unbefangenen Beurteilung dieses Gegebenen. Wenn wir ihm von vornherein ein Charakteristikon beilegen, so hört diese Unbefangenheit auf. Wenn wir z. B. sagen: das Gegebene sei Vorstellung, so kann die ganze folgende Untersuchung nur unter dieser Voraussetzung geführt werden. Wir lieferten auf diese Weise keine voraussetzungslose Erkenntnistheorie, sondern wir beantworteten die Frage: was ist Erkennen? unter der Voraussetzung, daß das den Sinnen Gegebene Vorstellung ist. Das ist der Grundfehler der Erkenntnistheorie Volkelts. Er stellt am Beginne derselben in aller Strenge die Forderung auf, daß die Erkenntnistheorie voraussetzungslos sein müsse. Er stellt aber an die Spitze den Satz: daß wir eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen haben. So ist seine Erkenntnistheorie nur die Beantwortung der Frage: wie ist Erkennen möglich unter der Voraussetzung, daß das Gegebene eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen ist? Für uns wird sich die Sache ganz anders stellen. Wir nehmen das Gegebene, wie es ist: als Mannigfaltigkeit von – irgend etwas, das sich uns selbst enthüllen wird, wenn wir uns von ihm fortdrängen lassen. So haben wir Aussicht, zu einer objektiven Erkenntnis zu gelangen, weil wir das Objekt selbst sprechen lassen. Wir können hoffen, daß uns dieses Gebilde, dem wir gegenüberstehen, alles enthüllt, wessen wir bedürfen, wenn wir den freien Zutritt seiner Kundgebungen zu unserem Urteilsvermögen nicht durch ein hemmendes Vorurteil unmöglich machen. Denn selbst dann, wenn uns die Wirklichkeit ewig rätselhaft bleiben sollte, hätte eine solche Wahrheit nur Wert, wenn sie an der Hand der Dinge gewonnen wäre. Völlig bedeutungslos aber wäre die Behauptung: unser Bewußtsein sei so und so beschaffen, deshalb können wir über die Dinge der Welt nicht ins klare kommen. Ob unsere geistigen Kräfte ausreichen, das Wesen der Dinge zu erfassen, müssen wir an diesen selbst erproben. Ich kann die vollkommensten Geisteskräfte haben; wenn die Dinge keinen Aufschluß über sich geben, so helfen mir meine Anlagen nichts. Und umgekehrt, ich mag wissen, daß meine Kräfte gering sind; ob sie nicht dennoch hinreichen die Dinge zu erkennen, weiß ich deshalb noch nicht.
Was wir weiter eingesehen haben, ist dieses: Das unmittelbar Gegebene läßt uns in der charakterisierten Form unbefriedigt. Es tritt uns wie eine Forderung, wie ein zu lösendes Rätsel gegenüber. Es sagt uns: Ich bin da; aber so wie ich dir da entgegentrete, bin ich nicht in meiner wahren Gestalt. Indem wir diese Stimme von außen vernehmen, indem wir uns bewußt werden, daß wir einer Halbheit, einem Wesen gegenüberstehen, das uns seine bessere Seite verbirgt, kündigt sich in unserem Innern die Tätigkeit jenes Organes an, durch das wir über die andere Seite des Wirklichen Aufschluß erlangen, durch das wir die Halbheit zu einer Ganzheit zu ergänzen imstande sind. Wir werden uns bewußt, daß wir das, was wir nicht sehen, hören usw., durch das Denken ergänzen müssen. Das Denken ist berufen, das Rätsel zu lösen, das uns die Anschauung aufgibt.
Klarheit über dieses Verhältnis wird uns erst, wenn wir untersuchen, warum wir von der anschaulichen Wirklichkeit unbefriedigt, von der gedachten dagegen befriedigt sind. Die anschauliche Wirklichkeit tritt uns als Fertiges gegenüber. Es ist eben da; wir haben nichts dazu beigetragen, daß es so ist. Wir fühlen uns daher einem fremden Wesen gegenüber, das wir nicht produziert haben, ja bei dessen Produktion wir nicht einmal gegenwärtig waren.
Wir stehen vor einem Gewordenen. Erfassen aber können wir nur das, von dem wir wissen, wie es so geworden, wie es zustande gekommen ist; wenn wir wissen, wo die Fäden sind, an denen das hängt, was vor uns erscheint. Bei unserem Denken ist das anders. Ein Gedankengebilde tritt mir nicht gegenüber, ohne daß ich selbst an seinem Zustandekommen mitwirke; es kommt nur so in das Feld meines Wahrnehmens, daß ich es selbst aus dem dunklen Abgrund der Wahrnehmungslosigkeit heraufhebe. Der Gedanke tritt in mir nicht als fertiges Gebilde auf, wie die Sinneswahrnehmung, sondern ich bin mir bewußt, daß, wenn ich ihn in einer abgeschlossenen Form festhalte, ich ihn selbst auf diese Form gebracht habe. Was mir vorliegt erscheint mir nicht als erstes, sondern als letztes, als der Abschluß eines Prozesses, der mit mir so verwachsen ist, daß ich immer innerhalb seiner gestanden habe. Das aber ist es, was ich bei einem Dinge, das in den Horizont meines Wahrnehmens tritt, verlangen muß, um es zu begreifen. Es darf mir nichts dunkel bleiben; es darf nichts als Abgeschlossenes erscheinen; ich muß es selbst verfolgen bis zu jener Stufe, wo es ein Fertiges geworden ist. Deshalb drängt uns die unmittelbare Form der Wirklichkeit, die wir gewöhnlich Erfahrung nennen, zu einer wissenschaftlichen Bearbeitung. Wenn wir unser Denken in Fluß bringen, dann gehen wir auf die uns zuerst verborgen gebliebenen Bedingungen des Gegebenen zurück; wir arbeiten uns vom Produkt zur Produktion empor, wir gelangen dazu, daß uns die Sinneswahrnehmung auf dieselbe Weise durchsichtig wird wie der Gedanke. Unser Erkenntnisbedürfnis wird so befriedigt. Wir können also erst dann mit einem Dinge wissenschaftlich abschließen, wenn wir das unmittelbar Wahrgenommene mit dem Denken ganz (restlos) durchdrungen haben. Ein Prozeß der Welt erscheint nur dann als von uns ganz durchdrungen, wenn er unsere eigene Tätigkeit ist. Ein Gedanke erscheint als der Abschluß eines Prozesses, innerhalb dessen wir stehen. Das Denken ist aber der einzige Prozeß, bei dem wir uns ganz innerhalb stellen können, in dem wir aufgehen können. Daher muß der wissenschaftlichen Betrachtung die erfahrene Wirklichkeit auf dieselbe Weise als aus der Gedankenentwicklung hervorgehend erscheinen, wie ein reiner Gedanke selbst. Das Wesen eines Dinges erforschen heißt, im Zentrum der Gedankenwelt einsetzen und aus diesem heraus arbeiten, bis uns ein solches Gedankengebilde vor die Seele tritt, das uns mit dem erfahrenen Dinge identisch erscheint. Wenn wir von dem Wesen eines Dinges oder der Welt überhaupt sprechen, so können wir also gar nichts anderes meinen, als das Begreifen der Wirklichkeit als Gedanke, als Idee. In der Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee. Alles, was in der Welt nicht unmittelbar als Idee erscheint, wird zuletzt doch als aus ihr hervorgehend erkannt. Was oberflächliche Betrachtung bar alles Anteils an der Idee glaubt, leitet tieferes Denken aus ihr ab. Keine andere Form des Daseins kann uns befriedigen, als die aus der Idee hergeleitete. Nichts darf abseits stehen bleiben, alles muß ein Teil des großen Ganzen werden, das die Idee umspannt. Sie aber fordert kein Hinausgehen über sich selbst. Sie ist die auf sich gebaute, in sich selbst festbegründete Wesenheit. Das liegt nicht etwa darinnen, daß wir sie in unserem Bewußtsein unmittelbar gegenwärtig haben. Das liegt an ihr selbst. Wenn sie ihr Wesen nicht selbst ausspräche, dann würde sie uns eben auch so erscheinen wie die übrige Wirklichkeit: aufklärungsbedürftig. Das scheint denn doch dem zu widersprechen, was wir oben sagten: die Idee erschiene deshalb in einer uns befriedigenden Form, weil wir bei ihrem Zustandekommen tätig mitwirken. Das rührt aber nicht von der Organisation unseres Bewußtseins her. Wäre die Idee nicht eine auf sich selbst gebaute Wesenheit, so könnten wir ein solches Bewußtsein gar nicht haben. Wenn etwas das Zentrum, aus dem es entspringt, nicht in sich, sondern außer sich hat, so kann ich, wenn es mir gegenübertritt, mich mit ihm nicht befriedigt erklären, ich muß über dasselbe hinausgehen, eben zu jenem Zentrum. Nur wenn ich auf etwas stoße, das nicht über sich hinausweist, dann erlange ich das Bewußtsein: jetzt stehst du innerhalb des Zentrums; hier kannst du stehen bleiben. Mein Bewußtsein, daß ich innerhalb eines Dinges stehe, ist nur die Folge von der objektiven Beschaffenheit dieses Dinges, daß es sein Prinzip mit sich bringe. Wir gelangen, indem wir uns der Idee bemächtigen, in den Kern der Welt. Was wir hier erfassen, ist dasjenige, aus dem alles hervorgeht. Wir werden mit diesem Prinzipe eine Einheit; deshalb erscheint uns die Idee, die das Objektivste ist, zugleich als das Subjektivste.
Die sinnenfällige Wirklichkeit ist uns ja gerade deshalb so rätselhaft, weil wir ihr Zentrum nicht in ihr selbst finden. Sie hört es auf zu sein, wenn wir erkennen, daß sie mit der Gedankenwelt, die in uns zur Erscheinung kommt, dasselbe Zentrum hat.
Dieses Zentrum kann nur ein einheitliches sein. Es muß ja so sein, daß alles übrige darauf hinweist, als auf seinen Erklärungsgrund. Gäbe es mehrere centra der Welt – mehrere principia, aus denen die Welt zu erkennen wäre – und wiese ein Gebiet der Wirklichkeit auf dieses, ein anderes auf jenes Weltprinzip hin, dann wären wir, sobald wir uns in einem Wirklichkeitsgebiet befänden, nur auf das eine Zentrum hingewiesen. Es fiele uns gar nicht ein, noch nach einem andern zu fragen. Nichts wüßte das eine Gebiet von dem andern. Sie wären füreinander einfach nicht da. Es hat deshalb gar keinen Sinn, von mehr als einer Welt zu sprechen. Die Idee ist daher an allen Orten der Welt, in allen Bewußtseinen eine und dieselbe. Daß es verschiedene Bewußtseine gibt und jedes die Idee vorstellt, ändert nichts an der Sache. Der Ideengehalt der Welt ist auf sich selbst gebaut, in sich vollkommen. Wir erzeugen ihn nicht, wir suchen ihn nur zu erfassen. Das Denken erzeugt ihn nicht, sondern nimmt ihn wahr. Es ist nicht Produzent, sondern Organ der Auffassung. So wie verschiedene Augen einen und denselben Gegenstand sehen, so denken verschiedene Bewußtseine einen und denselben Gedankeninhalt. Die mannigfaltigen Bewußtseine denken ein und dasselbe; sie nähern sich dem Einen nur von verschiedenen Seiten.
Deshalb erscheint es ihnen mannigfaltig modifiziert. Diese Modifikation ist aber keine Verschiedenheit der Objekte, sondern nur ein Auffassen unter andern Gesichtswinkeln. Die Verschiedenheit der menschlichen Ansichten ist ebenso erklärlich wie die Verschiedenheit, die eine Landschaft für zwei an verschiedenen Orten befindliche Beobachter aufweist. Wenn man nur überhaupt imstande ist, bis zur Ideenwelt vorzudringen, so kann man sicher sein, daß man zuletzt eine mit allen Menschen gemeinsame Ideenwelt hat. Es kann sich dann höchstens noch darum handeln, daß wir diese Welt auf recht einseitige Weise erfassen, daß wir auf einem Standpunkte stehen, wo sie uns gerade im ungünstigsten Lichte erscheint usw.
Der vollständigen von allem Gedankeninhalt entblößten Sinnenwelt stehen wir wohl niemals gegenüber. Höchstens im ersten Kindesalter, wo vom Denken noch keine Spur da ist, kommen wir der reinen Sinnesauffassung nahe. Im gewöhnlichen Leben haben wir es mit einer Erfahrung zu tun, die halb und halb von dem Denken durchtränkt ist, die schon mehr oder weniger aus dem Dunkel des Anschauens zur lichten Klarheit des geistigen Erfassens gehoben erscheint. Die Wissenschaften arbeiten darauf hinaus, diese Dunkelheit völlig zu überwinden und nichts in der Erfahrung zu lassen, was nicht von dem Gedanken durchsetzt würde. Was hat nun gegenüber den übrigen Wissenschaften die Erkenntnistheorie für eine Aufgabe erfüllt? Sie hat uns aufgeklärt über Zweck und Aufgabe aller Wissenschaft. Sie hat uns gezeigt, welche Bedeutung der Inhalt der einzelnen Wissenschaften hat. Unsere Erkenntnistheorie ist die Wissenschaft von der Bestimmung aller andern Wissenschaften. Sie hat uns aufgeklärt darüber, daß das in den einzelnen Wissenschaften Gewonnene der objektive Grund des Weltendaseins ist. Die Wissenschaften gelangen zu einer Reihe von Begriffen; über die eigentliche Aufgabe dieser Begriffe belehrt uns die Erkenntnistheorie. Mit diesem charakteristischen Ergebnis weicht unsere im Sinne der Goetheschen Denkweise gehaltene Erkenntnistheorie von allen andern Erkenntnistheorien der Gegenwart ab. Sie will nicht bloß einen formalen Zusammenhang zwischen Denken und Sein feststellen; sie will das erkenntnistheoretische Problem nicht bloß logisch lösen, sie will zu einem positiven Resultat kommen. Sie zeigt, was der Inhalt unseres Denkens ist; und sie findet, daß dieses Was zugleich der objektive Weltinhalt ist. So wird uns die Erkenntnistheorie zur bedeutungsvollsten Wissenschaft für den Menschen. Sie klärt den Menschen über sich selbst auf, sie zeigt ihm seine Stellung in der Welt; sie ist damit ein Quell der Befriedigung für ihn. Sie sagt ihm erst, wozu er berufen ist. Im Besitze ihrer Wahrheiten fühlt sich der Mensch gehoben; sein wissenschaftliches Forschen gewinnt eine neue Beleuchtung. Nun erst weiß er, daß er mit dem Kern des Weltendaseins unmittelbarste verknüpft ist, daß er diesen Kern, der allen übrigen Wesen verborgen bleibt, enthüllt, daß in ihm der Weltgeist zur Erscheinung kommt, daß dieser ihm innewohnt. Er sieht in sich selbst den Vollender des Weltprozesses, er sieht, daß er berufen ist, das zu vollenden, was die andern Kräfte der Welt nicht vermögen, daß er der Schöpfung die Krone aufzusetzen hat. Lehrt die Religion, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, so lehrt uns unsere Erkenntnistheorie, daß Gott die Schöpfung überhaupt nur bis zu einem gewissen Punkte geführt hat. Da hat er den Menschen entstehen lassen und dieser stellt sich, indem er sich selbst erkennt und um sich blickt, die Aufgabe, fortzuwirken, zu vollenden, was die Urkraft begonnen hat. Der Mensch vertieft sich in die Welt und erkennt, was sich auf dem Boden, der gelegt ist, weiter bauen läßt, er ersieht die Andeutung, die der Urgeist gemacht hat und führt das Angedeutete aus.
So ist die Erkenntnistheorie zugleich die Lehre von der Bedeutung und Bestimmung des Menschen; und sie löst diese Aufgabe (von der »Bestimmung des Menschen«) in viel bestimmterer Weise als dies Fichte am Wendepunkte des 18. und 19. Jahrhunderts getan hat. Man gelangt durch die Gedankengestaltung dieses starken Geistes durchaus nicht zu jener vollen Befriedigung, die uns durch eine echte Erkenntnistheorie werden muß.
Wir haben allem einzelnen Dasein gegenüber die Aufgabe, es zu bearbeiten, so daß es als von der Idee ausfließend erscheint, daß es als einzelnes ganz verflüchtigt und aufgeht in der Idee, in deren Element wir uns versetzt fühlen. Unser Geist hat die Aufgabe, sich so auszubilden, daß er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art zu durchschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint. Wir müssen uns als fortwährende Arbeiter erweisen in dem Sinne, daß wir jedes Erfahrungsobjekt umgestalten, so daß es als Teil unseres ideellen Weltbildes auftritt. Damit sind wir da angekommen, wo die Goethesche Weltbetrachtungsweise einsetzt. Wir müssen das Gesagte so anwenden, daß wir uns vorstellen, das von uns dargestellte Verhältnis von Idee und Wirklichkeit sei im Goetheschen Forschen Tat; Goethe geht den Dingen so zu Leibe, wie wir es gerechtfertigt haben. Er sieht ja selbst sein inneres Wirken als eine lebendige Heuristik an, die, eine unbekannte geahnete Regel (die Idee) anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in der Außenwelt einzuführen trachtet (»Sprüche in Prosa«, Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 374). Wenn Goethe fordert, daß der Mensch seine Organe belehren soll (»Sprüche in Prosa«, ebenda S. 350), so hat das auch nur den Sinn, daß der Mensch sich nicht einfach dem hingibt, was ihm seine Sinne überliefern, sondern er gibt seinen Sinnen die Richtung, daß sie ihm die Dinge im rechten Lichte zeigen.
X. Wissen und Handeln im Lichte der Goetheschen Denkweise
Unterkapitel:
- Methodologie
-
- »Wir haben das Verhältnis von der durch das wissenschaftliche Denken gewonnenen Ideenwelt und der unmittelbar gegebenen Erfahrung festgestellt. Wir haben Anfang und Ende eines Prozesses kennen gelernt: Ideenentblößte Erfahrung und ideenerfüllte Wirklichkeitsauffassung. Zwischen beiden liegt aber menschliche Tätigkeit …«
- Dogmatische und immanente Methode
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- »Ein wissenschaftliches Urteil kommt dadurch zustande, daß wir entweder zwei Begriffe oder eine Wahrnehmung und einen Begriff verbinden. Von der ersteren Art ist das Urteil: Keine Wirkung ohne Ursache; von der letzteren: Die Tulpe ist eine Pflanze …«
- System der Wissenschaft
- »Welche Gestalt hat die fertige Wissenschaft im Lichte der Goetheschen Denkweise? Vor allem müssen wir festhalten, daß der gesamte Inhalt der Wissenschaft ein Gegebenes ist; teils gegeben als Sinnenwelt von außen, teils als Ideenwelt von innen. Alle unsere wissenschaftliche Tätigkeit wird also darinnen bestehen, die Form, in der uns dieser Gesamtinhalt des Gegebenen gegenübertritt, zu überwinden und zu einer uns befriedigenden zu machen …«
- Über Erkenntnisgrenzen und Hypothesenbildung
- »Man spricht heute viel von Grenzen unseres Erkennens. Unsere Fähigkeit, das Bestehende zu erklären, soll nur bis zu einem gewissen Punkte reichen, bei dem sollen wir haltmachen. Wir glauben in bezug auf diese Frage das Richtige zu treffen, wenn wir sie richtig stellen. Denn es kommt ja so vielfach nur auf eine richtige Fragestellung an. Durch eine solche wird ein ganzes Heer von Irrtümern zerstreut …«
- Ethische und historische Wissenschaften
- »Die Beantwortung der Frage: »Was ist Erkennen?« hat uns über die Stellung des Menschen im Weltall aufgeklärt. Es kann nun nicht fehlen, daß die Ansicht, die wir für diese Frage entwickelt haben, auch über Wert und Bedeutung des menschlichen Handelns Licht verbreitet. Was wir in der Welt vollbringen, dem müssen wir ja eine größere oder geringere Bedeutung beilegen, je nachdem wir unsere Bestimmung höher oder minder bedeutend auffassen …«
X.1 Methodologie
Wir haben das Verhältnis von der durch das wissenschaftliche Denken gewonnenen Ideenwelt und der unmittelbar gegebenen Erfahrung festgestellt. Wir haben Anfang und Ende eines Prozesses kennen gelernt: Ideenentblößte Erfahrung und ideenerfüllte Wirklichkeitsauffassung. Zwischen beiden liegt aber menschliche Tätigkeit. Der Mensch hat tätig das Ende aus dem Anfang hervorgehen zu lassen. Die Art, wie er das tut, ist die Methode. Es ist nun selbstverständlich, daß unsere Auffassung jenes Verhältnisses von Anfang und Ende der Wissenschaft auch eine eigentümliche Methode bedingen wird. Wovon werden wir bei Entwicklung derselben auszugehen haben? Das wissenschaftliche Denken muß sich Schritt für Schritt als ein Überwinden jener dunklen Wirklichkeitsform ergeben, die wir als unmittelbar Gegebenes bezeichnet haben, und ein Heraufheben desselben in die lichte Klarheit der Idee. Die Methode wird also darinnen bestehen müssen, daß wir bei jeglichem Dinge die Frage beantworten: Welchen Anteil hat es für die einheitliche Ideenwelt; welche Stelle nimmt es in dem ideellen Bilde ein, das ich mir von der Welt mache? Wenn ich das eingesehen habe, wenn ich erkannt habe, wie ein Ding sich an meine Ideen anschließt, dann ist mein Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Für das letztere gibt es nur ein Nichtbefriedigendes: wenn mir ein Ding gegenübertritt, das sich nirgends an die von mir vertretene Anschauung anschließen will. Das ideelle Unbehagen muß überwunden werden, das daraus fließt, daß es irgend etwas gibt, von dem ich mir sagen müßte: ich sehe, es ist da; wenn ich ihm gegenübertrete, sieht es mich wie ein Fragezeichen an; aber ich finde nirgends in der Harmonie meiner Gedanken den Punkt, wo ich es einreihen könnte; die Fragen, die ich in Ansehung seiner stellen muß, bleiben unbeantwortet; ich mag mein Gedankensystem drehen und wenden, wie ich will.
Daraus ersehen wir, wessen wir in Ansehung eines jeden Dinges bedürfen. Wenn ich ihm gegenübertrete, starrt es mich als einzelnes an. In mir drängt die Gedankenwelt jenem Punkte zu, wo der Begriff des Dinges liegt. Ich ruhe nicht eher, bis das, was mir zuerst als einzelnes gegenübergetreten ist, als Glied innerhalb der Gedankenwelt erscheint. So löst sich das einzelne als solches auf und erscheint in einem großen Zusammenhange. Jetzt ist es von der andern Gedankenmasse beleuchtet, jetzt ist es dienendes Glied; und es ist mir völlig klar, was es innerhalb der großen Harmonie zu bedeuten hat. Das geht in uns vor, wenn wir einem Gegenstande der Erfahrung betrachtend gegenübertreten. Aller Fortschritt der Wissenschaft beruht auf dem Gewahrwerden des Punktes, wo sich irgend eine Erscheinung in die Harmonie der Gedankenwelt eingliedern läßt. Man darf das nicht mißverstehen. Es kann nicht so gemeint sein, als wenn jede Erscheinung durch die hergebrachten Begriffe erklärbar sein müsse; als ob unsere Ideenwelt abgeschlossen wäre und alles neu zu erfahrende sich mit irgendeinem Begriffe, den wir schon besitzen, decken müsse. Jenes Drängen der Gedankenwelt kann auch zu einem Punkte hingehen, der bisher überhaupt noch von keinem Menschen gedacht worden ist. Und das ideelle Fortschreiten der Geschichte der Wissenschaft beruht gerade darauf, daß das Denken neue Ideengebilde an die Oberfläche wirft. Jedes solche Gedankengebilde hängt mit tausend Fäden mit allen andern möglichen Gedanken zusammen. Mit diesem Begriffe in dieser, mit einem andern in einer andern Weise. Und darinnen besteht die wissenschaftliche Methode, daß wir den Begriff einer einzelnen Erscheinung in seinem Zusammenhange mit der übrigen ldeenwelt aufzeigen. Wir nennen diesen Vorgang: Ableiten (Beweisen) des Begriffes. Alles wissenschaftliche Denken besteht aber nur darinnen, daß wir die bestehenden Übergänge von Begriff zu Begriff finden, besteht in dem Hervorgehenlassen eines Begriffes aus dem andern. Hin- und Herbewegung unseres Denkens von Begriff zu Begriff, das ist wissenschaftliche Methode. Man wird sagen, das sei ja die alte Geschichte von der Korrespondenz von Begriffswelt und Erfahrungswelt. Wir müßten voraussetzen, daß die Welt außer uns (das Transsubjektive) unserer Begriffswelt korrespondiere, wenn wir glauben sollen, daß das Hin-und Hergehen von Begriff zu Begriff zu einem Bilde der Wirklichkeit führe. Das ist aber nur eine verfehlte Auffassung des Verhältnisses von Einzelgebilde und Begriff. Wenn ich einem Gebilde der Erfahrungswelt gegenübertrete, so weiß ich überhaupt gar nicht, was es ist. Erst, wenn ich es überwunden, wenn mir sein Begriff aufgeleuchtet hat, dann weiß ich, was ich vor mir habe. Das will doch aber nicht sagen, daß jenes Einzelgebilde und der Begriff zwei verschiedene Dinge sind. Nein, sie sind dasselbe; und was mir im besonderen gegenübertritt, ist nichts als der Begriff. Der Grund, warum ich jenes Gebilde als abgesondertes, von der andern Wirklichkeit getrenntes Stück sehe, ist eben der, daß ich es seiner Wesenheit nach noch nicht erkenne, daß es mir noch nicht als das entgegentritt, was es ist. Daraus ergibt sich das Mittel, unsere wissenschaftliche Methode weiter zu charakterisieren. Jedes einzelne Wirklichkeitsgebilde repräsentiert innerhalb des Gedankensystems einen bestimmten Inhalt. Es ist in der Allheit der Ideenwelt begründet und kann nur im Zusammenhange mit ihr begriffen werden. So muß notwendig jedes Ding zu einer doppelten Denkarbeit auffordern. Zuerst ist der Gedanke in scharfen Konturen festzustellen, der ihm entspricht, und hernach sind alle Fäden festzustellen, die von diesem Gedanken zur Gesamt-Gedankenwelt führen. Klarheit im einzelnen und Tiefe im ganzen sind die zwei bedeutendsten Erfordernisse der Wirklichkeit. Jene ist Sache des Verstandes, diese Sache der Vernunft. Der Verstand schafft Gedankengebilde für die einzelnen Dinge der Wirklichkeit. Er entspricht seiner Aufgabe um so mehr, je genauer er dieselben umgrenzt, je schärfere Konturen er zieht. Die Vernunft hat dann diese Gebilde in die Harmonie der gesamten Ideenwelt einzureihen. Das setzt natürlich folgendes voraus: In dem Inhalte der Gedankengebilde, die der Verstand schafft, ist jene Einheit schon, lebt schon ein und dasselbe Leben; nur hält der Verstand alles künstlich auseinander. Die Vernunft hebt, ohne die Klarheit zu verwischen, nur die Trennung wieder auf. Der Verstand entfernt uns von der Wirklichkeit, die Vernunft führt uns auf sie wieder zurück. Graphisch wird sich das so darstellen:
In dem umstehenden Gebilde hängt alles zusammen; es lebt in allen Teilen dasselbe Prinzip. Der Verstand schafft die Trennung der einzelnen Gebilde, weil sie uns ja in dem Gegebenen als einzelne gegenübertreten91,und die Vernunft erkennt die Einheitlichkeit.92 Wenn wir folgende zwei Wahrnehmungen haben: 1. die einfallenden Sonnenstrahlen und 2. einen erwärmten Stein, so hält der Verstand die beiden Dinge auseinander, weil sie uns als zwei gegenübertreten; er hält das eine als Ursache, das andere als Wirkung fest; dann tritt die Vernunft hinzu, reißt die Scheidewand nieder und erkennt die Einheit in der Zweiheit. Alle Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache und Wirkung, Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und Wirklichkeit, Gott und Welt usw. sind nur da, um die einheitliche Wirklichkeit künstlich auseinanderzuhalten; und die Vernunft hat, ohne den damit geschaffenen Inhalt zu verwischen, ohne die Klarheit des Verstandes mystisch zu verdunkeln, in der Vielheit die innere Einheit aufzusuchen. Sie kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand entfernt hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man eine genaue Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde Begriffe, die Vernunftschöpfungen Ideen. Und man sieht, daß der Weg der Wissenschaft ist: sich durch den Begriff zur Idee zu erheben. Und hier ist der Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive und das objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen. Es ist ersichtlich, daß die Trennung nur subjektiven Bestand hat, nur durch unsern Verstand geschaffen ist. Es kann mich nicht hindern, daß ich ein und dieselbe objektive Einheit in Gedankengebilde zerlege, die von denen meines Mitmenschen verschieden sind; das hindert nicht, daß meine Vernunft in der Verbindung wieder zu derselben objektiven Einheit gelangt, von der wir ja beide ausgegangen sind. Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich dargestellt [Figur 1]. Ich trenne es verstandesgemäß so, wie Fig. 2; ein anderer anders, wie Fig. 3.
Wir fassen es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe Gebilde. Damit wird es uns erklärlich, wie die Menschen so verschiedene Begriffe, so verschiedene Anschauungen von der Wirklichkeit haben können, trotzdem diese doch nur eine sein kann. Die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit unserer Verstandeswelten. Damit verbreitet sich für uns ein Licht über die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Standpunkte. Wir begreifen, woher die vielfachen philosophischen Standpunkte kommen, und haben nicht nötig, ausschließlich einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen. Wir wissen auch, welchen Standpunkt wir selbst gegenüber der Vielheit menschlicher Anschauungen einzunehmen haben. Wir werden nicht ausschließlich fragen: Was ist wahr, was ist falsch? Wir werden immer untersuchen, in welcher Art die Verstandeswelt eines Denkers aus der Weltharmonie hervorgeht; wir werden zu begreifen suchen und nicht aburteilen und sogleich als Irrtum ansehen, was mit der eigenen Auffassung nicht übereinstimmt. Zu diesem Quell der Verschiedenheit unserer wissenschaftlichen Standpunkte tritt dadurch ein neuer, daß jeder einzelne Mensch ein anderes Erfahrungsfeld hat. Es tritt ja jedem aus der gesamten Wirklichkeit gleichsam ein Ausschnitt gegenüber. Diesen bearbeitet sein Verstand, und der ist ihm der Vermittler auf dem Wege zur Idee. Wenn wir also auch alle dieselbe Idee wahrnehmen, so ist das doch immer auf andern Gebieten der Fall. Es kann also nur das Endresultat, zu dem wir kommen, dasselbe sein; die Wege hingegen können verschieden sein. Es kommt überhaupt gar nicht darauf an, daß die einzelnen Urteile und Begriffe, aus denen sich unser Wissen zusammensetzt, übereinstimmen, sondern nur darauf, daß sie uns zuletzt dahin führen, daß wir in dem Fahrwasser der Idee schwimmen. Und in diesem Fahrwasser müssen sich zuletzt alle Menschen treffen, wenn sie energisches Denken über ihren Sonderstandpunkt hinausführt. Es kann ja möglich sein, daß uns eine beschränkte Erfahrung oder ein unproduktiver Geist zu einer einseitigen, unvollständigen Ansicht führt; aber selbst die geringste Summe dessen, was wir erfahren, muß uns zuletzt zur Idee führen; denn zur letzteren erheben wir uns nicht durch eine mehr oder weniger große Erfahrung, sondern allein durch unsere Fähigkeiten als menschliche Persönlichkeit. Eine beschränkte Erfahrung kann nur zur Folge haben, daß wir die Idee in einseitiger Weise aussprechen, daß wir über geringe Mittel verfügen, das Licht, das in uns leuchtet, zum Ausdruck zu bringen; sie kann uns aber nicht überhaupt hindern, jenes Licht in uns aufgehen zu lassen. Ob unsere wissenschaftliche oder überhaupt Weltansicht auch vollständig sei, das ist neben der nach ihrer geistigen Tiefe eine ganz andere Frage. Wenn man nun an Goethe wieder herantritt, so wird man viele seiner Darlegungen, mit unseren Ausführungen in diesem Kapitel zusammengehalten, als einfache Konsequenzen der letzteren erkennen. Dieses Verhältnis halten wir für das einzig richtige zwischen Autor und Ausleger. Wenn Goethe sagt: »Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß’ ich’s Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige« (»Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 349), so ist das nur mit Voraussetzung dessen, was wir hier entwickelt haben, zu verstehen.
91 Diese Trennung ist durch die absondernden ganz ausgezogenen Linien charakterisiert.
92 Dieselbe ist durch die punktierten Linien versinnlicht.
X.2 Dogmatische und immanente Methode
Ein wissenschaftliches Urteil kommt dadurch zustande, daß wir entweder zwei Begriffe oder eine Wahrnehmung und einen Begriff verbinden. Von der ersteren Art ist das Urteil: Keine Wirkung ohne Ursache; von der letzteren: Die Tulpe ist eine Pflanze. Das tägliche Leben erkennt dann auch noch Urteile, wo Wahrnehmung mit Wahrnehmung verbunden wird, z. B.: Die Rose ist rot. Wenn wir ein Urteil vollziehen, so geschieht dies aus diesem oder jenem Grunde. Nun kann es über diesen Grund zwei verschiedene Ansichten geben. Die eine nimmt an, daß die sachlichen (objektiven) Gründe, warum das Urteil, das wir vollziehen, wahr ist, jenseits dessen liegen, was uns in den in das Urteil eingehenden Begriffen oder Wahrnehmungen gegeben ist. Der Grund, warum ein Urteil wahr ist, fällt nach dieser Ansicht nicht zusammen mit den subjektiven Gründen, aus denen wir dieses Urteil fällen. Unsere logischen Gründe haben nach dieser Ansicht mit den objektiven nichts zu tun. Es kann sein, daß diese Ansicht irgendeinen Weg vorschlägt, um zu den objektiven Gründen unserer Einsicht zu kommen; die Mittel, die unser erkennendes Denken hat, reichen dazu nicht aus. Für das Erkennen liegt die meine Behauptungen bedingende objektive Wesenheit in einer mir unbekannten Welt; die Behauptung mit ihren formellen Gründen (Widerspruchslosigkeit, Stützung durch verschiedene Axiome usw.) allein in der meinigen. Eine Wissenschaft, die auf dieser Anschauung beruht, ist eine dogmatische. Eine solche dogmatische Wissenschaft ist sowohl die theologisierende Philosophie, die sich auf den Offenbarungsglauben stützt, als auch die moderne Erfahrungswissenschaft; denn es gibt nicht nur ein Dogma der Offenbarung, es gibt auch ein Dogma der Erfahrung. Das Dogma der Offenbarung überliefert dem Menschen Wahrheiten über Dinge, die seinem Gesichtskreise völlig entzogen sind. Er kennt die Welt nicht, über die ihm die fertigen Behauptungen zu glauben vorgeschrieben wird. Er kann an die Gründe der letzteren nicht herankommen. Er kann daher nie eine Einsicht gewinnen, warum sie wahr sind. Er kann kein Wissen, nur einen Glauben gewinnen. Dagegen sind aber auch die Behauptungen jener Erfahrungswissenschaft bloße Dogmen, die da glaubt, daß man bei der bloßen, reinen Erfahrung stehen bleiben soll und nur deren Veränderungen beobachten, beschreiben und systematisch zusammenstellen soll, ohne sich zu den in der bloßen unmittelbaren Erfahrung noch nicht gegebenen Bedingungen zu erheben. Wir gewinnen ja die Wahrheit auch in diesem Falle nicht durch die Einsicht in die Sache, sondern sie wird uns von außen aufgedrängt. Ich sehe, was vorgeht und da ist, und registriere es; warum das so ist, das liegt im Objekte. Ich sehe nur die Folge, nicht den Grund. Das Dogma der Offenbarung beherrschte ehedem die Wissenschaft, heute tut es das Dogma der Erfahrung. Ehedem galt es als Vermessenheit, über die Gründe der geoffenbarten Wahrheiten nachzudenken; heute gilt es als Unmöglichkeit, anderes zu wissen, als was die Tatsachen aussprechen. Das »Warum sie so und nicht anders sprechen« gilt als unerfahrbar und deshalb unerreichbar.
Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß die Annahme eines Grundes, warum ein Urteil wahr ist, neben dem, warum wir es als wahr anerkennen, ein Unding ist. Wenn wir bis zu dem Punkte vordringen, wo uns die Wesenheit einer Sache als Idee aufgeht, so erblicken wir in der letzteren etwas völlig in sich Abgeschlossenes, etwas sich selbst Stützendes und Tragendes, das gar keine Erklärung von außen mehr fordert, so daß wir dabei stehenbleiben können. Wir sehen an der Idee – wenn wir nur die Fähigkeit dazu haben -, daß sie alles, was sie konstituiert, in sich selber hat, daß wir mit ihr alles haben, wonach gefragt werden kann. Der gesamte Seinsgrund ist in der Idee aufgegangen, hat sich in sie ergossen, rückhaltlos, so daß wir ihn nirgends als in ihr zu suchen haben. In der Idee haben wir nicht ein Bild von dem, was wir zu den Dingen suchen; wir haben dieses Gesuchte selbst. Indem die Teile unserer Ideenwelt in den Urteilen zusammenfließen, ist es der eigene Inhalt derselben, der das bewirkt, nicht Gründe, die außerhalb liegen. In unserem Denken sind die sachlichen und nicht bloß die formellen Gründe für unsere Behauptungen unmittelbar gegenwärtig.
Damit ist die Ansicht abgewiesen, welche eine außerideelle absolute Realität annimmt, von denen alle Dinge einschließlich des Denkens selbst, getragen werden. Für diese Weltansicht kann der Grund zu dem Bestehenden überhaupt nicht in dem uns Erreichbaren gefunden werden. Er ist der uns vorliegenden Welt nicht eingeboren, er ist außerhalb ihrer vorhanden; ein Wesen für sich, das neben ihr besteht. Diese Ansicht kann man Realismus nennen. Sie tritt in zwei Formen auf. Sie nimmt entweder eine Vielzahl von realen Wesen an, die der Welt zum Grunde liegen (Leibniz, Herbart), oder ein einheitliches Reales (Schopenhauer). Ein solches Seiendes kann nie als mit der Idee identisch erkannt werden; es ist schon als wesensverschieden von ihr vorausgesetzt. Wer sich des klaren Sinnes der Frage nach dem Wesen der Erscheinungen bewußt wird, kann ein Anhänger dieses Realismus nicht sein. Was hat es denn für einen Sinn, nach dem Wesen der Welt zu fragen? Es hat gar keinen andern Sinn, als daß, wenn ich einem Dinge gegenübertrete, sich in mir eine Stimme geltend macht, die mir sagt, daß das Ding letzten Endes noch etwas ganz anderes ist, als was ich sinnfällig wahrnehme. Das, was es noch ist, arbeitet schon in mir, drängt in mir zur Erscheinung, während ich das Ding außer mir erblicke. Nur weil die in mir arbeitende Ideenwelt mich drängt, die mich umgebende Welt aus ihr zu erklären, fordere ich eine solche Erklärung. Für ein Wesen, in dem sich keine Ideen emporarbeiten, ist der Drang, die Dinge noch weiter zu erklären, nicht da; sie sind an der sinnfälligen Erscheinung vollbefriedigt. Die Forderung nach Erklärung der Welt geht hervor aus dem Bedürfnisse des Denkens, den für letzteres erreichbaren Inhalt mit der erscheinenden Wirklichkeit in eins zu verschmelzen, alles begrifflich zu durchdringen; das was wir sehen, hören usw., zu einem solchen zu machen, das wir verstehen. Wer diese Sätze ihrer vollen Tragweite nach in Erwägung zieht, kann unmöglich ein Anhänger des oben charakterisierten Realismus sein. Die Welt durch ein Reales, das nicht Idee ist, erklären zu wollen, ist ein solcher Widerspruch, daß man gar nicht begreift, wie es überhaupt möglich ist, daß er Anhänger gewinnen konnte. Das uns wahrnehmbare Wirkliche durch irgend etwas zu erklären, was sich innerhalb des Denkens gar nicht geltend macht, ja was grundsätzlich verschieden von dem Gedanklichen sein soll, können wir weder das Bedürfnis haben, noch ist ein solches Beginnen möglich. Erstens: Woher sollen wir das Bedürfnis haben, die Welt durch etwas zu erklären, das sich uns nirgends aufdrängt, das sich uns verbirgt? Und nehmen wir an, es trete uns entgegen, dann entsteht wieder die Frage: in welcher Form und wo? Im Denken kann es doch nicht sein. Und selbst wieder in der äußeren oder inneren Wahrnehmung? Was soll es denn dann für einen Sinn haben, die Sinneswelt durch qualitativ Gleichstehendes zu erklären. Bliebe nur noch ein Drittes: die Annahme, wir hätten ein Vermögen, das außergedankliche und realste Wesen auf anderem Wege als durch Denken und Wahrnehmung zu erreichen. Wer diese Annahme macht, ist in den Mystizismus verfallen. Wir haben uns mit ihm nicht zu befassen; denn uns geht nur das Verhältnis von Denken und Sein, von Idee und Wirklichkeit an. Für den Mystizismus muß ein Mystiker eine Erkenntnistheorie schreiben. Der Standpunkt des späteren Schelling, wonach wir mit Hilfe unserer Vernunft nur das Was des Weltinhaltes entwickeln, nicht aber das Daß erreichen können, erscheint uns als das größte Unding. Denn für uns ist das Daß die Voraussetzung des Was, und wir wüßten nicht, wie wir zu dem Was eines Dinges kommen sollten, dessen Daß nicht vorher schon sichergestellt wäre. Das Daß wohnt doch dem Inhalt meiner Vernunft schon inne, indem ich sein Was ergreife. Diese Annahme Schellings, daß wir einen positiven Weltinhalt haben können, ohne die Überzeugung, daß er existiere, und daß wir dieses Daß erst durch höhere Erfahrung gewinnen müssen, erscheint uns vor einem sich selbst verstehenden Denken so unbegreiflich, daß wir annehmen müssen, Schelling habe in seiner späteren Zeit den Standpunkt seiner Jugend, der auf Goethe einen so mächtigen Eindruck machte, selbst nicht mehr verstanden.
Es geht nicht an, höhere Daseinsformen anzunehmen als die, welche der Ideenwelt zukommen. Nur weil der Mensch oft nicht imstande ist, zu begreifen, daß das Sein der Idee ein weit höheres, volleres ist als das der wahrgenommenen Wirklichkeit, sucht er noch eine weitere Realität. Er hält das Ideen-Sein für ein Chimärenhaftes, der Durchtränkung mit dem Realen Entbehrendes und ist damit nicht zufrieden. Er kann eben die Idee in ihrer Positivität nicht erfassen, er hat sie nur als Abstraktes; er ahnt ihre Fülle, ihre innere Vollendetheit und Gediegenheit nicht. Wir müssen aber an die Bildung die Anforderung stellen, daß sie sich hinaufarbeite bis zu jenem höheren Standpunkt, wo auch ein Sein, das nicht mit Augen gesehen, nicht mit Händen gegriffen, sondern mit der Vernunft erfaßt werden muß, als Reales angesehen wird. Wir haben also eigentlich einen Idealismus begründet, der Realismus zugleich ist. Unser Gedankengang ist: das Denken drängt nach Erklärung der Wirklichkeit aus der Idee. Es verbirgt dieses Drängen in die Frage: Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Nach dem Inhalt dieses Wesens selbst fragen wir erst am Ende der Wissenschaft, wir machen es nicht wie der Realismus, der ein Reales voraussetzt, um daraus dann die Wirklichkeit abzuleiten. Wir unterscheiden uns von dem Realismus durch das volle Bewußtsein davon, daß wir ein Mittel, die Welt zu erklären, nur in der Idee haben. Auch der Realismus hat nur dieses Mittel, aber er weiß es nicht. Er leitet die Welt aus Ideen ab, aber er glaubt, er leite sie aus einer anderen Realität her. Leibnizens Monadenwelt ist nichts als eine Ideenwelt; aber Leibniz glaubt in ihr eine höhere Realität als eine ideelle zu besitzen. Alle Realisten machen den gleichen Fehler: sie sinnen Wesen aus und werden nicht gewahr, daß sie aus der Idee nicht herauskommen. Wir haben diesen Realismus abgewiesen, weil er sich über die Ideenwesenheit seines Weltgrundes täuscht; wir haben aber auch jenen falschen Idealismus abzuweisen, der da glaubt, weil wir über die Idee nicht hinauskommen, kommen wir über unser Bewußtsein nicht hinaus, und es seien alle uns gegebenen Vorstellungen und alle Welt nur subjektiver Schein, nur ein Traum, den unser Bewußtsein träumt (Fichte). Diese Idealisten begreifen wieder nicht, daß, obzwar wir über die Idee nicht hinauskommen, wir doch in der Idee das Objektive haben, das in sich selbst und nicht im Subjekt Gegründete. Sie bedenken nicht, daß, wenn wir auch nicht aus der Einheitlichkeit des Denkens hinauskommen, wir mit dem vernünftigen Denken mitten in die volle Objektivität hineinkommen. Die Realisten begreifen nicht, daß das Objektive Idee ist, die Idealisten nicht, daß die Idee objektiv ist.
Wir haben uns noch mit den Empiristen des Sinnenfälligen zu beschäftigen, die jedes Erklären des Wirklichen durch die Idee als eine unstatthafte philosophische Deduktion ansehen und das Stehenbleiben beim Sinnlich-Faßbaren fordern. Gegen diesen Standpunkt können wir einfach das sagen, daß seine Forderung doch nur eine methodische, nur eine formelle sein kann. Wir sollen beim Gegebenen stehen bleiben, heißt doch nur: wir sollen uns das aneignen, was uns gegenübertritt. Über das Was desselben kann dieser Standpunkt am allerwenigsten etwas ausmachen; denn dieses Was muß ihm eben von dem Gegebenen selbst kommen. Wie man mit der Forderung der reinen Erfahrung zugleich fordern kann, nicht über die Sinnenwelt hinauszugehen, da doch die Idee ebenso die Forderung des Gegebenseins erfüllen kann, ist uns völlig unbegreiflich. Das positivistische Erfahrungsprinzip muß die Frage ganz offen lassen, was gegeben ist, und vereinigt sich somit ganz gut mit einem idealistischen Forschungsresultat. Dann aber ist diese Forderung ebenfalls mit der unseren zusammenfallend. Und wir vereinigen in unserer Ansicht alle Standpunkte, insofern sie Berechtigung haben. Unser Standpunkt ist Idealismus, weil er in der Idee den Weltgrund sieht; er ist Realismus, weil er die Idee als das Reale anspricht; und er ist Positivismus oder Empirismus, weil er zu dem Inhalt der Idee nicht durch apriorische Konstruktion, sondern zu ihm als einem Gegebenen kommen will. Wir haben eine empirische Methode, die in das Reale dringt und sich im idealistischen Forschungsresultat zuletzt befriedigt. Ein Schließen von einem Gegebenen als einem Bekannten auf ein zugrunde liegendes Nicht-Gegebenes, Bedingendes kennen wir nicht. Einen Schluß, wo irgendein Glied des Schlusses nicht gegeben ist, weisen wir ab. Das Schließen ist nur ein Übergehen von gegebenen Elementen zu anderen ebenso gegebenen. Wir verbinden im Schlusse a mit b durch c; aber alles das muß gegeben sein. Wenn Volkelt sagt, unser Denken drängt uns dazu, zu dem Gegebenen eine Voraussetzung zu machen und es zu überschreiten, so sagen wir: in unserem Denken drängt uns schon das, was wir zu dem unmittelbar Gegebenen hinzufügen wollen. Wir müssen daher jede Metaphysik abweisen. Die Metaphysik will ja das Gegebene durch ein Nicht-Gegebenes, Erschlossenes erklären (Wolff, Herbart). Wir sehen in dem Schließen nur eine formelle Tätigkeit, die zu nichts Neuem führt, die nur Übergänge zwischen Positiv-Vorliegendem herbeiführt.*
X.3 System der Wissenschaft
Welche Gestalt hat die fertige Wissenschaft im Lichte der Goetheschen Denkweise? Vor allem müssen wir festhalten, daß der gesamte Inhalt der Wissenschaft ein Gegebenes ist; teils gegeben als Sinnenwelt von außen, teils als Ideenwelt von innen. Alle unsere wissenschaftliche Tätigkeit wird also darinnen bestehen, die Form, in der uns dieser Gesamtinhalt des Gegebenen gegenübertritt, zu überwinden und zu einer uns befriedigenden zu machen. Dies ist notwendig, weil die innerliche Einheitlichkeit des Gegebenen in der ersten Form des Auftretens, wo uns nur die äußere Oberfläche erscheint, verborgen bleibt. Nun stellt sich diese methodische Tätigkeit, die einen solchen Zusammenhang herstellt, verschieden heraus, je nach den Erscheinungsgebieten, die wir bearbeiten. Der erste Fall ist folgender: Wir haben eine Mannigfaltigkeit von sinnenfällig gegebenen Elementen. Diese stehen miteinander in Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung wird uns klar, wenn wir uns ideell in die Sache vertiefen. Dann erscheint uns irgendeines der Elemente durch die andern mehr oder weniger und in dieser oder jener Weise bestimmt. Die Daseinsverhältnisse des einen werden uns durch die des andern begreiflich. Wir leiten die eine Erscheinung aus der andern ab. Die Erscheinung des erwärmten Steines leiten wir als Wirkung von den erwärmenden Sonnenstrahlen, als der Ursache, ab. Was wir an dem einen Dinge wahrnehmen, haben wir da erklärt, wenn wir es aus einem andern wahrnehmbaren ableiten. Wir sehen, in welcher Weise auf diesem Gebiete das ideelle Gesetz auftritt. Es umspannt die Dinge der Sinnenwelt, steht über ihnen. Es bestimmt die gesetzmäßige Wirkungsweise des einen Dinges, indem sie sie durch ein anderes bedingt sein läßt. Wir haben hier die Aufgabe, die Reihe der Erscheinungen so zusammenzustellen, daß eine aus der andern mit Notwendigkeit hervorgeht, daß sie alle ein Ganzes, durch und durch Gesetzmäßiges ausmachen. Das Gebiet, das in dieser Weise zu erklären ist, ist die unorganische Natur. Nun treten uns in der Erfahrung die einzelnen Erscheinungen keineswegs so gegenüber, daß das Nächste im Raum und in der Zeit auch das Nächste dem innern Wesen nach ist. Wir müssen erst von dem räumlich und zeitlich Nächsten zu dem begrifflich Nächsten übergehen. Wir müssen zu einer Erscheinung die dem Wesen nach sich unmittelbar an sie anschließenden suchen. Wir müssen trachten, eine sich selbst ergänzende, sich tragende, sich gegenseitig stützende Reihe von Tatsachen zusammenzustellen. Daraus gewinnen wir eine Gruppe von aufeinander wirkenden sinnenfälligen Elementen der Wirklichkeit; und das Phänomen, das sich vor uns abwickelt, folgt unmittelbar aus den in Betracht kommenden Faktoren in durchsichtiger, klarer Weise. Ein solches Phänomen nennen wir mit Goethe Urphänomen oder Grundtatsache. Dieses Urphänomen ist identisch mit dem objektiven Naturgesetz. Die hier besprochene Zusammenstellung kann entweder bloß in Gedanken geschehen, wie wenn ich die drei bei einem waagrecht geworfenen Stein in Betracht kommenden bedingenden Faktoren denke: 1. die Stoßkraft, 2. die Anziehungskraft der Erde und 3. den Luftwiderstand, und dann die Bahn des fliegenden Steines aus diesen Faktoren ableite, oder aber: ich kann die einzelnen Faktoren wirklich zusammenbringen und dann das aus ihrer Wechselwirkung folgende Phänomen abwarten. Das ist beim Versuche der Fall. Während uns ein Phänomen der Außenwelt unklar ist, weil wir nur das Bedingte (die Erscheinung), nicht die Bedingung kennen, ist uns das Phänomen, das der Versuch liefert, klar, denn wir haben die bedingenden Faktoren selbst zusammengestellt. Das ist der Weg der Naturforschung, daß sie von der Erfahrung ausgehe, um zu sehen, was wirklich ist; zu der Beobachtung fortschreite, um zu sehen, warum dieses wirklich ist, und sich dann zum Versuche steigere, um zu sehen, was wirklich sein kann. –
Leider scheint gerade jener Aufsatz Goethes verloren gegangen zu sein, der diesen Ansichten am besten zur Stütze dienen könnte. Er ist eine Fortsetzung des Aufsatzes: »Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt« gewesen. Wir wollen, von dem letzteren ausgehend, den möglichen Inhalt des ersteren nach der einzigen uns zugänglichen Quelle, dem Briefwechsel Goethes und Schillers, zu rekonstruieren suchen. Der Aufsatz: »Der Versuch usw. … « ist hervorgegangen aus jenen Studien Goethes, die er anstellte, um seine optischen Arbeiten zu rechtfertigen. Er ist dann liegen geblieben, bis der Dichter im Jahre 1798 diese Studien mit frischer Kraft aufnahm und in Gemeinschaft mit Schiller die Grundprinzipien der naturwissenschaftlichen Methode einer gründlichen und von allem wissenschaftlichen Ernst getragenen Untersuchung unterzog. Am 10. Januar 1798 (siehe Goethes Briefwechsel mit Schiller) schickte er nun den oben erwähnten Aufsatz an Schiller zur Erwägung und am 13. Januar kündigt er dem Freunde an, daß er willens sei, die dort ausgesprochenen Ansichten in einem neuen Aufsatze weiter auszuarbeiten. Dieser Arbeit unterzog er sich auch und schon am 17. Januar ging ein kleiner Aufsatz an Schiller ab, der eine Charakteristik der Methoden der Naturwissenschaft enthalten hat. Dieser Aufsatz findet sich nun in den Werken nicht. Er wäre unstreitig derjenige, der für die Würdigung von Goethes Grundanschauungen über die naturwissenschaftliche Methode die besten Anhaltspunkte gewährte. Wir können aber die Gedanken, die in demselben niedergelegt sind, aus dem ausführlichen Briefe Schillers vom 19. Januar 1798 (Briefwechsel Goethes mit Schiller) erkennen, wobei in Betracht kommt, daß wir zu dem daselbst Angedeuteten vielfache Belege und Ergänzungen in Goethes »Sprüchen in Prosa« finden.*93
Goethe unterscheidet drei Methoden der naturwissenschaftlichen Forschung. Dieselben beruhen auf drei verschiedenen Auffassungen der Phänomene. Die erste Methode ist der gemeine Empirismus, der nicht über das empirische Phänomen, über den unmittelbaren Tatbestand hinausgeht. Er bleibt bei einzelnen Erscheinungen stehen. Will der gemeine Empirismus konsequent sein, so muß er seine ganze Tätigkeit darauf beschränken, jedes ihm aufstoßende Phänomen genau nach allen Einzelheiten zu beschreiben, d. i. den empirischen Tatbestand aufzunehmen. Wissenschaft wäre ihm nur die Summe aller dieser Einzelbeschreibungen aufgenommener Tatbestände. Gegenüber dem gemeinen Empirismus bildet nun der Rationalismus die nächst höhere Stufe. Dieser geht auf das wissenschaftliche Phänomen. Diese Anschauung beschränkt sich nicht mehr auf die bloße Beschreibung der Phänomene, sondern sie sucht dieselben durch Aufdeckung der Ursachen, durch Aufstellung von Hypothesen usw. zu erklären. Es ist die Stufe, wo der Verstand aus den Erscheinungen auf deren Ursachen und Zusammenhänge schließt. Sowohl die erstere wie die letzte Methode erklärt Goethe für Einseitigkeiten. Der gemeine Empirismus ist die rohe Unwissenschaft, weil er nie aus der bloßen Auffassung der Zufälligkeiten herauskommt; der Rationalismus dagegen interpretiert in die Erscheinungswelt Ursachen und Zusammenhänge hinein, die nicht in derselben sind. Jener kann sich aus der Fülle der Erscheinungen nicht zum freien Denken erheben, dieser verliert dieselbe als den sicheren Boden unter seinen Füßen und verfällt der Willkür der Einbildungskraft und des subjektiven Einfalles. Goethe rügt die Sucht, mit Erscheinungen sogleich durch subjektive Wirkungen Folgerungen zu verbinden, mit den schärfsten Worten, so »Sprüche in Prosa«; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 375: »Es ist eine schlimme Sache, die doch manchem Beobachter begegnet, mit einer Anschauung sogleich eine Folgerung zu verknüpfen und beide für gleichgeltend zu achten«, und: »Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht wohl auch, daß es nur ein Behelf ist; liebt nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr bedürfen.« (Ebenda S. 376) Besonders tadelt Goethe den Mißbrauch, den die Kausalbestimmung veranlaßt. Der Rationalismus in seiner ungezügelten Phantastik sucht dort Kausalität, wo sie, durch die Fakten zu suchen, nicht geboten ist. In »Sprüche in Prosa« (ebenda S. 371) heißt es: »Der eingeborenste Begriff, der notwendigste, von Ursache und Wirkung, wird in der Anwendung die Veranlassung zu unzähligen sich immer wiederholenden Irrtümern.« Namentlich führt ihn seine Sucht nach einfachen Verbindungen dahin, die Phänomene wie die Glieder einer Kette nach Ursache und Wirkung rein der Länge nach aneinandergereiht zu denken; während die Wahrheit doch ist, daß irgendeine Erscheinung, die durch eine der Zeit nach frühere kausal bedingt ist, zugleich auch noch von vielen andern Einwirkungen abhängt. Es wird in diesem Falle bloß die Länge und nicht die Breite der Natur in Anschlag gebracht. Beide Wege, der gemeine Empirismus und der Rationalismus, sind nun für Goethe wohl Durchgangspunkte für die höchste wissenschaftliche Methode, aber eben nur Durchgangspunkte, die überwunden werden müssen. Und dies geschieht mit dem rationellen Empirismus, der sich mit dem reinen Phänomen, das identisch mit dem objektiven Naturgesetz ist, beschäftigt. Die gemeine Empirie, die unmittelbare Erfahrung bietet uns nur Einzelnes, Unzusammenhängendes, ein Aggregat von Erscheinungen. Das heißt, sie bietet uns das nicht als letzten Abschluß der wissenschaftlichen Betrachtung, wohl aber als erste Erfahrung. Unser wissenschaftliches Bedürfnis sucht aber nur Zusammenhängendes, begreift das Einzelne nur als Glied einer Verbindung. So gehen das Bedürfnis des Begreifens und die Tatsachen der Natur scheinbar auseinander. Im Geiste ist nur Zusammenhang, in der Natur nur Sonderung, der Geist erstrebt die Gattung, die Natur schafft nur Individuen. Die Lösung dieses Widerspruchs ergibt sich aus der Erwägung, daß einerseits die verbindende Kraft des Geistes inhaltslos ist, somit allein, durch sich selbst, nichts Positives erkennen kann, daß andererseits die Sonderung der Naturobjekte nicht in deren Wesen selbst begründet ist, sondern in deren räumlicher Erscheinung, daß vielmehr bei Durchdringung des Wesens des Individuellen, des Besonderen, dieses selbst uns auf die Gattung hinweist. Weil die Objekte der Natur in der Erscheinung gesondert sind, bedarf es der zusammenfassenden Kraft des Geistes, ihre innere Einheit zu zeigen. Weil die Einheit des Verstandes für sich leer ist, muß er sie mit den Objekten der Natur erfüllen. So kommen auf dieser dritten Stufe Phänomen und Geistesvermögen einander entgegen und gehen in eins auf und der Geist kann jetzt erst vollbefriedigt sein. –
Ein weiteres Gebiet der Forschung ist jenes, wo uns das Einzelne in seiner Daseinsweise nicht als die Folge eines andern, neben ihm Bestehenden erscheint, wo wir es daher auch nicht dadurch begreifen, daß wir ein anderes, Gleichartiges zu Hilfe rufen. Hier erscheint uns eine Reihe von sinnenfälligen Erscheinungselementen als unmittelbare Ausgestaltung eines einheitlichen Prinzipes, und wir müssen zu diesem Prinzipe vordringen, wenn wir die Einzelerscheinung begreifen wollen. Wir können auf diesem Gebiete das Phänomen nicht aus äußerer Einwirkung erklären, wir müssen es von innen heraus ableiten. Was früher bestimmend war, ist jetzt bloß veranlassend. Während ich beim früheren Gebiet alles begriffen habe, wenn es mir gelungen ist, es als Folge eines andern anzusehen, es von einer äußeren Bedingung abzuleiten, werde ich hier zu einer andern Fragestellung gezwungen. Wenn ich den äußeren Einfluß kenne, so habe ich noch keinen Aufschluß darüber erlangt, daß das Phänomen gerade in dieser und keiner anderen Weise abläuft. Ich muß es von dem zentralen Prinzip jenes Dinges ableiten, auf das der äußere Einfluß stattgefunden hat. Ich kann nicht sagen: dieser äußere Einfluß hat diese Wirkung; sondern nur: auf diesen bestimmten äußeren Einfluß antwortet das innere Wirkungsprinzip in dieser bestimmten Weise. Was geschieht, ist Folge einer inneren Gesetzlichkeit. Ich muß also diese innere Gesetzlichkeit kennen. Ich muß erforschen, was sich von innen heraus gestaltet. Dieses sich gestaltende Prinzip, das auf diesem Gebiete jedem Phänomen zugrunde liegt, das ich in allem zu suchen habe, ist der Typus. Wir sind im Gebiete der organischen Natur. Was in der unorganischen Natur Urphänomen, das ist in der Organik Typus. Der Typus ist ein allgemeines Bild des Organismus: die Idee desselben; die Tierheit im Tiere. Wir mußten hier die Hauptpunkte des schon in einem früheren Abschnitte über den »Typus« Ausgeführten wegen des Zusammenhangs noch einmal anführen. In den ethischen und historischen Wissenschaften haben wir es dann mit der Idee im engeren Sinne zu tun. Die Ethik und die Geschichte sind Idealwissenschaften. Ihre Wirklichkeit sind Ideen. – Der Einzelwissenschaft obliegt es, das Gegebene so weit zu bearbeiten, daß sie es bis zu Urphänomen, Typus und den leitenden Ideen in der Geschichte bringt. »Kann… der Physiker zur Erkenntnis desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; er, denn er überzeugt sich, daß er an die Grenze seiner Wissenschaft gelangt sei, daß er sich auf der empirischen Höhe befinde, wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren Stufen überschauen und vorwärts in das Reich der Theorie, wo nicht eintreten, doch einblicken könne. Der Philosoph ist geborgen, denn er nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erstes wird« (»Entwurf einer Farbenlehre« 720 [Natw. Schr., 3. Bd., S. 275 f.]) – Hier tritt nämlich der Philosoph mit seiner Arbeit auf. Er ergreift die Urphänomene und bringt sie in den befriedigenden ideellen Zusammenhang. Wir sehen, durch was im Sinne der Goetheschen Weltanschauung die Metaphysik zu ersetzen ist: durch eine ideengemäße Betrachtung, Zusammenstellung und Ableitung der Urphänomene. In diesem Sinne spricht sich Goethe wiederholt über das Verhältnis von empirischer Wissenschaft und Philosophie aus; besonders deutlich in seinen Briefen an Hegel. Goethe spricht in den Annalen wiederholt von einem Schema der Naturwissenschaft. Wenn sich dasselbe vorfände, würden wir daraus ersehen, wie er sich selbst das Verhältnis der einzelnen Urphänomene untereinander dachte; wie er sie in eine notwendige Kette zusammenstellte. Eine Vorstellung davon gewinnen wir auch, wenn wir die Tabelle berücksichtigen, die er im 1. Bd. 4. H. »Zur Naturwissenschaft« von allen möglichen Wirkungsarten gibt:
- Zufällig
- Mechanisch
- Physisch
- Chemisch
- Organisch
- Psychisch
- Ethisch
- Religiös
- Genial
Nach dieser aufsteigenden Reihe hätte man sich bei Anordnung der Urphänomene zu richten.*
93 Vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 593, Anm In meiner Einleitung S. XXXVIII zum 34. Bande dieser Goethe-Ausgabe sagte ich: Leider scheint der Aufsatz verlorengegangen zu sein, der den Ansichten Goethes über Erfahrung, Versuch und wissenschaftliches Erkennen zur besten Stütze dienen könnte. Er ist aber nicht verlorengegangen, sondern hat sich in der obigen Form im Goethe-Archiv gefunden. (Vgl. Weim. Goethe-Ausgabe II. Abt. Band 11, S. 38ff.) Er trägt das Datum 15. Januar 1798 und ist am 17. an Schiller gesandt worden. Er stellt sich als Fortsetzung des Aufsatzes: »Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt« dar. Ich habe den Gedankengang des Aufsatzes aus dem Goethe-Schillerschen Briefwechsel entnommen und in genannter Einleitung S. XXXIX f. genau in der Weise angegeben, die sich jetzt vorgefunden hat. Inhaltlich wird durch den Aufsatz zu meinen Ausführungen nichts hinzugefügt; wohl aber wird meine aus Goethes übrigen Arbeiten gewonnene Ansicht über seine Methode und Erkenntnisweise in allen Punkten bestätigt.
X.4 Über Erkenntnisgrenzen und Hypothesenbildung
Man spricht heute viel von Grenzen unseres Erkennens. Unsere Fähigkeit, das Bestehende zu erklären, soll nur bis zu einem gewissen Punkte reichen, bei dem sollen wir haltmachen. Wir glauben in bezug auf diese Frage das Richtige zu treffen, wenn wir sie richtig stellen. Denn es kommt ja so vielfach nur auf eine richtige Fragestellung an. Durch eine solche wird ein ganzes Heer von Irrtümern zerstreut. Wenn wir bedenken, daß der Gegenstand, in bezug auf welchen sich in uns ein Erklärungsbedürfnis geltend macht, gegeben sein muß, so ist es klar, daß das Gegebene selbst uns eine Grenze nicht setzen kann. Denn um überhaupt den Anspruch zu erheben, erklärt, begriffen zu werden, muß es uns innerhalb der gegebenen Wirklichkeit gegenübertreten. Was nicht in den Horizont des Gegebenen eintritt, braucht nicht erklärt zu werden. Die Grenze könnte also nur darinnen liegen, daß uns einem gegebenen Wirklichen gegenüber die Mittel fehlen, es zu erklären. Nun kommt unser Erklärungsbedürfnis aber gerade daher, daß das, als was wir ein Gegebenes ansehen wollen, durch was wir es erklären wollen, sich in den Horizont des uns gedanklich Gegebenen eindrängt. Weit entfernt, daß das erklärende Wesen eines Dinges uns unbekannt wäre, ist es vielmehr selbst das, was durch sein Auftreten im Geiste die Erklärung notwendig macht. Was erklärt werden soll und durch was dieses erklärt werden soll, liegen vor. Es handelt sich nur um die Verbindung beider. Das Erklären ist kein Suchen eines Unbekannten, nur eine Auseinandersetzung über den gegenseitigen Bezug zweier Bekannter. Durch irgend etwas ein Gegebenes zu erklären, von dem wir kein Wissen haben, sollte uns nie der Einfall kommen. Es kann also von prinzipiellen Grenzen des Erklärens gar nicht die Rede sein. Nun kommt da freilich etwas in Betracht, was der Theorie einer Erkenntnisgrenze einen Schein von Recht gibt. Es kann sein, daß wir von einem Wirklichen zwar ahnen, daß es da ist, daß es aber doch unserer Wahrnehmung entrückt ist. Wir können irgendwelche Spuren, Wirkungen eines Dinges wahrnehmen und dann die Annahme machen, daß dies Ding vorhanden ist. Und hier kann etwa von einer Grenze des Wissens gesprochen werden. Das, was wir als nicht erreichbar voraussetzen, ist hier aber kein solches, aus dem irgend etwas prinzipiell zu erklären wäre; es ist ein Wahrzunehmendes, wenn auch kein Wahrgenommenes. Die Hindernisse, warum ich es nicht wahrnehme, sind keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen, sondern rein zufällige, äußere. Ja sie können wohl gar überwunden werden. Was ich heute bloß ahne, kann ich morgen erfahren. Das ist aber mit einem Prinzip nicht so; da gibt es keine äußeren Hindernisse, die ja zumeist nur in Ort und Zeit liegen; das Prinzip ist mir innerlich gegeben. Ich ahne es nicht aus einem andern, wenn ich es nicht selbst erschaue.
Damit hängt nun die Theorie der Hypothese zusammen. Eine Hypothese ist eine Annahme, die wir machen und von deren Wahrheit wir uns nicht direkt, sondern nur durch ihre Wirkungen überzeugen können. Wir sehen eine Erscheinungsreihe. Sie ist uns nur erklärlich, wenn wir etwas zugrunde legen, das wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Darf eine solche Annahme sich auf ein Prinzip erstrecken? Offenbar nicht. Denn ein Inneres, das ich voraussetze, ohne es gewahr zu werden, ist ein vollkommener Widerspruch.
Die Hypothese kann nur solches annehmen, das ich zwar nicht wahrnehme, aber sofort wahrnehmen würde, wenn ich die äußeren Hindernisse wegräumte. Die Hypothese kann zwar nicht Wahrgenommenes, sie muß aber Wahrnehmbares voraussetzen. So ist jede Hypothese in dem Fall, daß ihr Inhalt durch eine künftige Erfahrung direkt bestätigt werden kann. Nur Hypothesen, die aufhören können es zu sein, haben eine Berechtigung. Hypothesen über zentrale Wissenschaftsprinzipien haben keinen Wert. Was nicht durch ein positiv gegebenes Prinzip, das uns bekannt ist, erklärt wird, das ist überhaupt einer Erklärung nicht fähig und auch nicht bedürftig.
X.5 Ethische und historische Wissenschaften
Die Beantwortung der Frage: »Was ist Erkennen?« hat uns über die Stellung des Menschen im Weltall aufgeklärt. Es kann nun nicht fehlen, daß die Ansicht, die wir für diese Frage entwickelt haben, auch über Wert und Bedeutung des menschlichen Handelns Licht verbreitet. Was wir in der Welt vollbringen, dem müssen wir ja eine größere oder geringere Bedeutung beilegen, je nachdem wir unsere Bestimmung höher oder minder bedeutend auffassen.
Die erste Aufgabe, der wir uns nun zu unterziehen haben, wird die Untersuchung des Charakters der menschlichen Tätigkeit sein. Wie stellt sich das, was wir als Wirkung menschlichen Tuns auffassen müssen, zu anderen Wirksamkeiten innerhalb des Weltprozesses? Betrachten wir zwei Dinge: ein Naturprodukt und ein Geschöpf menschlicher Tätigkeit, die Kristallgestalt und etwa ein Wagenrad. In beiden Fällen erscheint uns das vorliegende Objekt als Ergebnis von in Begriffen ausdrückbaren Gesetzen. Der Unterschied liegt nur darinnen, daß wir den Kristall als das unmittelbare Produkt der ihn bestimmenden Naturgesetzlichkeiten ansehen müssen, während beim Wagenrad der Mensch in die Mitte zwischen Begriff und Gegenstand tritt. Was wir im Naturprodukt als dem Wirklichen zugrunde liegend denken, das führen wir in unserem Handeln in die Wirklichkeit ein. Im Erkennen erfahren wir, welches die ideellen Bedingungen der Sinneserfahrung sind; wir bringen die Ideenwelt, die in der Wirklichkeit schon liegt, zum Vorschein; wir schließen also den Weltprozess in der Hinsicht ab, daß wir den Produzenten, der ewig die Produkte hervorgehen läßt, aber ohne unser Denken ewig in ihnen verborgen bliebe, zur Erscheinung rufen. Im Handeln aber ergänzen wir diesen Prozess dadurch, daß wir die Ideenwelt, insofern sie noch nicht Wirklichkeit ist, in solche umsetzen. Nun haben wir die Idee als das erkannt, was allem Wirklichen zugrunde liegt, als das Bedingende, die Intention der Natur. Unser Erkennen führt uns dahin, die Tendenz des Weltprozesses, die Intention der Schöpfung aus den in der uns umgebenden Natur enthaltenen Andeutungen zu finden. Haben wir das erreicht, dann ist unserem Handeln die Aufgabe zuerteilt, selbständig an der Verwirklichung jener Intention mitzuarbeiten. Und so erscheint uns unser Handeln direkt als eine Fortsetzung jener Art von Wirksamkeit, die auch die Natur erfüllt. Es erscheint uns als unmittelbarer Ausfluß des Weltgrundes. Aber doch welch ein Unterschied ist da gegenüber der anderen (Natur-)Tätigkeit! Das Naturprodukt hat keineswegs in sich selbst die ideelle Gesetzmäßigkeit, von der es beherrscht erscheint. Es bedarf bei ihm des Gegenübertretens eines höheren, des menschlichen Denkens; dann erscheint diesem das, wovon jenes beherrscht wird. Beim menschlichen Tun ist das anders. Da wohnt dem tätigen Objekte unmittelbar die Idee inne; und träte ihm ein höheres Wesen gegenüber, so könnte es in seiner Tätigkeit nichts anderes finden, als was dieses selbst in sein Tun gelegt hat. Denn ein vollkommenes menschliches Handeln ist das Ergebnis unserer Absichten und nur dieses. Blicken wir ein Naturprodukt an, das auf ein anderes wirkt, so stellt sich die Sache so: Wir sehen eine Wirkung; diese Wirkung ist bedingt durch in Begriffe zu fassende Gesetze. Wollen wir aber die Wirkung begreifen, da genügt es nicht, daß wir sie mit irgendwelchen Gesetzen zusammenhalten, wir müssen ein zweites wahrzunehmendes – allerdings wieder ganz in Begriffe aufzulösendes – Ding haben. Wenn wir einen Eindruck in dem Boden sehen, so suchen wir nach dem Gegenstande, der ihn gemacht hat. Das führt zu dem Begriffe einer solchen Wirkung, wo die Ursache einer Erscheinung wieder in Form einer äußeren Wahrnehmung erscheint, d. i. aber um Begriffe der Kraft. Die Kraft kann uns nur da entgegentreten, wo die Idee zuerst an einem Wahrnehmungsobjekte erscheint und erst unter dieser Form auf ein anderes Objekt wirkt. Der Gegensatz hierzu ist, wenn diese Vermittlung wegfällt, wenn die Idee unmittelbar an die Sinnenwelt herantritt. Da erscheint die Idee selbst verursachend. Und hier ist es, wo wir vom Willen sprechen. Wille ist also die Idee selbst als Kraft aufgefaßt. Von einem selbständigen Willen zu sprechen ist völlig unstatthaft. Wenn der Mensch irgend etwas vollbringt, so kann man nicht sagen, es komme zu der Vorstellung noch der Wille hinzu. Spricht man so, so hat man die Begriffe nicht klar erfaßt, denn, was ist die menschliche Persönlichkeit, wenn man von der sie erfüllenden Ideenwelt absieht? Doch ein tätiges Dasein. Wer sie anders faßte: als totes, untätiges Naturprodukt, setzte sie ja dem Steine auf der Straße gleich. Dieses tätige Dasein ist aber ein Abstraktum, es ist nichts Wirkliches. Man kann es nicht fassen, es ist ohne Inhalt. Will man es fassen, will man einen Inhalt, dann erhält man eben die im Tun begriffene Ideenwelt. E. v. Hartmann macht dieses Abstraktum zu einem zweiten weltkonstituierenden Prinzip neben der Idee. Es ist aber nichts anderes als die Idee selbst, nur in einer Form des Auftretens. Wille ohne Idee wäre nichts. Das gleiche kann man nicht von der Idee sagen, denn die Tätigkeit ist ein Element von ihr, während sie die sich selbst tragende Wesenheit ist.*
Dies zur Charakteristik des menschlichen Tuns. Wir schreiten zu einem weiteren wesentlichen Kennzeichen desselben, das aus dem bisher Gesagten sich mit Notwendigkeit ergibt. Das Erklären eines Vorganges in der Natur ist ein Zurückgehen auf die Bedingungen desselben: ein Aufsuchen des Produzenten zu dem gegebenen Produkte. Wenn ich eine Wirkung wahrnehme und dazu die Ursache suche, so genügen diese zwei Wahrnehmungen keineswegs meinem Erklärungsbedürfnisse.
Ich muß zu den Gesetzen zurückgehen, nach denen diese Ursache diese Wirkung hervorbringt. Beim menschlichen Handeln ist das anders. Da tritt die eine Erscheinung bedingende Gesetzlichkeit selbst in Aktion; was ein Produkt konstituiert, tritt selbst auf den Schauplatz des Wirkens. Wir haben es mit einem erscheinenden Dasein zu tun, bei dem wir stehenbleiben können, bei dem wir nicht nach den tiefer liegenden Bedingungen zu fragen brauchen. Ein Kunstwerk haben wir begriffen, wenn wir die Idee kennen, die in demselben verkörpert ist; wir brauchen nach keinem weiteren gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Idee (Ursache) und Werk (Wirkung) zu fragen. Das Handeln eines Staatsmannes begreifen wir, wenn wir seine Intentionen (Ideen) kennen; wir brauchen nicht weiter über das, was in die Erscheinung tritt, hinauszugehen. Dadurch also unterscheiden sich Prozesse der Natur von Handlungen des Menschen, daß bei jenen das Gesetz als der bedingende Hintergrund des erscheinenden Daseins zu betrachten ist, während bei diesen das Dasein selbst Gesetz ist und von nichts als von sich selbst bedingt erscheint. Dadurch legt sich jeder Naturprozeß in ein Bedingendes und ein Bedingtes auseinander, und das letztere folgt mit Notwendigkeit aus dem ersten, während das menschliche Handeln nur sich selbst bedingt Das aber ist das Wirken mit Freiheit. Indem die Intentionen der Natur, die hinter den Erscheinungen stehen und sie bedingen, in den Menschen einziehen, werden sie selbst zur Erscheinung; aber sie sind jetzt gleichsam rückenfrei. Wenn alle Naturprozesse nur Manifestationen der Idee sind, so ist das menschliche Tun die agierende Idee selbst.
Indem unsere Erkenntnistheorie zu dem Schlusse gekommen ist, daß der Inhalt unseres Bewußtseins nicht bloß ein Mittel sei, sich von dem Weltengrunde ein Abbild zu machen, sondern daß dieser Weltengrund selbst in seiner ureigensten Gestalt in unserem Denken zutage tritt, so können wir nicht anders, als im menschlichen Handeln auch unmittelbar das unbedingte Handeln jenes Urgrundes selbst erkennen. Einen Weltlenker, der außerhalb unserer selbst unseren Handlungen Ziel und Richtung setzte, kennen wir nicht. Der Weltlenker hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: wirke weiter. Der Mensch findet sich in der Welt, erblickt die Natur, in derselben die Andeutung eines Tieferen, Bedingenden, einer Intention. Sein Denken befähigt ihn, diese Intention zu erkennen. Sie wird sein geistiger Besitz. Er hat die Welt durchdrungen; er tritt handelnd auf, jene Intentionen fortzusetzen. Damit ist die hier vorgetragene Philosophie die wahre Freiheitsphilosophie. Sie läßt für die menschlichen Handlungen weder die Naturnotwendigkeit gelten, noch den Einfluß eines außerweltlichen Schöpfers oder Weltlenkers. Der Mensch wäre in dem einen wie in dem andern Fall unfrei. Wirkte in ihm die Naturnotwendigkeit wie in den anderen Wesen, dann vollführte er seine Taten aus Zwang, dann wäre auch bei ihm ein Zurückgehen auf Bedingungen notwendig, die dem erscheinenden Dasein zugrunde liegen und von Freiheit keine Rede. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß es unzählige menschliche Verrichtungen gibt, die nur unter diesen Gesichtspunkt fallen; allein diese kommen hier nicht in Betracht. Der Mensch, insofern er ein Naturwesen ist, ist auch nach den für das Naturwirken geltenden Gesetzen zu begreifen. Allein weder als erkennendes noch als wahrhaft ethisches Wesen ist sein Auftreten aus bloßen Naturgesetzen einzusehen. Da tritt er eben aus der Sphäre der Naturwirklichkeiten heraus. Und für diese höchste Potenz seines Daseins, die mehr Ideal als Wirklichkeit ist, gilt das hier Festgestellte. Des Menschen Lebensweg besteht darinnen, daß er sich vom Naturwesen zu einem solchen entwickelt, wie wir es hier kennengelernt haben; er soll sich frei machen von allen Naturgesetzen und sein eigener Gesetzgeber werden.
Aber auch den Einfluß eines außerweltlichen Lenkers der Menschengeschicke müssen wir ablehnen. Auch da, wo ein solcher angenommen wird, kann von wahrer Freiheit nicht die Rede sein. Da bestimmt er die Richtung des menschlichen Handelns und der Mensch hat auszuführen, was ihm jener zu tun vorgesetzt. Er empfindet den Antrieb zu seinen Handlungen nicht als Ideal, das er sich selbst vorsetzt, sondern als Gebot jenes Lenkers; wieder ist sein Handeln nicht unbedingt, sondern bedingt. Der Mensch fühlte sich dann eben nicht rückenfrei, sondern abhängig, nur Mittel für die Intentionen einer höheren Macht.
Wir haben gesehen, daß der Dogmatismus darinnen besteht, daß der Grund, warum irgend etwas wahr ist, in einem unserem Bewußtsein Jenseitigen, Unzugänglichen (Transsubjektiven) gesucht wird, im Gegensatz zu unserer Ansicht, die ein Urteil nur deshalb wahr sein läßt, weil der Grund dazu in den im Bewußtsein liegenden, in das Urteil einfließenden Begriffen liegt. Wer sich einen Weltengrund außer unserer Ideenwelt denkt, der denkt sich, daß der ideale Grund, warum von uns etwas als wahr erkannt wird, ein anderer ist, als warum es objektiv wahr ist. So ist die Wahrheit als Dogma aufgefaßt. Und auf dem Gebiete der Ethik ist das Gebot das, was in der Wissenschaft das Dogma ist. Der Mensch handelt, wenn er die Antriebe zu seinem Handeln in Geboten sucht, nach Gesetzen, deren Begründung nicht von ihm abhängt; er denkt sich eine Norm, die von außen seinem Handeln vorgeschrieben ist.
Er handelt aus Pflicht. Von Pflicht zu reden, hat nur bei dieser Auffassung Sinn. Wir müssen den Antrieb von außen empfinden und die Notwendigkeit anerkennen, ihm zu folgen, dann handeln wir aus Pflicht. Unsere Erkenntnistheorie kann ein solches Handeln, da wo der Mensch in seiner sittlichen Vollendung auftritt, nicht gelten lassen. Wir wissen daß die Ideenwelt die unendliche Vollkommenheit selbst ist; wir wissen, daß mit ihr die Antriebe unseres Handelns in uns liegen; und wir müssen demzufolge nur ein solches Handeln als ethisch gelten lassen, bei dem die Tat nur aus der in uns liegenden Idee derselben fließt. Der Mensch vollbringt von diesem Gesichtspunkte aus nur deshalb eine Handlung, weil deren Wirklichkeit für ihn Bedürfnis ist. Er handelt, weil ein innerer (eigener) Drang, nicht eine äußere Macht, ihn treibt. Das Objekt seines Handelns, sobald er sich einen Begriff davon macht, erfüllt ihn so, daß er es zu verwirklichen strebt. In dem Bedürfnis nach Verwirklichung einer Idee, in dem Drange nach der Ausgestaltung einer Absicht soll auch der einzige Antrieb unseres Handelns sein. In der Idee soll sich alles ausleben, was uns zum Tun drängt. Wir handeln dann nicht aus Pflicht, wir handeln nicht einem Triebe folgend, wir handeln aus Liebe zu dem Objekt, auf das unsere Handlung sich erstrecken soll. Das Objekt, indem wir es vorstellen, ruft in uns den Drang nach einer ihm angemessenen Handlung hervor. Ein solches Handeln ist allein ein freies. Denn müßte zu dem Interesse, das wir an dem Objekt nehmen, noch ein zweiter anderweitiger Anlaß kommen, dann wollten wir nicht dieses Objekt um seiner selbst willen, wir wollten ein anderes und vollbrächten dieses, was wir nicht wollen; wir vollführten eine Handlung gegen unseren Willen. Das wäre etwa beim Handeln aus Egoismus der Fall. Da nehmen wir an der Handlung selbst kein Interesse; sie ist uns nicht Bedürfnis, wohl aber der Nutzen, den sie uns bringt.
Dann aber empfinden wir es auch zugleich als Zwang, daß wir jene Handlung, nur dieses Zweckes willen, vollbringen müssen. Sie selbst ist uns nicht Bedürfnis; denn wir unterließen sie, wenn sie den Nutzen nicht im Gefolge hätte. Eine Handlung aber, die wir nicht um ihrer selbst willen vollbringen, ist eine unfreie. Der Egoismus handelt unfrei. Unfrei handelt überhaupt jeder Mensch, der eine Handlung aus einem Anlaß vollbringt, der nicht aus dem objektiven Inhalt der Handlung selbst folgt. Eine Handlung um ihrer selbst willen ausführen, heißt aus Liebe handeln. Nur derjenige, den die Liebe zum Tun, die Hingabe an die Objektivität leitet, handelt wahrhaft frei. Wer dieser selbstlosen Hingabe nicht fähig ist, wird seine Tätigkeit nie als eine freie ansehen können.
Soll das Handeln des Menschen nichts anderes sein als die Verwirklichung seines eigenen Ideengehaltes, dann ist es natürlich, daß solcher Gehalt in ihm liegen muß. Sein Geist muß produktiv wirken. Denn was sollte ihn mit dem Drange erfüllen, etwas zu vollbringen, wenn nicht eine sich in seinem Geiste heraufarbeitende Idee? Diese Idee wird sich um so fruchtbarer erweisen, in je bestimmteren Umrissen, mit je deutlicherem Inhalte sie im Geiste auftritt. Denn nur das kann uns ja mit aller Gewalt zur Verwirklichung drängen, das seinem ganzen »Was« nach vollbestimmt ist. Das nur dunkel vorgestellte, das unbestimmt gelassene Ideal ist als Antrieb des Handelns ungeeignet. Was soll uns an ihm eineifern, da sein Inhalt nicht offen und klar am Tage liegt. Die Antriebe für unser Handeln müssen daher immer in Form individueller Intentionen auftreten. Alles, was der Mensch Fruchtbringendes vollführt, verdankt solchen individuellen Impulsen seine Entstehung. Völlig wertlos erweisen sich allgemeine Sittengesetze, ethische Normen usw., die für alle Menschen Gültigkeit haben sollen. Wenn Kant nur dasjenige als sittlich gelten läßt, was sich für alle Menschen als Gesetz eignet, so ist demgegenüber zu sagen, daß alles positive Handeln aufhören müßte, alles Große aus der Welt verschwinden müßte, wenn jeder nur das tun sollte, was sich für alle eignet. Nein, nicht solche vage, allgemeine ethische Normen, sondern die individuellsten Ideale sollen unser Handeln leiten.
Nicht alles ist für alle gleich würdig zu vollbringen, sondern dies für den, für jenen das, je nachdem einer den Beruf zu einer Sache fühlt. J. Kreyenbühl hat hierüber treffliche Worte in seinem Aufsatze »Die ethische Freiheit bei Kant« (Philosophische Monatshefte, Bd. XVIII, 3. H. [Berlin etc. 1882, S. 129ff.]) gesagt: »Soll ja die Freiheit meine Freiheit, die sittliche Tat meine Tat, soll das Gute und Rechte durch mich, durch die Handlung dieser besonderen individuellen Persönlichkeit verwirklicht werden, so kann mir unmöglich ein allgemeines Gesetz genügen, das von aller Individualität und Besonderheit der beim Handeln konkurrierenden Umstände absieht und mir befiehlt vor jeder Handlung zu prüfen, ob das ihr zugrunde liegende Motiv der abstrakten Norm der allgemeinen Menschennatur entspreche, ob es so, wie es in mir lebt und wirkt, allgemein gültige Maxime werden könne.« … »Eine derartige Anpassung an das allgemein Übliche und Gebräuchliche würde jede individuelle Freiheit, jeden Fortschritt über das Ordinäre und Hausbackene, jede bedeutende, hervorragende und bahnbrechende ethische Leistung unmöglich machen.«
Diese Ausführungen verbreiten Licht über jene Fragen, die eine allgemeine Ethik zu beantworten hat. Man behandelt die letztere ja vielfach so, als ob sie eine Summe von Normen sei, nach denen das menschliche Handeln sich zu richten habe. Man stellt von diesem Gesichtspunkte aus die Ethik der Naturwissenschaft und überhaupt der Wissenschaft vom Seienden gegenüber. Während nämlich die letztere uns die Gesetze von dem, was besteht, was ist, vermitteln soll, hätte uns die Ethik jene vom Seinsollenden zu lehren. Die Ethik soll ein Kodex von allen Idealen des Menschen sein, eine ausführliche Antwort auf die Frage: Was ist gut? Eine solche Wissenschaft ist aber unmöglich. Es kann keine allgemeine Antwort auf diese Frage geben. Das ethische Handeln ist ja ein Produkt dessen, was sich im Individuum geltend macht; es ist immer im einzelnen Fall gegeben, nie im allgemeinen. Es gibt keine allgemeinen Gesetze darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe nur ja nicht die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener Völker als solche an. Sie sind auch nichts weiter als der Ausfluß individueller Intentionen. Was diese oder jene Persönlichkeit als sittliches Motiv empfunden hat, hat sich einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum »Recht dieses Volkes« geworden. Ein allgemeines Naturrecht, das für alle Menschen und alle Zeiten gelte, ist ein Unding. Rechtsanschauungen und Sittlichkeitsbegriffe kommen und gehen mit den Völkern, ja sogar mit den Individuen. Immer ist die Individualität maßgebend. Im obigen Sinne von einer Ethik zu sprechen, ist also unstatthaft. Aber es gibt andere Fragen, die in dieser Wissenschaft zu beantworten sind, Fragen, die z. T. in diesen Erörterungen kurz beleuchtet worden sind. Ich erwähne nur: die Feststellung des Unterschiedes von menschlichem Handeln und Naturwirken, die Frage nach dem Wesen des Willens und der Freiheit usw. Alle diese Einzelaufgaben lassen sich unter die eine subsumieren: Inwiefern ist der Mensch ein ethisches Wesen? Das bezweckt aber nichts anderes als die Erkenntnis der sittlichen Natur des Menschen. Es wird nicht gefragt: Was soll der Mensch tun? sondern: Was ist das, was er tut, seinem inneren Wesen nach? Und damit fällt jene Scheidewand, welche alle Wissenschaft in zwei Sphären trennt: in eine Lehre vom Seienden und eine vom Seinsollenden. Die Ethik ist ebenso wie alle anderen Wissenschaften eine Lehre vom Seienden. In dieser Hinsicht geht der einheitliche Zug durch alle Wissenschaften, daß sie von einem Gegebenen ausgehen und zu dessen Bedingungen fortschreiten. Vom menschlichen Handeln selbst aber kann es keine Wissenschaft geben; denn das ist unbedingt, produktiv, schöpferisch. Die Jurisprudenz ist keine Wissenschaft, sondern nur eine Notizensammlung jener Rechtsgewohnheiten, die einer Volksindividualität eigen sind.*
Der Mensch gehört nun nicht allein sich selbst; er gehört als Glied zwei höheren Totalitäten an. Erstens ist er ein Glied seines Volkes, mit dem ihn gemeinschaftliche Sitten, ein gemeinschaftliches Kulturleben, eine Sprache und gemeinsame Anschauung vereinigen. Dann aber ist er auch ein Bürger der Geschichte, das einzelne Glied in dem großen historischen Prozesse der Menschheitsentwicklung. Durch diese doppelte Zugehörigkeit zu einem Ganzen scheint sein freies Handeln beeinträchtigt. Was er tut, scheint nicht allein ein Ausfluß seines eigenen individuellen Ichs zu sein; er erscheint bedingt durch die Gemeinsamkeiten, die er mit seinem Volke hat, seine Individualität scheint durch den Volkscharakter vernichtet. Bin ich denn dann noch frei, wenn man meine Handlungen nicht allein aus meiner, sondern wesentlich auch aus der Natur meines Volkes erklärlich findet? Handle ich da nicht deshalb so, weil mich die Natur gerade zum Gliede dieser Volksgenossenschaft gemacht hat? Und mit der zweiten Zugehörigkeit ist es nicht anders. Die Geschichte weist mir den Platz meines Wirkens an. Ich bin von der Kulturepoche abhängig, in der ich geboren bin; ich bin ein Kind meiner Zeit. Wenn man aber den Menschen zugleich als erkennendes und handelndes Wesen auffaßt, dann löst sich dieser Widerspruch. Durch sein Erkenntnisvermögen dringt der Mensch in den Charakter seiner Volksindividualität ein; es wird ihm klar, wohin seine Mitbürger steuern. Wovon er so bedingt erscheint, das überwindet er und nimmt es als vollerkannte Vorstellung in sich auf; es wird in ihm individuell und erhält ganz den persönlichen Charakter, den das Wirken aus Freiheit hat. Ebenso stellt sich die Sache mit der historischen Entwicklung, innerhalb welcher der Mensch auftritt. Er erhebt sich zur Erkenntnis der leitenden Ideen, der sittlichen Kräfte, die da walten; und dann wirken sie nicht mehr als ihn bedingende, sondern sie werden in ihm zu individuellen Triebkräften. Der Mensch muß sich eben hinaufarbeiten, damit er nicht geleitet werde, sondern sich selbst leite. Er muß sich nicht blindlings von seinem Volkscharakter führen lassen, sondern sich zur Erkenntnis desselben erheben, damit er bewußt im Sinne seines Volkes handle. Er darf sich nicht von dem Kulturfortschritte tragen lassen, sondern er muß die Ideen seiner Zeit zu seinen eigenen machen. Dazu ist vor allem notwendig, daß der Mensch seine Zeit verstehe. Dann wird er mit Freiheit ihre Aufgabe erfüllen, dann wird er mit seiner eigenen Arbeit an der rechten Stelle ansetzen. Hier haben die Geisteswissenschaften (Geschichte, Kultur- und Literaturgeschichte usw.) vermittelnd einzutreten. In den Geisteswissenschaften hat es der Mensch mit seinen eigenen Leistungen zu tun, mit den Schöpfungen der Kultur, der Literatur, mit der Kunst usw. Geistiges wird durch den Geist erfaßt. Und der Zweck der Geisteswissenschaften soll kein anderer sein, als daß der Mensch erkenne, wohin er von dem Zufalle gestellt ist; er soll erkennen, was schon geleistet ist, was ihm zu tun obliegt. Er muß durch die Geisteswissenschaften den rechten Punkt finden, um mit seiner Persönlichkeit an dem Getriebe der Welt teilzunehmen. Der Mensch muß die Geisteswelt kennen und nach dieser Erkenntnis seinen Anteil an ihr bestimmen.*
Gustav Freytag sagt in der Vorrede zum ersten Bande seiner »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« [Leipzig 1859]: »Alle großen Schöpfungen der Volkskraft, angestammte Religion, Sitte, Recht, Staatsbildung sind für uns nicht mehr die Resultate einzelner Männer, sie sind organische Schöpfungen eines hohen Lebens, welches zu jeder Zeit nur durch das Individuum zur Erscheinung kommt, und zu jeder Zeit den geistigen Gehalt der Individuen in sich zu einem mächtigen Ganzen zusammenfaßt… So darf man wohl, ohne etwas Mystisches zu sagen, von einer Volksseele sprechen. … Aber nicht mehr bewußt, wie die Willenskraft eines Mannes, arbeitet das Leben eines Volkes. Das Freie, Verständige in der Geschichte vertritt der Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunklen Zwang einer Urgewalt.« Hätte Freytag dieses Leben des Volkes untersucht, so hätte er wohl gefunden, daß es sich in das Wirken einer Summe von Einzelindividuen auflöst, die jenen dunklen Zwang überwinden, das Unbewußte in ihr Bewußtsein heraufheben, und er hätte gesehen, wie das aus den individuellen Willensimpulsen, aus dem freien Handeln des Menschen hervorgeht, was er als Volksseele, als dunklen Zwang anspricht.
Aber noch etwas kommt in bezug auf das Wirken des Menschen innerhalb seines Volkes in Betracht. Jede Persönlichkeit repräsentiert eine geistige Potenz, eine Summe von Kräften, die nach der Möglichkeit zu wirken suchen. Jedermann muß deshalb den Platz finden, wo sich sein Wirken in der zweckmäßigsten Weise in seinen Volksorganismus eingliedern kann. Es darf nicht dem Zufalle überlassen bleiben, ob er diesen Platz findet. Die Staatsverfassung hat keinen anderen Zweck, als dafür zu sorgen, daß jeder einen angemessenen Wirkungskreis finde. Der Staat ist die Form, in der sich der Organismus eines Volkes darlebt.
Die Volkskunde und Staatswissenschaft hat die Weise zu erforschen, inwiefern die einzelne Persönlichkeit innerhalb des Staates zu einer ihr entsprechenden Geltung kommen kann. Die Verfassung muß aus dem innersten Wesen eines Volkes hervorgehen. Der Volkscharakter in einzelnen Sätzen ausgedrückt, das ist die beste Staatsverfassung. Der Staatsmann kann dem Volke keine Verfassung aufdrängen. Der Staatslenker hat die tiefen Eigentümlichkeiten seines Volkes zu erforschen und den Tendenzen, die in diesem schlummern, durch die Verfassung die ihnen entsprechende Richtung zu geben. Es kann vorkommen, daß die Mehrheit des Volkes in Bahnen einlenken will, die gegen seine eigene Natur gehen. Goethe meint, in diesem Falle habe sich der Staatsmann von der letzteren und nicht von den zufälligen Forderungen der Mehrheit leiten zu lassen; er habe die Volkheit gegen das Volk in diesem Falle zu vertreten (»Sprüche in Prosa«, Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 480f.).
Hieran müssen wir noch ein Wort über die Methode der Geschichte anschließen. Die Geschichte muß stets im Auge haben, daß die Ursachen zu den historischen Ereignissen in den individuellen Absichten, Plänen usw. der Menschen zu suchen sind. Alles Ableiten der historischen Tatsachen aus Plänen, die der Geschichte zugrunde liegen, ist ein Irrtum. Es handelt sich immer nur darum, welche Ziele sich diese oder jene Persönlichkeit vorgesetzt, welche Wege sie eingeschlagen usf. Die Geschichte ist durchaus auf die Menschennatur zu gründen. Ihr Wollen, ihre Tendenzen sind zu ergründen.
Wir können nun wieder das hier über die ethische Wissenschaft Gesagte durch Aussprüche Goethes belegen. Wenn er sagt: »Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn macht«, [»Sprüche in Prosa«, ebenda S. 482], so ist das nur aus dem Verhältnisse, in dem wir den Menschen mit der Geschichtsentwicklung erblicken, zu erklären. – Der Hinweis auf ein positives individuelles Substrat des Wirkens liegt in den Worten: »Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankerott« (Ebenda S. 463). Dasselbe in: »Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt.« (Ebenda S. 443) -Die Notwendigkeit, daß der Mensch sich zu den leitenden Ideen seines Volkes und seiner Zeit erhebe, ist ausgesprochen in (ebenda S. 487): »Frage sich doch jeder, mit welchem Organ er allenfalls in seine Zeit einwirken kann und wird«, und (ebenda S. 455): »Man muß wissen, wo man steht und wohin die andern wollen.« Unsere Ansicht von der Pflicht ist wiederzuerkennen in (ebenda S. 460):
»Pflicht, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.«
Wir haben den Menschen als erkennendes und handelndes Wesen durchaus auf sich selbst gestellt. Wir haben seine Ideenwelt als mit dem Weltengrunde zusammenfallend bezeichnet und haben erkannt, daß alles, was er tut, nur als der Ausfluß seiner eigenen Individualität anzusehen ist. Wir suchen den Kern des Daseins in dem Menschen selbst. Ihm offenbart niemand eine dogmatische Wahrheit, ihn treibt niemand beim Handeln. Er ist sich selbst genug. Er muß alles durch sich selbst, nichts durch ein anderes Wesen sein. Er muß alles aus sich selbst schöpfen. Also auch den Quell für seine Glückseligkeit. Wir haben ja erkannt, daß von einer Macht, die den Menschen lenkte, die sein Dasein nach Richtung und Inhalt bestimmte, ihn zur Unfreiheit verdammte, nicht die Rede sein kann. Soll dem Menschen daher Glückseligkeit werden, so kann das nur durch ihn selbst geschehen. So wenig eine äußere Macht uns die Normen unseres Handelns vorschreibt, so wenig wird eine solche den Dingen die Fähigkeit erteilen, daß sie in uns das Gefühl der Befriedigung erwecken, wenn wir es nicht selbst tun. Lust und Unlust sind für den Menschen nur da, wenn er selbst zuerst den Gegenständen das Vermögen beilegt, diese Gefühle in ihm wachzurufen. Ein Schöpfer, der von außen bestimmte, was uns Lust, was Unlust machen soll, führte uns am Gängelbande.*
Damit ist jeder Optimismus und Pessimismus widerlegt.
Der Optimismus nimmt an, daß die Welt vollkommen sei, daß sie für den Menschen der Quell höchster Zufriedenheit sein müsse. Sollte das aber der Fall sein, so müßte der Mensch erst in sich jene Bedürfnisse entwickeln, wodurch ihm diese Zufriedenheit wird. Er müßte den Gegenständen das abgewinnen, wonach er verlangt. Der Pessimismus glaubt, die Einrichtung der Welt sei eine solche, daß sie den Menschen ewig unbefriedigt lasse, daß er nie glücklich sein könne. Welch ein erbarmungswürdiges Geschöpf wäre der Mensch, wenn ihm die Natur von außen Befriedigung böte! Alles Wehklagen über ein Dasein, das uns nicht befriedigt, über diese harte Welt muß schwinden gegenüber dem Gedanken, daß uns keine Macht der Welt befriedigen könnte, wenn wir ihr nicht zuerst selbst jene Zauberkraft verliehen, durch die sie uns erhebt, erfreut. Befriedigung muß uns aus dem werden, wozu wir die Dinge machen, aus unseren eigenen Schöpfungen. Nur das ist freier Wesen würdig.
XI. Verhältnis der Goetheschen Denkweise zu anderen Ansichten
Wenn von dem Einflusse älterer oder gleichzeitiger Denker auf die Entwicklung des Goetheschen Geistes gesprochen wird, so kann das nicht in dem Sinne geschehen, als ob er seine Ansichten auf Grund von deren Lehren gebildet hätte. Die Art und Weise, wie er denken mußte, wie er die Welt ansah, lag in der ganzen Anlage seiner Natur vorgebildet. Und zwar lag sie von frühester Jugend an in seinem Wesen. In bezug darauf blieb er sich dann auch sein ganzes Leben lang gleich. Es sind vornehmlich zwei bedeutsame Charakterzüge, die hier in Betracht kommen. Der erste ist der Drang nach den Quellen, nach der Tiefe alles Seins. Es ist im letzten Grunde der Glaube an die Idee. Die Ahnung eines Höheren, Besseren erfüllt Goethe stets. Man möchte das einen tief religiösen Zug seines Geistes nennen. Was so vielen ein Bedürfnis ist: die Dinge unter Abstreifung eines jeglichen Heiligen zu sich herabzuziehen, das kennt er nicht. Er hat aber das andere Bedürfnis, ein Höheres zu ahnen und sich zu ihm emporzuarbeiten. Jedem Dinge sucht er eine Seite abzugewinnen, wodurch es uns heilig wird. K. J. Schröer hat das in geistvollster Weise in bezug auf Goethes Verhalten in der Liebe gezeigt. Alles Frivole, Leichtfertige wird abgestreift und die Liebe wird für Goethe ein Frommsein. Dieser Grundzug seines Wesens ist am schönsten in seinen Worten ausgesprochen:
«In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben. – – –
Wir heißen’s: fromm sein!»
Diese Seite seines Wesens ist nun [Trilogie der Leidenschaft 1 Elegie] unzertrennlich mit einer andern in Verbindung. Er sucht an dieses Höhere nie unmittelbar heranzutreten; er sucht sich ihm immer durch die Natur zu nähern. «Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S.378). Neben dem Glauben an die Idee hat Goethe auch den andern, daß wir die Idee durch Betrachtung der Wirklichkeit gewinnen; es fällt ihm nicht ein, die Gottheit anderswo zu suchen als in den Werken der Natur, aber diesen sucht er überall ihre göttliche Seite abzugewinnen. Wenn er in seiner Knabenzeit dem großen Gotte, der «mit der Natur in unmittelbarer Verbindung steht» («Dichtung und Wahrheit», 1. Teil, 1. Buch), einen Altar errichtet, so entspringt dieser Kultus schon entschieden aus dem Glauben, daß wir das Höchste, zu dem wir gelangen können, durch treues Pflegen des Verkehres mit der Natur gewinnen. So ist denn Goethe jene Betrachtungsweise angeboren, die wir erkenntnistheoretisch gerechtfertigt haben. Er tritt an die Wirklichkeit heran in der Überzeugung, daß alles nur eine Manifestation der Idee ist, die wir erst gewinnen, wenn wir die Sinneserfahrung in geistiges Anschauen hinaufheben. Diese Überzeugung lag in ihm, und er betrachtete von Jugend auf die Welt auf Grund dieser Voraussetzung. Kein Philosoph konnte ihm diese Überzeugung geben. Nicht das ist es also, was Goethe bei den Philosophen suchte. Es war etwas anderes. Wenn seine Weise die Dinge zu betrachten auch tief in seinem Wesen lag, so brauchte er doch eine Sprache sie auszudrücken. Sein Wesen wirkte philosophisch, d.h. so, daß es sich nur in philosophischen Formeln aussprechen, nur von philosophischen Voraussetzungen aus rechtfertigen läßt. Und um das, was er war, auch sich deutlich zum Bewußtsein zu bringen, um das, was bei ihm lebendiges Tun war, auch zu wissen, sah er sich bei den Philosophen um. Er suchte bei ihnen eine Erklärung und Rechtfertigung seines Wesens. Das ist sein Verhältnis zu den Philosophen. Zu diesem Zwecke studierte er in der Jugend Spinoza und ließ sich später mit den philosophischen Zeitgenossen in wissenschaftliche Verhandlungen ein. In seinen Jünglingsjahren schienen dem Dichter am meisten Spinoza und Giordano Bruno sein eigenes Wesen auszusprechen. Es ist merkwürdig, daß er beide Denker zuerst aus gegnerischen Schriften kennen lernte und trotz dieses Umstandes erkannte, wie ihre Lehren zu seiner Natur stehen. Besonders an seinem Verhältnis zu Giordano Brunos Lehren sehen wir das Gesagte erhärtet. Er lernt ihn aus Bayles Wörterbuch, wo er heftig angegriffen wird, kennen. Und er erhält von ihm einen so tiefen Eindruck, daß wir in jenen Teilen des «Faust», die, der Konzeption nach, aus der Zeit um 1770 stammen, wo er Bayle las, sprachliche Anklänge an Sätze von Bruno finden (s. Goethe-Jahrbuch Bd.VII, Frankfurt/M. 1886). In den Tag- und Jahres-Heften erzählt der Dichter, daß er sich wieder 1812 mit Giordano Bruno beschäftigt habe. Auch diesmal ist der Eindruck ein gewaltiger, und in vielen der nach diesem Jahre entstandenen Gedichte erkennen wir Anklänge an den Philosophen von Nola. Das alles ist aber nicht so zu nehmen, als ob Goethe von Bruno irgend etwas entlehnt oder gelernt hätte; er fand bei ihm nur die Formel, das, was längst in seiner Natur lag, auszusprechen. Er fand, daß er sein eigenes Innere am klarsten darlege, wenn er es mit den Worten jenes Denkers tat. Bruno betrachtet die universelle Vernunft als die Erzeugerin und Lenkerin des Weltalls. Er nennt sie den inneren Künstler, der die Materie formt und von innen heraus gestaltet. Sie ist die Ursache von allem Bestehenden, und es gibt kein Wesen, an dessen Sein sie nicht liebevoll Anteil nähme. «Das Ding sei noch so klein und winzig, es hat in sich einen Teil von geistiger Substanz» (Giordano Bruno, Von der Ursache usw., hg. v. A. Lasson, Heidelberg 1882). Das war ja auch Goethes Ansicht, daß wir ein Ding erst zu beurteilen wissen, wenn wir sehen, wie es von der allgemeinen Vernunft an seinen Ort gestellt worden ist, wie es gerade zu dem geworden ist, als was es uns gegenübertritt. Wenn wir mit den Sinnen wahrnehmen, so genügt das nicht, denn die Sinne sagen uns nicht, wie ein Ding mit der allgemeinen Weltidee zusammenhängt, was es für das große Ganze zu bedeuten hat. Da müssen wir so schauen, daß uns unsere Vernunft einen ideellen Untergrund schafft, auf dem uns dann das erscheint, was uns die Sinne überliefern; wir müssen, wie es Goethe ausdrückt, mit den Augen des Geistes schauen. Auch um diese Überzeugung auszusprechen, fand er bei Bruno eine Formel: «Denn wie wir nicht mit einem und demselben Sinn Farben und Töne erkennen, so sehen wir auch nicht mit einem und demselben Auge das Substrat der Künste und das Substrat der Natur», weil wir «mit den sinnlichen Augen jenes und mit dem Auge der Vernunft dieses sehen» (s. Lasson S.77). Und mit Spinoza ist es nicht anders. Spinozas Lehre beruht ja darauf, daß die Gottheit in der Welt aufgegangen ist. Das menschliche Wissen kann also nur bezwecken, sich in die Welt zu vertiefen, um Gott zu erkennen. Jeder andere Weg, zu Gott zu gelangen, muß für einen konsequent im Sinne des Spinozismus denkenden Menschen unmöglich erscheinen. Denn Gott hat jede eigene Existenz aufgegeben; außer der Welt ist er nirgends. Wir müssen ihn aber da aufsuchen, wo er ist. Jedes eigentliche Wissen muß also so beschaffen sein, daß es uns in jedem Stücke Welterkenntnis ein Stück Gotteserkenntnis überliefert. Das Erkennen auf seiner höchsten Stufe ist also ein Zusammengehen mit der Gottheit. Wir nennen es da anschauliches Wissen. Wir erkennen die Dinge «sub specie aeternitatis», d. h. als Ausflüsse der Gottheit. Die Gesetze, die unser Geist in der Natur erkennt, sind also Gott in seiner Wesenheit, nicht nur von ihm gemacht. Was wir als logische Notwendigkeit erkennen, ist so, weil ihm das Wesen der Gottheit, d. i. die ewige Gesetzlichkeit innewohnt. Das war eine dem Goetheschen Geist gemäße Anschauung.
Sein fester Glaube, daß uns die Natur in all ihrem Treiben ein Göttliches offenbare, lag ihm hier in klarsten Sätzen vor. «Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza)», schreibt er an Jacobi, als dieser die Lehre Spinozas in einem anderen Lichte erscheinen lassen wollte. [WA 7, 214] Darinnen liegt das Verwandtschaftliche mit Spinoza bei Goethe. Und wenn man gegenüber dieser tiefen, inneren Harmonie zwischen Goethes Wesen und Spinozas Lehre immer und immer das rein Äußerliche hervorhebt: Goethe wurde von Spinoza angezogen, weil er wie dieser die Endursachen in der Welterklärung nicht dulden wollte, so zeugt das von einer oberflächlichen Beurteilung der Sachlage. Daß Goethe wie Spinoza die Endursachen verwarfen, war nur eine Folge ihrer Ansichten. Man lege sich doch nur die Theorie von den Endursachen klar vor. Es wird ein Ding nach Dasein und Beschaffenheit dadurch erklärt, daß man seine Notwendigkeit für ein anderes dartut. Man zeigt, dieses Ding ist so und so beschaffen, weil jenes andere so und so ist. Das setzt voraus, daß ein Weltengrund existiere, der über den beiden Wesen stehe und sie so einrichte, daß sie füreinander passen. Wenn aber der Weltengrund einem jeden Dinge innewohnt, dann hat diese Erklärungsweise keinen Sinn. Denn dann muß uns die Beschaffenheit eines Dinges als Folge des in ihm wirksamen Prinzipes erscheinen. Wir werden in der Natur eines Dinges den Grund suchen, warum es so und nicht anders ist. Wenn wir den Glauben haben, daß Göttliches einem jeden Dinge innewohnt, dann wird es uns doch nicht einfallen, zur Erklärung seiner Gesetzlichkeit nach einem äußerlichen Prinzip zu suchen. Auch das Verhältnis Goethes zu Spinoza ist nicht anders zu fassen, denn so, daß er bei ihm die Formeln, die wissenschaftliche Sprache fand, um die in ihm liegende Welt auszusprechen.
Wenn wir nun auf Goethes Beziehung zu den gleichzeitigen Philosophen übergehen, so haben wir vor allem von Kant zu sprechen. Kant wird allgemein als der Begründer der heutigen Philosophie angesehen. Zu seiner Zeit rief er eine so mächtige Bewegung hervor, daß es für jeden Gebildeten Bedürfnis war, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Auch für Goethe wurde diese Auseinandersetzung eine Notwendigkeit. Sie konnte aber für ihn nicht fruchtbar sein. Denn es besteht ein tiefer Gegensatz zwischen dem, was die Kantsche Philosophie lehrt, und dem, was wir als Goethesche Denkweise erkennen. Ja, man kann geradezu sagen, daß das gesamte deutsche Denken in zwei parallelen Richtungen abläuft, einer von der Kantschen Denkweise durchtränkten und einer andern, die dem Goetheschen Denken nahesteht. Indem sich aber heute die Philosophie immer mehr Kant nähert, entfernt sie sich von Goethe und damit geht für unsere Zeit immer mehr die Möglichkeit verloren, die Goethesche Weltanschauung zu begreifen und zu würdigen. Wir wollen die Hauptsätze der Kantschen Lehre insoweit hierhersetzen, als sie Interesse für die Ansichten Goethes haben. Der Ausgangspunkt für das menschliche Denken ist für Kant die Erfahrung, d. h. die den Sinnen (worinnen der innere Sinn, der uns die psychischen, historischen usw. Tatsachen übermittelt, inbegriffen ist) gegebene Welt. Diese ist eine Mannigfaltigkeit von Dingen im Raume und von Prozessen in der Zeit. Daß mir gerade dieses Ding gegenübertritt, daß ich gerade jenen Prozeß erlebe, ist gleichgültig; es könnte auch anders sein. Ich kann mir überhaupt die ganze Mannigfaltigkeit von Dingen und Prozessen wegdenken. Was ich mir aber nicht wegdenken kann, das ist Raum und Zeit. Es kann für mich nichts geben, was nicht räumlich oder zeitlich wäre. Selbst, wenn es ein raumloses oder zeitloses Ding gibt, kann ich nichts davon wissen, denn ich kann mir ohne Raum und Zeit nichts vorstellen. Ob den Dingen selbst Raum und Zeit zukomme, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß die Dinge für mich in diesen Formen auftreten müssen. Raum und Zeit sind somit die Vorbedingungen meiner sinnlichen Wahrnehmung. Ich weiß von dem Ding an sich nichts; ich weiß nur, wie es mir erscheinen muß, wenn es für mich da sein soll. Kant leitet mit diesen Sätzen ein neues Problem ein. Er tritt mit einer neuen Fragestellung in der Wissenschaft auf. Statt wie die früheren Philosophen zu fragen: Wie sind die Dinge beschaffen, fragt er: wie müssen uns die Dinge erscheinen, damit sie Gegenstand unseres Wissens werden können? Die Philosophie ist für Kant die Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit der Welt als einer menschlichen Erscheinung. Von dem Ding an sich wissen wir nichts. Wir haben unsere Aufgabe noch nicht erfüllt, wenn wir bis zur sinnlichen Anschauung einer Mannigfaltigkeit in Zeit und Raum kommen. Wir streben darnach, diese Mannigfaltigkeit in eine Einheit zusammenzufassen. Und das ist Sache des Verstandes. Der Verstand ist als eine Summe von Tätigkeiten aufzufassen, die den Zweck haben, die Sinnenwelt nach gewissen in ihm vorgezeichneten Formen zusammenzufassen. Er faßt zwei sinnenfällige Wahrnehmungen zusammen, indem er z.B. die eine als Ursache, die andere als Wirkung bezeichnet oder die eine als Substanz, die andere als Eigenschaft usw. Auch hier ist es die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft, zu zeigen, unter welchen Bedingungen es dem Verstande gelingt, sich ein System der Welt zu bilden. So ist die Welt eigentlich im Sinne Kants eine in den Formen der Sinnenwelt und des Verstandes auftretende subjektive Erscheinung. Es ist nur das Eine gewiß, daß es ein Ding an sich gibt; wie es uns erscheint, das hängt von unserer Organisation ab. Es ist nun auch natürlich, daß es keinen Sinn hat, jener Welt, die der Verstand im Verein mit den Sinnen geformt hat, eine andere als eine Bedeutung für unser Erkenntnisvermögen zuzuschreiben. Am klarsten wird das da, wo Kant von der Bedeutung der Ideenwelt spricht. Die Ideen sind für ihn nichts als höhere Gesichtspunkte der Vernunft, unter denen die niederen Einheiten, die der Verstand geschaffen, begriffen werden. Der Verstand bringt z.B. die Seelenerscheinungen in einen Zusammenhang; die Vernunft, als das Ideenvermögen, faßt dann diesen Zusammenhang so, als wenn alles von einer Seele ausginge. Das hat aber für die Sache selbst keine Bedeutung, ist nur Orientierungsmittel für unser Erkenntnisvermögen. Dies der Inhalt von Kants theoretischer Philosophie, soweit er uns hier interessieren kann. Man sieht in ihr sofort den entgegengesetzten Pol der Goetheschen. Die gegebene Wirklichkeit wird von Kant nach uns selbst bestimmt; sie ist so, weil wir sie so vorstellen. Kant überspringt die eigentliche erkenntnistheoretische Frage. Er macht am Eingange seiner Vernunftkritik zwei Schritte, die er nicht rechtfertigt, und an diesem Fehler krankt sein ganzes philosophisches Lehrgebäude. Er stellt sogleich die Unterscheidung von Objekt und Subjekt auf, ohne zu fragen, was für eine Bedeutung es denn überhaupt hat, wenn der Verstand die Trennung zweier Wirklichkeitsgebiete (hier erkennendes Subjekt und zu erkennendes Objekt) vornimmt. Dann sucht er das gegenseitige Verhältnis dieser beiden Gebiete begrifflich herzustellen, wieder ohne zu fragen, welchen Sinn eine solche Feststellung hat. Hätte er die erkenntnistheoretische Hauptfrage nicht schief gesehen, so hätte er bemerkt, daß die Auseinanderhaltung von Subjekt und Objekt nur ein Durchgangspunkt unseres Erkennens ist, daß beiden eine tiefere, der Vernunft erfaßbare Einheit zugrunde liegt und daß dasjenige, was einem Dinge als Eigenschaft zuerkannt wird, insofern es in bezug auf ein erkennendes Subjekt gedacht wird, keineswegs nur subjektive Gültigkeit hat. Das Ding ist eine Vernunfteinheit und die Trennung in ein «Ding an sich» und «Ding für uns» ist Verstandesprodukt. Es geht also nicht an, zu sagen, was dem Dinge in einer Beziehung zuerkannt wird, kann ihm in anderer abgesprochen werden. Denn ob ich dasselbe Ding einmal unter diesem, ein andermal unter jenem Gesichtspunkte betrachte: es ist ja doch ein einheitliches Ganzes.
Es ist ein Fehler, der sich durch Kants ganzes Lehrgebäude durchzieht, daß er die sinnenfällige Mannigfaltigkeit als etwas Festes ansieht, und daß er glaubt, Wissenschaft bestehe darinnen, diese Mannigfaltigkeit in ein System zu bringen. Er vermutet gar nicht, daß das Mannigfaltige kein Letztes ist, das man überwinden muß, wenn man es begreifen will; und deshalb wird ihm alle Theorie bloß eine Zutat, die Verstand und Vernunft zur Erfahrung hinzubringen. Die Idee ist ihm nicht das, was der Vernunft als der tiefere Grund der gegebenen Welt erscheint, wenn sie die an der Oberfläche gelegene Mannigfaltigkeit überwunden hat, sondern nur ein methodisches Prinzip, nach dem dieselbe die Erscheinungen behufs ihrer leichteren Übersicht anordnet. Wir gingen nach Kantscher Anschauung ganz fehl, wenn wir die Dinge als aus der Idee ableitbar betrachteten; wir können nach seiner Meinung unsere Erfahrungen nur so anordnen, als ob sie aus einer Einheit stammten. Von dem Grund der Dinge, von dem «An sich» haben wir nach Kant keine Ahnung Unser Wissen von den Dingen ist nur in bezug auf uns da, ist nur für unsere Individualität gültig. Aus dieser Ansicht über die Welt konnte Goethe nicht viel gewinnen. Ihm blieb die Betrachtung der Dinge in bezug auf uns immer die ganz untergeordnete, welche die Wirkung der Gegenstände auf unser Gefühl der Lust und Unlust betrifft; von der Wissenschaft fordert er mehr als bloß die Angabe, wie die Dinge in bezug auf uns sind. In dem Aufsatz: «Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt» (Natw. Schr., 2. Bd., 5. 10ff.) wird die Aufgabe des Forschers bestimmt: Er soll den Maßstab zur Erkenntnis, die Data zur Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet. Mit diesem einzigen Satz ist der tiefe Gegensatz Kantischer und Goethescher Denkweise gekennzeichnet. Während bei Kant alles Urteilen über die Dinge nur ein Produkt aus Subjekt und Objekt ist und nur ein Wissen darüber liefert, wie das Subjekt das Objekt anschaut, geht das Subjekt bei Goethe selbstlos in dem Objekte auf und entnimmt die Data zur Beurteilung aus dem Kreise der Dinge. Goethe sagt daher von Kants Schülern selbst: «Sie hörten mich wohl, konnten mir aber nichts erwidern, noch irgend förderlich sein.» [Natw. Schr., 2. Bd., S.29] Mehr glaubte der Dichter aus Kants Kritik der Urteilskraft gewonnen zu haben.
Ungleich mehr als durch Kant wurde Goethe in philosophischer Beziehung durch Schiller gefördert. Durch ihn wurde er nämlich wirklich um eine Stufe weiter in der Erkenntnis seiner eigenen Anschauungsweise gebracht. Bis zu jenem berühmten ersten Gespräch mit Schiller hatte Goethe eine gewisse Weise, die Welt anzuschauen, geübt. Er hatte Pflanzen betrachtet, ihnen eine Urpflanze zugrunde gelegt und die einzelnen Formen daraus abgeleitet. Diese Urpflanze (und auch ein entsprechendes Urtier) hatte sich in seinem Geiste gestaltet, war ihm bei der Erklärung der einschlägigen Erscheinungen dienlich. Er hatte aber nie darüber nachgedacht, was denn diese Urpflanze ihrem Wesen nach sei. Schiller öffnete ihm die Augen, indem er ihm sagte: sie ist eine Idee. Von jetzt ab ist sich Goethe seines Idealismus erst bewußt. Er nennt die Urpflanze daher bis zu jenem Gespräch eine Erfahrung, denn er glaubte sie mit Augen zu sehen. In der später zu dem Aufsatz über die Metamorphose der Pflanze hinzugekommenen Einleitung aber sagt er: «So trachtete ich nunmehr das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt, den Begriff, die Idee des Tieres.» [Natw. Schr., 1. Bd., S.15] Dabei ist aber festzuhalten, daß Schiller Goethen nichts diesem Fremdes überlieferte, sondern vielmehr sich selbst erst durch die Betrachtung des Goetheschen Geistes zur Erkenntnis des objektiven Idealismus durchrang. Er fand nur den Terminus für die Anschauungsweise, die er an Goethe erkannte und bewunderte.
Wenig Förderung hat Goethe von Fichte erfahren. Fichte bewegte sich in einer dem Goetheschen Denken viel zu fremden Sphäre, als daß eine solche möglich gewesen wäre. Fichte hat die Wissenschaft des Bewußtseins in der scharfsinnigsten Weise begründet. Er hat die Tätigkeit, durch welche das «Ich» die gegebene Welt in eine gedachte verwandelt, in einzig musterhafter Weise abgeleitet. Dabei hat er aber den Fehler gemacht, daß er diese Tätigkeit des Ich nicht. bloß als eine solche auffaßte, die den gegebenen Inhalt in eine befriedigende Form bringt, die zusammenhanglos Gegebenes in die entsprechenden Zusammenhänge bringt; er hat sie als ein Erschaffen alles dessen angesehen, was innerhalb des «Ich» sich abspielt. Dadurch erscheint seine Lehre als ein einseitiger Idealismus, der seinen ganzen Inhalt aus dem Bewußtsein nimmt. Goethe, der stets auf das Objektive ging, konnte wohl wenig Anziehendes in Fichtes Bewußtseinsphilosophie finden. Für das Gebiet, wo sie gilt, fehlte Goethe das Verständnis; die Ausdehnung aber, die ihr Fichte gab – er sah sie als Universalwissenschaft an –, konnte dem Dichter nur als ein Irrtum erscheinen.
Viel mehr Berührungspunkte hatte Goethe mit dem jungen Schelling. Dieser war ein Schüler Fichtes. Er führte aber nicht nur die Analyse der Tätigkeit des «Ich» weiter, sondern er verfolgte auch jene Tätigkeit innerhalb des Bewußtseins, durch welches das letztere die Natur erfaßt. Das, was sich im Ich beim Erkennen der Natur abspielt, schien Schelling zugleich das Objektive der Natur, das eigentliche Prinzip in ihr zu sein. Die Natur draußen war ihm nur eine festgewordene Form unserer Naturbegriffe. Was in uns als Naturanschauung lebt, das erscheint uns außen wieder, nur auseinandergezogen, räumlich-zeitlich. Was uns von außen her als Natur entgegentritt, ist fertiges Produkt, ist nur das Bedingte, die starr gewordene Form eines lebendigen Prinzips. Dieses Prinzip können wir nicht durch Erfahrung von außen her gewinnen. Wir müssen es in unserem Innern erst schaffen. «Über die Natur philosophieren heißt die Natur schaffen,» sagt deshalb unser Philosoph.94 «Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie).» (Einleitung zu seinem Entwurf…, Jena u. Leipzig 1799, S.22.) «Der Gegensatz zwischen Empirie und Wissenschaft beruht nun eben darauf, daß jene ihr Objekt im Sein als etwas Fertiges und zustande Gebrachtes; die Wissenschaft dagegen das Objekt im Werden und als ein erst zustande zu Bringendes betrachtet.» (Ebenda S.20) Durch diese Lehre, die Goethe teils aus Schellings Schriften, teils aus persönlichem Umgange mit dem Philosophen kennen lernte, wurde der Dichter wieder um eine Stufe höher gebracht. Jetzt entwickelte sich bei ihm die Ansicht, daß seine Tendenz darauf gehe, von dem Fertigen, dem Produkte zu dem Werdenden, Produzierenden fortzuschreiten. Und mit entschiedenem Anklang an Schelling schreibt er im Aufsatz «Anschauende Urteilskraft», daß sein Streben war, sich «durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig zu machen» (Natw. Schr., 1. Bd., S.116).
Durch Hegel endlich erhielt Goethe die letzte Förderung von seiten der Philosophie. Durch ihn erlangte er nämlich Klarheit darüber, wie sich das, was er Urphänomen nannte, in die Philosophie einreiht. Hegel hat die Bedeutung des Urphänomens am tiefsten begriffen und in seinem Briefe an Goethe vom 20. Februar 1821 trefflich charakterisiert mit den Worten: «Das Einfache und Abstrakte, das Sie sehr treffend das Urphänomen nennen, stellen Sie an die Spitze, zeigen dann die konkreteren Erscheinungen auf, als entstehend durch das Hinzukommen weiterer Einwirkungsweisen und Umstände und regieren den ganzen Verlauf so, daß die Reihenfolge von den einfachen Bedingungen zu den zusammengesetzteren fortschreitet, und so rangiert, das Verwickelte nun, durch diese Dekomposition, in seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen auszuspüren, es von den andern ihm selbst zufälligen Umgebungen zu befreien, – es abstrakt, wie wir dies heißen, aufzufassen, dies halte ich für eine Sache des großen geistigen Natursinns, sowie jenen Gang überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche der Erkenntnis in diesem Felde.» … «Darf ich Ew. etc. aber nun auch noch von dem besonderen Interesse sprechen, welches ein so herausgehobenes Urphänomen für uns Philosophen hat, daß wir nämlich ein solches Präparat geradezu in den philosophischen Nutzen verwenden können! Haben wir nämlich unser zunächst austernhaftes, graues, oder ganz schwarzes Absolutes, doch gegen Luft und Licht hingearbeitet, daß es derselben begehrlich geworden, so brauchen wir Fensterstellen, um es vollends an das Licht des Tages herauszuführen; unsere Schemen würden zu Dunst verschweben, wenn wir sie so geradezu in die bunte, verworrene Gesellschaft der widerwärtigen Welt versetzen wollten. Hier kommen uns nun Ew. Wohlgeboren Urphänomene vortrefflich zustatten; in diesem Zwielichte, geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sichtlich und greiflich durch seine Sinnlichkeit – begrüßen sich die beiden Welten, unser Abstruses, und das erscheinende Dasein, einander.» So wird durch Hegel für Goethe der Gedanke klar, daß der empirische Forscher bis zu den Urphänomenen zu gehen hat, und daß von da aus die Wege des Philosophen weiterführen. Daraus geht aber auch hervor, daß der Grundgedanke der Hegelschen Philosophie eine Konsequenz der Goetheschen Denkweise ist. Die Überwindung der Menschlichkeit, die Vertiefung in dieselbe, um vom Geschaffenen zum Schaffen, vom Bedingten zur Bedingung aufzusteigen, liegt bei Goethe, aber auch bei Hegel zugrunde. Hegel will ja in der Philosophie nichts anderes bieten als den ewigen Prozeß, aus dem alles, was endlich ist, hervorgeht. Er will das Gegebene als eine Folge dessen erkennen, was er als Unbedingtes gelten lassen kann.
So bedeutet für Goethe das Bekanntwerden mit Philosophen und philosophischen Richtungen eine fortschreitende Aufklärung darüber, was schon in ihm lag. Er hat für seine Anschauüng nichts gewonnen; ihm wurden nur die Mittel an die Hand gegeben, darüber zu reden, was er tat, was in seiner Seele vorging.
So bietet denn die Goethesche Weltansicht genugsam Anhaltspunkte zur philosophischen Ausgestaltung. Diese sind aber zunächst nur von den Schülern Hegeis aufgegriffen worden. Die übrige Philosophie steht der Goetheschen Anschauung vornehm ablehnend gegenüber. Nur Schopenhauer stützt sich in manchen Punkten auf den von ihm hochgeschätzten Dichter. Von seiner Apologetik der Farbenlehre werden wir in einem späteren Kapitel sprechen. Hier kommt es auf das allgemeine Verhältnis von Schopenhauers Lehre zu Goethe an.95 In einem Punkte kommt der Frankfurter Philosoph an Goethe heran. Schopenhauer weist nämlich alles Herleiten der uns gegebenen Phänomene aus äußeren Ursachen ab und läßt nur eine innere Gesetzmäßigkeit gelten, nur ein Herleiten einer Erscheinung aus der andern. Das kommt scheinbar dem Goetheschen Prinzip gleich, die Data der Erklärung aus den Dingen selbst zu nehmen; aber eben nur scheinbar. Denn während Schopenhauer innerhalb des Phänomenalen bleiben will, weil wir das außer demselben liegende «An sich» im Erkennen nicht erreichen können, da alle uns gegebenen Erscheinungen nur Vorstellungen sind und unser Vorstellungsvermögen uns nie über unser Bewußtsein hinausführt, will Goethe innerhalb der Phänomene bleiben, weil er eben in ihnen selbst die Data zu ihrer Erklärung sucht.
Zum Schlusse wollen wir noch die Goethesche Weltansicht mit der bedeutsamsten wissenschaftlichen Erscheinung unserer Zeit, mit den Anschauungen Eduard v. Hartmanns zusammenhalten. Die «Philosophie des Unbewußten» dieses Denkers ist ein Werk von größter geschichtlicher Bedeutung. Mit den übrigen Schriften Hartmanns, die das dort Skizzierte nach allen Seiten ausbauen, ja wohl in vieler Hinsicht neue Gesichtspunkte zu jenem Hauptwerke hinzubringen, zusammen, spiegelt sich in ihr der gesamte geistige Inhalt unserer Zeit. Hartmann zeichnet ein bewunderungswerter Tiefsinn und eine erstaunliche Beherrschung des Materiales der einzelnen Wissenschaften aus. Er steht heute auf der Hochwacht der Bildung. Man braucht nicht sein Anhänger zu sein, und man wird ihm das rückhaltlos zuerkennen müssen.
Seine Anschauung steht der Goetheschen nicht so ferne, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Wem nichts anderes vorliegt als die «Philosophie des Unbewußten», der wird das freilich nicht einsehen können. Denn die entschiedenen Berührungspunkte beider Denker sieht man erst, wenn man auf die Konsequenzen geht, die Hartmann aus seinen Prinzipien gezogen und die er in seinen späteren Schriften niedergelegt hat.
Hartmanns Philosophie ist Idealismus. Er will zwar kein bloßer Idealist sein. Allein, wo er behufs der Welterklärung etwas Positives braucht, ruft er doch die Idee zu Hilfe. Und das Wichtigste ist, daß er die Idee überall zugrundeliegend denkt. Denn seine Annahme eines Unbewußten hat ja keinen andern Sinn, als daß jenes, das in unserem Bewußtsein als Idee vorhanden ist, nicht notwendig an diese Erscheinungsform – innerhalb des Bewußtseins – gebunden ist. Die Idee ist nicht nur vorhanden (wirksam), wo sie bewußt wird, sondern auch in anderer Form. Sie ist mehr denn bloßes subjektives Phänomen; sie hat eine in sich selbst gegründete Bedeutung. Sie ist nicht bloß im Subjekte gegenwärtig, sie ist objektives Weltprinzip. Wenn auch Hartmann neben der Idee noch den Willen unter die die Welt konstituierenden Prinzipien aufnimmt, so ist es doch unbegreiflich, wie es noch immer Philosophen gibt, die ihn für einen Schopenhauerianer ansehen. Schopenhauer hat die Ansicht, daß aller Begriffsinhalt nur subjektiv, nur Bewußtseinsphänomen sei, auf die Spitze getrieben. Bei ihm kann davon gar nicht die Rede sein, daß die Idee an der Konstitution der Welt als reales Prinzip teilgenommen hat. Bei ihm ist der Wille ausschließlicher Weltgrund. Deswegen konnte es Schopenhauer nie zu einer inhaltsvollen Behandlung der philosophischen Spezialwissenschaften bringen, während Hartmann seine Prinzipien schon in alle besonderen Wissenschaften hinein verfolgt hat. Während Schopenhauer über den ganzen reichen Inhalt der Geschichte nichts zu sagen weiß, als daß er eine Manifestation des Willens ist, weiß Ed. v. Hartmann von jeder einzelnen historischen Erscheinung den ideellen Kern zu finden und sie der gesamten geschichtlichen Entwicklung der Menschheit einzugliedern. Schopenhauer kann das Einzelwesen, die Einzelerscheinung nicht interessieren, denn er weiß von ihr nur das eine Wesentliche zu sagen, daß sie eine Ausgestaltung des Willens ist. Hartmann greift jedes Sonderdasein auf und zeigt, wie überall die Idee wahrzunehmen ist. Der Grundcharakter von Schopenhauers Weltanschauung ist Einförmigkeit, der v. Hartmanns Einheitlichkeit. Schopenhauer legt einen inhaltsleeren, einförmigen Drang der Welt zugrunde, Hartmann den reichen Inhalt der Idee. Schopenhauer legt die abstrakte Einheit zugrunde, bei Hartmann finden wir die konkrete Idee als Prinzip, bei der die Einheit – besser Einheitlichkeit – nur eine Eigenschaft ist. Schopenhauer hätte nie wie Hartmann eine Geschichtsphilosophie, nie eine Religionswissenschaft schaffen können. Wenn Hartmann sagt: «Die Vernunft ist das logische Formalprinzip der mit dem Willen untrennbar geeinten Idee und regelt und bestimmt als solches den Inhalt des Weltprozesses ohne Rest» (Philosophische Fragen der Gegenwart»; Leipzig 1885, S.27), so macht ihm diese Voraussetzung möglich, in jeder Erscheinung, die uns in Natur und Geschichte gegenübertritt, den logischen Kern, der zwar für die Sinne nicht, wohl aber für das Denken erfaßbar ist, aufzusuchen und sie so zu erklären. Wer diese Voraussetzung nicht macht, wird nie rechtfertigen können, warum er überhaupt über die Welt durch Nachdenken vermittelst Ideen etwas ausmachen will.
Mit seinem objektiven Idealismus steht Ed. v. Hartmann ganz auf dem Boden Goethescher Weltanschauung. Wenn Goethe sagt: «Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S.379), und wenn er fordert, der Mensch müsse in sich ein solches Erkenntnisvermögen ausbilden, daß ihm die Idee so anschaulich wird, wie den Sinnen die äußere Wahrnehmung, so steht er auf jenem Boden, wo die Idee nicht bloß Bewußtseinsphänomen, sondern objektives Weltprinzip ist; das Denken ist das Aufbutzen dessen im Bewußtsein, was objektiv die Welt konstituiert. Das Wesentliche an der Idee ist also nicht das, was sie für uns, für unser Bewußtsein, ist, sondern was sie an sich selbst ist. Denn durch die ihr eigene Wesenheit liegt sie der Welt als Prinzip zugrunde. Deshalb ist das Denken ein Gewahrwerden dessen, was an und für sich ist. Obwohl also die Idee gar nicht zur Erscheinung kommen würde, wenn es kein Bewußtsein gäbe, so muß sie doch so erfaßt werden, daß nicht die Bewußtheit ihr Charakteristikon ausmacht, sondern das, was sie an sich ist, was in ihr selbst liegt, wozu das Bewußtwerden nichts tut. Deshalb müssen wir nach Ed. v. Hartmann die Idee, abgesehen von dem Bewußtwerden, als wirkendes Unbewußtes der Welt zugrunde legen. Das ist das Wesentliche bei Hartmann, daß wir die Idee in allem Bewußtlosen zu suchen haben.
Mit der Unterscheidung von Bewußtein und Unbewußtem ist aber nicht viel getan. Denn das ist ja doch nur ein Unterschied für mein Bewußtsein. Man muß aber der Idee in ihrer Objektivität, in ihrer vollen Inhaltlichkeit zu Leibe gehen, man muß nicht nur darauf sehen, daß die Idee unbewußt wirksam ist, sondern was dieses Wirksame ist. Wäre Hartmann dabei stehen geblieben, daß die Idee unbewußt ist, und hätte er aus diesem Unbewußten – also aus einem einseitigen Merkmal der Idee – die Welt erklärt, er hätte zu den vielen Systemen, die die Welt aus irgendeinem abstrakten Formelprinzip ableiten, ein neues einförmiges System geschaffen. Und man kann sein erstes Hauptwerk nicht ganz von dieser Einförmigkeit freisprechen. Aber Ed. v. Hartmanns Geist wirkt zu intensiv, zu umfassend und tief dringend, als daß er nicht erkannt hätte: die Idee darf nicht bloß als Unbewußtes gefaßt werden; man muß sich vielmehr eben in das vertiefen, was man als unbewußt anzusprechen hat, muß über diese Eigenschaft hinaus auf dessen konkreten Inhalt gehen und daraus die Welt der Einzelerscheinungen ableiten. So hat sich Hartmann vom abstrakten Monisten, der er in seiner «Philosophie des Unbewußten» noch ist, zum konkreten Monisten herausgebildet. Und die konkrete Idee ist es, was Goethe unter den drei Formen: Urphänomen, Typus und «Idee im engeren Sinne» anspricht.
Das Gewahrwerden eines Objektiven in unserer Ideenwelt und die aus diesem Gewahrwerden folgende Hingabe an dasselbe ist es, was wir von Goethes Weltanschauung in Ed.v. Hartmanns Philosophie wiederfinden. Hartmann ist durch seine Philosophie des Unbewußten zu diesem Aufgehen in der objektiven Idee geführt worden. Da er erkannte, daß in der Bewußtheit nicht das Wesen der Idee liegt, hatte er die letztere auch als an und für sich Bestehendes, als Objektives anerkennen müssen. Daß er daneben noch den Willen in die konstitutiven Weltprinzipien aufnimmt, unterscheidet ihn freilich wieder von Goethe. Jedoch wo Hartmann wirklich fruchtbringend ist, da kommt das Willensmotiv gar nicht in Betracht. Daß er es überhaupt annimmt, kommt daher, weil er die Idee als Ruhendes ansieht, das, um zur Wirkung zu kommen, vom Willen den Anstoß braucht. Nach Hartmann kann der Wille allein nie zur Schöpfung der Welt kommen, denn er ist der leere blinde Drang zum Dasein. Soll er etwas hervorbringen, so muß die Idee hinzutreten, denn nur diese gibt ihm den Inhalt seines Wirkens. Allein was sollen wir mit jenem Willen anfangen? Er entschlüpft uns, indem wir ihn erfassen wollen; denn wir können ja doch das inhaltslose, leere Drängen nicht erfassen. Und so kommt es, daß doch alles das, was wir wirklich von dem Weltprinzip erfassen, Idee ist, denn das Erfaßbare muß eben Inhalt haben. Wir können nur das Inhaltsvolle begreifen, nicht das Inhaltsleere. Sollen wir also den Begriff willen erfassen, so muß er ja doch am Inhalt der Idee auftreten; er kann nur an und mit der Idee, als die Form ihres Auftretens, erscheinen, niemals selbständig. Was existiert, muß Inhalt haben, es kann nur ein erfülltes, kein leeres Sein geben. Deshalb stellt Goethe die Idee als tätig vor, als Wirksames, das keines Anstoßes mehr bedarf. Denn das Inhaltsvolle darf und kann nicht von einem Inhaltsleeren erst den Anstoß bekommen, ins Dasein zu treten. Die Idee ist deshalb im Sinne Goethes als Entelechie, d. i. schon als tätiges Dasein zu fassen; und man muß von seiner Form als einem Tätigen zuerst abstrahieren, wenn man es dann wieder unter dem Namen wille hinzubringen will. Das Willensmotiv ist auch für die positive Wissenschaft ganz wertlos. Auch Hartmann braucht es nicht, wo er an die konkrete Erscheinung herantritt.
Haben wir in der Naturansicht Hartmanns ein Anklingen an Goethes Weltansicht erkannt, so finden wir es in der Ethik jenes Philosophen noch bedeutsamer. Eduard v. Hartmann findet, daß alles Streben nach Glück, alles Jagen des Egoismus ethisch wertlos ist, weil wir ja doch auf diesem Wege nie zur Befriedigung kommen können. Das Handeln aus Egoismus und zur Befriedigung desselben hält Hartmann für ein illusorisches. Wir sollen unsere Aufgabe, die uns in der Welt gestellt ist, erfassen und rein um dieser selbst willen, mit Entäußerung unseres Selbst, wirken. Wir sollen in der Hingabe an das Objekt, ohne Anspruch, für unser Subjekt etwas herauszuschlagen, unser Ziel finden. Dieses letztere macht aber den Grundzug der Ethik Goethes aus. Hartmann hätte das Wort nicht unterdrücken sollen, das den Charakter seiner Sittenlehre ausdrückt: die Liebe.96 Wo wir keinen persönlichen Anspruch machen, wo wir nur handeln, weil uns das Objektive treibt, wo wir in der Tat selbst die Motive der Tätigkeit finden, da handeln wir sittlich. Da aber handeln wir aus Liebe. Aller Eigenwille, alles Persönliche muß da schwinden. Es ist für Hartmanns mächtig und gesund wirkenden Geist charakteristisch, daß er in der Theorie, trotzdem er die Idee zuerst in der einseitigen Weise des Unbewußten gefaßt hat, doch zum konkreten Idealismus vorgedrungen ist und daß, trotzdem er in der Ethik vom Pessimismus ausgegangen, ihn dieser verfehlte Standpunkt zur Sittenlehre der Liebe geführt hat. Der Pessimismus Hartmanns hat ja nicht den Sinn, den jene Menschen in ihn legen, die gerne über die Fruchtlosigkeit unseres Wirkens klagen, weil sie darin eine Berechtigung abzuleiten hoffen dafür, daß sie die Hände in den Schoß legen und nichts vollbringen. Hartmann bleibt nicht bei der Klage stehen; er erhebt sich über jede solche Anwandlung zu einer reinen Ethik. Er zeigt die Wertlosigkeit des Jagens nach dem Glück, indem er dessen Fruchtlosigkeit enthüllt. Er weist uns damit auf unsere Tätigkeit. Daß er überhaupt Pessimist ist, das ist sein Irrtum. Das ist vielleich noch ein Anhängsel aus früheren Stadien seines Denkens. Da, wo er jetzt steht, müßte er einsehen, daß der empirische Nachweis, daß in der Welt des Wirklichen das Nicht-Befriedigende überwiegt, den Pessimismus nicht begründen kann. Denn der höhere Mensch kann gar nichts anderes wünschen, als daß er sich sein Glück selbst erringen muß. Er will es nicht als Geschenk von außen. Er will das Glück bloß in seiner Tat haben. Hartmanns Pessimismus löst sich vor (Hartmanns eigenem) höherem Denken auf. Weil uns die Welt unbefriedigt läßt, schaffen wir uns selbst das schönste Glück in unserem wirken.
So ist uns Hartmanns Philosophie wieder ein Beweis dafür, wie man, von verschiedenen Ausgangspunkten ausgehend, zu dem gleichen Ziele kommt. Hartmann geht von anderen Voraussetzungen aus als Goethe; aber in der Ausführung tritt uns auf Schritt und Tritt Goethescher Ideengang gegenüber. Wir haben das hier ausgeführt, weil uns darum zu tun war, die tiefe, innere Gediegenheit der Goetheschen Weltansicht zu zeigen. Sie liegt so tief im Weltwesen begründet, daß wir ihren Grundzügen überall da begegnen müssen, wo energisches Denken zu den Quellen des Wissens vordringt. In diesem Goethe war so sehr alles ursprünglich, so gar nichts nebensächliche Modeansicht der Zeit, daß auch der Widerstrebende in seinem Sinne denken muß. In einzelnen Individuen spricht sich eben das ewige Weiträtsel aus; in der Neuzeit in Goethe am bedeutungsvollsten, deshalb kann man geradezu sagen, die Höhe der Anschauung eines Menschen kann heute an dem Verhältnisse gemessen werden, in welchem sie zur Goetheschen steht.
94 [Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie; Jena u.Leipzig 1799, S. 6.]
95 Sehr lesenswert ist Dr. Adolf Harpfs Aufsatz Goethe und Schopenhauer (Philos. Monatshefte 1885). Harpf, der auch schon eine treffliche Abhandlung über «Goethes Erkenntnisprinzip» (Philos. Monatshefte 1884) geschrieben hat, zeigt die Übereinstimmung des <immanenten Dogmatismus Schopenhauers mit dem gegenständlichen Wissen Goethes. Den prinzipiellen Unterschied zwischen Goethe und Schopenhauer, wie wir ihn oben charakterisierten, findet Harpf, der selbst Schopenhauerianer ist, nicht heraus. Dennoch verdienen die Ausführungen Harpfs alle Aufmerksamkeit.
96 Damit soll nicht behauptet werden, daß in Hartmanns Ethik der Begriff der Liebe nicht seine Berücksichtigung finde. H. hat denselben in phänomenaler und metaphysischer Beziehung behandelt (siehe Das sittliche Bewußtsein 2. Aufl., S. 223-247, 629-631, 641, 638-641). Nur läßt er die Liebe nicht als das letzte Wort der Ethik gelten. Die opferwillige, liebevolle Hingabe an den Weltprozeß scheint ihm kein Letztes zu sein, sondern nur das Mitte! zur Erlösung von der Unruhe des Daseins und zur Wiedergewinnung der verlorenen seligen Ruhe.
XII. Goethe und die Mathematik
Zu den Haupthindernissen, die einer gerechten Würdigung von Goethes Bedeutung für die Wissenschaft entgegenstehen, gehört das Vorurteil, das über sein Verhältnis zur Mathematik besteht. Dieses Vorurteil ist ein doppeltes. Einmal glaubt man, Goethe sei ein Feind dieser Wissenschaft gewesen und habe ihre hohe Bedeutung für das menschliche Erkennen in arger Weise verkannt; und zweitens behauptet man, der Dichter habe jede mathematische Behandlungsweise aus den physikalischen Teilen der Naturlehre, die er gepflegt, nur deshalb ausgeschieden, weil sie ihm, der sich keiner Kultur in der Mathematik erfreute, unbequem war.
Was den ersten Punkt betrifft, so ist dagegen zu sagen, daß Goethe wiederholt in so entschiedener Weise seiner Bewunderung der mathematischen Wissenschaft Ausdruck gegeben hat, daß von einer Geringschätzung derselben durchaus nicht die Rede sein kann. Ja, er will die gesamte Naturwissenschaft von jener Strenge durchdrungen wissen, die der Mathematik eigen ist. «Die Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären..» (Natw. Schr.., 2. Bd.., S. 19) «Ich hörte mich anklagen, als sei ich ein Widersacher, ein Feind der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich… .» [Ebenda S. 45]
Was den zweiten Vorwurf betrifft, so ist er ein solcher, daß ihn kaum jemand im Ernste erheben kann, der einen Einblick in Goethes Wesen getan hat. Wie oft hat sich denn nicht Goethe gegen das Beginnen problematischer Naturen ausgesprochen, die Zielen zustreben, unbekümmert darum, ob sie sich damit innerhalb der Grenzen ihrer Fähigkeiten bewegen! Und er selbst sollte dieses Gebot überschritten, er sollte naturwissenschaftliche Ansichten aufgestellt haben, mit Hinwegsetzung über seine Unzulänglichkeit in mathematischen Dingen? Goethe wußte, daß der Wege zum Wahren unendlich viele sind, und daß ein jeder jenen wandeln kann, der seinen Fähigkeiten gemäß ist, und er kommt ans Ziel. «Jeder Mensch muß nach seiner Weise denken: denn er findet auf seinem Wege immer ein Wahres, oder eine Art von Wahrem, die ihm durchs Leben hilft; nur er darf sich nicht gehen lassen; er muß sich kontrollieren.. ..» («Sprüche in Prosa» [Natw., Schr.., 4. Bd.., 2. Abt.., S. 460]). «Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt; aber selbst schöne Vorzüge werden verdunkelt, aufgehoben und vernichtet, wenn jenes unerläßlich geforderte Ebenmaß abgeht..» [Ebenda S. 443]
Es wäre lächerlich, wenn man behaupten wollte, Goethe habe, um überhaupt etwas zu leisten, sich auf ein Feld begeben, das außerhalb seines Gesichtskreises lag. Es kommt alles darauf an, festzustellen, was Mathematik zu leisten hat, und wo ihre Anwendung auf Naturwissenschaft beginnt. Darüber hat Goethe nun wirklich die gewissenhaftesten Betrachtungen angestellt. Der Dichter entwickelt da, wo es sich darum handelt, die Grenzen seiner produktiven Kraft zu bestimmen, einen Scharfsinn, der nur noch von seinem genialischen Tiefsinn übertroffen wird. Darauf möchten wir vor allem jene aufmerksam machen, die über Goethes wissenschaftliches Denken nichts anderes zu sagen wissen, als daß ihm die logisch-reflektierende Denkweise abging. Die Art, wie Goethe die Grenze zwischen der naturwissenschaftlichen Methode, die er anwendete, und jener der Mathematiker bestimmte, verrät eine tiefe Einsicht in die Natur der mathematischen Wissenschaft. Er wußte genau, welches der Grund der Gewißheit mathematischer Lehrsätze ist; er hatte sich eine klare Vorstellung darüber gebildet, in welchem Verhältnisse die mathematische zu der übrigen Naturgesetzlichkeit steht. Soll eine Wissenschaft überhaupt einen Erkenntniswert haben, so muß sie uns ein bestimmtes Wirklichkeitsgebiet erschließen. Es muß sich in ihr irgendeine Seite des Weltinhalts ausprägen. Die Art, wie sie das tut, bildet den Geist der betreffenden Wissenschaft. Diesen Geist der Mathematik mußte Goethe kennen, um zu wissen, was in der Naturwissenschaft ohne Hilfe des Kalküls zu erreichen ist, und was nicht. Hier liegt der Punkt, auf den es ankommt. Goethe selbst hat mit aller Bestimmtheit darauf hingewiesen. Die Art, wie er es tut, verrät eine tiefe Einsicht in die Natur des Mathematischen..
Wir wollen auf diese Natur näher eingehen. Gegenstand der Mathematik ist die Größe, das, was ein Mehr oder Weniger zuläßt. Die Größe ist aber nichts an sich selbst Bestehendes. Es gibt im weiten Umkreise menschlicher Erfahrung kein Ding, das nur Größe ist. Neben anderen Merkmalen hat jedes Ding auch solche, die durch Zahlen zu bestimmen sind. Da die Mathematik sich mit Größen beschäftigt, hat sie zu ihrem Gegenstande keine in sich vollendeten Erfahrungsobjekte, sondern nur alles das von ihnen, was sich messen oder zählen läßt. Sie sondert alles, was sich der letzten Operation unterwerfen läßt, von den Dingen ab. So erhält sie eine ganze Welt von Abstraktionen, innerhalb welcher sie dann arbeitet. Sie hat es nicht mit Dingen zu tun, sondern nur mit Dingen, insofern sie Größen sind. Sie muß zugeben, daß sie da nur eine Seite des Wirklichen behandelt, und daß die letztere noch viele andere Seiten hat, über die sie keine Macht hat. Die mathematischen Urteile sind keine Urteile, die wirkliche Objekte voll umfassen, sondern sie haben nur innerhalb der ideellen Welt von Abstraktionen Gültigkeit, die wir selbst als eine Seite der Wirklichkeit von der letzteren begrifflich abgesondert haben. Die Mathematik abstrahiert die Größe und die Zahl von den Dingen, stellt die ganz ideellen Bezüge zwischen Größen und Zahlen her und schwebt so in einer reinen Gedankenwelt. Die Dinge der Wirklichkeit, insofern sie Größe und Zahl sind, erlauben dann die Anwendung der mathematischen Wahrheiten. Es ist also ein entschiedener Irrtum, zu glauben, daß man mit mathematischen Urteilen die Gesamtnatur erfassen könne. Die Natur ist eben nicht bloß Quantum; sie ist auch Quale, und die Mathematik hat es nur mit dem ersteren zu tun. Es müssen sich die mathematische Behandlung und die rein auf das Qualitative ausgehende in die Hände arbeiten; sie werden sich am Dinge, von dem sie jede eine Seite erfassen, begegnen. Goethe bezeichnet dieses Verhältnis mit den Worten: «Die Mathematik ist wie die Dialektik ein Organ des inneren höheren Sinnes; in der Ausübung ist sie eine Kunst wie die Beredsamkeit. Für beide hat nichts Wert als die Form; der Gehalt ist ihnen gleichgültig. Ob die Mathematik Pfennige oder Guineen berechne, die Rhetorik Wahres oder Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich..» («Sprüche in Prosa»; Natw. Schr.., 4. Bd., 2. Abt.., S. 405). Und «Entwurf einer Farbenlehre» 724 [ebenda 3. Bd.., S. 277]: «Wer bekennt nicht, daß die Mathematik, als eines der herrlichsten menschlichen Organe, der Physik von einer Seite sehr vieles genutzt?» In dieser Erkenntnis sah Goethe die Möglichkeit, daß ein Geist, der sich in Mathematik keiner Kultur erfreut, sich mit physikalischen Problemen befassen kann. Er muß sich auf das Qualitative beschränken.
XIII. Das geologische Grundprinzip Goethes
Goethe wird sehr oft dort gesucht, wo er durchaus nicht zu finden ist. Unter vielen anderen Dingen ist das bei der Beurteilung der geologischen Forschungen des Dichters geschehen. Viel mehr aber als irgendwo wäre es hier notwendig, daß alles, was Goethe über Einzelheiten geschrieben, zurückträte hinter den großartigen Intentionen, von denen er ausging. Er muß hier vor allem nach seiner eigenen Maxime: «In den Werken des Menschen, wie in denen der Natur, sind eigentlich die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit wert» [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr.., 4. Bd.., 2. Abt., S. 378] und «Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste» [Lehrjahre VII, 9] beurteilt werden. Nicht was er erreichte, sondern wie er es anstrebte, ist für uns das Vorbildliche. Es handelt sich nicht um eine Lehrmeinung, sondern um eine mitzuteilende Methode. Die erste hängt von den wissenschaftlichen Mitteln der Zeit ab und kann überholt werden; die letzte ist hervorgegangen aus der großen Geistesanlage Goethes und hält stand, auch wenn die wissenschaftlichen Werkzeuge sich vervollkommnen und die Erfahrung sich erweitert.
In die Geologie wurde Goethe durch die Beschäftigung mit den Ilmenauer Bergwerken geführt, zu der er amtlich verpflichtet war. Als Karl August zur Regierung kam, widmete er sich mit großem Ernste diesem Bergwerke, das lange vernachlässigt worden war. Es sollten zunächst die Gründe des Verfalls desselben durch Sachverständige genau untersucht und dann alles mögliche zur Wiederbelebung des Betriebes getan werden. Goethe stand dabei dem Herzog Karl August zur Seite. Er betrieb die Angelegenheit auf das energischste. Das führte ihn denn oft in die Bergwerke von Ilmenau. Er wollte sich mit dem Stand der Sache selbst genau bekannt machen. Im Mai 1776 zum erstenmal und dann noch oft war er in Ilmenau. Mitten in dieser praktischen Sorge ging ihm nun das wissenschaftliche Bedürfnis auf, den Gesetzen jener Erscheinungen näher zu kommen, die er da zu beobachten in der Lage war. Die umfassende Naturanschauung, die sich in seinem Geiste zu immer größerer Klarheit heraufarbeitete (siehe den Aufsatz «Die Natur»; Natw. Schr., 2. Bd.., S. 5 ff..), zwang ihn, das, was sich da vor seinen Augen ausbreitete, in seinem Sinne zu erklären.
Es macht sich hier gleich eine tief in Goethes Natur liegende Eigentümlichkeit geltend. Er hat ein wesentlich anderes Bedürfnis als viele Forscher. Während bei letzteren das Hauptsächliche in der Erkenntnis des Einzelnen liegt, während sie gewöhnlich an einem ideellen Bau, einem System nur insoweit Interesse nehmen, als es ihnen beim Beobachten des Einzelnen behilflich ist, ist für Goethe die Einzelheit nur Durchgangspunkt zu einer umfassenden Gesamtauffassung des Seienden. Wir lesen in dem Aufsatz «Die Natur»: «Sie lebt in lauter Kindern und die Mutter, wo ist sie?» Dasselbe Streben, nicht nur das unmittelbar Existierende, sondern dessen tiefere Grundlage zu erkennen, finden wir ja auch in Faust («Schau’ alle Wirkungskraft und Samen»). So wird ihm denn auch das was er auf und unter der Erdoberfläche beobachtet, ein Mittel, in das Rätsel der Weltbildung einzudringen. Was er am 23. Dezember 1786 an die Herzogin Luise schreibt: «Die Naturwerke sind immer wie ein erstausgesprochenes Wort Gottes» [WA 8, 98], beseelt all sein Forschen; und das sinnlich Erfahrbare wird ihm zur Schrift, aus der er jenes Wort der Schöpfung zu lesen hat. In diesem Sinne schreibt er am 22. August 1784 an Frau v. Stein: «Die große und schöne Schrift sei immer lesbar und nur dann nicht zu entziffern, wenn die Menschen ihre kleinlichen Vorstellungen und ihre Beschränktheit auf unendliche Wesen übertragen wollen..» [WA 6, 343] Dieselbe Tendenz finden wir im «Wilhelm Meister»: «Wenn ich nun aber eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern hätte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?»
So sehen wir denn den Dichter vom Ende der siebziger Jahre an unablässig bemüht, diese Schrift zu entziffern. Sein Streben ging dahin, sich zu einer solchen Anschauung emporzuarbeiten, daß ihm das, was er getrennt sah, im inneren, notwendigen Zusammenhang erscheine. Seine Methode war «die entwickelnde, entfaltende, keineswegs die zusammenstellende, ordnende». Ihm genügte es nicht, da den Granit, dort den Porphyr usw. zu sehen, und sie einfach nach äußerlichen Merkmalen aneinanderzureihen, er strebte nach einem Gesetze, das aller Gesteinsbildung zugrunde lag und das er sich nur im Geiste vorzuhalten brauchte, um zu verstehen, wie da Granit, dort Porphyr entstehen mußte. Er ging von dem Unterscheidenden auf das Gemeinsame zurück. Am 12. Juni 1784 schrieb er an Frau v. Stein: «Der einfache Faden, den ich mir gesponnen habe, führt mich durch alle diese unterirdischen Labyrinthe gar schön durch und gibt mir Übersicht selbst in der Verwirrung.» [WA 6, 297 u. 298] Er sucht das gemeinsame Prinzip, das je nach den verschiedenen Umständen, unter denen es zur Geltung kommt, einmal diese, das andere Mal jene Gesteinsart hervorbringt. Nichts in der Erfahrung ist ihm ein Festes, bei dem man stehenbleiben könne; nur das Prinzip, das allem zugrunde liegt, ist ein solches. Er ist daher auch immer bestrebt, die Übergänge von Gestein zu Gestein zu finden. Aus ihnen ist ja die Absicht, die Entstehungstendenz viel besser zu erkennen, als aus dem in bestimmter Weise ausgebildeten Produkt, wo ja die Natur nur in einseitiger Weise ihr Wesen offenbart, ja gar oft bei «ihren Spezifikationen sich in eine Sackgasse verirrt».
Es ist ein Irrtum, wenn man diese Methode Goethes damit widerlegt zu haben glaubt, daß man darauf hinweist, die heutige Geologie kenne ein solches Übergehen eines Gesteines in ein anderes nicht. Goethe hat ja nie behauptet, daß Granit tatsächlich in etwas anderes übergehe. Was einmal Granit ist, ist fertiges, abgeschlossenes Produkt und hat nicht mehr die innere Triebkraft, aus sich selbst heraus ein anderes zu werden. Was aber Goethe suchte, das fehlt der heutigen Geologie eben, das ist die Idee, das Prinzip, das den Granit konstituiert, bevor er Granit geworden ist, und diese Idee ist dieselbe, die auch allen anderen Bildungen zugrunde liegt. Wenn also Goethe von einem Übergehen eines Gesteins in ein anderes spricht, so meint er damit nicht ein tatsächliches Umwandeln, sondern eine Entwicklung der objektiven Idee, die sich zu den einzelnen Gebilden ausgestaltet, jetzt diese Form festhält und Granit wird, dann wieder eine andere Möglichkeit aus sich herausbildet und Schiefer wird usw. Nicht eine wüste Metamorphosenlehre, sondern konkreter Idealismus ist Goethes Ansicht auch auf diesem Gebiete. Zur vollen Geltung mit allem, was in ihr liegt, kann aber jenes gesteinsbildende Prinzip nur im ganzen Erdkörper kommen. Daher wird die Bildungsgeschichte des Erdkörpers für Goethe die Hauptsache, und jedes Einzelne hat sich derselben einzureihen. Es kommt ihm darauf an, welche Stelle ein Gestein im Erdganzen einnimmt; das Einzelne interessiert ihn nur mehr als Teil des Ganzen. Es erscheint ihm schließlich dasjenige mineralogisch-geologische System als das richtige, das die Vorgänge in der Erde nachschafft, das zeigt, warum an dieser Stelle gerade das, an jener das andere entstehen mußte. Das Vorkommen wird ihm ausschlaggebend. Er tadelt es daher an Werners Lehre, die er sonst so hoch verehrt, daß sie die Mineralien nicht nach dem Vorkommen, das uns über ihr Entstehen Aufschluß gibt, als vielmehr nach zufälligen äußeren Kennzeichen anordnet. Das vollkommene System macht nicht der Forscher, sondern das hat die Natur selbst gemacht..
Es ist festzuhalten, daß Goethe in der ganzen Natur ein großes Reich, eine Harmonie sah. Er behauptet, daß alle natürlichen Dinge von einer Tendenz beseelt sind. Was daher gleicher Art ist, mußte für ihn von der gleichen Gesetzmäßigkeit bedingt erscheinen. Er konnte nicht zugeben, daß in den geologischen Erscheinungen, die ja nichts weiter sind als anorganische Wesenheiten, andere Triebfedern geltend sind, als in der übrigen anorganischen Natur. Die Ausdehnung der anorganischen Wirkensgesetze auf die Geologie ist Goethes erste geologische Tat. Dieses Prinzip war es, das ihn bei Erklärung der böhmischen Gebirge, das ihn bei Erklärung der am Serapis-Tempel zu Pozzuoli beobachteten Erscheinungen leitete. Er suchte dadurch Prinzip in die tote Erdkruste zu bringen, daß er sie als durch jene Gesetze entstanden dachte, die wir immer vor unseren Augen bei physikalischen Erscheinungen wirken sehen. Die geologischen Theorien eines [James] Hutton, Elie de Beaumont waren ihm innerlichst zuwider. Was sollte er mit Erklärungen anfangen, die alle Naturordnung durchbrechen? Es ist banal, wenn man so oft die Phrase hört, Goethes ruhiger Natur habe die Theorie des Hebens und Senkens usw. widersprochen. Nein, sie widersprach seinem Sinne für eine einheitliche Naturanschauung. Er konnte sie dem Naturgemäßen nicht einfügen. Und diesem Sinne verdankt er es, daß er frühzeitig (schon 1782) zu einer Ansicht gelangte, zu der sich die Fachgeologie erst nach Jahrzehnten aufschwang: zur Ansicht, daß die versteinerten Tier- und Pflanzenreste in einem notwendigen Zusammenhange mit dem Gestein stehen, in dem sie gefunden werden. Voltaire hatte von ihnen noch als von Naturspielen gesprochen, weil er keine Ahnung von der Konsequenz in der Naturgesetzlichkeit hatte. Goethe konnte ein Ding an irgendeinem Orte begreiflich nur finden, wenn sich ein einfacher natürlicher Zusammenhang mit der Umgebung des Dinges fand. Es ist auch dasselbe Prinzip, das Goethe auf die fruchtbare Idee von der Eiszeit führte (s. «Geologische Probleme und Versuch ihrer Auflösung», Natw. Schr.., 2. Bd., S. 308). Er suchte nach einer einfachen, naturgemäßen Erklärung des Vorkommens der auf großen Flächen weit entfernten Granitmassen. Die Erklärung, daß sie bei dem tumultuarischen Aufstand der weit rückwärts im Lande gelegenen Gebirge seien dahin geschleudert worden, mußte er ja abweisen, weil sie eine Naturtatsache nicht aus den bestehenden, wirkenden Naturgesetzen, sondern durch eine Ausnahme von denselben, ja ein Verlassen derselben, herleitete. Er nahm an, daß das nördliche Deutschland einst bei großer Kälte einen tausend Fuß hohen allgemeinen Wasserstand hatte, daß ein großer Teil von einer Eisfläche bedeckt war, und daß jene Granitblöcke liegengeblieben sind, nachdem das Eis abgeschmolzen. Damit war eine auf bekannte, für uns erfahrbare Gesetze sich stützende, Ansicht gegeben. In dieser Geltendmachung einer allgemeinen Naturgesetzlichkeit ist Goethes Bedeutung für die Geologie zu suchen. Wie er den Kammerberg erklärt, ob er mit seiner Meinung über den Karlsbader Sprudel das Richtige getroffen, ist belanglos. «Es ist hier die Rede nicht von einer durchzusetzenden Meinung, sondern von einer mitzuteilenden Methode, deren sich jeder, als eines Werkzeugs, nach seiner Art, bedienen möge..» (Goethe an Hegel 7. Okt. 1820 [WA 33, 294]..)
XIV. Die metereologischen Vorstellungen Goethes
Gerade so wie in der Geologie irrt man in der Meteorologie, wenn man auf das tatsächlich von Goethe Errungene eingeht und darinnen die Hauptsache sucht (siehe [«Versuch einer Witterungslehre», Abschnitt «Selbstprüfung»] Natw. Schr.., 2. Bd.., S. 397f..). Seine meteorologischen Versuche sind ja nirgends vollendet. Überall ist nur auf die Absicht zu sehen. Sein Denken war immer darauf gerichtet, den prägnanten97 Punkt zu finden, von dem aus sich eine Reihe von Erscheinungen von innen heraus regelt. Alle Erklärung, die von da und dort Äußerungen, Zufälliges herbeizieht, um eine regelmäßige Reihe von Phänomenen zu verbinden, war seinem Sinne nicht gemäß. Er suchte, wenn ihm ein Phänomen aufstieß, alles mit ihm Verwandte, alle Tatsachen, die in denselben Kreis gehörten; so daß ihm ein Ganzes, eine Totalität vorlag. Innerhalb dieses Kreises mußte sich dann ein Prinzip finden, das alle Regelmäßigkeit, ja den ganzen Kreis der verwandten Erscheinungen als eine Notwendigkeit erscheinen ließ. Nicht naturgemäß erschien es ihm, die Erscheinungen dieses Kreises durch Herbeiziehung von außerhalb desselben liegenden Verhältnissen zu erklären. Hierinnen haben wir den Schlüssel zu dem Prinzipe, das er in der Meteorologie aufstellte, zu suchen. «Die völlige Unzulänglichkeit, so konstante Phänomene den Planeten, dem Monde, einer unbekannten Ebbe und Flut des Luftkreises zuzuschreiben, ließ sich Tag für Tag mehr empfinden..»98 «Alle dergleichen Einwirkungen aber lehnen wir ab; die Witterungserscheinungen auf der Erde halten wir weder für kosmisch noch planetarisch, sondern wir müssen sie nach unseren Prämissen für rein tellurisch erklären..»99 Er wollte die Erscheinungen der Atmosphäre auf ihre in dem Wesen der Erde selbst liegenden Ursachen zurückführen. Es handelte sich zunächst darum, den Punkt zu finden, wo sich die alles übrige bedingende Grundgesetzlichkeit unmittelbar ausspricht. Ein solches Phänomen lieferte der Barometerstand. Den sah denn auch Goethe als das Urphänomen an und suchte alles übrige an ihn anzuschließen. Das Steigen und Sinken des Barometers suchte er zu verfolgen und darinnen glaubte er auch eine Regelmäßigkeit wahrzunehmen. Er studierte die Schrönsche Tabelle und fand, «daß gedachtes Steigen und Fallen an verschiedenen, näher und ferner, nicht weniger in unterschiedenen Längen, Breiten und Höhen gelegenen Beobachtungsorten einen fast parallelen Gang habe».100 Da ihm dieses Steigen und Fallen unmittelbar als Schwereerscheinung erschien, so glaubte er in den Veränderungen des Barometers einen unmittelbaren Ausdruck für die Qualität der Schwerkraft selbst zu erkennen. Man muß in diese Goethesche Erklärung nur nichts weiter hineinlegen. Goethe lehnte ja alles Aufstellen von Hypothesen ab. Er wollte nicht mehr als einen Ausdruck für eine zu beobachtende Erscheinung liefern, nicht eine eigentliche, faktische Ursache, im Sinne der heutigen Naturwissenschaft. An diese Erscheinung sollten die übrigen atmosphärischen Erscheinungen naturgemäß sich anreihen. Am meisten interessierte den Dichter die Wolkenbildung. Für diese hatte er in der Lehre Howards ein Mittel gefunden, die fortwährend schwankenden Gebilde in gewissen Grundzuständen festzuhalten und so, «was in schwankender Erscheinung lebt», mit «dauernden Gedanken zu befestigen». Er suchte nur noch ein Mittel, das der Umbildung der Wolkenformen zu Hilfe kam, sowie er in jener «geistigen Leiter» ein Mittel fand, die Umbildung der typischen Blattgestalt an der Pflanze zu erklären. Sowie ihm dort jene geistige Leiter, so ist ihm in der Meteorologie ein verschiedenes «Geeigenschaftetsein» der Atmosphäre in verschiedenen Höhen der Faden, an dem er die einzelnen Gebilde befestigt. Da wie dort muß man festhalten, daß es Goethe nie einfallen konnte, einen solchen Faden für ein wirkliches Gebilde anzusehen. Er war sich genau bewußt, daß nur das einzelne Gebilde als für die Sinne im Raume wirklich anzusehen ist, und daß alle höheren Erklärungsprinzipien nur für die Augen des Geistes da sind. Heutige Widerlegungen Goethes sind deshalb vielfach ein Kampf mit Windmühlen. Man legt seinen Prinzipien eine Wirklichkeitsform bei, die er ihnen selbst absprach, und glaubt ihn damit überwunden zu haben. Jene Form der Realität aber, die er zugrunde legte, die objektive, konkrete Idee, kennt die heutige Naturlehre nicht. Goethe muß ihr daher von dieser Seite aus fremd bleiben.
97 Siehe den Aufsatz. Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort», Natw. Schr., 2. Bd., S. 31ff.
98 [Ebenda S. 398]
99 [Ebenda S. 378]
100 [Ebenda S. 379]
XV. Goethe und der naturwissenschaftliche Illusionismus
Diese Darstellung ist nicht aus dem Grunde geschrieben worden, weil in eine Goethe-Ausgabe (in Kürschners Deutscher National-Literatur) eben auch die Farbenlehre, mit einer begleitenden Einleitung versehen, aufgenommen werden muß. Sie entstammt einem tiefen Geistesbedürfnisse des Herausgebers dieser Ausgabe. Derselbe ist von dem Studium der Mathematik und Physik ausgegangen und wurde durch die vielen Widersprüche, die das System unserer modernen Naturanschauung durchsetzen, mit innerer Notwendigkeit zur kritischen Untersuchung über die meteorologische Grundlage derselben geführt. Auf das Prinzip des strengen Erfahrungswissens wiesen ihn seine anfänglichen Studien, auf eine streng wissenschaftliche Erkenntnistheorie die Einsicht in jene Widersprüche. Gegen ein Umschlagen in rein Hegelsche Begriffskonstruktionen war er durch seinen positiven Ausgangspunkt geschützt. Er fand endlich mit Hilfe seiner erkenntnistheoretischen Studien den Grund vieler Irrtümer der modernen Naturwissenschaft in der ganz falschen Stellung, welche die letztere der einfachen Sinnesempfindung angewiesen hat. Unsere Wissenschaft verlegt alle sinnlichen Qualitäten (Ton, Farbe, Wärme usw.) in das Subjekt und ist der Meinung, daß «außerhalb» des Subjektes diesen Qualitäten nichts entspreche als Bewegungsvorgänge der Materie. Diese Bewegungsvorgänge, die das einzige im «Reiche der Natur» Existierende sein sollen, können natürlich nicht mehr wahrgenommen werden. Sie sind auf Grund der subjektiven Qualitäten erschlossen.
Nun kann aber diese Erschließung konsequentem Denken gegenüber nicht anders denn als eine Halbheit erscheinen. Bewegung ist zunächst nur ein Begriff, den wir aus der Sinnenwelt entlehnt haben, d. h. der uns nur an Dingen mit jenen sinnlichen Qualitäten entgegentritt. Wir kennen keine Bewegung außer einer solchen an Sinnesobjekten. Überträgt man nun dieses Prädikat auf nichtsinnliche Wesen, wie es die Elemente der diskontinuierlichen Materie (Atome) sein sollen, so muß man sich doch dessen klar bewußt sein, daß durch diese Übertragung einem sinnlich wahrgenommenen Attribut eine wesentlich anders als sinnlich gedachte Daseinsform beigelegt wird. Demselben Widerspruch verfällt man, wenn man zu einem wirklichen Inhalte für den zunächst ganz leeren Atombegriff kommen will. Es müssen ihm eben sinnliche Qualitäten, wenn auch noch so sublimiert, beigelegt werden. Der eine legt dem Atome Undurchdringlichkeit, Kraftwirkung, der andere Ausdehnung u. dgl. bei, kurz ein jeder irgendwelche aus der Sinnenwelt entlehnte Eigenschaften. Wenn man das nicht tut, bleibt man vollständig im Leeren.
Darin liegt die Halbheit. Man macht mitten durch das Sinnlich-Wahrnehmbare einen Strich und erklärt den einen Teil für objektiv, den anderen für subjektiv. Nur das eine ist konsequent: Wenn es Atome gibt, so sind diese einfach Teile der Materie mit den Eigenschaften der Materie und nur wegen ihrer für unsere Sinne unzugänglichen Kleinheit nicht wahrnehmbar.
Damit aber verschwindet die Möglichkeit, in der Bewegung der Atome etwas zu suchen, was als ein Objektives den subjektiven Qualitäten des Tones, der Farbe usw. gegenübergestellt werden dürfte. Und es hört auch die Möglichkeit auf, in dem Zusammenhang zwischen der Bewegung und der Empfindung des «Rot» z.B. mehr zu suchen als zwischen zwei Vorgängen, die ganz der Sinnenwelt angehören.
Für den Herausgeber war es also klar: Ätherbewegung, Atomlagerung usw. gehören auf dasselbe Blatt wie die Sinnesempfindungen selbst. Die letzteren für subjektiv zu erklären, ist nur das Ergebnis einer unklaren Reflexion. Erklärt man die sinnliche Qualität für subjektiv, so muß man es mit der Ätherbewegung geradeso tun. Wir nehmen die letztere nicht aus einem prinzipiellen Grunde nicht wahr, sondern nur deswegen, weil unsere Sinnesorgane nicht fein genug organisiert sind. Das ist aber ein rein zufälliger Umstand. Es könnte sein, daß dann die Menschheit bei zunehmender Verfeinerung der Sinnesorgane dereinst dazu käme, auch Ätherbewegungen unmittelbar wahrzunehmen. Wenn dann ein Mensch jener fernen Zukunft unsere subjektivische Theorie der Sinnesempfindungen akzeptierte, so müßte er diese Ätherbewegungen ebenso für subjektiv erklären, wie wir heute Farbe, Ton usw.
Man sieht, diese physikalische Theorie führt auf einen Widerspruch, der nicht zu beheben ist.
Eine zweite Stütze hat nun diese subjektivische Ansicht an physiologischen Erwägungen.
Die Physiologie weist nach, daß die Empfindung erst als das letzte Resultat eines mechanischen Vorgangs auftritt, der sich zuerst von dem außerhalb unserer Leibessubstanz liegenden Teil der Körperwelt den Endorganen unseres Nervensystems in den Sinnesorganen mitteilt, von hier aus bis zum obersten Zentrum vermittelt wird, um dann erst als Empfindung ausgelöst zu werden. Die Widersprüche dieser physiologischen Theorie findet man in dem Kapitel «Das ‹Urphänomen›» [s. S. 266ff. dieser Schrift] dargelegt. Als subjektiv kann man doch hier nur die Bewegungsform der Hirnsubstanz bezeichnen. Wie weit man auch in der Untersuchung der Vorgänge am Subjekte gehen mag, stets muß man auf diesem Wege im Mechanischen bleiben. Und die Empfindung wird man nirgends im Zentrum entdecken.
Es bleibt also nur die philosophische Erwägung übrig, um über die Subjektivität und Objektivität der Empfindung Aufschluß zu bekommen. Und diese liefert folgendes:
Was kann als «subjektiv» an der Wahrnehmung bezeichnet werden? Ohne eine genaue Analyse des Begriffes «subjektiv» zu haben, kann man überhaupt gar nicht vorwärtsschreiten. Die Subjektivität kann natürlich durch nichts anderes als durch sich selbst bestimmt werden. Alles, was nicht durch das Subjekt bedingt nachgewiesen werden kann, darf nicht als «subjektiv» bezeichnet werden. Nun müssen wir uns fragen: Was können wir als dem menschlichen Subjekte eigen bezeichnen? Das, was es an sich selbst durch äußere oder innere Wahrnehmung erfahren kann. Durch äußere Wahrnehmung erfassen wir die körperliche Konstitution, durch innere Erfahrung unser eigenes Denken, Fühlen und Wollen. Was ist nun in ersterer Hinsicht als subjektiv zu bezeichnen? Die Konstitution des ganzen Organismus, also auch der Sinnesorgane und des Gehirnes, die wahrscheinlich bei jedem Menschen in etwas anderer Modifikation erscheinen werden. Alles aber, was hier auf diesem Wege nachgewiesen werden kann, ist nur eine bestimmte Gestaltung in der Anordnung und Funktion der Substanzen, wodurch die Empfindung vermittelt wird. Subjektiv ist also eigentlich nur der Weg, den die Empfindung durchzumachen hat, bevor sie meine Empfindung genannt werden kann. Unsere Organisation vermittelt die Empfindung und diese Vermittlungswege sind subjektiv; die Empfindung selbst aber ist es nicht.
Nun bliebe also der Weg der inneren Erfahrung. Was erfahre ich in meinem Innern, wenn ich eine Empfindung als die meinige bezeichne? Ich erfahre, daß ich die Beziehung auf meine Individualität in meinem Denken vollziehe, daß ich mein Wissensgebiet auf diese Empfindung erstrecke; aber ich bin mir dessen nicht bewußt, daß ich den Inhalt der Empfindung erzeuge. Nur den Bezug zu mir stelle ich fest, die Qualität der Empfindung ist eine in sich begründete Tatsache.
Wo wir auch anfangen, innen oder außen, wir kommen nicht bis zur Stelle, wo wir sagen könnten: Hier ist der subjektive Charakter der Empfindung gegeben. Auf den Inhalt der Empfindung ist der Begriff «subjektiv» nicht anwendbar.
Diese Erwägungen sind es, die mich dazu zwangen, jede Theorie der Natur, die prinzipiell über das Gebiet der wahrgenommenen Welt hinausgeht, als unmöglich abzulehnen und lediglich in der Sinnenwelt das einzige Objekt der Naturwissenschaft zu suchen. Dann aber mußte ich in der gegenseitigen Abhängigkeit der Tatsachen eben dieser Sinnenwelt das suchen, was wir mit Naturgesetzen aussprechen.
Und damit war ich zu jener Ansicht von der naturwissenschaftlichen Methode gedrängt, die der Goetheschen Farbenlehre zugrunde liegt. Wer diese Erwägungen für richtig findet, der wird diese Farbenlehre mit ganz anderen Augen lesen, als die modernen Naturforscher dies tun können. Er wird sehen, daß hier nicht Goethes Hypothese der Newtons gegenübersteht, sondern daß es sich hier um die Frage handelt: Ist die heutige theoretische Physik zu akzeptieren oder nicht? Wenn nicht, dann aber muß sich auch das Licht verlieren, das diese Physik über die Farbenlehre verbreitet. Welches unsere theoretische Grundlage der Physik ist, mag der Leser aus den folgenden Kapiteln erfahren, um dann von dieser Grundlage aus Goethes Auseinandersetzungen im rechten Lichte zu sehen.
XVI. Goethe als Denker und Forscher
Unterkapitel:
- Goethe und die moderne Naturwissenschaft
- »Gäbe es nicht eine Pflicht, die Wahrheit rückhaltlos zu sagen, wenn man sie erkannt zu haben glaubt, dann wären die folgenden Ausführungen wohl ungeschrieben geblieben. Das Urteil, das sie bei der heute herrschenden Richtung in den Naturwissenschaften von seiten der Fachgelehrten erfahren werden, kann für mich nicht zweifelhaft sein …«
- Das »Urphänomen«
- »Könnten wir die ganze Reihe von Vorgängen verfolgen, welche sich bei irgendeiner Sinneswahrnehmung vollziehen, von der peripherischen Endung des Nerven im Sinnesorgane bis in das Gehirn, so würden wir doch nirgends bis zu jenem Punkte gelangen, an dem die mechanischen, chemischen und organischen, kurz die raumzeitlichen Prozesse aufhören, und das auftritt, was wir eigentlich Sinneswahrnehmung nennen, z. B. die Empfindung der Wärme, des Lichtes, des Tones usw. …«
- Das System der Naturwissenschaft
- »Es könnte leicht erscheinen, als ob wir mit unseren Untersuchungen, die dem Denken nur eine auf die Zusammenfassung der Wahrnehmungen abzielende Befugnis zugestehen, die selbständige Bedeutung der Begriffe und Ideen, für die wir uns erst so energisch eingesetzt haben, nun selbst in Frage stellen. Nur eine ungenügende Auslegung dieser Untersuchung kann zu dieser Ansicht führen …«
- Das System der Farbenlehre
- »Goethes Wirken fällt in eine Zeit, in welcher das Streben nach einem absoluten, in sich selber seine Befriedigung findenden Wissen alle Geister mächtig erfüllte. Das Erkennen wagt sich wieder einmal mit heiligem Eifer daran, alle Erkenntnismittel zu untersuchen, um der Lösung der höchsten Fragen näher zu kommen. Die Zeit der morgenländischen Theosophie, Plato und Aristoteles, dann Descartes und Spinoza sind in den vorangehenden Epochen der Weltgeschichte die Repräsentanten einer gleich innerlichen Vertiefung …«
- Der Goethesche Raumbegriff
- »Da nur bei einer mit der Goetheschen ganz zusammenfallenden Anschauung vom Raume ein volles Verständnis seiner physikalischen Arbeiten möglich ist, so wollen wir hier dieselbe entwickeln. Wer zu dieser Anschauung kommen will, der muß aus unseren bisherigen Ausführungen folgende Überzeugung gewonnen haben: 1. Die Dinge, die uns in der Erfahrung als einzelne gegenübertreten, haben einen inneren Bezug aufeinander. Sie sind in Wahrheit durch ein einheitliches Weltenband zusammengehalten. Es lebt in ihnen allen ein gemeinsames Prinzip. 2. Wenn unser Geist an die Dinge herantritt und das Getrennte durch ein geistiges Band zu umfassen strebt, so ist die begriffliche Einheit, die er herstellt, den Objekten nicht äußerlich, sondern sie ist herausgeholt aus der inneren Wesenheit der Natur selbst. Die menschliche Erkenntnis ist kein außer den Dingen sich abspielender, aus bloßer subjektiver Willkür entspringender Prozeß, sondern, was da in unserem Geist als Naturgesetz auftritt, was sich in unserer Seele auslebt, das ist der Herzschlag des Universums selbst …«
- Goethe, Newton und die Physiker
- »Als Goethe an die Betrachtung des Wesens der Farben herantrat, war es wesentlich ein Kunstinteresse, das ihn auf diesen Gegenstand brachte. Sein intuitiver Geist erkannte bald, daß die Farbengebung in der Malerei einer tiefen Gesetzlichkeit unterliege. Worinnen diese Gesetzlichkeit besteht, das konnte weder er selbst entdecken, solange er sich nur im Gebiete der Malerei theoretisierend bewegte, noch vermochten ihm unterrichtete Maler darüber eine befriedigende Auskunft zu geben …«
XVI.1 Goethe und die moderne Naturwissenschaft
Gäbe es nicht eine Pflicht, die Wahrheit rückhaltlos zu sagen, wenn man sie erkannt zu haben glaubt, dann wären die folgenden Ausführungen wohl ungeschrieben geblieben. Das Urteil, das sie bei der heute herrschenden Richtung in den Naturwissenschaften von seiten der Fachgelehrten erfahren werden, kann für mich nicht zweifelhaft sein. Man wird in ihnen den dilettantenhaften Versuch eines Menschen sehen, einer Sache das Wort zu reden, die bei allen «Einsichtigen» längst gerichtet ist. Wenn ich mir die Geringschätzung all derer vorhalte, die sich heute allein berufen glauben, über naturwissenschaftliche Fragen zu sprechen, dann muß ich mir gestehen, daß Verlockendes im landläufigen Sinne in diesem Versuche allerdings nicht gelegen ist. Allein ich konnte mich durch diese voraussichtlichen Einwände doch nicht abschrecken lassen. Denn ich kann mir alle diese Einwände ja selbst machen und weiß daher, wie wenig stichhaltig sie sind. «Wissenschaftlich» im Sinne der modernen Naturlehre zu denken, ist nicht eben schwer. Wir haben ja vor nicht zu langer Zeit einen merkwürdigen Fall erlebt. Eduard von Hartmann trat mit seiner «Philosophie des Unbewußten» auf. Es wird heute am wenigsten dem geistvollen Verfasser dieses Buches selbst Beifalles, dessen Unvollkommenheiten zu leugnen. Aber die Denkrichtung, der wir da gegenüberstehen, ist eine eindringende, den Sachen auf den Grund gehende. Sie ergriff daher mächtig alle Geister, die nach tieferer Erkenntnis Bedürfnis hatten. Sie durchkreuzte aber die Bahnen der an der Oberfläche der Dinge tastenden Naturgelehrten. Diese lehnten sich allgemein dagegen auf. Nachdem verschiedene Angriffe von ihrer Seite ziemlich wirkungslos blieben, erschien eine Schrift von einem anonymen Verfasser: «Das Unbewußte vom Standpunkte des Darwinismus und der Deszendenztheorie» [1872], die mit aller nur denkbaren kritischen Schärfe alles gegen die neubegründete Philosophie vorbrachte, was sich vom Standpunkte moderner Naturwissenschaft gegen dieselbe sagen läßt. Diese Schrift machte Aufsehen. Die Anhänger der gegenwärtigen Richtung waren von ihr im höchsten Maße befriedigt. Sie erkannten es öffentlich an, daß der Verfasser einer der ihrigen sei und proklamierten seine Ausführungen als die ihrigen. Welche Enttäuschung mußten sie erfahren! Als sich der Verfasser wirklich nannte, war es – Ed. v. Hartmann. Damit ist aber eines mit überzeugender Kraft dargetan: es ist nicht Unbekanntschaft mit den Ergebnissen der Naturforschung, nicht Dilettantismus der Grund, der es gewissen, nach tieferer Einsicht strebenden Geistern unmöglich macht, sich der Richtung anzuschließen, welche heute sich zur herrschenden aufwerfen will. Es ist aber die Erkenntnis, daß die Wege dieser Richtung nicht die rechten sind. Der Philosophie wird es nicht schwer, sich auf den Standpunkt der gegenwärtigen Naturanschauung probeweise zu stellen. Das hat Ed. v. Hartmann durch sein Verhalten für jeden, der sehen will, unwiderleglich gezeigt. Dies zur Bekräftigung meiner oben gemachten Behauptung, daß es auch mir nicht schwer wird, die Einwände, die man wider meine Ausführungen erheben kann, mir selbst zu machen. Man sieht wohl gegenwärtig jeden für einen Dilettanten an, der überhaupt philosophisches Nachdenken über das Wesen der Dinge ernst nimmt. Eine Weltanschauung haben gilt bei unseren Zeitgenossen von der «mechanischen» oder gar bei jenen von der «positivistischen» Denkart für eine idealistische Schrulle. Begreiflich wird diese Ansicht freilich, wenn man sieht, in welcher hilflosen Unkenntnis sich diese positivistischen Denker befinden, wenn sie sich über das «Wesen der Materie», über «die Grenzen des Erkennens», über «die Natur der Atome» oder dergleichen Dinge vernehmen lassen. An diesen Beispielen kann man wahre Studien über dilettantisches Behandeln von einschneidenden Fragen der Wissenschaft machen.
Man muß den Mut haben, sich alles das gegenüber der Naturwissenschaft der Gegenwart zu gestehen, trotz der gewaltigen, bewunderungswürdigen Errungenschaften, die dieselbe Naturwissenschaft auf technischem Gebiete zu verzeichnen hat. Denn diese Errungenschaften haben mit dem wahrhaften Bedürfnis nach Naturerkenntnis nichts zu tun. Wir haben es ja gerade an Zeitgenossen erlebt, denen wir Erfindungen verdanken, deren Bedeutung für die Zukunft sich noch lange gar nicht einmal ahnen läßt, daß ihnen ein tieferes wissenschaftliches Bedürfnis abgeht. Es ist etwas ganz anderes, die Vorgänge der Natur zu beobachten, um ihre Kräfte in den Dienst der Technik zu stellen, als mit Hilfe dieser Vorgänge tiefer in das Wesen der Naturwissenschaft hineinzublicken suchen. Wahre Wissenschaft ist nur da vorhanden, wo der Geist Befriedigung seiner Bedürfnisse sucht, ohne äußeren Zweck.
Wahre Wissenschaft im höheren Sinne des Wortes hat es nur mit ideellen Objekten zu tun; sie kann nur Idealismussein. Denn sie hat ihren letzten Grund in Bedürfnissen, die aus dem Geiste stammen. Die Natur erweckt in uns Fragen, Probleme, die der Lösung zustreben. Aber sie kann diese Lösung nicht selbst liefern. Nur der Umstand, daß mit unserem Erkenntnisvermögen eine höhere Welt der Natur gegenübertritt, das schafft auch höhere Forderungen. Einem Wesen, dem diese höhere Natur nicht eigen wäre, gingen diese Probleme einfach nicht auf. Sie können daher ihre Antwort auch von keiner anderen Instanz als nur wieder von dieser höheren Natur erhalten. Wissenschaftliche Fragen sind daher wesentlich eine Angelegenheit, die der Geist mit sich selbst auszumachen hat. Sie führen ihn nicht aus seinem Elemente heraus. Das Gebiet aber, in welchem, als in seinem ureigenen, der Geist lebt und webt, ist die Idee, ist die Gedankenwelt. Gedankliche Fragen durch gedankliche Antworten erledigen, das ist wissenschaftliche Tätigkeit im höchsten Sinne des Wortes. Und alle übrigen wissenschaftlichen Verrichtungen sind zuletzt nur dazu da, diesem höchsten Zwecke zu dienen. Man nehme die wissenschaftliche Beobachtung. Sie soll uns zur Erkenntnis eines Naturgesetzes führen. Das Gesetz selbst ist rein ideell. Schon das Bedürfnis nach einer hinter den Erscheinungen waltenden Gesetzlichkeit entstammt dem Geiste. Ein ungeistiges Wesen hätte dieses Bedürfnis nicht. Nun treten wir an die Beobachtung heran! Was wollen wir durch sie denn eigentlich erreichen? Soll uns auf die in unserem Geiste erzeugte Frage von außen, durch die Sinnenbeobachtung, etwas geliefert werden, das Antwort auf dieselbe sein könnte? Nimmermehr. Denn warum sollten wir bei einer zweiten Beobachtung uns befriedigter fühlen als bei der ersten? Wäre der Geist überhaupt mit dem beobachten Objekte zufrieden, so müßte er es gleich mit dem ersten sein. Aber die eigentliche Frage ist gar nicht die nach einer zweiten Beobachtung, sondern nach der ideellen Grundlage der Beobachtungen. Was läßt diese Beobachtung für eine ideelle Erklärung zu, wie muß ich sie denken, damit sie mir möglich erscheint? Das sind die Fragen, die uns der Sinnenwelt gegenüber kommen. Ich muß aus den Tiefen meines Geistes selbst das heraussuchen, was mir der Sinnenwelt gegenüber fehlt. Wenn ich mir die höhere Natur, nach der mein Geist der sinnlichen gegenüber strebt, nicht schaffen kann, dann schafft sie mir keine Macht der äußeren Welt. Die Resultate der Wissenschaft können also nur aus dem Geiste kommen; sie können somit nur Ideen sein. Gegen diese notwendige Überlegung kann man nichts einwenden. Mit ihr ist aber der idealistische Charakter aller Wissenschaft gesichert.
Die moderne Naturwissenschaft kann ihrem ganzen Wesen nach nicht an die Idealität der Erkenntnis glauben. Denn ihr gilt die Idee nicht als das Erste, Ursprünglichste, Schöpferische, sondern als das letzte Produkt der materiellen Prozesse. Sie ist sich dabei aber des Umstandes gar nicht bewußt, daß diese ihre materiellen Prozesse nur der sinnenfällig beobachtbaren Welt angehören, die sich aber, tiefer erfaßt, ganz in Idee auflöst. Der in Betracht kommende Prozeß stellt sich nämlich der Beobachtung folgendermaßen dar: Wir nehmen mit unseren Sinnen Tatsachen wahr, Tatsachen, die ganz nach den Gesetzen der Mechanik verlaufen, dann Erscheinungen der Wärme, des Lichtes, des Magnetismus, der Elektrizität, endlich des Lebensprozesses usw. Auf der höchsten Stufe des Lebens finden wir, daß sich dasselbe bis zur Bildung von Begriffen, Ideen erhebt, deren Träger eben das menschliche Gehirn ist. Aus einer solchen Gedankensphäre erwachsend finden wir unser eigenes «Ich». Dasselbe scheint das oberste Produkt eines durch eine lange Reihe physikalischer, chemischer und organischer Vorgänge vermittelten komplizierten Prozesses zu sein. Untersuchen wir aber die ideelle Welt, die den Inhalt jenes «Ich» ausmacht, so finden wir in ihr wesentlich mehr als bloß das Endprodukt jenes Prozesses. Wir finden, daß die einzelnen Teile derselben in einer ganz anderen Weise miteinander verknüpft sind, als die Teile jenes bloß beobachteten Prozesses. Indem der eine Gedanke in uns auftaucht, der dann einen zweiten erfordert, finden wir, daß da ein ideeller Zusammenhang zwischen diesen zwei Objekten ist in ganz anderer Art, als wenn ich die Färbung eines Stoffes z. B. als Folge eines chemischen Agens beobachte. Es ist ja ganz selbstverständlich, daß die aufeinanderfolgenden Stadien des Gehirnprozesses im organischen Stoffwechsel ihre Quelle haben, wenngleich der Gehirnprozeß selbst der Träger jener Gedankengebilde ist. Aber warum der zweite Gedanke aus dem ersten folgt, dazu finde ich in diesem Stoffwechsel nicht, wohl aber in dem logischen Gedankenzusammenhang den Grund. In der Welt der Gedanken herrscht somit außer der organischen Notwendigkeit eine höhere ideelle. Diese Notwendigkeit nun aber, die der Geist innerhalb seiner Ideenwelt findet, diese sucht er auch in dem übrigen Universum. Denn diese Notwendigkeit ersteht uns ja nur dadurch, daß wir nicht nur beobachten, sondern auch denken. Oder, mit anderen Worten: Die Dinge erscheinen nicht mehr in einem bloß tatsächlichen Zusammenhange, sondern durch eine innere, ideelle Notwendigkeit verknüpft, wenn wir sie nicht bloß durch die Beobachtung, sondern durch den Gedanken erfassen.
Man kann demgegenüber nicht sagen: Was soll alles Erfassen der Erscheinungswelt in Gedanken, wenn die Dinge dieser Welt vielleicht ein solches Erfassen ihrer Natur nach gar nicht zulassen? Diese Frage kann nur der stellen, der die ganze Sache nicht in ihrem Kerne erfaßt hat. Die Welt der Gedanken lebt in unserem Inneren auf, sie tritt den sinnlich beobachtbaren Objekten gegenüber und fragt nun, welchen Bezug hat diese mir da gegenübertretende Welt zu mir selbst? Was ist sie mir gegenüber? Ich bin da mit meiner über aller Vergänglichkeit schwebenden ideellen Notwendigkeit; ich habe die Kraft in mir, mich selbst zu erklären. Wie aber erkläre ich das, was mir gegenüber auftritt?
Hier ist es, wo sich uns eine bedeutungsvolle Frage beantwortet, die z. B. Friedrich Theodor Vischer wiederholt aufgeworfen und für den Angelpunkt alles philosophischen Nachdenkens erklärt hat: jene nach dem Zusammenhange von Geist und Natur. Was besteht für ein Verhältnis zwischen diesen beiden, uns stets voneinander geschieden erscheinenden Wesenheiten? Wenn man diese Frage recht aufwirft, dann ist ihre Beantwortung nicht so schwierig, wie es scheint. Was kann die Frage denn nur für einen Sinn haben? Dieselbe wird ja nicht von einem Wesen gestellt, das über Natur und Geist als dritter stünde und von diesem seinem Standpunkte aus jenen Zusammenhang untersuchte, sondern von der einen der beiden Wesenheiten, von dem Geiste, selbst. Der letztere fragt: Welcher Zusammenhang besteht zwischen mir und der Natur? Das heißt aber wieder nichts anderes als: Wie kann ich mich selbst in eine Beziehung zu der mir gegenüberstehenden Natur bringen? Wie kann ich nach den in mir lebenden Bedürfnissen diese Beziehung ausdrücken? Ich lebe in Ideen; was für eine Idee entspricht der Natur, wie kann ich das, was ich als Natur anschaue, als Idee ausdrücken? Es ist, als ob wir uns oftmals durch eine verfehlte Fragestellung selbst den Weg zu einer befriedigenden Antwort verlegten. Eine richtige Frage ist aber schon eine halbe Antwort.
Der Geist sucht überall, über die Folge der Tatsachen, wie sie ihm die bloße Beobachtung liefert, hinaufzukommen und bis zu den Ideen der Dinge zu dringen. Die Wissenschaft fängt eben da an, wo das Denken anfängt. In ihren Ergebnissen liegt das in ideeller Notwendigkeit, was den Sinnen nur als Tatsachenfolge erscheint. Diese Ergebnisse sind nur scheinbar das letzte Produkt des oben geschilderten Prozesses; in Wahrheit sind sie dasjenige, was wir im ganzen Universum als die Grundlage von allem ansehen müssen. Wo sie dann für die Beobachtung erscheinen, das ist gleichgültig; denn davon hängt ja, wie wir gesehen haben, ihre Bedeutung nicht ab. Sie breiten das Netz ihrer ideellen Notwendigkeit über das ganze Universum aus.
Wir mögen von wo immer ausgehen; wenn wir geistige Kraft genug haben, treffen wir zuletzt auf die Idee.
Indem die moderne Physik dies vollständig verkennt, wird sie zu einer ganzen Reihe von Irrtümern geführt. Ich will hier nur auf einen solchen als Beispiel hinweisen.
Nehmen wir die Definition des in der Physik gewöhnlich unter den «allgemeinen Eigenschaften der Körper» angeführten Beharrungsvermögens. Dies wird gewöhnlich folgendermaßen definiert: Kein Körper kann ohne äußere Ursache den Zustand der Bewegung, in dem er sich befindet, verändern. Diese Definition erweckt die Vorstellung, als wenn der Begriff des an sich trägen Körpers aus der Erscheinungswelt abstrahiert wäre. Und Mill, der nirgends auf die Sache selbst eingeht, sondern zum Behufe einer erzwungenen Theorie alles auf den Kopf stellt, würde keinen Augenblick anstehen, die Sache auch so zu erklären. Dies ist aber doch ganz unrichtig. Der Begriff des trägen Körpers entsteht rein durch eine begriffliche Konstruktion. Indem ich das im Raume Ausgedehnte «Körper» nenne, kann ich mir solche Körper vorstellen, deren Veränderungen von äußeren Einflüssen herrühren und solche, bei denen sie aus eigenem Antrieb geschehen. Finde ich nun in der Außenwelt etwas, was meinem gebildeten Begriffe: «Körper, der sich nicht ohne äußeren Antrieb verändern kann» entspricht, so nenne ich diesen trage oder dem Gesetzt des Beharrungsvermögens unterworfen. Meine Begriffe sind nicht aus der Sinnenwelt abstrahiert, sondern frei aus der Idee konstruiert, und mit ihrer Hilfe finde ich mich erst in der Sinnenwelt zurecht. Die obige Definition könnte nur lauten: Ein Körper, der nicht aus sich selbst heraus seinen Bewegungszustand ändern kann, heißt ein träger. Und wenn ich ihn als solchen erkannt habe, dann kann ich alles, was mit einem trägen Körper zusammenhängt, auch auf den in Rede stehenden anwenden.
XVI.2 Das Urphänomen
Könnten wir die ganze Reihe von Vorgängen verfolgen, welche sich bei irgendeiner Sinneswahrnehmung vollziehen, [267] von der peripherischen Endung des Nerven im Sinnesorgane bis in das Gehirn, so würden wir doch nirgends bis zu jenem Punkte gelangen, an dem die mechanischen, chemischen und organischen, kurz die raumzeitlichen Prozesse aufhören, und das auftritt, was wir eigentlich Sinneswahrnehmung nennen, z. B. die Empfindung der Wärme, des Lichtes, des Tones usw. Es ist die Stelle nicht zu finden, wo die verursachende Bewegung in ihre Wirkung, die Wahrnehmung, überginge. Können wir dann aber überhaupt davon sprechen, daß die beiden Dinge in dem Verhältnisse von Ursache und Wirkung stehen?
Wir wollen einmal die Tatsachen ganz objektiv untersuchen. Nehmen wir an, es trete eine bestimmte Empfindung in unserem Bewußtsein auf. Sie tritt dann zugleich so auf, daß sie uns auf irgendeinen Gegenstand verweist, von dem sie herstammt. Wenn ich die Empfindung des Rot habe, so verbinde ich, kraft des Inhaltes dieser Vorstellung, in der Regel damit zugleich ein bestimmtes Ortsdatum, d. i. eine Stelle im Raume, oder die Oberfläche eines Dinges, der ich das, was diese Empfindung ausdrückt, zuschreibe. Nur dann ist das nicht der Fall, wenn durch einen äußeren Einfluß das Sinnesorgan selbst in der ihm eigentümlichen Weise antwortet, wie wenn ich bei einem Schlag aufs Auge eine Lichtempfindung habe. Von diesen Fällen, in denen die Empfindungen übrigens niemals mit ihrer sonstigen Bestimmtheit auftreten, wollen wir absehen. Sie können uns ja, als Ausnahmefälle, über die Natur der Dinge nicht belehren. Habe ich die Empfindung des Rot mit einem bestimmten Ortsdatum, so werde ich zunächst an irgendein Ding in der Außenwelt als den Träger dieser Empfindung verwiesen. Ich kann mich nun ja wohl fragen: Welche [268] räumlich-zeitlichen Vorgänge spielen sich in diesem Dinge ab, während es mir als mit der roten Farbe behaftet erscheint? Es wird sich mir dann zeigen, daß mechanische, chemische oder andere Vorgänge als Antwort auf meine Frage sich darbieten. Nun kann ich weitergehen und die Vorgänge untersuchen, die sich auf dem Wege von jenem Dinge bis zu meinem Sinnesorgane vollzogen haben, um die Empfindung der roten Farbe für mich zu vermitteln. Da können sich mir nun doch auch wieder nichts anderes als Bewegungsvorgänge oder elektrische Ströme oder chemische Veränderungen als solche Vermittler darstellen. Das gleiche Resultat müßte sich mir ergeben, wenn ich die weitere Vermittlung vom Sinnesorgane bis zur Zentralstelle im Gehirne untersuchen könnte. Was auf diesem ganzen Wege vermittelt wird, das ist die in Rede stehende Wahrnehmung des Rot. Wiesich diese Wahrnehmung in einem bestimmten Dinge, das auf dem Wege von der Erregung bis zur Wahrnehmung liegt, darstellt, das hängt lediglich von der Natur dieses Dinges ab. Die Empfindung ist an jedem Orte vorhanden, vom Erreger bis zum Gehirne, aber nicht als solche, nicht expliziert, sondern so, wie es der Natur des Gegenstandes entspricht, der an jenem Orte sich befindet.
Daraus ergibt sich aber eine Wahrheit, die geeignet ist, Licht zu verbreiten über die gesamte theoretische Grundlage der Physik und Physiologie. Was erfahre ich aus der Untersuchung eines Dinges, das von einem Prozesse, der in meinem Bewußtsein als Empfindung auftritt, ergriffen wird? Ich erfahre nicht mehr als die Art und Weise, wie jenes Ding auf die Aktion, die von der Empfindung ausgeht, antwortet, oder mit anderen Worten: wie sich eine [269] Empfindung in irgendeinem Gegenstande der räumlich-zeitlichen Welt auslebt. Weit entfernt, daß ein solcher räumlich-zeitlicher Vorgang die Ursache ist, der in mir die Empfindung auslöst, ist vielmehr das ganz andere richtig:
der räumlich-zeitliche Vorgang ist die Wirkung der Empfindung in einem räumlich-zeitlich ausgedehnten Dinge. Ich könnte noch beliebig viele Dinge einschalten auf dem Wege von dem Erreger bis zu dem Wahrnehmungsorgane: in jedem wird hierbei nur dasjenige vorgehen, was in ihm vermöge seiner Natur vorgehen kann. Deshalb bleibt aber doch die Empfindung dasjenige, was sich in allen diesen Vorgängen auslebt.
Man hat also in den longitudinalen Schwingungen der Luft bei der Schallvermittlung oder in den hypothetischen Oszillationen des Äthers bei der Vermittlung des Lichtes nichts anderes zu sehen als die Art und Weise, wie die betreffenden Empfindungen in einem Medium auftreten können, das seiner Natur nach nur der Verdünnung und Verdichtung beziehungsweise der schwingenden Bewegung fähig ist. Die Empfindung als solche kann ich in dieser Welt nicht finden, weil sie einfach nicht da sein kann. In jenen Vorgängen habe ich aber durchaus nicht das Objektive der Empfindungsvorgänge gegeben, sondern eine Form ihres Auftretens.
Und fragen wir uns nun: Welcher Art sind denn jene vermittelnden Vorgänge selbst? Untersuchen wir sie denn mit anderen Mitteln als mit Hilfe unserer Sinne? Ja, kann ich denn meine Sinne selbst mit anderen Mitteln als nur wieder mit eben diesen Sinnen untersuchen? Ist die peripherische Nervenendung, sind die Windungen des Gehirnes durch etwas anderes gegeben denn durch Sinneswahrnehmung? [270] All das ist gleich subjektiv und gleich objektiv, wenn diese Unterscheidung überhaupt als berechtigt angenommen werden könnte. Jetzt können wir die Sache noch genauer fassen. Indem wir die Wahrnehmung von ihrer Erregung bis zu dem Wahrnehmungsorgane verfolgen, untersuchen wir nichts anderes als den fortwährenden Übergang von einer Wahrnehmung zur andern. Das «Rot» liegt uns vor als dasjenige, um dessen willen wir überhaupt die ganze Untersuchung anstellen. Es weist uns auf seinen Erreger. In diesem beobachten wir andere Empfindungen als mit jenem Rot zusammenhängend. Es sind Bewegungsvorgänge. Dieselben treten dann als weitere Bewegungsvorgänge zwischen dem Erreger und dem Sinnesorgane auf usw. Alles dieses aber sind gleichfalls wahrgenommene Empfindungen. Und sie stellen nichts weiter dar als eine Metamorphose von Vorgängen, die, soweit sie überhaupt für die sinnliche Beobachtung in Betracht kommen, sich ganz restlos in Wahrnehmungen auflösen.
Die wahrgenommene Welt ist also nichts anderes als eine Summe von metamorphosierten Wahrnehmungen.
Wir mußten der Bequemlichkeit halber uns einer Ausdrucksweise bedienen, die mit dem gegenwärtigen Resultate nicht vollständig in Einklang zu bringen ist. Wir sagten, jedes in den Zwischenraum zwischen Erreger und Wahrnehmungsorgan eingeschaltete Ding bringe eine Empfindung in der Weise zum Ausdrucke, wie es seiner Natur gemäß ist. Streng genommen ist ja das Ding nichts weiter als die Summe jener Vorgänge, als welche es auftritt.
Man wird uns nun entgegnen: mit dieser unserer Schlußweise schaffen wir alles Dauernde im fortlaufenden Weltprozesse hinweg, wir machen wie Heraklit den Fluß der [271] Dinge, in dem nichts bestehen bleibt, zum alleinigen Weltprinzipe. Es müsse hinter den Erscheinungen ein «Ding an sich», hinter der Welt der Veränderungen eine «dauernde Materie» geben. Wir wollen denn doch einmal genauer untersuchen, was es denn eigentlich mit dieser «dauernden Materie», mit dieser «Dauer im Wechsel» überhaupt für eine Bewandtnis habe.
Wenn ich mein Auge einer roten Fläche gegenüberstelle, so tritt die Empfindung des Rot in meinem Bewußtsein auf. Wir haben nun an dieser Empfindung Anfang, Dauer und Ende zu unterscheiden. Der vorübergehenden Empfindung soll nun ein dauernder objektiver Vorgang gegenüberstehen, der als solcher wieder objektiv in der Zeit begrenzt ist, d.h. Anfang, Dauer und Ende hat. Dieser Vorgang aber soll an einer Materie vor sich gehen, die anfang- und endlos, d. i. unzerstörbar, ewig ist. Diese soll das eigentlich Dauernde im Wechsel der Prozesse sein. Die Schlußfolgerung hätte vielleicht einige Berechtigung, wenn der Zeitbegriff in der obigen Weise richtig auf die Empfindung angewendet wäre. Aber müssen wir denn nicht streng unterscheiden zwischen dem Inhalte der Empfindung und dem Auftreten derselben? In meiner Wahrnehmung sind freilich beide ein und dasselbe; denn es muß doch der Inhalt der Empfindung in derselben anwesend sein, sonst käme sie für mich ja gar nicht in Betracht. Aber ist es für diesen Inhalt, rein als solchen genommen, nicht ganz gleichgültig, daß er jetzt in diesem Zeitmomente gerade in mein Bewußtsein ein- und nach so und so viel Sekunden aus demselben wieder austritt? Das, was den Inhalt der Empfindung, d. i. dasjenige, was allein objektiv in Betracht kommt, ausmacht, ist davon ganz unabhängig. [272] Nun kann aber das doch nicht für eine wesentliche Bedingung des Bestandes einer Sache angesehen werden, was für deren Inhalt ganz gleichgültig ist.
Aber auch für einen objektiven Prozeß, der Anfang und Ende hat, ist unsere Anwendung des Zeitbegriffes nicht richtig. Wenn an einem bestimmten Dinge eine neue Eigenschaft auftaucht, sich während einiger Zeit in verschiedenen Entwicklungszuständen erhält und dann wieder verschwindet, so müssen wir auch hier den Inhalt dieser Eigenschaft als das Wesentliche ansehen. Und dieses hat als solches absolut nichts zu tun mit den Begriffen Anfang, Dauer und Ende. Unter dem Wesentlichen verstehen wir hier das, wodurch ein Ding eigentlich gerade das ist, als was es sich darstellt. Nicht daß etwas in einem bestimmten Zeitmomente auftaucht, sondern was auftaucht, darauf kommt es an. Die Summe aller dieser mit dem «Was» ausgedrückten Bestimmungen macht den Inhalt der Welt aus. Nun lebt sich dieses «Was» aber in den mannigfaltigsten Bestimmungen, in den verschiedenartigsten Gestalten aus. Alle diese Gestalten sind in Beziehung zueinander, sie bedingen sich gegenseitig. Dadurch treten sie in das Verhältnis des Auseinander nach Raum und Zeit. Aber nur einer ganz verfehlten Auffassung des Zeitbegriffes verdankt der Begriff der Materie seine Entstehung. Man glaubt die Welt zum wesenlosen Schein zu verflüchtigen, wenn man der veränderlichen Summe der Geschehnisse nicht ein in der Zeit Beharrendes, ein Unveränderliches untergelegt dächte, das bleibt, während seine Bestimmungen wechseln. Aber die Zeit ist ja nicht ein Gefäß, in dem die Veränderungen sich abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und außerhalb derselben da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den [273] Umstand, daß die Tatsachen ihrem Inhalte nach voneinander in einer Folge abhängig sind. Nehmen wir an, wir hätten es mit dem wahrzunehmenden Tatsachenkomplex a1 b1 c1 d1 e1 zu tun. Von diesem hängt mit innerer Notwendigkeit der andere Komplex a2 b2 c2 d2 e2 ab; ich sehe den Inhalt dieses letzteren ein, wenn ich ihn ideell aus dem ersteren hervorgehen lasse. Nun nehmen wir an, beide Komplexe treten in die Erscheinung. Denn was wir früher besprochen haben, ist das ganz unzeitliche und unräumliche Wesen dieser Komplexe. Wenn a2 b2 c2 d2 e2 in der Erscheinung auftreten soll, dann muß a1 b1 c1 d1 e1 ebenfalls Erscheinung sein, und zwar so, daß nun a2 b2 c2 d2 e2 auch in seiner Abhängigkeit davon erscheint. D.h. die Erscheinung a1 b1 c1 d1 e1 muß da sein, der Erscheinung a2 b2 c2 d2 e2 Platz machen, worauf diese letztere auftritt. Hier sehen wir, daß die Zeit erst da auftritt, wo das Wesen einer Sache in die Erscheinung tritt. Die Zeit gehört der Erscheinungswelt an. Sie hat mit dem Wesen selbst noch nichts zu tun. Dieses Wesen ist nur ideell zu erfassen. Nur wer diesen Rückgang von der Erscheinung zum Wesen in seinen Gedankengängen nicht vollziehen kann, der hypostasiert die Zeit als ein den Tatsachen Vorhergehendes. Dann braucht er aber ein Dasein, welches die Veränderungen überdauert. Als solches faßt er die unzerstörbare Materie auf. Damit hat er sich ein Ding geschaffen, dem die Zeit nichts anhaben soll, ein in allem Wechsel Beharrendes. Eigentlich aber hat er nur sein Unvermögen gezeigt, von der zeitlichen Erscheinung der Tatsachen zu ihrem Wesen vorzudringen, das mit der Zeit nichts zu tun hat. Kann ich denn von dem Wesen einer Tatsache sagen: es entsteht oder vergeht? Ich kann nur sagen, daß ihr Inhalt einen andern bedingt, und [274] daß dann diese Bedingung als Zeitenfolge erscheint. Das Wesen einer Sache kann nicht zerstört werden; denn es ist außer aller Zeit und bedingt selbst die letztere. Damit haben wir zugleich eine Beleuchtung auf zwei Begriffe geworfen, für die noch wenig Verständnis zu finden ist, auf Wesen und Erscheinung. Wer die Sache in unserer Weise richtig auffaßt, der kann nach einem Beweis von der Unzerstörbarkeit des Wesens einer Sache nicht suchen, weil die Zerstörung den Zeitbegriff in sich schließt, der mit dem Wesen nichts zu tun hat.
Nach diesen Ausführungen können wir sagen: Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahmehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie.
Unsere Bemerkungen haben uns aber noch etwas anderes gezeigt. Wir haben gesehen, daß wir nicht von einem subjektiven Charakter der Wahrnehmungen sprechen können. Wir können, wenn wir eine Wahrnehmung haben, die Vorgänge von dem Erreger an bis zu unserem Zentralorgan verfolgen: nirgends wird hier ein Punkt zu finden sein, wo der Sprung von der Objektivität des Nicht-Wahrgenommenen zur Subjektivität der Wahrnehmung nachzuweisen wäre. Damit ist der subjektive Charakter der Wahrnehmungswelt widerlegt. Die Welt der Wahrnehmung steht als auf sich begründeter Inhalt da, der mit Subjekt und Objekt vorläufig noch gar nichts zu tun hat.
Mit der obigen Ausführung ist natürlich nur jener Begriff der Materie getroffen, den die Physik ihren Betrachtungen zugrunde legt und den sie mit dem alten, ebenfalls unrichtigen Substanzbegriff der Metaphysik identifiziert. Etwas anderes ist die Materie als das den Erscheinungen [275] zugrunde liegende eigentlich Reale, etwas anderes die Materie als Phänomen, als Erscheinung. Auf den ersteren Begriff allein geht unsere Betrachtung. Der letztere wird durch sie nicht berührt. Denn wenn ich das den Raum Erfüllende «Materie» nenne, so ist das bloß ein Wort für ein Phänomen, dem keine höhere Realität als anderen Phänomenen zugeschrieben wird. Ich muß mir dabei nur diesen Charakter der Materie stets gegenwärtig halten.
Die Welt dessen, was sich uns als Wahrnehmungen darstellt, d. h. Ausgedehntes, Bewegung, Ruhe, Kraft, Licht, Wärme, Farbe, Ton, Elektrizität usw., das ist das Objekt aller Wissenschaft.
Wäre nun das wahrgenommene Weltbild ein solches, daß es so, wie es für unsere Sinne vor uns auftritt, sich ungetrübt seiner Wesenheit nach auslebte, mit anderen Worten, wäre alles, was in der Erscheinung auftritt, ein vollkommener, durch nichts gestörter Abdruck der inneren Wesenheit der Dinge, dann wäre Wissenschaft die unnötigste Sache von der Welt. Denn die Aufgabe der Erkenntnis wäre schon in der Wahrnehmung voll und restlos erfüllt. Ja, wir könnten dann überhaupt gar nicht zwischen Wesen und Erscheinung unterscheiden. Beides fiele als identisch völlig zusammen.
Das ist aber nicht der Fall. Nehmen wir an, das in der Tatsachenwelt enthaltene Element A stehe in einem gewissen Zusammenhang mit dem Element B. Beide Elemente sind natürlich nach unseren Ausführungen nichts weiter als Phänomene. Der Zusammenhang kommt wieder als Phänomen zur Erscheinung. Dieses Phänomen wollen wir C nennen. Was wir nun innerhalb der Tatsachenwelt feststellen können, ist das Verhältnis von A, B und C. Nun [276] aber bestehen neben A, B und C in der wahrnehmbaren Welt noch unendlich viele solcher Elemente. Nehmen wir ein beliebiges viertes, D; es trete hinzu, und es wird sogleich alles sich als modifiziert darstellen. Statt daß A, im Verein mit B, C im Gefolge hat, wird durch das Hinzutreten von D ein wesentlich anderes Phänomen E auftreten.
Hierauf kommt es an. Wenn wir einem Phänomen gegenübertreten, so sehen wir es mannigfach bedingt. Wir müssen alle Beziehungen suchen, wenn wir das Phänomen verstehen sollen. Nun sind diese Beziehungen aber verschiedene, nähere und fernere. Daß mir ein Phänomen E gegenübertrete, daran sind andere Phänomene in näherer oder fernerer Beziehung die Veranlassung. Einige sind unbedingt notwendig, um überhaupt ein derartiges Phänomen entstehen zu lassen, andere hinderten wohl nicht, wenn sie abwesend wären, daß ein so geartetes Phänomen entstehe; aber sie bedingen, daß es gerade so entstehe. Daraus ersehen wir, daß wir zwischen notwendigen und zufälligen Bedingungen einer Erscheinung unterscheiden müssen. Phänomene nun, die so entstehen, daß dabei nur die notwendigen Bedingungen mitwirken, können wir ursprüngliche, die anderen abgeleitete nennen. Wenn wir die ursprünglichen Phänomene aus ihren Bedingungen verstehen, dann können wir durch Hinzusetzung von neuen Bedingungen die abgeleiteten ebenfalls verstehen.
Hier wird uns die Aufgabe der Wissenschaft klar. Sie hat durch die phänomenale Welt so weit durchzudringen, daß sie Erscheinungen aufsucht, die nur von notwendigen Bedingungen abhängig sind. Und der sprachlich-begriffliche Ausdruck für solche notwendige Zusammenhänge sind die Naturgesetze. [277] Wenn man einer Sphäre von Erscheinungen gegenübertritt, dann hat man also, sobald man über die bloße Beschreibung und Registrierung hinaus ist, zunächst diejenigen Elemente festzustellen, die einander notwendig bedingen und sie als Urphänomene hinzustellen. Dazu hat man dann jene Bedingungen zu setzen, welche schon in einem entfernteren Bezug zu jenen Elementen stehen, um zu sehen, wie sie jene ursprünglichen Phänomene modifizieren.
Dies ist das Verhältnis der Wissenschaft zur Erscheinungswelt: in letzterer treten die Phänomene durchaus als abgeleitete auf, sie sind deshalb von vornherein unverständlich; in jener treten die Urphänomene an die Spitze und die abgeleiteten als Folge auf, wodurch der ganze Zusammenhang verständlich wird. Das System der Wissenschaft unterscheidet sich von dem System der Natur dadurch, daß in jenem der Zusammenhang der Erscheinungen vom Verstande hergestellt und dadurch verständlich gemacht wird. Die Wissenschaft hat nie und nimmer etwas zur Erscheinungswelt hinzuzubringen, sondern nur die verhüllten Bezüge derselben bloßzulegen. Aller Verstandesgebrauch darf sich nur auf die letztere Arbeit beschränken. Durch Zurückgehen auf ein Nicht-Erscheinendes., um die Erscheinungen zu erklären, überschreitet der Verstand und alles wissenschaftliche Treiben ihre Befugnis.
Nur wer die unbedingte Richtigkeit dieser unserer Ableitungen einsieht, kann Goethes Farbenlehre verstehen. Nachzudenken darüber, was eine Wahrnehmung wie z.B. das Licht, die Farbe sonst noch sei, außer der Wesenheit, als welche sie auftreten, das lag Goethe ganz fern. Denn er kannte jene Befugnis des verständigen Denkens. Ihm [278] war das Licht als Empfindung gegeben. Wenn er nun den Zusammenhang zwischen Licht und Farbe erklären wollte, so konnte das nicht durch eine Spekulation geschehen, sondern nur durch ein Urphänomen, indem er die notwendige Bedingung aufsuchte, die zum Lichte hinzutreten muß, um die Farbe entstehen zu lassen. Newton sah auch die Farbe in Verbindung mit dem Lichte auftreten, aber er dachte nun spekulativ nach: Wie entsteht die Farbe aus dem Lichte. Das lag in seiner spekulativen Denkweise; in Goethes gegenständlicher und richtig sich selbst verstehender Denkweise lag das nicht. Deshalb mußte ihm Newtons Annahme: «Das Licht ist aus farbigen Lichtern zusammengesetzt» als Ergebnis unrichtiger Spekulation erscheinen. Er hielt sich nur berechtigt, über den Zusammenhang von Licht und Farbe unter Hinzutritt einer Bedingung etwas auszusagen, nicht aber über das Licht selbst durch Hinzuziehung eines spekulativen Begriffes. Daher sein Satz: «Das Licht ist das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, das wir kennen. Es ist nicht zusammengesetzt.» Alle Aussagen über Zusammensetzung des Lichtes sind ja nur Aussagen des Verstandes über ein Phänomen. Die Befugnis des Verstandes erstreckt sich aber nur auf Aussagen über den Zusammenhang von Phänomenen.
Hiermit ist der tiefere Grund bloßgelegt, warum Goethe, als er durchs Prisma sah, nicht zu der Theorie Newtons sich bekennen konnte. Das Prisma hätte die erste Bedingung sein müssen für das Zustandekommen der Farbe. Es erwies sich aber eine andere Bedingung, die Anwesenheit eines Dunkeln, als ursprünglicher zur Entstehung derselben; das Prisma erst als zweite Bedingung.
Mit diesen Auseinandersetzungen glaube ich für den [279] Leser der Goetheschen Farbenlehre alle Hindernisse beseitigt zu haben, die den Weg zu diesem Werke verlegen.
Hätte man nicht immerfort diese Differenz der beiden Farbentheorien in zwei einander widersprechenden Auslegungsarten gesucht, die man einfach nach ihrer Berechtigung dann untersuchen wollte, so wäre die Goethesche Farbenlehre längst in ihrer hohen wissenschaftlichen Bedeutung gewürdigt. Nur wer ganz erfüllt ist von so grundfalschen Vorstellungen, wie diese ist, daß man von den Wahrnehmungen durch verständiges Nachdenken zurückgehen müsse auf die Ursache der Wahrnehmungen, der kann die Frage noch in der Weise aufwerfen, wie es die heutige Physik tut. Wer sich aber wirklich klar darüber geworden ist, daß Erklären der Erscheinungen nichts anderes heißt, als dieselben in einem von dem Verstande hergestellten Zusammenhange beobachten, der muß die Goethesche Farbenlehre im Prinzipe akzeptieren. Denn sie ist die Folge einer richtigen Anschauungsweise über das Verhältnis unseres Denkens zur Natur. Newton hatte diese Anschauungsweise nicht. Es fällt mir natürlich nicht ein, alle Einzelheiten der Goetheschen Farbenlehre verteidigen zu wollen. Was ich aufrecht erhalten wissen will, ist nur das Prinzip. Aber es kann auch hier nicht meine Aufgabe sein, die zu Goethes Zeit noch unbekannten Erscheinungen der Farbenlehre aus seinem Prinzipe abzuleiten. Sollte ich dereinst das Glück haben, Muße und Mittel zu besitzen, um eine Farbenlehre im Goetheschen Sinne ganz auf der Höhe der modernen Errungenschaften der Naturwissenschaft zu schreiben, so wäre in einer solchen allein die angedeutete Aufgabe zu lösen. Ich würde das als zu meinen schönsten Lebensaufgaben gehörig betrachten. Diese Einleitung [280] konnte sich allein auf die wissenschaftlich strenge Rechtfertigung von Goethes Denkweise in der Farbenlehre erstrecken. In dem Folgenden soll nun auch noch ein Licht auf den inneren Bau derselben geworfen werden.
XVI.3 Das System der Naturwissenschaft
Es könnte leicht erscheinen, als ob wir mit unseren Untersuchungen, die dem Denken nur eine auf die Zusammenfassung der Wahrnehmungen abzielende Befugnis zugestehen, die selbständige Bedeutung der Begriffe und Ideen, für die wir uns erst so energisch eingesetzt haben, nun selbst in Frage stellen.
Nur eine ungenügende Auslegung dieser Untersuchung kann zu dieser Ansicht führen.
Was erzielt das Denken, wenn es den Zusammenhang der Wahrnehmungen vollzieht?
Betrachten wir zwei Wahrnehmungen A und B. Diese sind uns zunächst als begriffsfreie Entitäten gegeben. Die Qualitäten, die meiner Sinneswahrnehmung gegeben sind, kann ich durch kein begriffliches Nachdenken in etwas anderes verwandeln. Ich kann auch keine gedankliche Qualität finden, durch die ich dasjenige, was in der sinnenfälligen Wirklichkeit gegeben ist, konstruieren könnte, wenn mir die Wahrnehmung mangelte. Ich kann nie einem Rotblinden eine Vorstellung der Qualität «Rot» verschaffen, auch wenn ich ihm dieselbe mit allen nur erdenklichen Mitteln begrifflich umschreibe. Die Sinneswahrnehmung hat somit ein Etwas, das nie in den Begriff eingeht; das wahrgenommen werden muß, wenn es überhaupt Gegenstandunserer Erkenntnis werden soll. Was für eine Rolle spielt also der Begriff, den wir mit irgendeiner Sinneswahrnehmung verknüpfen? Er muß offenbar ein ganz selbständiges Element, etwas Neues hinzubringen, das wohl zur Sinneswahrnehmung gehört, das aber in der Sinneswahrnehmung nicht zum Vorschein kommt.
Nun ist es aber doch gewiß, daß dieses neue «Etwas», das der Begriff zur Sinneswahrnehmung hinzubringt, erst das ausspricht, was unserem Erklärungsbedürfnis entgegenkommt. Wir sind erst imstande, irgendein Element in der Sinnenwelt zu verstehen, wenn wir einen Begriff davon haben. Was die sinnenfällige Wirklichkeit uns bietet, darauf können wir ja immer hinweisen; und jeder, der die Möglichkeit hat, gerade dieses in Rede stehende Element wahrzunehmen, weiß, um was es sich handelt. Durch den Begriff sind wir imstande, etwas von der Sinnenwelt zu sagen, was nicht wahrgenommen werden kann.
Daraus erhellt aber unmittelbar das Folgende. Wäre das Wesen der Sinneswahrnehmung in der sinnlichen Qualität erschöpft, dann könnte nicht in Form des Begriffes etwas völlig Neues hinzukommen. Die Sinneswahrnehmung ist also gar keine Totalität, sondern nur eine Seite einer solchen. Und zwar jene, die bloß angeschaut werden kann. Durch den Begriff erst wird uns das klar, was wir anschauen.
Jetzt können wir die inhaltliche Bedeutung dessen, was wir im vorigen Kapitel methodisch entwickelt haben, aussprechen: Durch die begriffliche Erfassung eines in der Sinnenwelt Gegebenen gelangt erst das Was des im Anschauen Gegebenen zur Erscheinung. Wir können den Inhalt des Angeschauten nicht aussprechen, weil dieser Inhalt sich in dem Wie des Angeschauten, d.h. in der Form des Auftretens erschöpft. Somit finden wir im Begriffe das Was, den andern Inhalt des in der Sinnenwelt in Form der Anschauung Gegebenen.
Erst im Begriffe also bekommt die Welt ihren vollen Inhalt. Nun haben wir aber gefunden, daß uns der Begriff über die einzelne Erscheinung hinaus auf den Zusammenhang der Dinge verweist. Somit stellt sich das, was in der Sinnenwelt getrennt, vereinzelt auftritt, für den Begriff als einheitliches Ganzes dar. So entsteht durch unsere naturwissenschaftliche Methodik als Endziel die monistische Naturwissenschaft; aber sie ist nicht abstrakter Monismus, der die Einheit schon vorausnimmt, und dann die einzelnen Tatsachen des konkreten Daseins in gezwungener Weise darunter subsumiert, sondern der konkrete Monismus, der Stück für Stück zeigt, daß die scheinbare Mannigfaltigkeit des Sinnendaseins sich zuletzt nur als eine ideelle Einheit erweist. Die Vielheit ist nur eine Form, in der sich der einheitliche Weltinhalt ausspricht. Die Sinne, die nicht in der Lage sind, diesen einheitlichen Inhalt zu erfassen, halten sich an die Vielheit; sie sind geborene Pluralisten. Das Denken aber überwindet die Vielheit und kommt so durch eine lange Arbeit auf das einheitliche Weltprinzip zurück.
Die Art nun, wie der Begriff (die Idee) in der Sinnenwelt sich auslebt, macht den Unterschied der Naturreiche. Gelangt das sinnenfällig wirkliche Wesen nur zu einem solchen Dasein, daß es völlig außerhalb des Begriffes steht, nur von ihm als einem Gesetze in seinen Veränderungen beherrscht wird, dann nennen wir dieses Wesen unorganisch. Alles, was mit einem solchen vorgeht, ist auf die Einflüsse eines anderen Wesens zurückzuführen; und wie die beiden aufeinander wirken, das läßt sich durch ein außer ihnen stehendes Gesetz erklären. In dieser Sphäre haben wir es mit Phänomenen und Gesetzen zu tun, die, wenn sie ursprünglich sind, Urphänomene heißen können. In diesem Falle steht also das wahrzunehmende Begriffliche außerhalb einer wahrgenommenen Mannigfaltigkeit.
Es kann aber eine sinnenfällige Einheit selbst schon über sich hinausweisen; sie kann, wenn wir sie erfassen wollen, uns nötigen, zu weiteren Bestimmungen als zu den uns wahrnehmbaren fortzugehen. Dann erscheint das begrifflich Erfaßbare als sinnenfällige Einheit. Die beiden, Begriff und Wahrnehmung, sind zwar nicht identisch, aber der Begriff erscheint nicht außer der sinnlichen Mannigfaltigkeit als Gesetz, sondern in derselben als Prinzip. Er liegt ihr als das sie Durchsetzende, nicht mehr sinnlich Wahrnehmbare zugrunde, das wir Typus nennen. Damit hat es die organische Naturwissenschaft zu tun.
Aber auch hier erscheint der Begriff noch nicht in seiner ihm eigenen Form als Begriff, sondern erst als Typus. Wo nun derselbe nicht mehr bloß als solcher, als durchsetzendes Prinzip, sondern in seiner Begriffsform selbst auftritt, da erscheint er als Bewußtsein, da kommt endlich das zur Erscheinung, was auf den unteren Stufen nur dem Wesen nach vorhanden ist. Der Begriff wird hier selbst zur Wahrnehmung. Wir haben es mit dem selbstbewußten Menschen zu tun.
Naturgesetz, Typus, Begriff sind die drei Formen, in denen sich das Ideelle auslebt. Das Naturgesetz ist abstrakt, über der sinnenfälligen Mannigfaltigkeit stehend, es beherrscht die unorganische Naturwissenschaft. Hier fallen Idee und Wirklichkeit ganz auseinander. Der Typus vereinigt schon beide in einem Wesen. Das Geistige wird wirkendes Wesen, aber es wirkt noch nicht als solches, es ist nicht als solches da, sondern muß, wenn es seinem Dasein nach betrachtet werden will, als sinnenfälliges angeschaut werden. So ist es im Reiche der organischen Natur. Der Begriff ist auf wahrnehmbare Weise vorhanden. Im menschlichen Bewußtsein ist der Begriff selbst das Wahrnehmbare. Anschauung und Idee decken sich. Es ist eben das Ideelle, welches angeschaut wird. Deshalb können auf dieser Stufe auch die ideellen Daseinskerne der unteren Naturstufen zur Erscheinung kommen. Mit dem menschlichen Bewußtsein ist die Möglichkeit gegeben, daß das, was auf den unteren Stufen des Daseins bloß ist, aber nicht erscheint, nun auch erscheinende Wirklichkeit wird.
XVI.4 Das System der Farbenlehre
Goethes Wirken fällt in eine Zeit, in welcher das Streben nach einem absoluten, in sich selber seine Befriedigung findenden Wissen alle Geister mächtig erfüllte. Das Erkennen wagt sich wieder einmal mit heiligem Eifer daran, alle Erkenntnismittel zu untersuchen, um der Lösung der höchsten Fragen näher zu kommen. Die Zeit der morgenländischen Theosophie, Plato und Aristoteles, dann Descartes und Spinoza sind in den vorangehenden Epochen der Weltgeschichte die Repräsentanten einer gleich innerlichen Vertiefung. Goethe ist ohne Kant, Fichte, Schelling und Hegel nicht denkbar. War diesen Geistern vor allem der Blick in die Tiefe, das Auge für das Höchste eigen, so ruhte sein Anschauen auf den Dingen der unmittelbaren Wirklichkeit. Aber in diesem Anschauen liegt etwas von jener Tiefe selbst. Goethe übte diesen Blick in der Betrachtung der Natur. Der Geist jener Zeit ist wie ein Fluidum über seine Naturbetrachtungen ausgegossen. Daher das Gewaltige derselben, das bei der Betrachtung der Einzelheiten sich stets den großen Zug bewahrt. Goethes Wissenschaft geht immer auf das Zentrale.
Mehr als anderswo können wir diese Wahrnehmung an Goethes Farbenlehre machen. Sie ist ja neben dem Versuche über die Metamorphose der Pflanze allein zu einem abgeschlossenen Ganzen geworden. Und was für ein streng geschlossenes, von der Natur der Sache selbst gefordertes System stellt sie dar!
Wir wollen diesen Bau einmal, seinem inneren Gefüge nach, betrachten.
Daß irgend etwas, was im Wesen der Natur begründet ist, zur Erscheinung komme, dazu ist die notwendige Voraussetzung, daß eine Gelegenheitsursache, ein Organ da sei, in dem das eben Besagte sich darstelle. Die ewigen, ehernen Gesetze der Natur würden zwar herrschen, auch wenn sie nie in einem Menschengeiste sich darstellten, allein ihre Erscheinung als solche wäre nicht möglich. Sie wären bloß dem Wesen, nicht der Erscheinung nach da. So auch wäre es mit der Welt des Lichtes und der Farbe, wenn kein wahrnehmendes Auge sich ihnen entgegenstellte. Die Farbe darf nicht in Schopenhauerscher Manier von dem Auge ihrem Wesen nach abgeleitet werden, wohl aber muß in dem Auge die Möglichkeit nachgewiesen werden, daß die Farbe erscheine. Das Auge bedingt nicht die Farbe, aber es ist die Ursache ihrer Erscheinung.
Hier muß also die Farbenlehre einsetzen. Sie muß das Auge untersuchen, dessen Natur bloßlegen. Deshalb stellt Goethe die physiologische Farbenlehre an den Anfang. Aber seine Auffassung ist auch da von dem, was man gewöhnlich unter diesem Teile der Optik versteht, wesentlich verschieden. Er will nicht aus dem Baue des Auges dessen Funktionen erklären, sondern er will das Auge unter verschiedenen Bedingungen betrachten, um zur Erkenntnis seiner Fähigkeiten und Vermögen zu kommen. Sein Vorgang ist auch hier ein wesentlich beobachtender. Was stellt sich ein, wenn Licht und Finsternis auf das Auge wirken; was, wenn begrenzte Bilder in Beziehung zu demselben treten usw.? Er fragt zunächst nicht, welche Prozesse spielen sich im Auge ab, wenn diese oder jene Wahrnehmung zustande kommt, sondern er sucht zu ergründen, was durch das Auge im lebendigen Sehakt zustande kommen kann. Für seinen Zweck ist das zunächst die allein wichtige Frage. Die andere gehört streng genommen nicht in das Gebiet der physiologischen Farbenlehre, sondern in die Lehre von dem menschlichen Organismus, d. h. in die allgemeine Physiologie. Goethe hat es nur zu tun mit dem Auge, sofern es sieht und nicht mit der Erklärung des Sehens aus jenen Wahrnehmungen, die wir an dem toten Auge machen können.
Von da aus geht er dann über zu den objektiven Vorgängen, welche die Farbenerscheinungen veranlassen. Und hier ist wichtig festzuhalten, daß Goethe unter diesen objektiven Vorgängen keineswegs die nicht mehr wahrnehmbaren hypothetischen stofflichen oder Bewegungsvorgänge im Sinne hat, sondern daß er durchaus innerhalb der wahrnehmbaren Welt stehen bleibt. Seine physische Farbenlehre, welche den zweiten Teil bildet, sucht die Bedingungen, die vom Auge unabhängig sind und mit der Entstehung der Farben zusammenhängen. Dabei sind aber diese Bedingungen doch immer noch Wahrnehmungen. Wie mit Hilfe des Prismas, der Linse usw. an dem Lichte die Farben entstehen, das untersucht er hier. Er bleibt aber vorläufig dabei stehen, die Farbe als solche in ihrem Werden zu verfolgen, zu beobachten, wie sie an sich, abgesondert von Körpern entsteht.
Erst in einem eigenen Kapitel, der chemischen Farbenlehre, geht er über zu den fixierten, an den Körpern haftenden Farben. Ist in der physiologischen Farbenlehre die Frage beantwortet, wie können Farben überhaupt zur Erscheinung kommen, in der physischen jene, wie kommen die Farben unter äußeren Bedingungen zustande, so beantwortet er hier das Problem, wie erscheint die Körperwelt als farbige?
So schreitet Goethe von der Betrachtung der Farbe, als eines Attributes der Erscheinungswelt, zu dieser selbst als in jenem Attribute erscheinend vorwärts. Hier bleibt er nicht stehen, sondern er betrachtet zuletzt die höhere Beziehung der farbigen Körperwelt auf die Seele in dem Kapitel: «Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe.»
Dies ist der strenge, geschlossene Weg einer Wissenschaft: von dem Subjekte als der Bedingung wieder zurück zu dem Subjekte als dem sich in und mit seiner Welt befriedigenden Wesen.
Wer wird hier nicht den Drang der Zeit wiedererkennen – vom Subjekte zum Objekte und wieder in das Subjekt zurück -, der Hegel zur Architektonik seines ganzen Systems geführt hat.
In diesem Sinne erscheint denn als das eigentlich optische Hauptwerk Goethes der «Entwurf einer Farbenlehre». Die beiden Stücke: «Beiträge zur Optik» und die «Elemente der Farbenlehre» müssen als Vorstudien gelten. Die «Enthüllungen der Theorie Newtons» sind nur eine polemische Beigabe seiner Arbeit.
XVI.5 Der Goethesche Raumbegriff
Da nur bei einer mit der Goetheschen ganz zusammenfallenden Anschauung vom Raume ein volles Verständnis seiner physikalischen Arbeiten möglich ist, so wollen wir hier dieselbe entwickeln. Wer zu dieser Anschauung kommen will, der muß aus unseren bisherigen Ausführungen folgende Überzeugung gewonnen haben: 1. Die Dinge, die uns in der Erfahrung als einzelne gegenübertreten, haben einen inneren Bezug aufeinander. Sie sind in Wahrheit durch ein einheitliches Weltenband zusammengehalten. Es lebt in ihnen allen ein gemeinsames Prinzip. 2. Wenn unser Geist an die Dinge herantritt und das Getrennte durch ein geistiges Band zu umfassen strebt, so ist die begriffliche Einheit, die er herstellt, den Objekten nicht äußerlich, sondern sie ist herausgeholt aus der inneren Wesenheit der Natur selbst. Die menschliche Erkenntnis ist kein außer den Dingen sich abspielender, aus bloßer subjektiver Willkür entspringender Prozeß, sondern, was da in unserem Geist als Naturgesetz auftritt, was sich in unserer Seele auslebt, das ist der Herzschlag des Universums selbst.
Zu unserem jetzigen Zwecke wollen wir die alleräußerlichste Beziehung, die unser Geist zwischen den Objekten der Erfahrung herstellt, einer Betrachtung unterziehen. Wir betrachten den einfachsten Fall, in dem uns die Erfahrung zu einer geistigen Arbeit auffordert. Es seien zwei einfache Elemente der Erscheinungswelt gegeben. Um unsere Untersuchung nicht zu komplizieren, nehmen wir möglichst Einfaches, z. B. zwei leuchtende Punkte. Wir wollen ganz davon absehen, daß wir vielleicht in jedem dieser leuchtenden Punkte selbst schon etwas ungeheuer Kompliziertes vor uns haben, das unserem Geiste eine Aufgabe stellt. Wir wollen auch von der Qualität der konkreten Elemente der Sinnenwelt, die wir vor uns haben, absehen und ganz allein den Umstand in Betracht ziehen, daß wir zwei voneinander abgesonderte, d. h. für die Sinne abgesondert erscheinende Elemente vor uns haben. Zwei Faktoren, die jeder für sich geeignet sind, auf unsere Sinne einen Eindruck zu machen: das ist alles, was wir voraussetzen. Wir wollen ferner annehmen, daß das Dasein des einen dieser Faktoren jenes des anderen nicht ausschließt. Ein Wahrnehmungsorgan kann beide wahrnehmen.
Wenn wir nämlich annehmen, daß das Dasein des einen Elementes in irgendeiner Weise abhängig von dem des anderen ist, so stehen wir vor einem von unserem jetzigen verschiedenen Problem. Ist das Dasein von B ein solches, daß es das Dasein von A ausschließt und doch von ihm seinem Wesen nach abhängig ist, dann müssen A und B in einem Zeitverhältnis stehen. Denn die Abhängigkeit des B von A bedingt, wenn man sich gleichzeitig vorstellt, daß das Dasein von B jenes von A ausschließt, daß dies letztere dem ersteren vorangeht. Doch das gehört auf ein anderes Blatt.
Für unseren jetzigen Zweck wollen wir ein solches Verhältnis nicht annehmen. Wir setzen voraus, daß die Dinge, mit denen wir es zu tun haben, sich hinsichtlich ihres Daseins nicht ausschließen, sondern vielmehr miteinander bestehende Wesenheiten sind. Wenn von jeder durch die innere Natur geforderten Beziehung abgesehen wird, so bleibt nur dies übrig, daß überhaupt ein Bezug der Sonderqualitäten besteht, daß ich von der einen auf die andere übergehen kann. Ich kann von dem einen Erfahrungselement zum zweiten gelangen. Für niemanden kann ein Zweifel darüber bestehen, was das für ein Verhältnis sein kann, das ich zwischen Dingen herstelle, ohne auf ihre Beschaffenheit, auf ihr Wesen selbst einzugehen. Wer sich fragt, welcher Übergang von einem Dinge zum anderen gefunden werden kann, wenn dabei das Ding selbst gleichgültig bleibt, der muß sich darauf unbedingt die Antwort geben:
der Raum. Jedes andere Verhältnis muß sich auf die qualitative Beschaffenheit dessen gründen, was gesondert im Weltendasein auftritt. Nur der Raum nimmt auf gar nichts anderes Rücksicht als darauf, daß die Dinge eben gesonderte sind. Wenn ich überlege: A ist oben, B unten, so bleibt mir völlig gleichgültig, was A und B sind. Ich verbinde mit ihnen gar keine andere Vorstellung, als daß sie eben getrennte Faktoren der von mir mit den Sinnen aufgefaßten Welt sind.
Was unser Geist will, wenn er an die Erfahrung herantritt, das ist: er will die Sonderheit überwinden, er will aufzeigen, daß in dem Einzelnen die Kraft des Ganzen zu sehen ist. Bei der räumlichen Anschauung will er sonst gar nichts überwinden, als die Besonderheit als solche. Er will die allerallgemeinste Beziehung herstellen. Daß A und B jedes nicht eine Welt für sich sind, sondern einer Gemeinsamkeit angehören, das sagt die räumliche Betrachtung. Dies ist der Sinn des Nebeneinander. Wäre ein jedes Ding ein Wesen für sich, dann gebe es kein Nebeneinander. Ich könnte überhaupt einen Bezug der Wesen aufeinander nicht herstellen.
Wir wollen nun untersuchen, was weiteres aus dieser Herstellung einer äußeren Beziehung zweier Besonderheiten folgt. Zwei Elemente kann ich nur auf eine Art in solcher Beziehung denken. Ich denke A neben B. Dasselbe kann ich nun mit zwei anderen Elementen der Sinnenwelt C und D machen. Ich habe dadurch einen konkreten Bezug zwischen A und B und einen solchen zwischen C und D festgesetzt. Ich will nun von den Elementen A, B, C und D ganz absehen und nur die konkreten zwei Bezüge wieder aufeinander beziehen. Es ist klar, daß ich diese als zwei besondere Entitäten geradeso aufeinander beziehen kann, wie A und B selbst. Was ich hier aufeinander beziehe, sind konkrete Beziehungen. Ich kann sie a und b nennen. Wenn ich nun noch um einen Schritt weiter gehe, so kann ich a wieder auf b beziehen. Aber jetzt habe ich alle Besonderheit bereits verloren. Ich finde, wenn ich a betrachte, kein besonderes A und B mehr, welche aufeinander bezogen werden; ebensowenig bei b. Ich finde in beiden nichts anderes, als daß überhaupt bezogen wurde. Diese Bestimmung ist aber in a und b ganz die gleiche. Was es mir möglich machte, a und b noch auseinander zu halten, das war, daß sie auf A, B, C und D hinwiesen. Lasse ich diesen Rest von Besonderheiten weg und beziehe ich nur a und b noch aufeinander, d.h. den Umstand, daß überhaupt bezogen wurde (nicht daß etwas Bestimmtes bezogen wurde), dann bin ich wieder ganz allgemein bei der räumlichen Beziehung angekommen, von der ich ausgegangen bin. Weiter kann ich nicht mehr gehen. Ich habe das erreicht, was ich vorher angestrebt habe: der Raum selbst steht vor meiner Seele.
Hierin liegt das Geheimnis der drei Dimensionen. In der ersten Dimension beziehe ich zwei konkrete Erscheinungselemente der Sinnenwelt aufeinander; in der zweiten Dimension beziehe ich diese räumlichen Bezüge selbst aufeinander. Ich habe eine Beziehung zwischen Beziehungen hergestellt. Die konkreten Erscheinungen habe ich abgestreift, die konkreten Beziehungen sind mir geblieben. Nun beziehe ich diese selbst räumlich aufeinander. Das heißt: ich sehe ganz davon ab, daß es konkrete Beziehungen sind; dann aber muß ich ganz dasselbe, was ich in der einen finde, in der zweiten wiederfinden. Ich stelle Beziehungen zwischen Gleichem her. Jetzt hört die Möglichkeit des Beziehens auf, weil der Unterschied aufhört.
Das, was ich vorher als Gesichtspunkt meiner Betrachtung angenommen habe, die ganz äußerliche Beziehung, habe ich jetzt selbst als Sinnenvorstellung wieder erreicht; von der räumlichen Betrachtung bin ich, nachdem ich dreimal die Operation durchgeführt habe, zum Raum, d. i. zu meinem Ausgangspunkte gekommen.
Daher kann der Raum nur drei Dimensionen haben. Was wir hier mit der Raumvorstellung unternommen haben, ist eigentlich nur ein spezieller Fall der von uns immer angewendeten Methode, wenn wir an die Dinge betrachtend herantreten. Wir stellen konkrete Objekte unter einen allgemeinen Gesichtspunkt. Dadurch gewinnen wir Begriffe von den Einzelheiten; diese Begriffe betrachten wir dann selbst wieder unter den gleichen Gesichtspunkten, so daß wir dann nur mehr die Begriffe der Begriffe vor uns haben; verbinden wir auch diese noch, dann verschmelzen sie in jene ideelle Einheit, die mit nichts anderem mehr als mit sich selbst unter einen Gesichtspunkt gebracht werden könnte. Nehmen wir ein besonderes Beispiel. Ich lerne zwei Menschen kennen: A und B. Ich betrachte sie unter dem Gesichtspunkte der Freundschaft. In diesem Falle werde ich einen ganz bestimmten Begriff a von der Freundschaft der beiden Leute bekommen. Ich betrachte nun zwei andere Menschen, C und D, unter dem gleichen Gesichtspunkte. Ich bekomme einen anderen Begriff b von dieser Freundschaft. Nun kann ich weiter gehen und diese beiden Freundschaftsbegriffe aufeinander beziehen. Was mir da übrig bleibt, wenn ich von dem Konkreten, das ich gewonnen habe, absehe, ist der Begriff der Freundschaft überhaupt. Diesen kann ich aber realiter auch erhalten, wenn ich die Menschen E und F unter dem gleichen Gesichtspunkte und ebenso G und H betrachte. In diesem wie in unzähligen anderen Fällen kann ich den Begriff der Freundschaft überhaupt erhalten. Alle diese Begriffe sind aber dem Wesen nach miteinander identisch; und wenn ich sie unter dem gleichen Gesichtspunkte betrachte, dann stellt sich heraus, daß ich eine Einheit gefunden habe. Ich bin wieder zu dem zurückgekehrt, wovon ich ausgegangen bin.
Der Raum ist also die Ansicht von Dingen, eine Art, wie unser Geist sie in eine Einheit zusammenfaßt. Die drei Dimensionen verhalten sich dabei in folgender Weise. Die erste Dimension stellt einen Bezug zwischen zwei Sinneswahrnehmungen her.101 Sie ist also eine konkrete Vorstellung. Die zweite Dimension bezieht zwei konkrete Vorstellungen aufeinander und geht dadurch in das Gebiet der Abstraktion über. Die dritte Dimension endlich stellt nur noch die ideelle Einheit zwischen den Abstraktionen her. Es ist also ganz unrichtig, die drei Dimensionen des Raumes als völlig gleichbedeutend zu nehmen. Welche die erste ist, hängt natürlich von den wahrgenommenen Elementen ab. Dann aber haben die anderen eine ganz bestimmte und andere Bedeutung als diese erste. Es war von Kant ganz irrtümlich angenommen, daß er den Raum als totum auffaßte, statt als eine begrifflich in sich bestimmbare Wesenheit.
Wir haben nun bisher vom Raume als von einem Verhältnis, einer Beziehung, gesprochen. Es fragt sich nun aber: Gibt es denn nur dieses Verhältnis des Nebeneinander? Oder ist eine absolute Ortsbestimmung für ein jedes Ding vorhanden? Dieses letztere ist natürlich durch unsere obigen Erklärungen gar nicht berührt. Untersuchen wir aber einmal, ob es ein solches Ortsverhältnis, ein ganz bestimmtes «Da» auch gibt. Was bezeichne ich in Wirklichkeit, wenn ich von einem solchen «Da» spreche? Doch nichts anderes, als daß ich einen Gegenstand angebe, dem der eigentlich in Frage kommende unmittelbar benachbart ist. «Da» heißt in Nachbarschaft von einem durch mich bezeichneten Objekte. Damit ist aber die absolute Ortsangabe auf ein Raumverhältnis zurückgeführt. Die angedeutete Untersuchung entfällt somit.
Werfen wir nun noch ganz bestimmt die Frage auf: Was ist nach den vorausgegangenen Untersuchungen der Raum? Nichts anderes als eine in den Dingen liegende Notwendigkeit, ihre Besonderheit in ganz äußerlicher Weise, ohne auf ihre Wesenheit einzugehen, zu überwinden und sie in eine Einheit, schon als solche äußerliche, zu vereinigen. Der Raum ist also eine Art, die Welt als eine Einheit zu erfassen. Der Raum ist eine Idee. Nicht, wie Kant glaubte, eine Anschauung.
101 Sinneswahrnehmung bedeutet hier dasselbe, was Kant Empfindung nennt.
XVI.6 Goethe, Newton und die Physiker
Als Goethe an die Betrachtung des Wesens der Farben herantrat, war es wesentlich ein Kunstinteresse, das ihn auf diesen Gegenstand brachte. Sein intuitiver Geist erkannte bald, daß die Farbengebung in der Malerei einer tiefen Gesetzlichkeit unterliege. Worinnen diese Gesetzlichkeit besteht, das konnte weder er selbst entdecken, solange er sich nur im Gebiete der Malerei theoretisierend bewegte, noch vermochten ihm unterrichtete Maler darüber eine befriedigende Auskunft zu geben. Diese wußten wohl praktisch, wie sie die Farben zu mischen und anzuwenden hatten, konnten sich aber darüber nicht in Begriffen aussprechen. Als Goethe nun in Italien nicht nur den erhabensten Kunstwerken dieser Art, sondern auch der farbenprächtigsten Natur gegenübertrat, da erwachte in ihm besonders mächtig der Drang, die Naturgesetze des Farbenwesens zu erkennen.
Über das Geschichtliche legt Goethe selbst in der «Geschichte der Farbenlehre» ein ausführliches Bekenntnis ab. Hier wollen wir nur das Psychologische und Sachliche auseinandersetzen.
Gleich nach seiner Rückkehr aus Italien begannen Goethes Farbenstudien. Dieselben wurden besonders intensiv in den Jahren 1790 und 1791, um dann den Dichter fortdauernd bis an sein Lebensende zu beschäftigen. Wir müssen uns den Stand der Goetheschen Weltanschauung in dieser Zeit, am Beginne seiner Farbenstudien, vergegenwärtigen. Damals hatte er bereits seinen großartigen Gedanken von der Metamorphose der organischen Wesen gefaßt. Es war ihm schon durch seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens die Anschauung der Einheit alles Naturdaseins aufgegangen. Das Einzelne erschien ihm als besondere Modifikation des idealen Prinzipes, das im Ganzen der Natur waltet. Er hatte schon in seinen Briefen aus Italien ausgesprochen, daß eine Pflanze nur dadurch Pflanze ist, daß sie die «Idee der Pflanze» in sich trage. Diese Idee galt ihm als etwas Konkretes, als mit geistigem Inhalte erfüllte Einheit in allen besonderen Pflanzen. Sie war mit den Augen des Leibes nicht, wohl aber mit dem Auge des Geistes zu erfassen. Wer sie sehen kann, sieht sie in jeder Pflanze.
Damit erscheint das ganze Reich der Pflanzen und bei weiterer Ausgestaltung dieser Anschauung das ganze Naturreich überhaupt als eine mit dem Geiste zu erfassende Einheit.
Niemand aber vermag aus der bloßen Idee heraus die Mannigfaltigkeit, die vor den äußeren Sinnen auftritt, zu konstruieren. Die Idee vermag der intuitive Geist zu erkennen. Die einzelnen Gestaltungen sind ihm nur zugänglich, wenn er die Sinne nach außen richtet, wenn er beobachtet, anschaut. Warum eine Modifikation der Idee gerade so und nicht anders als sinnenfällige Wirklichkeit auftritt, dazu muß der Grund nicht ausgeklügelt, sondern im Reich der Wirklichkeit gesucht werden.
Dies ist Goethes eigenartige Anschauungsweise, die sich wohl am besten als empirischer Idealismus kennzeichnen läßt. Sie kann mit den Worten zusammengefaßt werden: Den Dingen einer sinnlichen Mannigfaltigkeit, soweit sie gleichartig sind, liegt eine geistige Einheit zugrunde, die jene Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit bewirkt.
Von diesem Punkte ausgehend, entstand für Goethe die Frage: Welche geistige Einheit liegt der Mannigfaltigkeit der Farbenwahrnehmungen zugrunde? Was nehme ich in jeder Farbenmodifikation wahr? Und da ward ihm bald klar, daß das Licht die notwendige Grundlage jeder Farbe sei. Keine Farbe ohne Licht. Die Farben aber sind die Modifikationen des Lichtes. Und nun mußte er jenes Element in der Wirklichkeit suchen, welches das Licht modifiziert, spezifiziert. Er fand, daß dies die lichtlose Materie, die tätige Finsternis, kurz das dem Licht Entgegengesetzte ist. So war ihm jede Farbe durch Finsternis modifiziertes Licht. Es ist vollständig unrichtig, wenn man glaubt, Goethe habe mit dem Lichte etwa das konkrete Sonnenlicht, das gewöhnlich «weißes Licht» genannt wird, gemeint. Nur der Umstand, daß man sich von dieser Vorstellung nicht losmachen kann und das auf so komplizierte Weise zusammengesetzte Sonnenlicht als den Repräsentanten des Lichtes an sich ansieht, verhindert das Verständnis der Goetheschen Farbenlehre. Das Licht, wie es Goethe auffaßt, und wie er es der Finsternis als seinem Gegenteil gegenüberstellt, ist eine rein geistige Entität, einfach das allen Farbenempfindungen Gemeinsame. Wenn Goethe das auch nirgends klar ausgesprochen hat, so ist doch seine ganze Farbenlehre so angelegt, daß nur dieses darunter verstanden werden darf. Wenn er mit dem Sonnenlichte experimentiert, um seine Theorie durchzuführen, so ist der Grund davon nur der, daß das Sonnenlicht, trotzdem es das Resultat so komplizierter Vorgänge ist, wie sie eben im Sonnenkörper auftreten, doch für uns sich als Einheit darstellt, die ihre Teile nur als aufgehobene in sich enthält. Das, was wir mit Hilfe des Sonnenlichtes für die Farbenlehre gewinnen, ist aber doch nur eine Annäherung an die Wirklichkeit. Man darf Goethes Theorie nicht so auffassen, als wenn nach ihr in jeder Farbe Licht und Finsternis real enthalten wären. Nein, sondern das Wirkliche, das unserem Auge gegenübertritt, ist nur eine bestimmte Farbennuance. Nur der Geist vermag diese sinnenfällige Tatsache in zwei geistige Entitäten auseinanderzulegen: Licht und Nicht-Licht.
Die äußeren Veranstaltungen, wodurch dieses geschieht, die materiellen Vorgänge in der Materie, werden davon nicht im mindesten berührt. Das ist eine ganz andere Sache. Daß ein Schwingungsvorgang im Äther vorgeht, während vor mir «Rot» auftritt, das soll nicht bestritten werden. Aber was real eine Wahrnehmung zustande bringt, das hat, wie wir schon gezeigt haben, mit dem Wesen des Inhaltes gar nichts zu tun.
Man wird mir einwenden: Es läßt sich aber nachweisen, daß alles an der Empfindung subjektiv ist und nur der Bewegungsvorgang, der ihr zugrunde liegt, das außer unserem Gehirne real Existierende. Dann könnte man von einer physikalischen Theorie der Wahrnehmungen überhaupt nicht sprechen, sondern nur von einer solchen der zugrunde liegenden Bewegungsvorgänge. Mit diesem Beweise verhält es sich ungefähr so: Wenn jemand an einem Orte A. ein Telegramm an mich, der ich mich in B. befinde, aufgibt, dann ist das, was ich von dem Telegramm in die Hände bekomme, restlos in B. entstanden. Es ist der Telegraphist in B.; er schreibt auf Papier, das nie in A. war, mit Tinte, die nie in A. war; er selbst kennt A. gar nicht usw.; kurz es läßt sich beweisen, daß in das, was mir vorliegt, gar nichts von A. eingeflossen ist. Dennoch ist alles, was von B. herrührt, für den Inhalt, das Wesen des Telegrammes ganz gleichgültig; was für mich in Betracht kommt, ist nur durch B. vermittelt. Will ich das Wesen des Inhaltes des Telegrammes erklären, dann muß ich ganz von dem absehen, was von B. herrührt.
Ebenso verhält es sich mit der Welt des Auges. Die Theorie muß sich auf das dem Auge Wahrnehmbare erstrecken und innerhalb desselben die Zusammenhänge suchen. Die materiellen raum-zeitlichen Vorgänge mögen recht wichtig sein für das Zustandekommen der Wahrnehmungen; mit dem Wesen derselben haben sie nichts zu tun.
Ebenso verhält es sich mit der heute vielfach besprochenen Frage: ob den verschiedenen Naturerscheinungen:
Licht, Wärme, Elektrizität usw. nicht ein und dieselbe Bewegungsform im Äther zugrunde liege? Hertz hat nämlich kürzlich gezeigt, daß die Verbreitung der elektrischen Wirkungen im Raume denselben Gesetzen unterliegt wie die Verbreitung der Lichtwirkungen. Daraus kann man schließen, daß Wellen, wie sie der Träger des Lichtes sind, auch der Elektrizität zugrunde liegen. Man hat ja auch bisher schon angenommen, daß im Sonnenspektrum nur eine Art von Wellenbewegung tätig ist, die sich, je nachdem sie auf wärme-, licht- oder chemisch-empfindende Reagentien fällt, Wärme-, Licht- oder chemische Wirkungen erzeugen.
Dies ist ja aber von vornherein klar. Wenn man untersucht, was in dem Räumlich-Ausgedehnten vorgeht, während die in Rede stehenden Entitäten vermittelt werden, dann muß man auf eine einheitliche Bewegung kommen. Denn ein Medium, in dem nur Bewegung möglich ist, muß auf alles durch Bewegung reagieren. Es wird auch alle Vermittelungen, die es übernehmen muß, durch Bewegung vollbringen. Wenn ich dann die Formen dieser Bewegung untersuche, dann erfahre ich nicht: was das Vermittelte ist, sondern auf welche Weise es an mich gebracht wird. Es ist einfach ein Unding, zu sagen: Wärme oder Licht seien Bewegung. Bewegung ist nur die Reaktion der bewegungsfähigen Materie auf das Licht.
Goethe selbst hat die Wellentheorie noch erlebt und in ihr nichts gesehen, was mit seiner Überzeugung von dem Wesen der Farbe nicht in Einklang zu bringen wäre.
Man muß sich nur von der Vorstellung losmachen, daß Licht und Finsternis bei Goethe reale Wesenheiten sind, sondern sie als bloße Prinzipien, geistige Entitäten ansehen; dann wird man eine ganz andere Ansicht über seine Farbenlehre gewinnen, als man sie gewöhnlich sich bildet. Wenn man wie Newton unter dem Lichte nur eine Mischung aus allen Farben versteht, dann verschwindet jeglicher Begriff von dem konkreten Wesen «Licht». Dasselbe verflüchtigt sich vollständig zu einer leeren Allgemeinvorstellung, der in der Wirklichkeit nichts entspricht. Solche Abstraktionen waren der Goetheschen Weltanschauung fremd. Für ihn mußte eine jegliche Vorstellung konkreten Inhalt haben. Nur hörte für ihn das «Konkrete» nicht beim «Physischen» auf.
Für «Licht» hat die moderne Physik eigentlich gar keinen Begriff. Sie kennt nur spezifizierte Lichter, Farben, die in bestimmten Mischungen den Eindruck: Weiß hervorrufen. Aber auch dieses «Weiß» darf nicht mit dem Lichte an sich identifiziert werden. Weiß ist eigentlich auch nichts weiter als eine Mischfarbe. Das «Licht» im Goetheschen Sinne kennt die moderne Physik nicht; ebensowenig die «Finsternis». Die Farbenlehre Goethes bewegt sich somit in einem Gebiete, welches die Begriffsbestimmungen der Physiker gar nicht berührt. Die Physik kennt einfach alle die Grundbegriffe der Goetheschen Farbenlehre nicht. Sie kann somit von ihrem Standpunkte aus diese Theorie gar nicht beurteilen. Goethe beginnt eben da, wo die Physik aufhört.
Es zeugt von einer ganz oberflächlichen Auffassung der Sache, wenn man fortwährend von dem Verhältnis Goethes zu Newton und zu der modernen Physik spricht und dabei gar nicht daran denkt, daß damit auf zwei ganz verschiedene Arten, die Welt anzusehen, gewiesen ist.
Wir sind der Überzeugung, daß derjenige, welcher unsere Erörterungen über die Natur der Sinnesempfindungen im richtigen Sinne erfaßt hat, gar keinen andern Eindruck von der Goetheschen Farbenlehre gewinnen kann, als den geschilderten. Wer freilich diese unsere grundlegenden Theorien nicht zugibt, der bleibt auf dem Standpunkt der physikalischen Optik stehen und damit lehnt er auch Goethes Farbenlehre ab.
XVII. Goethe gegen den Atomismus
Es ist heute viel die Rede von der fruchtbaren Entwicklung der Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert. Ich glaube, man kann mit Recht nur von bedeutungsvollen naturwissenschaftlichen Erfahrungen sprechen, die gemacht worden sind, und von einer Umgestaltung der praktischen Lebensverhältnisse durch diese Erfahrungen. Was aber die Grundvorstellungen betrifft, durch welche die moderne Naturanschauung die Erfahrungswelt zu begreifen sucht, so halte ich diese für ungesund und einem energischen Denken gegenüber für unzulänglich. Ich habe mich darüber bereits auf S. 258 ff. dieser Schrift ausgesprochen. In jüngster Zeit hat nun ein namhafter Natur-forscher der Gegenwart, der Chemiker Wilhelm Ostwald dieselbe Ansicht geäußert.102 Er sagt: «Vom Mathematiker bis zum praktischen Arzt wird jeder naturwissenschaftlich denkende Mensch auf die Frage, wie er sich die Welt <im Innern> gestaltet denkt, seine Ansicht dahin zusammenfassen, daß die Dinge sich aus bewegten Atomen zusammensetzen, und daß diese Atome und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte die letzten Realitäten seien, aus denen die einzelnen Erscheinungen bestehen. In hundertfältigen Wiederholungen kann man diesen Satz hören und lesen, daß für die physikalische Welt kein anderes Verständnis gefunden werden kann, als indem man sie auf ‹Mechanik der Atome› zurückführt; Materie und Bewegung erscheinen als die letzten Begriffe, auf welche die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen bezogen werden muß. Man kann diese Auffassung den wissenschaftlichen Materialismus nennen.» Ich habe in dieser Schrift S. 258 ff. gesagt, daß die modernen physikalischen Grundanschauungen unhaltbar sind. Dasselbe spricht Ostwald (S.6. seines Vortrages) mit folgenden Worten aus: «Daß diese mechanistische Weltansicht den Zweck nicht erfüllt, für den sie ausgebildet worden ist; daß sie mit unzweifelhaften und allgemein bekannten und anerkannten Wahrheiten in Widerspruch tritt.» Die Übereinstimmung der Ausführungen Ostwalds und der meinigen geht noch weiter. Ich sage (S. 274 dieser Schrift): «Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie.» Ostwald sagt (S. 12f.): «Wenn wir uns aber überlegen, daß alles, was wir von einem bestimmten Stoffe wissen, die Kenntnis seiner Eigenschaften ist, so sehen wir, daß die Behauptung, es sei ein bestimmter Stoff zwar noch vorhanden, hätte aber keine von seinen Eigenschaften mehr, von einem reinen Nonsens nicht sehr weit entfernt ist. Tatsächlich dient uns diese rein formelle Annahme nur dazu, die allgemeinen Tatsachen der chemischen Vorgänge, insbesondere die stöchiometrischen Massengesetze, mit dem willkürlichen Begriffe einer an sich unveränderten Materie zu vereinigen.» Und S. 256 dieser Schrift ist zu lesen: «Diese Erwägungen sind es, die mich dazu zwangen, jede Theorie der Natur, die prinzipiell über das Gebiet der wahrgenommenen Welt hinausgeht, als unmöglich abzulehnen und lediglich in der Sinnenwelt das einzige Objekt der Naturwissenschaft zu suchen.» Das Gleiche finde ich in Ostwalds Vortrag ausgesprochen auf S. 25 und 22: «Was erfahren wir denn von der physischen Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen.» «Realitäten, aufweisbare und meßbare Größen miteinander in bestimmte Beziehung zu setzen, so daß, wenn die einen gegeben sind, die anderen gefolgert werden können, das ist die Aufgabe der Wissenschaft und sie kann nicht durch Unterlegung irgendeines hypothetischen Bildes, sondern nur durch Nachweis gegenseitiger Abhängigkeitsbeziehungen meßbarer Größen gelöst werden.» Wenn man davon absieht, daß Ostwald im Sinne eines Naturforschers der Gegenwart spricht, und deshalb in der Sinnenwelt nichts als aufweisbare und meßbare Größen sieht, so entspricht seine Ansicht vollständig der meinigen, wie ich sie z. B. in dem Satze (S. 299) ausgesprochen habe: «Die Theorie muß sich auf das … Wahrnehmbare erstrecken und innerhalb desselben die Zusammenhänge suchen.»
Ich habe in meinen Ausführungen über Goethes Farbenlehre den gleichen Kampf gegen die naturwissenschaftlichen Grundvorstellungen der Gegenwart geführt wie Prof. Ostwald in seinem Vortrage «Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus». Was ich an die Stelle dieser Grundvorstellungen gesetzt habe, stimmt allerdings nicht überein mit den Aufstellungen Ostwalds. Denn dieser geht, wie ich weiter unten zeigen werde, von denselben oberflächlichen Voraussetzungen aus wie seine Gegner, die Anhänger des wissenschaftlichen Materialismus. Ich habe auch ausgeführt, daß die Grundvorstellungen der modernen Naturanschauung die Ursache der ungesunden Beurteilung sind, die Goethes Farbenlehre erfahren hat und noch fortwährend erfährt.
Ich möchte nun etwas genauer mich mit der modernen Naturanschauung auseinandersetzen. Aus dem Ziel, das sich diese Naturanschauung gesetzt hat, suche ich zu erkennen, ob sie eine gesunde ist oder nicht.
Nicht mit Unrecht hat man die Grundformel, nach der die moderne Naturanschauung die Welt der Wahrnehmungen beurteilt, in den Worten des Descartes gesehen: «Ich finde, wenn ich die körperlichen Dinge näher prüfe, daß darin sehr wenig enthalten ist, was ich klar und deutlich einsehe, nämlich die Größe, oder die Ausdehnung in Länge, Tiefe, Breite, die Gestalt, die von der Endigung dieser Ausdehnung herrührt, die Lage, welche die verschieden gestalteten Körper unter sich haben, und die Bewegung oder Anderung dieser Lage, welchen man die Substanz, die Dauer und Zahl hinzufügen kann. Was die übrigen Sachen betrifft, wie das Licht, die Farben, die Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Wärme, Kälte und die sonstigen, dem Tastsinn spürbaren Qualitäten (Glätte, Rauheit), so treten sie in meinem Geiste mit solcher Dunkelheit und Verworrenheit auf, daß ich nicht weiß, ob sie wahr oder falsch sind, d. h. ob die Ideen, die ich von diesen Gegenständen fasse, in der Tat die Ideen von irgendwelchen reellen Dingen sind, oder ob sie nur chimärische Wesen vorstellen, die nicht existieren können.» Im Sinne dieses Descartesschen Satzes zu denken, ist den Bekennern der modernen Naturanschauung in einem solchen Grade zur Gewohnheit geworden, daß sie jede andere Denkweise kaum der Beachtung wert finden. Sie sagen: Was als Licht wahrgenommen wird, wird durch einen Bewegungsvorgang bewirkt, der durch eine mathematische Formel ausgedrückt werden kann. Wenn eine Farbe in der Erscheinungswelt auftritt, führen sie diese zurück auf eine schwingende Bewegung und berechnen die Zahl der Schwingungen in einer bestimmten Zeit. Sie glauben, die ganze Sinnenwelt werde erklärt sein, wenn gelungen sein wird, alle Wahrnehmungen auf Verhältnisse zurückzuführen, die in solchen mathematischen Formeln sich aussprechen lassen. Ein Geist, der eine solche Erklärung geben könnte, hätte nach Ansicht dieser Naturgelehrten das Außerste erreicht, was dem Menschen in bezug auf Erkenntnis der Naturerscheinungen möglich ist. Du Bois-Reymond, ein Repräsentant dieser Gelehrten, sagt von einem solchen Geiste: Ihm «wären die Haare auf unserem Haupte gezählt, und ohne sein Wissen fiele kein Sperling zur Erde». («Über die Grenzen des Naturerkennens», [5. Aufl., Leipzig 1882] S. 13.) Die Welt zu einem Rechenexempel zu machen, ist das Ideal der modernen Naturanschauung.
Da ohne das Vorhandensein von Kräften die Teile der angenommenen Materie niemals in Bewegung geraten würden, so nehmen die modernen Naturgelehrten auch die Kraft unter die Elemente auf, aus denen sie die Welt erklären, und Du Bois-Reymond sagt: «Naturerkennen … ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome.» [a. a. 0., S.10] Durch die Einführung des Kraftbegriffs geht die Mathematik in die Mechanik über. Die Philosophen von heute103 stehen so sehr unter dem Einfluß der Naturgelehrten, daß sie allen Mut zu selbständigem Denken verloren haben. Sie nehmen die Aufstellungen der Naturgelehrten rückhaltlos an. Einer der angesehensten deutschen Philosophen, W. Wundt, sagt in seiner «Logik» («Logik. [Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und die Methoden wissenschaftlicher Forschung] », II. Bd. [Methodenlehre], 1. Abt., [2. Aufl., Stuttgart1894], S. 266): «Mit Rücksicht… und in Anwendung des Grundsatzes, daß wegen der qualitativen Unveränderlichkeit der Materie alle Naturvorgänge in letzter Instanz Bewegungen sind, betrachtet man als das Ziel der Physik ihre vollständige Überführung in… angewandte Mechanik.»
Du Bois-Reymond findet: «Es ist eine psychologische Erfahrungstatsache, daß, wo solche Auflösung (der Naturvorgänge in Mechanik der Atome) gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig sich befriedigt fühlt.» [a. a. O., S. 10] Das mag für Du Bois-Reymond eine Erfahrungstatsache sein. Aber es muß gesagt werden, daß es noch andere Menschen gibt, die sich durch eine banale Erklärung der Körperwelt – wie Du Bois-Reymond sie im Auge hat – durchaus nicht befriedigt fühlen.
Zu diesen anderen Menschen gehört Goethe. Wessen Kausalitätsbedürfnis befriedigt ist, wenn es ihm gelungen ist, die Naturvorgänge auf Mechanik der Atome zurückzuführen, dem fehlt das Organ, um Goethe zu verstehen.
2.
Größe, Gestalt, Lage, Bewegung, Kraft usw. sind genau in demselben Sinne Wahrnehmungen wie Licht, Farben, Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Wärme, Kälte usw. Wer die Größe eines Dinges von seinen übrigen Eigenschaften absondert und für sich betrachtet, der hat es nicht mehr mit einem wirklichen Dinge, sondern mit einer Abstraktion des Verstandes zu tun. Es ist das Widersinnigste, das sich denken läßt, einem von der sinnlichen Wahrnehmung abgezogenen Abstraktum einen andern Grad von Realität zuzuschreiben als einem Dinge der sinnlichen Wahrnehmung selbst. Die Raum- und Zahlverhältnisse haben von den übrigen Sinneswahrnehmungen nichts voraus als ihre größere Einfachheit und leichtere Überschaubarkeit. Auf dieser Einfachheit und Überschaubarkeit beruht die Sicherheit der mathematischen Wissenschaften. Wenn die moderne Naturanschauung alle Vorgänge der Körperwelt auf mathematisch und mechanisch Ausdrückbares zurückführt, so beruht dies darauf, daß das Mathematische und Mechanische für unser Denken leicht und bequem zu handhaben ist. Und das menschliche Denken neigt zur Bequemlichkeit. Man kann das gerade an Ostwalds oben erwähntem Vortrage sehen. Dieser Naturgelehrte will an Stelle von Materie und Kraft die Energie setzen. Man höre: «Welches ist die Bedingung, damit eines unserer (Sinnes-) Werkzeuge sich betätigt? Wir mögen die Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames, als das: Die Sinneswerkzeuge reagieren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und der Umgebung. In einer Welt, deren Temperatur überall die unseres Körpers wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren können, ebenso wie wir keinerlei Empfindung von dem konstanten Atmosphärendrucke haben, unter dem wir leben; erst wenn wir Räume anderen Druckes herstellen, gelangen wir zu seiner Kenntnis.» (S. 25 f. des Vortrags.) Und weiter (S. 29): «Denken Sie sich, Sie bekamen einen Schlag mit einem Stocke! Was fühlen Sie dann, den Stock oder seine Energie? Die Antwort kann nur eine sein: die Energie. Denn der Stock ist das harmloseste Ding von der Welt, solange er nicht geschwungen wird. Aber wir können uns auch an einem ruhenden Stocke stoßen! Ganz richtig: was wir empfinden, sind, wie schon betont, Unterschiede der Energiezustände gegen unsere Sinnesapparate, und daher ist es gleichgültig, ob sich der Stock gegen uns oder wir uns gegen den Stock bewegen. Haben aber beide gleiche und gleichgerichtete Geschwindigkeit, so existiert der Stock für unser Gefühl nicht mehr, denn er kann nicht mit uns in Berührung kommen und einen Energieaustausch bewerkstelligen.» Diese Auslassungen beweisen, daß Ostwald die Energie aus dem Gebiete der Wahrnehmungswelt aussondert, d.h. von allem, was nicht Energie ist, abstrahiert. Er führt alles Wahrnehmbare auf eine einzige Eigenschaft des Wahrnehmbaren, auf die Außerung von Energie, also auf einen abstrakten Begriff zurück. Die Befangenheit Ostwalds in den naturwissenschaftlichen Gewohnheiten der Gegenwart ist deutlich erkennbar. Auch er könnte, wenn er gefragt würde, zur Rechtfertigung seines Verfahrens nichts anführen, als daß es für ihn eine psychologische Erfahrungstatsache ist, daß sein Kausalitätsbedürfnis befriedigt ist, wenn er die Naturvorgänge in Äußerungen der Energie aufgelöst hat. Es ist im Wesen gleichgültig: ob Du Bois-Reymond die Naturvorgänge in Mechanik der Atome, oder Ostwald in Energieäußerungen auflöst. Beides entspringt der Neigung des menschlichen Denkens zur Bequemlichkeit.
Ostwald sagt am Schlusse seines Vortrags (S. 34): «Ist die Energie, so notwendig und nützlich sie auch zum Verständnis der Natur ist, auch zureichend für diesen Zweck (nämlich die Erklärung der Körperwelt)? Oder gibt es Erscheinungen, welche durch die bisher bekannten Gesetze der Energie nicht vollständig dargestellt werden können? … Ich glaube der Verantwortlichkeit, die ich heute durch meine Darlegung Ihnen gegenüber eingenommen habe, nicht besser gerecht werden zu können, als wenn ich hervorhebe, daß diese Frage mit Nein zu beantworten ist. So immens die Vorzüge sind, welche die energetische Weltauffassung vor der mechanistischen oder materialistischen hat, so lassen sich schon jetzt, wie mir scheint, einige Punkte bezeichnen, welche durch die bekannten Hauptsätze der Energetik nicht gedeckt werden, und welche daher auf das Vorhandensein von Prinzipien hinweisen, die über diese hinausgehen. Die Energetik wird neben diesen neuen Sätzen bestehen bleiben. Nur wird sie künftig nicht, wie wir sie noch heute ansehen müssen, das umfassendste Prinzip für die Bewältigung der natürlichen Erscheinungen sein, sondern wird voraussichtlich als ein besonderer Fall noch allgemeinerer Verhältnisse erscheinen, von deren Form wir zurzeit allerdings kaum eine Ahnung haben.»
3.
Würden unsere Naturgelehrten auch Schriften von Leuten lesen, die außerhalb ihrer Gilde stehen, so hätte Prof. Ostwald eine Bemerkung wie diese nicht machen können. Denn ich habe bereits 1891, in der erwähnten Einleitung der Goetheschen Farbenlehre, ausgesprochen, daß wir von solchen «Formen» allerdings eine Ahnung und mehr als eine solche haben können, und daß in dem Ausbau der naturwissenschaftlichen Grundvorstellungen Goethes die Aufgabe der Naturwissenschaft der Zukunft liegt.
So wenig wie die Vorgänge der Körperwelt sich in Mechanik der Atome, so wenig lassen sie sich in Energieverhältnisse «auflösen». Durch ein solches Verfahren wird nichts weiter erreicht, als daß die Aufmerksamkeit von dem Inhalt der wirklichen Sinnenwelt abgelenkt, und einem unwirklichen Abstraktum zugewendet wird, dessen ärmlicher Fond von Eigenschaften doch auch nur aus derselben Sinnenwelt entnommen ist. Man kann nicht die eine Gruppe von Eigenschaften der Sinnenwelt: Licht, Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärmeverhältnisse usw. dadurch erklären, daß man sie «auflöst» in die andere Gruppe von Eigenschaften derselben Sinnenwelt: Größe, Gestalt, Lage, Zahl, Energie usw. Nicht «Auflosung» der einen Art von Eigenschaften in die andere kann Aufgabe der Naturwissenschaft sein, sondern Aufsuchung von Beziehungen und Verhältnissen zwischen den wahrnehmbaren Eigenschaften der Sinnenwelt. Wir entdecken dann gewisse Bedingungen, unter denen eine Sinneswahmehmung die andere notwendig nach sich zieht. Wir finden, daß zwischen gewissen Erscheinungen ein intimerer Zusammenhang besteht als zwischen anderen. Wir verknüpfen die Erscheinungen dann nicht mehr in der Weise, wie sie sich der zufälligen Beobachtung darbieten. Denn wir erkennen, daß gewisse Zusammenhänge von Erscheinungen notwendig sind. Ihnen gegenüber sind andere Zusammenhänge zufällig. Notwendige Zusammenhänge von Erscheinungen nennt Goethe Urphänomene.
Der Ausdruck eines Urphänomens besteht immer darin, daß man von einer bestimmten sinnlichen Wahrnehmung sagt, sie rufe notwendig eine andere hervor. Dieser Ausdruck ist das, was man ein Naturgesetz nennt. Wenn man sagt: «Durch Erwärmung wird ein Körper ausgedehnt», so hat man einen notwendigen Zusammenhang von Erscheinungen der Sinnenwelt (Wärme, Ausdehnung) zum Ausdrucke gebracht. Man hat ein Urphänomen erkannt und es in Form eines Naturgesetzes ausgesprochen. Die Urphänomene sind die von Ostwald gesuchten Formen für die allgemeinsten Verhältnisse der unorganischen Natur.
Die Gesetze der Mathematik und Mechanik sind ebenso nur Ausdrücke von Urphänomenen wie die Gesetze, die andere sinnliche Zusammenhänge in eine Formel bringen. Wenn G. Kirchhoff sagt: Die Aufgabe der Mechanik ist: «Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben», so irrt er. Die Mechanik beschreibt die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen nicht bloß auf die einfachste Weise und vollständig, sondern sie sucht gewisse notwendige Bewegungsvorgänge auf, die sie aus der Summe der in der Natur vor sich gehenden Bewegungen heraushebt, und spricht diese notwendigen Bewegungsvorgänge als mechanische Grundgesetze aus. Es muß als ein Gipfel der Gedankenlosigkeit bezeichnet werden, daß der Kirchhoffsche Satz immer und immer wieder als etwas besonders Bedeutendes angeführt wird, ohne Gefühl davon, daß die Aufstellung des einfachsten Grundgesetzes der Mechanik ihn widerlegt.
Das Urphänomen stellt einen notwendigen Zusammenhang von Elementen der Wahrnehmungswelt dar. Es kann deshalb kaum etwas Unzutreffenderes gesagt werden, als was H. Helmholtz in seiner Rede auf der Weimarer Goethe-Versammlung vom 11. Juni 1892 vorgebracht hat: «Es ist zu bedauern, daß Goethe zu jener Zeit die von Huyghens schon aufgestellte Undtilationstheorie des Lichtes nicht gekannt hat; diese würde ihm ein viel richtigeres und anschaulicheres ‹Urphänomen› an die Hand gegeben haben, als der dazu kaum geeignete und sehr verwickelte Vorgang, den er sich in den Farben trüber Medien zu diesem Ende wählte.»104
Also die unwahrnehmbaren Undulationsbewegungen, die zu den Lichterscheinungen von den Bekennern der modernen Naturanschauung hinzugedacht werden, sollen Goethe ein viel richtigeres und anschaulicheres «Urphänomen» an die Hand gegeben haben, als der keineswegs verwickelte, sondern sich vor unseren Augen abspielende Prozeß, der darin besteht, daß Licht durch ein trübes Mittel gesehen gelb, Finsternis durch ein erhelltes Mittel gesehen blau erscheint. Die «Auflösung» der sinnlich wahrnehmbaren Vorgänge in unwahrnehmbare mechanische Bewegungen ist den modernen Physikern so sehr zur Gewohnheit geworden, daß sie gar keine Ahnung davon zu haben scheinen, daß sie ein Abstraktum an die Stelle der Wirklichkeit setzen. Aussprüche wie den Helmholtzschen wird man erst tun dürfen, wenn alle Sätze Goethes von der Art des folgenden aus der Welt geschafft sein werden: «Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.» [«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S.376] Goethe bleibt innerhalb der Erscheinungswelt stehen; die modernen Physiker lesen einige Fetzen aus der Erscheinungswelt auf und versetzen diese hinter die Phänomene, um dann von diesen hypothetischen Realitäten die Phänomene der wirklich wahrnehmbaren Erfahrung abzuleiten.
4.
Einzelne jüngere Physiker behaupten, sie legen dem Begriffe der bewegten Materie keinen über die Erfahrung hinausgehenden Sinn bei. Einer von ihnen, der das merkwürdige Kunststück zustande bringt, Anhänger der mechanischen Naturlehre und der indischen Mystik zugleich zu sein. Anton Lampa (vgl. dessen «Nächte des Suchenden», Braunschweig 1893) bemerkt gegen die Ausführungen Ostwalds, daß dieser «einen Kampf führe, wie weiland der tapfere Manchaner gegen die Windmühlen. Wo ist denn der Riese des wissenschaftlichen (Ostwald meint naturwissenschaftlichen) Materialismus? Den gibt es ja gar nicht. Es hat einmal einen sogenannten naturwissenschaftlichen Materialismus der Herren Büchner, Vogt und Moleschott gegeben, ja gibt ihn noch, in der Naturwissenschaft selbst aber existiert er nicht, in der Naturwissenschaft war er auch nie zu Hause. Das hat Ostwald übersehen, sonst wäre er bloß gegen die mechanische Auffassungsweise zu Felde gezogen, was er zufolge seines Mißverständnisses nur nebenbei tut, was er aber ohne dieses Mißverständnis wahrscheinlich überhaupt nicht getan hätte. Kann man denn glauben, daß eine Naturforschung, welche die Bahnen wandelt, die Kirchhoff eingeschlagen, den Begriff der Materie in einem solchen Sinne fassen kann, wie der Materialismus es getan? Das ist unmöglich, das ist ein offen zutage liegender Widerspruch. Der Begriff der Materie kann, gleich wie jener der Kraft, bloß einen durch die Forderung nach einer möglichst einfachen Beschreibung präzisierten, d. h. kantisch ausgedrückt, bloß empirischen Sinn haben. Und wenn irgendein Naturforscher mit dem Worte Materie einen darüber hinausliegenden Sinn verbindet, so tut er das nicht als Naturforscher, sondern als materialistischer Philosoph.» («Die Zeit», Wien, Nr.61 vom 30. Nov. 1895).
Lampa muß, nach diesen Worten, als Typus des normalen Naturforschers der Gegenwart bezeichnet werden. Dieser wendet die mechanische Naturerklärung an, weil sie bequem zu handhaben ist. Er vermeidet es aber, über den wahren Charakter dieser Naturerklärung nachzudenken, weil er sich vor der Verwickelung in Widersprüche fürchtet, denen sein Denken sich nicht gewachsen fühlt.
Wie kann jemand, der klares Denken liebt, mit dem Begriffe der Materie einen Sinn verbinden, ohne über die Erfahrungswelt hinauszugehen? In der Erfahrungswelt sind Körper von bestimmter Größe und Lage, es sind Bewegungen und Kräfte, ferner die Phänomene des Lichtes, der Farben, der Wärme, der Elektrizität, des Lebens usw. vorhanden. Darüber, daß die Größe, die Wärme, die Farbe usw. an einer Materie haften, sagt die Erfahrung nichts aus. Aufzufinden ist die Materie innerhalb der Erfahrungswelt nirgends. Wer Materie denken will, der muß sie zu der Erfahrung hinzudenken.
Ein solches Hinzudenken der Materie zu den Erscheinungen der Erfahrungswelt ist in den physikalischen und physiologischen Erwägungen zu bemerken, die in der modernen Naturlehre unter dem Einflusse Kants und Johannes Müllers heimisch geworden sind. Diese Erwägungen haben zu dem Glauben geführt, daß die äußeren Vorgänge, die den Schall im Ohre, das Licht im Auge, die Wärme im Organe des Wärmesinnes usw. entstehen lassen, nichts gemein haben mit der Schallempfindung, der Licht- und Wärmeempfindung usw. Diese äußeren Vorgänge sollen vielmehr gewisse Bewegungen der Materie sein. Der Naturforscher untersucht dann, welche Art von äußeren Bewegungsvorgängen in der menschlichen Seele Schall, Licht, Farbe usw. entstehen lassen. Er kommt zu dem Schlusse, daß sich außerhalb des menschlichen Organismus nirgends im ganzen Weltenraum Rot, Gelb oder Blau finde, sondern daß es nur eine wellenförmige Bewegung einer feinen, elastischen Materie, des Athers, gebe, die, wenn sie durch das Auge empfunden wird, sich als Rot, Gelb oder Blau darstellt. Wenn kein empfindendes Auge vorhanden wäre, so wäre auch keine Farbe, sondern nur bewegter Ather vorhanden, meint der moderne Naturlehrer. Der Äther sei das Objektive, die Farbe bloß etwas Subjektives, im menschlichen Körper Gebildetes. Der Leipziger Professor Wundt, den man zuweilen als einen der größten Philosophen der Gegenwart preisen hört, sagt deshalb von der Materie, sie sei ein Substrat, «das uns niemals selbst, sondern immer nur in seinen Wirkungen anschaulich wird.» Und er findet, daß «eine widerspruchslose Erklärung der Erscheinungen erst gelingt», wenn man ein solches Substrat annimmt (Logik, II. Bd., [1. Abt., 2. Aufl.], S.445). Der Descartessche Wahn von deutlichen und verworrenen Vorstellungen ist zur grundlegenden Vorstellungsart der Physik geworden.
5.
Wessen Vorstellungsvermögen durch Descartes, Locke, Kant und die moderne Physiologie nicht vom Grund aus verdorben ist, der wird niemals begreifen, wie man Licht, Farbe, Ton, Wärme usw. bloß für subjektive Zustände des menschlichen Organismus ansehen und dennoch das Vorhandensein einer objektiven Welt von Vorgängen außerhalb des Organismus behaupten kann. Wer den menschlichen Organismus zum Erzeuger der Ton-, Wärme-, Farben- usw. -Geschehnisse macht, der muß ihn auch zum Hervorbringer der Ausdehnung, Größe, Lage, Bewegung, der Kräfte usw. machen. Denn diese mathematischen und mechanischen Qualitäten sind in Wirklichkeit mit dem übrigen Inhalte der Erfahrungswelt untrennbar verbunden. Die Abtrennung der Raum-, Zahl- und Bewegungsverhältnisse, sowie der Kraftäußerungen von den Wärme-, Ton-, Farben- und den anderen Sinnesqualitäten ist nur eine Funktion des abstrahierenden Denkens. Die Gesetze der Mathematik und Mechanik beziehen sich auf abstrakte Gegenstände und Vorgänge, die von der Erfahrungswelt abgezogen sind, und können daher auch nur innerhalb der Erfahrungswelt Anwendung finden. Werden aber auch die mathematischen und mechanischen Formen und Verhältnisse für bloß subjektive Zustände erklärt, dann bleibt nichts übrig, was dem Begriffe von objektiven Dingen und Ereignissen als Inhalt dienen könnte. Und aus einem leeren Begriffe können keine Erscheinungen abgeleitet werden.
So lange die modernen Naturgelehrten und ihre Schleppträger, die modernen Philosophen, daran festhalten, daß die Sinneswahrnehmungen nur subjektive Zustände sind, die durch objektive Vorgänge hervorgerufen werden, wird ein gesundes Denken ihnen stets entgegenhalten, daß sie entweder mit leeren Begriffen spielen, oder dem Objektiven einen Inhalt zuschreiben, den sie aus der für subjektiv erklärten Erfahrungswelt entlehnen. Ich habe in einer Reihe von Schriften das Widersinnige der Behauptung von der Subjektivität der Sinnesempfindungen nachgewiesen.105
Doch ich will davon absehen, ob den Bewegungsvorgängen und den sie hervorrufenden Kräften, auf die die neuere Physik alle Naturerscheinungen zurückführt, eine andere Realitätsform zugeschrieben wird als den Sinneswahrnehmungen, oder ob das nicht der Fall ist. Ich will jetzt bloß fragen, was die mathematisch-mechanische Naturanschauung leisten kann. Anton Lampa meint («Nächte des Suchenden», S.92): «Mathematische Methode und Mathematik sind nicht identisch, denn die mathematische Methode ist durchführbar ohne Anwendung von Mathematik. Einen klassischen Beleg für diese Tatsache bieten uns innerhalb der Physik die Experimentaluntersuchungen über Elektrizität von Faraday, der kaum ein Binom zu quadrieren verstand. Die Mathematik ist ja nichts als ein Mittel, logische Operationen abzukürzen und daher in so verwickelten Fällen noch durchzuführen, wo uns das gewöhnliche logische Denken im Stich lassen würde. Aber sie leistet gleichzeitig noch viel mehr: indem jede Formel implicite ihren Werdeprozeß ausdrückt, schlägt sie eine lebendige Brücke bis zu den elementaren Erscheinungen, welche als Ausgangspunkt der Untersuchung gedient hatten. Die Methode aber, welche sich der Mathematik nicht bedienen kann – was immer der Fall ist, wenn die in die Untersuchung eingehenden Größen nicht meßbar sind – hat daher, um der mathematischen gleich zu kommen, nicht nur streng logisch zu sein, sondern auch dem Geschäft der Zurückführung auf die Grunderscheinungen eine besondere Sorgfalt zuzuwenden, da sie der mathematischen Stütze entbehrend gerade hier leicht straucheln kann; wenn sie aber dieses leistet, wird sie wohl mit Recht auf den Titel einer mathematischen Anspruch erheben, insofern damit der Grad der Exaktheit ausgedrückt werden soll.»
Ich würde mich mit Anton Lampa nicht so ausführlich beschäftigen, wenn er nicht durch einen Umstand ein besonders geeignetes Beispiel eines Naturforschers der Gegenwart wäre. Er befriedigt seine philosophischen Bedürfnisse aus der indischen Mystik und verunreinigt deshalb die mechanische Naturanschauung nicht wie andere mit allerlei philosophischen Nebenvorstellungen. Die Naturlehre, die er im Auge hat, ist sozusagen die chemisch reine Naturansicht der Gegenwart. Ich finde, daß Lampa ein Hauptkennzeichen der Mathematik gänzlich unberücksichtigt gelassen hat. Wohl schlägt jede mathematische Formel eine «lebendige Brücke» bis zu den elementaren Erscheinungen, welche als Ausgangspunkt der Untersuchungen gedient haben. Aber diese elementaren Erscheinungen sind von derselben Art wie die nichtelementaren, von denen aus die Brücke geschlagen wird. Der Mathematiker führt die Eigenschaften komplizierter Zahl- und Raumgebilde, sowie deren wechselseitige Beziehungen auf die Eigenschaften und Beziehungen der einfachsten Zahl- und Raumgebilde zurück. Ebenso macht es der Mechaniker in seinem Gebiete. Er führt zusammengesetzte Bewegungsvorgänge und Kräftewirkungen auf einfache, leicht überschaubare Bewegungen und Kräftewirkungen zurück. Dabei bedient er sich der mathematischen Gesetze, insofern Bewegungen und Kraftäußerungen durch Raumgebilde und Zahlen ausdrückbar sind. In einer mathematischen Formel, die ein mechanisches Gesetz zum Ausdruck bringt, bedeuten die einzelnen Glieder nicht mehr rein mathematische Gebilde, sondern Kräfte und Bewegungen. Die Verhältnisse, in denen diese Glieder zueinander stehen, werden nicht durch eine rein mathematische Gesetzmäßigkeit bestimmt, sondern durch die Eigenschaften der Kräfte und Bewegungen. Sobald man von diesem besonderen Inhalte der mechanischen Formeln absieht, hat man es nicht mehr mit mechanischer, sondern lediglich mit mathematischer Gesetzlichkeit zu tun. Wie die Mechanik zur reinen Mathematik, verhält sich die Physik zur Mechanik. Die Aufgabe des Physikers ist, komplizierte Vorgänge auf dem Gebiete der Farben-, Ton-, Wärmeerscheinungen, der Elektrizität, des Magnetismus usw. auf einfache Geschehnisse innerhalb der gleichen Sphäre zurückzuführen. Er hat z. B. komplizierte Farbenvorkommnisse auf die einfachsten Farbenvorkommnisse zurückzuführen. Dabei hat er sich der mathematischen und mechanischen Gesetzlichkeit zu bedienen, insofern die Farbenvorgänge in räumlich und zahlenmäßig zu bestimmenden Formen sich abspielen. Nicht die Zurückführung der Farben-, Ton- usw. -Vorgänge auf Bewegungserscheinungen und Kräfteverhältnisse innerhalb einer farb- und tonlosen Materie, sondern die Aufsuchung der Zusammenhänge innerhalb der Farben-, Ton- usw. Erscheinungen entspricht auf physikalischem Gebiete der mathematischen Methode.
Die moderne Physik überspringt die Ton-, Farben- usw. Erscheinungen als solche und betrachtet nur unveränderliche, anziehende und abstoßende Kräfte und Bewegungen im Raume. Unter dem Einflusse dieser Vorstellungsart ist die Physik heute bereits angewandte Mathematik und Mechanik geworden, und die übrigen Gebiete der Naturwissenschaft sind auf dem Wege, das Gleiche zu werden.
Es ist unmöglich, eine «lebendige Brücke» zu schlagen von der Tatsache: An diesem Orte des Raumes herrscht ein bestimmter Bewegungsvorgang der farblosen Materie, – und der andern Tatsache: Der Mensch sieht an diesem Orte Rot. Aus Bewegung kann nur wieder Bewegung abgeleitet werden. Und aus der Tatsache, daß eine Bewegung auf ein Sinnesorgan und dadurch auf das Gehirn wirkt, folgt -nach mathematischer und mechanischer Methode – nur, daß das Gehirn von der Außenwelt zu gewissen Bewegungsvorgängen veranlaßt wird, nicht aber, daß es die konkreten Töne, Farben, Wärmeerscheinungen usw. wahrnimmt. Dies hat auch Du Bois-Reymond erkannt. Man lese S. 35 f. seiner «Grenzen des Naturerkennens» (5. Aufl.): «Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot» … Und S.34: «Bewegung kann nur Bewegung erzeugen.» Du Bois-Reymond ist deshalb der Meinung, daß hiermit eine Grenze des Naturerkennens zu verzeichnen ist.
Der Grund, warum man die Tatsache: «ich sehe Rot» nicht aus einem bestimmten Bewegungsvorgang herleiten kann, ist, meiner Ansicht nach, leicht anzugeben. Die Qualität «Rot» und ein bestimmter Bewegungsvorgang sind in Wirklichkeit eine untrennbare Einheit. Die Trennung der beiden Geschehnisse kann nur eine begriffliche, im Verstande vollzogene sein. Der dem «Rot» entsprechende Bewegungsvorgang hat an sich keine Wirklichkeit; er ist ein Abstraktum. Die Tatsache: «ich sehe Rot» aus einem Bewegungsvorgang herleiten zu wollen, ist genau so absurd, wie die Ableitung der wirklichen Eigenschaften eines in Würfelform kristallisierten Steinsalzkörpers aus dem mathematischen Würfel. Nicht weil eine Grenze des Erkennens uns hindert, können wir aus Bewegungen keine anderen Sinnesqualitäten ableiten, sondern weil eine derartige Forderung keinen Sinn hat.
6.
Das Streben, die Farben, Töne, Wärmeerscheinungen usw. als solche zu überspringen und nur die ihnen entsprechenden mechanischen Vorgänge zu betrachten, kann nur aus dem Glauben entspringen, daß den einfachen Gesetzen der Mathematik und Mechanik ein höherer Grad von Begreiflichkeit entspricht, als den Eigenschaften und wechselseitigen Beziehungen der übrigen Gebilde der Wahrnehmungswelt. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Die einfachsten Eigenschaften und Verhältnisse der Raum- und Zahlgebilde werden ohne weiteres begreiflich genannt, weil sie sich leicht und vollkommen überschauen lassen. Zurückführung auf einfache, beim unmittelbaren Innewerden einleuchtende Tatbestände ist alles mathematische und mechanische Begreifen. Der Satz, daß zwei Größen, die einer dritten gleich sind, auch einander gleich sein müssen, wird durch unmittelbares Innewerden des Tatbestandes, den er ausdrückt, erkannt. In dem gleichen Sinne werden auch die einfachen Vorkommnisse der Ton- und Farbenwelt und der übrigen Sinneswahrnehmungen durch unmittelbare Anschauung erkannt.
Nur weil sie durch das Vorurteil verführt sind, daß ein einfaches mathematisches oder mechanisches Faktum begreiflicher ist, als ein elementares Vorkommnis der Ton- oder Farbenerscheinung als solches, schalten die modernen Physiker das Spezifische des Tones oder der Farbe aus den Erscheinungen aus und betrachten nur die Bewegungsvorgänge, die den Sinneswahrnehmungen entsprechen. Und weil sie Bewegungen nicht denken können ohne etwas, das sich bewegt, nehmen sie die aller sinnenfälligen Eigenschaften entkleidete Materie als Träger der Bewegungen an. Wer in diesem Vorurteil der Physiker nicht befangen ist, der muß einsehen, daß die Bewegungsvorgänge Zustände sind, die an die sinnenfälligen Qualitäten gebunden sind. Der Inhalt der wellenförmigen Bewegungen, die den Tonvorkommnissen entsprechen, sind die Tonqualitäten selbst. Das gleiche gilt für die übrigen Sinnesqualitäten. Durch unmittelbares Innewerden erkennen wir den Inhalt der oszillierenden Bewegungen der Erscheinungswelt, nicht durch Hinzudenken einer abstrakten Materie zu den Erscheinungen.
7.
Ich weiß, daß ich mit diesen Ansichten etwas ausspreche, was den Physiker-Ohren der Gegenwart ganz unmöglich klingt. Ich kann mich aber nicht auf den Standpunkt Wundts stellen, der in seiner «Logik» (II. Bd., 1. Abt. [2. Aufl. 1894]) die Denkgewohnheiten der modernen Natur-forscher für bindende logische Normen ausgibt. Die Gedankenlosigkeit, der er sich dabei schuldig macht, wird besonders an der Stelle klar, wo er den Versuch Ostwalds bespricht, an die Stelle der bewegten Materie die in oszillierender Bewegung befindliche Energie zu setzen. Wundt bringt folgendes vor: «Es ergibt sich… aus der Existenz der Interferenzerscheinungen die Notwendigkeit der Voraussetzung irgendeiner oszillierenden Bewegung. Da aber eine Bewegung ohne ein Substrat, das sich bewegt, undenkbar ist, so ist damit auch die Ableitung der Lichterscheinungen aus einem mechanischen Vorgang ein unumgängliches Erfordernis. Allerdings hat Ostwald der letzteren Annahme zu entgehen gesucht, indem er die <strahlende Energie) nicht auf die Schwingungen eines materiellen Mediums zurückführt, sondern als eine in oszillierender Bewegung befindliche Energie definiert. Gerade dieser aus einem anschaulichen und einem rein begrifflichen Bestandteil zusammengesetzte Doppelbegriff scheint mir aber schlagend zu beweisen, daß der Energiebegriff selbst eine Zerlegung fordert, die auf Elemente der Anschauung zurückführt. Eine reale Bewegung kann nur als die Ortsveränderung eines im Raume gegebenen realen Substrates definiert werden. Dieses reale Substrat kann sich uns bloß durch Kraftwirkungen, die von ihm ausgehen, oder durch Kräftefunktionen, als deren Träger wir es betrachten, verraten. Aber daß solche bloß begrifflich zu fixierende Kräftefunktionen selbst sich bewegen, dies scheint mir eine Forderung zu sein, die nicht erfüllt werden kann, ohne daß man sich irgendein Substrat hinzudenkt.» [a. a. 0., S. 410]
Der Energiebegriff Ostwalds steht der Wirklichkeit um vieles näher als das angeblich «reale» Substrat Wundts. Die Erscheinungen der Wahrnehmungswelt, Licht, Wärme, Elektrizität, Magnetismus usw., lassen sich unter den allgemeinen Begriff der Kraftleistung, d. i. der Energie bringen. Wenn Licht, Wärme usw. in einem Körper eine Veränderung hervorrufen, so ist damit eben eine Kraftleistung vollzogen. Man hat, wenn man Licht, Wärme usw. als Energie bezeichnet, von dem den einzelnen Sinnesqualitäten spezifisch Eigenen abgesehen und betrachtet eine allgemeine, ihnen gemeinsam zukommende Eigenschaft.
Diese Eigenschaft erschöpft zwar nicht alles, was in den Dingen der Wirklichkeit vorhanden ist; aber sie ist eine reale Eigenschaft dieser Dinge. Der Begriff der Eigenschaften hingegen, welche die von den Physikern und ihren philosophischen Verteidigern hypothetisch angenommene Materie haben soll, schließt einen Unsinn ein. Diese Eigenschaften sind aus der Sinnenwelt entlehnt und sollen doch einem Substrat zukommen, das nicht zur Sinnenwelt gehört.
Es ist unbegreiflich, wie Wundt behaupten kann, der Begriff «strahlende Energie» sei deshalb ein unmöglicher, weil er einen anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil enthalte. Der Philosoph Wundt sieht also nicht ein, daß jeder Begriff, der sich auf ein Ding der sinnlichen Wirklichkeit bezieht, notwendig einen anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil enthalten muß. Der Begriff «Steinsalzwürfel» hat doch den anschaulichen Bestandteil des sinnlich wahrnehmbaren Steinsalzes und den anderen rein begrifflichen, den die Stereometrie feststellt.
8.
Die Entwicklung der Naturwissenschaft in den letzten Jahrhunderten hat zur Zerstörung aller Vorstellungen geführt, durch welche diese Wissenschaft Glied einer Weltauffassung sein kann, die den höheren menschlichen Bedürfnissen genügt. Sie hat dazu geführt, daß die «modernen» wissenschaftlichen Köpfe es als absurd bezeichnen, wenn man davon spricht, daß die Begriffe und Ideen ebenso zur Wirklichkeit gehören, wie die im Raume wirkenden Kräfte und die den Raum erfüllende Materie. Begriffe und Ideen sind diesen Geistern ein Produkt des menschlichen Gehirns und nichts weiter. Noch die Scholastiker wußten, wie es um diese Sache steht. Aber die Scholastik wird von der modernen Wissenschaft verachtet. Sie wird verachtet, aber man kennt sie nicht. Man weiß vor allem nicht, was an der Scholastik gesund und was an ihr krank ist. Gesund an ihr ist, daß sie eine Empfindung dafür hatte, daß Begriffe und Ideen nicht nur Hirngespinste sind, die der menschliche Geist ersinnt, um die wirklichen Dinge zu verstehen, sondern daß sie mit den Dingen selbst etwas, ja mehr zu tun haben als Stoff und Kraft. Diese gesunde Empfindung der Scholastiker ist ein Erbstück von den großen Weltanschauungsperspektiven Platos und Aristoteles’. Krank ist an der Scholastik die Vermischung dieser Empfindung mit den Vorstellungen, die in die mittelalterliche Entwicklung des Christentums eingezogen sind. Diese Entwicklung findet den Quell alles Geistigen, also auch der Begriffe und Ideen in dem unerkennbaren, weil außerweltlichen Gott. Es hat den Glauben an etwas nötig, das nicht von dieser Welt ist. Ein gesundes menschliches Denken hält sich aber an diese Welt. Es kümmert sich um keine andere. Aber es vergeistigt zugleich diese Welt. Es sieht in Begriffen und Ideen Wirklichkeiten dieser Welt ebenso wie in den durch die Sinne wahrnehmbaren Dingen und Ereignissen. Die griechische Philosophie ist ein Ausfluß dieses gesunden Denkens. Die Scholastik nahm noch eine Ahnung dieses gesunden Denkens in sich auf. Aber sie strebte darnach, diese Ahnung im Sinne des als christlich geltenden Jenseitsglaubens umzudeuten. Nicht die Begriffe und Ideen sollten das Tiefste sein, was der Mensch in den Vorgängen dieser Welt erschaut, sondern Gott, sondern das Jenseits. Wer die Idee einer Sache erfaßt hat, den zwingt nichts, noch nach einem weiteren «Ursprung» der Sache zu suchen. Er hat das erreicht, was das menschliche Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Aber was kümmerte die Scholastiker das menschliche Erkenntnisbedürfnis? Sie wollten retten, was sie als christliche Gottesvorstellung ansahen. Sie wollten im jenseitigen Gott den Ursprung der Welt finden, obwohl ihnen ihr Suchen nach dem Innern der Dinge nur Begriffe und Ideen lieferte.
9.
Im Verlauf der Jahrhunderte wurden die christlichen Vorstellungen wirksamer als die dunklen Empfindungen, die aus dem griechischen Altertum ererbt waren. Man verlor die Empfindung für die Wirklichkeit der Begriffe und Ideen. Man verlor damit aber auch den Glauben an den Geist selbst. Es begann die Anbetung des rein Materiellen: die Ära Newtons in der Naturwissenschaft begann. Nun war nicht mehr die Rede von der Einheit, die der Mannigfaltigkeit der Welt zugrunde liegt. Nun wurde alle Einheit geleugnet Die Einheit wurde herabgewürdigt zu einer «menschlichen» Vorstellung. In der Natur sah man nur die Vielheit, die Mannigfaltigkeit. Diese allgemeine Grundvorstellung war es, die Newton verführte, nicht eine ursprüngliche Einheit im Lichte zu sehen, sondern ein Zusammengesetztes. Goethe hat in den «Materialien zur Geschichte der Farbenlehre» einen Teil der Entwicklung naturwissenschaftlicher Vorstellungen dargelegt. Aus seiner Darstellung ist zu ersehen, daß die neuere Naturwissenschaft durch die allgemeinen Vorstellungen, deren sie sich zum Erfassen der Natur bedient, in der Farbenlehre zu ungesunden Ansichten gelangt ist. Diese Wissenschaft hat das Verständnis dafür verloren, was das Licht innerhalb der Reihe der Naturqualitäten ist. Deshalb weiß sie auch nicht, wie unter gewissen Bedingungen das Licht gefärbt erscheint, wie im Reiche des Lichtes die Farbe entsteht.
102 «Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus»; Vortrag, gehalten in der 3. allgemeinen Sitzung der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Lübeck am 20. 9. 1895; Leipzig 1895. – Dies ist kurze Zeit, nachdem die betreffenden Äußerungen Ostwalds gemacht worden sind, geschrieben.
103 Dies ist im Beginne der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben. Was darüber heute zu sagen ist, darüber [vgl. Anm. S.21].
104 H. L. F. v. Helmholtz, Goethes Vorahnungen kommender wissenschaftlicher Ideen usw.; Berlin 1892, S. 34.
105 «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller» (1886), Gesamtausgabe Dornach 1960; «Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer «Philosophie der Freiheit» (1892), Gesamtausgabe Dornach 1958; «Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung» (1894), Gesamtausgabe Dornach 1972.
XVIII. Goethes Weltanschauung in seinen Sprüchen in Prosa
Der Mensch ist nicht zufrieden mit dem, was die Natur freiwillig seinem beobachtenden Geiste darbietet. Er fühlt, daß sie, um die Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen hervorzubringen, Triebkräfte braucht, die sie dem Beobachter zunächst verbirgt. Die Natur spricht ihr letztes Wort nicht selbst aus. Unsere Erfahrung zeigt uns, was die Natur schaffen kann, aber sie sagt uns nicht, wie dieses Schaffen geschieht. In dem menschlichen Geiste selbst liegt das Mittel, die Triebkräfte der Natur zu enthüllen. Aus dem Menschengeiste steigen die Ideen auf, die Aufklärung darüber bringen, wie die Natur ihre Schöpfungen zustande bringt. Was die Erscheinungen der Außenwelt verbergen, im Innern des Menschen wird es offenbar. Was der menschliche Geist an Naturgesetzen erdenkt: es ist nicht zur Natur hinzu erfunden; es ist die eigene Wesenheit der Natur, und der Geist ist nur der Schauplatz, auf dem die Natur die Geheimnisse ihres Wirkens sichtbar werden läßt.
Was wir an den Dingen beobachten, das ist nur ein Teil der Dinge. Was in unserem Geiste emporquillt, wenn er sich den Dingen gegenüberstellt, das ist der andere Teil. Dieselben Dinge sind es, die von außen zu uns sprechen, und die in uns sprechen. Erst wenn wir die Sprache der Außenwelt mit der unseres Innern zusammenhalten, haben wir die volle Wirklichkeit. Was wollten die wahren Philosophen aller Zeiten? Nichts anderes als das Wesen der Dinge verkünden, das diese selbst aussprechen, wenn der Geist sich ihnen als Sprachorgan darbietet. Wenn der Mensch sein Inneres über die Natur sprechen läßt, so erkennt er, daß die Natur hinter dem zurückbleibt, was sie vermöge ihrer Triebkräfte leisten könnte. Der Geist sieht das, was die Erfahrung enthält, in vollkommenerer Gestalt. Er findet, daß die Natur ihre Absichten mit ihren Schöpfungen nicht erreicht. Er fühlt sich berufen, diese Absichten in vollendeter Form darzustellen. Er schafft Gestalten, in denen er zeigt: dies hat die Natur gewollt; aber sie konnte es nur bis zu einem gewissen Grade vollbringen. Diese Gestalten sind die Werke der Kunst. In ihnen schafft der Mensch das in einer vollkommenen Weise, was die Natur unvollkommen zeigt.
Philosoph und Künstler haben das gleiche Ziel. Sie suchen das Vollkommene zu gestalten, das ihr Geist erschaut, wenn sie die Natur auf sich wirken lassen. Aber es stehen ihnen verschiedene Mittel zu Gebote, um dies Ziel zu erreichen. In dem Philosophen leuchtet ein Gedanke, eine Idee auf, wenn er einem Naturprozeß gegenübersteht. Diese spricht er aus. In dem Künstler entsteht ein Bild dieses Prozesses, das diesen vollkommener zeigt, als er sich in der Außenwelt beobachten läßt. Philosoph und Künstler bilden die Beobachtung auf verschiedenen Wegen weiter. Der Künstler braucht die Triebkräfte der Natur in der Form nicht zu kennen, in der sie sich dem Philosophen enthüllen. Wenn er ein Ding oder einen Vorgang wahrnimmt, so entsteht unmittelbar ein Bild in seinem Geiste, in dem die Gesetze der Natur in vollkommenerer Form ausgeprägt sind als in dem entsprechenden Dinge oder Vorgange der Außenwelt. Diese Gesetze in Form des Gedankens brauchen nicht in seinen Geist einzutreten. Erkenntnis und Kunst sind aber doch innerlich verwandt. Sie zeigen die Anlagen der Natur, die in der bloßen äußeren Natur nicht zur vollen Entwickelung kommen.
Wenn nun in dem Geiste eines echten Künstlers außer vollkommenen Bildern der Dinge auch noch die Triebkräfte der Natur in Form von Gedanken sich aussprechen, so tritt der gemeinsame Quell von Philosophie und Kunst uns besonders deutlich vor Augen. Goethe ist ein solcher Künstler. Er offenbart uns die gleichen Geheimnisse in der Form seiner Kunstwerke und in der Form des Gedankens. Was er in seinen Dichtungen gestaltet, das spricht er in seinen natur- und kunstwissenschaftlichen Aufsätzen und in seinen «Sprüchen in Prosa» in der Form des Gedankens aus. Die tiefe Befriedigung, die von diesen Aufsätzen und Sprüchen ausgeht, hat darin ihren Grund, daß man den Einklang von Kunst und Erkenntnis in einer Persönlichkeit verwirklicht sieht. Das Gefühl hat etwas Erhebendes, das bei jedem Goetheschen Gedanken auftritt: Hier spricht jemand, der zugleich das Vollkommene, das er in Ideen ausdrückt, im Bilde schauen kann. Die Kraft eines solchen Gedankens wird verstärkt durch dieses Gefühl. Was aus den höchsten Bedürfnissen einer Persönlichkeit stammt, muß innerlich zusammengehören. Goethes Weisheitslehren antworten auf die Frage: Was für eine Philosophie ist der echten Kunst gemäß? Ich versuche diese aus dem Geiste eines echten Künstlers geborene Philosophie im Zusammenhange nachzuzeichnen.
* * *
Der Gedankeninhalt, der aus dem menschlichen Geiste entspringt, wenn dieser sich der Außenwelt gegenüberstellt, ist die Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis verlangen als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren eigentliches Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum Bewußtsein gebracht, daß alle Fragen nach dem Wesen der Dinge nur aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen. Die Dinge sprechen zu uns, und unser Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen, deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur versteht. Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt, dem bleiben die Dinge der Außenwelt fremdartig. Er hört aus seinem Innern das Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen. Deshalb vermutet er, daß dieses Wesen hinter den Dingen verborgen sei. Er glaubt an eine Außenwelt noch hinter der Wahrnehmungswelt. Aber die Dinge sind nur so lange äußere Dinge, so lange man sie bloß beobachtet. Wenn man über sie nachdenkt, hören sie auf, außer uns zu sein. Man verschmilzt mit ihrem inneren Wesen. Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur.
Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache, daß verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen von den Dingen machen. Auch nicht dadurch, daß die Organisationen der Menschen verschieden sind, so daß man nicht weiß, ob eine und dieselbe Farbe von verschiedenen Menschen in der ganz gleichen Weise gesehen wird. Denn nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen über eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden, sondern darauf, ob die Sprache, die das Innere des Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation des Menschen und nach dem Standpunkte, von dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile entspringen dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge. Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen zum Ausdruck kommen; aber es bleibt deshalb doch das Wesen der Dinge.
Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheimnisse enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint der tiefste Gehalt der Welt. «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern» (Goethe, «Winckelmann», Kürschners National-Literatur, Bd. 27, S. 42). Nicht in dem, was die Außenwelt liefert, liegt das Ziel des Weltalls und des Wesens des Daseins, sondern in dem, was im menschlichen Geiste lebt und aus ihm hervorgeht. Goethe betrachtet es daher als einen Irrtum, wenn der Naturforscher durch Instrumente und objektive Versuche in das Innere der Natur dringen will, denn «der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will». «Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja, man kann sagen, was sind die elementarischen Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?» (Vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 351)
Der Mensch muß die Dinge aus seinem Geiste sprechen lassen, wenn er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über dieses Wesen zu sagen hat, ist den geistigen Erlebnissen seines Innern entlehnt. Nur von sich aus kann der Mensch die Welt beurteilen. Er muß anthropomorphisch denken. In die einfachste Erscheinung, z. B. in den Stoß zweier Körper bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper stößt den andern», ist bereits anthropomorphisch. Denn man muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen, das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper der Außenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der Dinge. Und man kann daher nicht sagen, daß der Mensch die objektive Wahrheit, das «An sich» der Dinge nicht erkenne, weil er sich nur subjektive Vorstellungen über sie machen kann. Von einer anderen als einer menschlichen Wahrheit kann gar nicht die Rede sein.106 Denn Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven Erlebnisse können sogar einen ganz individuellen Charakter annehmen. Sie sind dennoch der Ausdruck des inneren Wesens der Dinge. Man kann in die Dinge nur hineinlegen, was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird auch jeder Mensch, gemäß seinen individuellen Erlebnissen etwas in gewissem Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich mir gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern, der nicht das gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz zu verstehen. Es handelt sich aber gar nicht darum, daß alle Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur darum, daß sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente der Wahrheit leben. Man kann deshalb die Gedanken eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder seiner Individualität ansehen. «Diejenigen, welche widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, daß nicht jede Sprache jedem verständlich sei» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 355). Eine Philosophie kann niemals eine allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er die äußeren Erscheinungen deutet.
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Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur durch den Zusammenfluß des äußeren Objektiven und des inneren Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges Beobachten, noch durch einseitiges Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil der Wirklichkeit. Wer ausschließlich die sinnliche Erfahrung anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 503). «Alles Faktische ist schon Theorie», d.h. es offenbart sich im menschlichen Geiste ein Ideelles, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik das gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas, das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt. Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glauben an diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt erhält, oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein Jenseitiges, wie auch die Hypothesen über ein solches ab, und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem Menschen selbst ausspricht. Goethe schreibt an [F. H.] Jacobi: «Gott hat dich mit der Metaphysik gestraft und dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich dagegen mit der Physik gesegnet … Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza) … und überlasse euch alles, was ihr Religion heißt und heißen müßt… Wenn du sagst, man könne an Gott nur glauben…, so sage ich dir, ich halte viel aufs Schauen.» [WA 7, 214] Was Goethe schauen will, ist die in seiner Ideenwelt sich ausdrückende Wesenheit der Dinge. Auch der Mystiker will durch Versenkung in das eigene Innere die Wesenheit der Dinge erkennen; aber er lehnt gerade die in sich klare und durchsichtige Ideenwelt ab als untauglich zur Erlangung einer höheren Erkenntnis. Er glaubt nicht, sein Ideenvermögen, sondern andere Kräfte seines Innern entwickeln zu müssen, um die Urgründe der Dinge zu schauen. Gewöhnlich sind es unklare Empfindungen und Gefühle, in denen der Mystiker das Wesen der Dinge zu ergreifen glaubt. Aber Gefühle und Empfindungen gehören nur zum subjektiven Wesen des Menschen. In ihnen spricht sich nichts über die Dinge aus. Allein in den Ideen sprechen die Dinge selbst. Die Mystik ist eine oberflächliche Weltanschauung, trotzdem die Mystiker den Vernunftmenschen gegenüber sich viel auf ihre «Tiefe» zugute tun. Sie wissen nichts über die Natur der Gefühle, sonst würden sie sie nicht für Aussprüche des Wesens der Welt halten; und sie wissen nichts von der Natur der Ideen, sonst würden sie diese nicht für flach und rationalistisch halten. Sie ahnen nicht, was Menschen, die wirklich Ideen haben, in diesen erleben. Aber für viele sind Ideen eben bloße Worte. Sie können die unendliche Fülle ihres Inhaltes sich nicht aneignen. Kein Wunder, daß sie ihre eigenen ideenlosen Worthülsen als leer empfinden.
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Wer den wesentlichen Inhalt der objektiven Welt in dem eigenen Innern sucht, der kann auch das Wesentliche der sittlichen Weltordnung nur in die menschliche Natur selbst verlegen. Wer eine jenseitige Wirklichkeit hinter der menschlichen vorhanden glaubt, der muß in ihr auch den Quell des Sittlichen suchen. Denn das Sittliche im höheren Sinne kann nur aus dem Wesen der Dinge kommen. Der Jenseitsgläubige nimmt deshalb sittliche Gebote an, denen sich der Mensch zu unterwerfen hat. Diese Gebote gelangen zu ihm entweder auf dem Wege einer Offenbarung, oder sie treten als solche in sein Bewußtsein ein, wie es beim kategorischen Imperativ Kants der Fall ist. Wie dieser aus dem jenseitigen «An sich» der Dinge in unser Bewußtsein kommt, darüber wird nichts gesagt. Er ist einfach da, und man hat sich ihm zu unterwerfen. Der Erfahrungsphilosoph, der von der reinen Sinnesbeobachtung alles Heil erwartet, sieht in dem Sittlichen nur das Wirken der menschlichen Triebe und Instinkte. Aus dem Studium dieser sollen die Normen folgen, die für das sittliche Handeln maßgebend sind.
Goethe läßt das Sittliche aus der Ideenwelt des Menschen entstehen. Nicht objektive Normen und auch nicht die bloße Triebwelt lenken das sittliche Handeln, sondern die in sich klaren Ideen, durch die sich der Mensch selbst die Richtung gibt. Ihnen folgt er nicht aus Pflicht, wie er objektiv-sittlichen Normen folgen müßte. Und auch nicht aus Zwang, wie man seinen Trieben und Instinkten folgt. Sondern er dient ihnen aus Liebe. Er liebt sie, wie man ein Kind liebt. Er will ihre Verwirklichung und setzt sich für sie ein, weil sie ein Teil seines eigenen Wesens sind. Die Idee ist die Richtschnur und die Liebe ist die treibende Kraft in der Goetheschen Ethik. Ihm ist Pflicht, «wo man liebt, was man sich selbst befiehlt» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt. S. 460).
Ein Handeln im Sinne der Goetheschen Ethik ist ein freies Handeln. Denn der Mensch ist von nichts abhängig als von seinen eigenen Ideen. Und er ist niemandem verantwortlich als sich selbst. Ich habe bereits in meiner «Philosophie der Freiheit»107 den billigen Einwand entkräftet, daß die Folge einer sittlichen Weltordnung, in der jeder nur sich selbst gehorcht, die allgemeine Unordnung und Disharmonie des menschlichen Handelns sein müsse. Wer diesen Einwand macht, der übersieht, daß die Menschen gleichartige Wesen sind und daß sie deshalb niemals sittliche Ideen produzieren werden, die durch ihre wesentliche Verschiedenheit einen unharmonischen Zusammenklang bewirken werden.108
Wenn der Mensch nicht die Fähigkeit hätte, Schöpfungen hervorzubringen, die ganz in dem Sinne gestaltet sind, wie die Werke der Natur, und nur diesen Sinn in vollkommenerer Weise zur Anschauung bringen, als die Natur es vermag, so gäbe es keine Kunst im Sinne Goethes. Was der Künstler schafft, sind Naturobjekte auf einer höheren Stufe der Vollkommenheit. Kunst ist Fortsetzung der Natur, «denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt» (Goethe, «Winckelmann»; Nat. Lit. Bd. 27, S.47). Nach dem Anblicke der griechischen Kunstwerke in Italien schreibt Goethe: «Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden.»109 Der bloßen sinnenfälligen Erfahrungswirklichkeit gegenüber sind die Kunstwerke ein schöner Schein; für den, der tiefer zu schauen vermag, sind sie «eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne sie niemals offenbar würden» ([freie Wiedergabe] vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 494).
Nicht der Stoff, den der Künstler aus der Natur aufnimmt, macht das Kunstwerk; sondern allein das, was der Künstler aus seinem Innern in das Werk hineinlegt. Das höchste Kunstwerk ist dasjenige, welches vergessen macht, daß ihm ein natürlicher Stoff zugrunde liegt, und das lediglich durch dasjenige unser Interesse erweckt, was der Künstler aus diesem Stoffe gemacht hat. Der Künstler gestaltet natürlich; aber er gestaltet nicht wie die Natur selbst. In diesen Sätzen scheinen mir die Hauptgedanken ausgesprochen zu sein, die Goethe in seinen Aphorismen über Kunst niedergelegt hat.
106 Goethes Anschauungen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz zur Kantschen Philosophie. Diese geht von der Auffassung aus, daß die Vorstellungswelt von den Gesetzen des menschlichen Geistes beherrscht werde und deshalb alles, was ihr von außen entgegengebracht wird, in ihr nur als subjektiver Abglanz vorhanden sein könne. Der Mensch nehme nicht das «An sich» der Dinge wahr, sondern die Erscheinung, die dadurch entsteht, daß die Dinge ihn affizieren und er diese Affektionen nach den Gesetzen seines Verstandes und seiner Vernunft verbindet. Daß durch diese Vernunft das Wesen der Dinge spricht, davon haben Kant und die Kantianer keine Ahnung. Deshalb konnte die Kantsche Philosophie für Goethe nie etwas bedeuten. Wenn er sich einzelne ihrer Sätze aneignete, so gab er ihnen einen völlig anderen Sinn, als sie innerhalb der Lehre ihres Urhebers haben. Es ist durch eine Notiz, die erst nach Eröffnung des Weimarischen Goethe-Archivs bekannt geworden ist, klar, daß Goethe den Gegensatz seiner Weltauffassung und der Kantschen sehr wohl durchschaute. Für ihn liegt der Grundfehler Kants darin, daß dieser «das subjektiveErkenntnisvermögen nun selbst als Objekt betrachtet und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen, zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert». Subjektiv und objektiv treten zusammen, wenn der Mensch das, was die Außenwelt ausspricht, und das, was sein Inneres vernehmen läßt, zum einigen Wesen der Dinge verbindet. Dann hört aber der Gegensatz von subjektiv und objektiv ganz auf; er verschwindet in der geeinten Wirklichkeit. Ich habe darauf schon hingedeutet in dieser Schrift S.2lBff. Gegen meine damaligen Ausführungen polemisiert nun K. Vorländer im 1. Heft der «Kantstudien». Er findet, daß meine Anschauung über den Gegensatz von Goethescher und Kantscher Weltauffassung «mindestens stark einseitig und mit klaren Selbstzeugnissen Goethes in Widerspruch» sei und sich «aus dem völligen Mißverständnis der transzendentalen Methode» Kants von meiner Seite erkläre. Vorländer hat keine Ahnung von der Weltanschauung, in der Goethe lebte. Mit ihm zu polemisieren würde mir gar nichts nützen, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Wie klar sein Denken ist, zeigt sich darin, daß er bei meinen Sätzen nie weiß, was gemeint ist. Ich mache z. B. eine Bemerkung zu dem Goetheschen Satze: «Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nützen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist … Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt, sie suchen und untersuchen, was ist und nicht was behagt.» Meine Bemerkung lautet: «Hier zeigt sich, wie Goethes Weltanschauung gerade der entgegengesetzte Pol der Kantschen ist. Für Kant gibt es überhaupt keine Ansicht über die Dinge, wie sie an sich sind, sondern nur wie sie in bezug auf uns erscheinen. Diese Ansicht läßt Goethe nur als ganz untergeordnete Art gelten, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen.» Dazu sagt Vorländer: «Diese (Worte Goethes) wollen weiter nichts als einleitend den trivialen Unterschied zwischen dem Angenehmen und dem Wahren auseinandersetzen. Der Forscher soll suchen, ‹was ist und nicht was behagt›. Wer, wie Steiner, die letztere allerdings ehr untergeordnete Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen, als diejenige Kants zu bezeichnen wagt, dem ist zu raten, daß er sich erst die Grundbegriffe der Kantschen Lehre, z. B. den Unterschied von subjektiver und objektiver Empfindung, etwa aus § 3 der Kr. d. U. klarmache.» Nun habe ich durchaus nicht, wie aus meinem Satze klar hervorgeht, gesagt, daß jene Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen, die Kants ist, sondern daß Goethe die Kantsche Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt nicht entsprechend dem Verhältnis findet, in dem der Mensch zu den Dingen steht, wenn er erkennen will, wie sie an sich sind. Goethe ist der Ansicht, daß die Kantsche Definition nicht dem menschlichen Erkennen, sondern nur dem Verhältnisse entspricht, in das sich der Mensch zu den Dingen setzt, wenn er sie in bezug auf sein Gefallen und Mißfallen betrachtet. Wer einen Satz in einer solchen Weise mißverstehen kann wie Vorländer, der mag es sich ersparen, andern Leuten Ratschläge zu geben über ihre philosophische Ausbildung, und lieber erst sich die Fähigkeit aneignen, einen Satz richtig lesen zu lernen. Goethesche Zitate aufsuchen und sie historisch zusammenstellen kann jeder; sie im Sinne der Goetheschen Weltanschauung deuten, kann jedenfalls Vorländer nicht.
107 (Berlin 1894 [Gesamtausgabe Dornach 1973]).
108 Wie wenig Verständnis für die ethischen Anschauungen sowohl, wie für eine Ethik der Freiheit und des Individualismus im allgemeinen, bei den Fachphilosophen der Gegenwart vorhanden ist, zeigt folgender Umstand. Ich habe im Jahre 1892 in einem Aufsatz der «Zukunft» (Nr. 5) mich für eine streng individualistische Auffassung der Moral ausgesprochen [jetzt in «Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901»; Gesamtausgabe Dornach 1966, S. 169ff..]. Auf diesen Aufsatz hat Ferdinand Tönnies in Kiel in einer Broschüre: «‹Ethische Kultur und ihr Geleite. Nietzsche-Narren in der ‹Zukunft› und in der Gegenwart.» (Berlin 1893) geantwortet. Er hat nichts vorgebracht als die Hauptsätze der in philosophische Formeln gebrachten Philistermoral. Von mir aber sagt er, daß ich «auf dem Wege zum Hades keinen schlimmeren Hermes« hätte finden können als Friedrich Nietzsche. Wahrhaft komisch wirkt es auf mich, daß Tönnies, um mich zu verurteilen, einige von Goethes «Sprüchen in Prosa« vorbringt. Er ahnt nicht, daß, wenn es für mich einen Hermes gegeben hat, es nicht Nietzsche, sondern Goethe gewesen war. Ich habe die Beziehungen der Ethik der Freiheit zur Ethik Goethes bereits S. 195 ff. dieser Schrift dargelegt. Ich hätte die wertlose Broschüre nicht erwähnt, wenn sie nicht symptomatisch wäre für das in fachphilosophischen Kreisen herrschende Mißverständnis der Weltanschauung Goethes.
109 Italienische Reise, 6. Sept. 1787.
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