Das Buch »Vom Menschenrätsel. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten« erschien 1916 in Berlin, mitten im I. Weltkrieg. Steiner wollte mit diesem Werk angesichts der Anfeindungen, denen sich Mitteleuropa ausgesetzt sah, auf jene Traditionen und Strömungen des deutschen und österreichischen Geisteslebens aufmerksam machen, die er als wesentlichen Beitrag zum gemeinsamen Kulturleben des Abendlandes betrachtete. Zugleich beschrieb er mit den in diesem Buch behandelten Gestalten auch eine bestimmte Form des geistigen Lebens, in dem er eine unverzichtbare Vorstufe für die Anthroposophie sah. Dies wird besonders deutlich in den Schilderungen der Idealisten Fichte, Schelling und Hegel, aber auch einer Reihe »vergessener« Denker des späten 19. Jahrhunderts, wie Immanuel Hermann Fichte, Paul Ignaz Vital Troxler, Carl Christian Planck und Wilhelm Heinrich Preuß. Besonders lesenswert ist das Buch auch durch das Kapitel »Ausblicke«, in dem Steiner den Weg schildert, der von diesem Gedankenleben zur Geisteswissenschaft führen könnte.
Inhalt
Vorwort und Einleitung: Gedankenwelt, Persönlichkeit, Volkheit
Das Weltbild des deutschen Idealismus
1. Der Idealismus als Seelenerwachen: J. G. Fichte
2. Der Idealismus als Natur- und Geistesanschauung: F. W. J. Schelling
3. Der deutsche Idealismus als Gedankenanschauung: G.W.F.Hegel
Eine vergessene Strömung im deutschen Geistesleben
Bilder aus dem Gedankenleben Österreichs
Es widerstrebt der Empfindung mancher Menschen, von der Einwirkung einer Volkheit auf die Weltanschauungen der aus dieser Volkheit entsprossenen Persönlichkeiten zu sprechen. Denn sie meinen, das widerspräche doch der selbstverständlichen Wahrheit, dass Erkenntnis des Wahren ein bei allen Menschen in gleicher Art vorhandenes Lebensgut sei.
Dass dies sich so verhält, ist wirklich so selbstverständlich, wie dass der Sonnenschein und der Mondenschein allen Menschen der Erde gleich erstrahlen. Und unbestreitbar gilt es ebenso für die höchsten Gedanken der Weltanschauung wie für das «Zweimal zwei ist vier» der Alltäglichkeit, dass die Wahrheit nicht nach Menschen- und Völkerart verschieden sich gestalten könne.
Aber eben weil dies so selbstverständlich ist, sollte nicht vorausgesetzt werden – ohne weiteres Hinsehen auf das, was gemeint ist –, dass jemand dies Selbstverständliche außer acht lässt, der im Wesen der Denker eines Volkes sucht nach den Wurzeln der Volkheit, aus der sie entstammen. Der Menschengeist lebt doch nicht nur in der abstrakten Prägung gewisser Begriffe; er schöpft sein Leben auch aus den Kräften, welche die Seelen aus ihren vertraulichsten Erfahrungen heraus mit den aus ihnen geborenen Einsichten mittönen lassen …
Empfindet man, wie die Kräfte der Volkheit in den Denkern eines Volkes wirken, so steht diese Empfindung mit der hier ausgesprochenen Ansicht in vollem Einklange. Die Volkheit will nicht darüber entscheiden, wie ein Denker seine Gedanken gestaltet; aber sie wirkt, zusammen mit andern seinen Gesichtspunkt bestimmenden Kräften, auf das Verhältnis zum Dasein, durch das die Wirklichkeit nach der einen oder der anderen Richtung sich ihm offenbart. Sie braucht nicht sein Anschauungsvermögen zu trüben; aber sie kann sich als besonders geeignet erweisen, den ihr angehörigen Denker auf einen Platz zu stellen, auf dem er eine gewisse Vorstellungsart der für die Menschheit gemeinsamen Wahrheit entwickeln kann. Sie will ihm nicht Richter sein über die Erkenntnis; aber sie kann ihm treu-fördernder Berater sein auf dem Wege zur Wahrheit. Inwiefern dies von deutscher Volkheit empfunden werden kann, dafür sollten in dieser Schrift Andeutungen gegeben werden …
Rudolf Steiner
Vorwort und Einleitung: Gedankenwelt, Persönlichkeit, Volkheit
Aus Anschauungen, die sich im Laufe von fünfunddreißig Jahren in mir über Gedankenwelten einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten gebildet haben, legte ich einiges Vorträgen zum Grunde, die ich in dieser schicksaltragenden Zeit in mitteleuropäischen Städten zu halten hatte. Von solchen Persönlichkeiten wollte ich reden, in deren Gedanken die drängenden Lebensfragen nach Lösung suchen und in deren geistigem Ringen zugleich das Wesen der deutschen Volkheit sich offenbart.
Was ich so aussprach, möchte ich auch zu den Leitgedanken dieser Schrift machen. Sie soll vom Suchen des Menschengeistes nach Erkenntnis seines Wesens sprechen in Anknüpfung an solche Suchende, die nicht persönlichen Erkenntnis-Liebhabereien oder aus der Willkür geborenen ästhetisierenden Neigungen nachgingen, sondern Gedanken, die aus einem unwiderstehlichen gesunden Drang der Menschennatur erstehen und die bodenständig sind in den Gemütsbedürfnissen der Volkheit trotz der Geisteshöhe, nach der sie streben.
Allerdings wird von Persönlichkeiten die Rede sein, denen oft der Sinn abgesprochen wird für die Wirklichkeiten des Lebens von denjenigen, die nicht anerkennen wollen, dass der Mensch von der Wirklichkeitsoberfläche verwirrt und lebensuntüchtig gemacht wird, wenn er ihr nicht gegenübertreten kann mit Anschauungen über den Geist, der in Wirklichkeitstiefen waltet. Nach Erkenntnis des Geistes ringende Gedanken stoßen oft eine Seelenverfassung ab, die gar zu gerne sich auf Goethe berufen möchte, indem sie solchen Gedanken gegenüberhält: «Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, – und grün des Lebens goldner Baum.» Sie achtet dabei nicht darauf, dass Goethes Humor diese Worte gebraucht, um dem Teufel eine Belehrung in den Mund zu legen, welche dieser für einen Schüler gut findet.
Ein lebentragender Gedanke wird dadurch nicht betroffen, dass ihn eine der menschlichen Denkbequemlichkeit schmeichelnde Ansicht für grau hält, weil sie die Grauheit ihrer eigenen Theorie für goldigen Glanz des grünen Lebensbaumes hinnimmt.
Es widerstrebt der Empfindung mancher Menschen, von der Einwirkung einer Volkheit auf die Weltanschauungen der aus dieser Volkheit entsprossenen Persönlichkeiten zu sprechen. Denn sie meinen, das widerspräche doch der selbstverständlichen Wahrheit, dass Erkenntnis des Wahren ein bei allen Menschen in gleicher Art vorhandenes Lebensgut sei.
Dass dies sich so verhält, ist wirklich so selbstverständlich, wie dass der Sonnenschein und der Mondenschein allen Menschen der Erde gleich erstrahlen. Und unbestreitbar gilt es ebenso für die höchsten Gedanken der Weltanschauung wie für das «Zweimal zwei ist vier» der Alltäglichkeit, dass die Wahrheit nicht nach Menschen- und Völkerart verschieden sich gestalten könne. Aber eben weil dies so selbstverständlich ist, sollte nicht vorausgesetzt werden – ohne weiteres Hinsehen auf das, was gemeint ist –, dass jemand dies Selbstverständliche außer acht lässt, der im Wesen der Denker eines Volkes sucht nach den Wurzeln der Volkheit, aus der sie entstammen.
Der Menschengeist lebt doch nicht nur in der abstrakten Prägung gewisser Begriffe; er schöpft sein Leben auch aus den Kräften, welche die Seelen aus ihren vertraulichsten Erfahrungen heraus mit den aus ihnen geborenen Einsichten mittönen lassen. Goethe empfand so, als er an einen Freund schrieb: «Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.» Goethe weiß, wie sogar das schon Entdeckte in neuem Lichte wiedergefunden werden kann, wenn es in einer neuen Art geschaut wird.
Und was die Menschheit an Gedanken für ihr geistiges Leben über die Erkenntnisfragen entwickelt, das spricht nicht nur von dem, was Menschen suchen, sondern auch davon, wie sie suchen. In solchen Gedanken fühlt der dafür Empfängliche den Seelenpuls, der von dem Leben kündet, aus dem sie in die Vernunft hineinstrahlen. So wahr es ist, dass man in einem Gedanken auch seinen Denker kennenlernt, so einleuchtend ist, dass man in einem Denker die Volkheit schauen kann, aus der der Denker aufgestiegen ist.
Welch ein Wahrheitsgehalt einem Gedanken innewohnt und ob eine Vorstellung aus den Wurzeln echter Wirklichkeit erwachsen ist: darüber können sicherlich nur die von Ort und Zeit unabhängigen Erkenntniskräfte entscheiden. Doch ob ein bestimmter Gedanke, ob eine den Menschengeist in eine gewisse Richtung lenkende Idee innerhalb einer Volkheit auftaucht, das liegt an den Quellen, aus denen der Geist dieser Volkheit schöpfen darf. Karl Rosenkranz wollte über die Wahrheit der Gedanken Hegels gewiss nichts aus der Tatsache beweisen, dass er diese Gedanken in Zusammenhang brachte mit dem deutschen Volksgeist, als er 1870 sein Buch schrieb: «Hegel als deutscher Nationalphilosoph». Er hatte die Ansicht, die er schon in seiner Beschreibung des Lebens Hegels ausgesprochen hat:
«Eine wahre Philosophie ist die Tat eines Volkes … Aber für die Philosophie, insofern sie Philosophie ist, kommt es zugleich auf die Eigenheit des volkstümlichen Ursprungs gar nicht an. Hier hat die Allgemeinheit und Notwendigkeit ihres Inhaltes und die Vollendung seines Beweises allein Bedeutung. Ob das Wahre von einem Griechen oder Germanen, von einem Franzosen oder Engländer erkannt und ausgesprochen wird, hat für es selbst, als Wahres, kein Gewicht. Jede wahre Philosophie ist daher als nationale zugleich eine allgemeine menschliche und im großen Gang der Menschheit ein unentbehrliches Glied. Sie hat das Vermögen der absoluten Verbreitungsfähigkeit durch alle Völker, und es kommt für ein jedes die Zeit, wo es die wahrhafte Philosophie der andern Völker sich aneignen muss, will es anders seinen eigenen Fortschritt sichern und fördern.»
Es kann die Empfindung, die man gegen das Volkstümliche von Weltanschauungsgedanken hat, auch noch anders geartet sein. Man kann aus der Anerkennung der Volkstümlichkeit solcher Gedanken einen Einwand gegen ihren Erkenntniswert bilden. Man kann meinen, dass sie dadurch auf das Feld der Phantasie gedrängt werden und man von ihnen sprechen müsse wie etwa von deutscher Dichtung, während es unzulässig sei, von deutscher Mathematik oder deutscher Physik in demselben Sinne zu reden.
Es gibt Menschen, die in jeder Weltanschauung – jeder Philosophie – eine Begriffsdichtung sehen. Diese brauchen sich mit dem Einwand, der aus der angedeuteten Empfindung ersteht, nicht zu beschäftigen.
Doch die Ausführungen dieser Schrift sind nicht von solchem Gesichtspunkte aus geschrieben. Sie stellt sich auf den andern, dass im Ernste niemand von einer Weltanschauung sprechen kann, der ihr nicht einen Erkenntniswert zuerkennt, der nicht voraussetzt, dass ihre Gedanken aus Wirklichkeiten stammen, die allen Menschen gemeinsam sind. Man kann auch sagen, das sei im allgemeinen richtig; aber eine allen Menschen gemeinsam geltende Weltanschauung sei ein Ideal, das noch nirgends verwirklicht ist; alle bestehenden Weltanschauungen tragen an sich, was aus der Unvollkommenheit der Menschennatur ihnen aufgedrückt ist. Auf eine Besprechung der aus solchem Grunde bestehenden Unvollkommenheit der Weltanschauungen kann hier verzichtet werden. Denn es sollen nicht etwa aus der Volkstümlichkeit von Weltanschauungsgedanken Entschuldigungen für deren Schwäche, sondern Gründe für deren Stärke gesucht werden. Daher kann die Behauptung hier außer Betracht bleiben, dass eben die Denker wie von ihren persönlichen Standpunkten, so auch von dem abhängig sind, was ihnen aus ihrer Volkheit anhaftet; und dass sie eben deshalb nicht zu einer allgemein-menschlichen Weltanschauung durchdringen können.
Diese Schrift spricht von einer Reihe von Persönlichkeiten in dem Sinne, dass deren Gedanken wirklich allgemein-menschliche Geltung zuerkannt wird. Von dem, was als Irrtümer oder einseitige Ansichten gekennzeichnet wird, nur insofern, als man darin Umwege zur Wahrheit sehen kann. Könnte aus der erwähnten Empfindung heraus ein unbedingt geltender Einwand entspringen, so hätte er Berechtigung gegenüber der Art, wie in dieser Schrift Weltanschauungsgedanken mit dem Wesen der deutschen Volkheit in Verbindung gebracht werden. Was dieser Empfindung aber entgegengehalten werden muss, durchschaut man nur, wenn man sich von einem Glauben abbringen kann, der auch in anderer Richtung schwerwiegende Täuschungen hervorruft. Es ist der Glaube, die vielartigen Gedankengestaltungen der in Weltanschauungsfragen forschenden Denker seien wirklich ebenso viele verschiedene Weltanschauungen, die miteinander nicht bestehen können.
Aus diesem Glauben heraus bekämpft oft der naturwissenschaftlich Gesinnte den Mystiker, der Mystiker den naturwissenschaftlich Gesinnten. Der eine meint, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seien allein wahre Ergebnisse der Wirklichkeitsforschung; aus ihnen müsse man die Gedanken gewinnen, welche für Welt und Leben Verständnis bringen können, so weit dieses Verständnis von dem Menschen erreichbar ist. Der andere bekennt sich zu der Ansicht, das wahre Wesen der Welt erschließe sich nur dem mystischen Erleben, und die Gedanken des naturwissenschaftlich Gesinnten können an die echte Wirklichkeit nicht herankommen. Der «Monist» ist nur zufrieden, wenn eine einheitliche Grundlage für die stoffliche und die geistige Welt vorgestellt wird. Entweder es erblickt die eine Art der Monisten diese Grundlage in den Stoffen und ihren Wirkungen, so dass ihnen die geistigen Erscheinungen zu Offenbarungen der stofflichen Welt werden. Oder andere Monisten gestehen nur dem Geiste wahres Sein zu und glauben, alles Stoffliche sei nur eine Art des Geistigen. Der Dualist sieht in einer solchen Vereinheitlichung ein Verkennen sowohl des Wesens des Stoffes wie auch des Geistes. Nach seiner Ansicht müssen die beiden als für sich mehr oder weniger selbständige Weltgebiete betrachtet werden.
Es käme eine lange Reihe zustande, wenn man auch nur die hervorragendsten dieser vermeintlichen Weltanschauungen kennzeichnen wollte. Nun gibt es ja viele Menschen, die meinen, über alles Reden von Weltanschauung hinausgekommen zu sein. Diese sagen: ich richte mich in der Erkenntnis nach dem, was ich in der Wirklichkeit finde; was eine Weltanschauung davon hält, darum kümmere ich mich nicht. Das glauben sie zwar; allein ihr Verhalten zeigt etwas völlig anderes. Sie bekennen sich mehr oder weniger bewusst, oder auch unbewusst, doch in der allerentschiedensten Art zu einer solchen Weltanschauung.
Wenn sie diese auch nicht unmittelbar aussprechen oder denken, so entwickeln sie ihre Vorstellungen in deren Richtung und bekämpfen, lehnen ab oder behandeln die Vorstellungen anderer Menschen so, wie es einer solchen «Weltanschauung» entspricht.
Dem bewussten oder unbewussten Glauben an solche vermeintliche Weltanschauungen liegt eine Täuschung zum Grunde über das Verhältnis des Menschen zur außermenschlichen Welt. Der in dieser Täuschung Befangene hält nicht recht auseinander, was der Mensch von der Außenwelt für die Gestaltung der Gedanken empfängt, und was er aus sich selbst herausholt, wenn er Gedanken bildet.
Bemerkt man, dass zwei Denker verschiedene Gedanken über die Fragen des Lebens aussprechen, so hat man allzuleicht das Gefühl: wenn die beiden mit ihren Gedanken die wahre Wirklichkeit zum Ausdrucke brächten, so müssten sie ein Gleiches, nicht Verschiedenes sagen. Und man denkt, die Verschiedenheit könne nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in der persönlichen (subjektiven) Auffassungsart der Denker ihre Gründe haben. Wenn dies auch nicht immer offen bekannt wird von den Menschen, die über Weltanschauungen sprechen, so liegt diese Meinung dem Geiste und der Haltung ihres Redens doch mehr oder weniger bewusst oder auch unbewusst zum Grunde. Ja, die Denker selbst leben zumeist in einer solchen Befangenheit. Sie sprechen ihre Gedanken über das aus, was sie für Wirklichkeit halten, sehen diese Gedanken für ihr «System» einer rechten Weltanschauung an und glauben, eine andere Gedankenrichtung beruhe auf der persönlichen Eigenart des Denkers.
Die Darstellung dieser Schrift hat eine andere Ansicht zu ihrem Hintergrunde. (Diese Ansicht kann an dieser Stelle zunächst allerdings nur wie eine Behauptung vorgebracht werden. Ich hoffe, dass man in der Schrift selbst einiges zu ihrer Begründung werde finden können. In einem großen Teile meiner andern Schriften habe ich mich bemüht, manches weitere zu dieser Begründung beizutragen.)
Zwei voneinander abweichende Gedankenrichtungen können ihrem Wesen nach oftmals nur dadurch begriffen werden, dass man ihre Verschiedenheit so ansieht wie die Verschiedenheit zum Beispiele zweier Bilder eines Baumes, die von zwei Richtungen her durch einen Photographierapparat aufgenommen sind. Die Bilder sind verschieden; aber ihre Verschiedenheit beruht nicht auf dem Wesen des Apparates, sondern auf der Stellung des Baumes zum Apparat. Und diese ist etwas ebenso außerhalb des Apparates Liegendes wie der Baum selbst. Die Bilder sind beide wahre Ansichten von dem Baume. Das Abweichende zweier Weltanschauungen hindert nicht, dass beide die wahre Wirklichkeit zum Ausdrucke bringen.
Die Wirrnis der Ideen entsteht, wenn die Menschen dieses nicht durchschauen. Wenn sie sich zu Materialisten, Idealisten, Monisten, Dualisten, Spiritualisten, Mystikern oder gar – Theosophen machen, oder von anderen gemacht werden, und damit ausgedrückt werden soll: man käme nur zu einer wahren Ansicht über die Quellen des Lebens, wenn man seine ganze Denkweise im Sinne eines dieser Begriffe abstimmt.
Aber es ist die Wirklichkeit selbst, die von der einen Seite her durch materialistische Ideen erkannt sein will; von einer anderen durch geistgemäße, von einer dritten als Einheit (Monon), von einer weiteren als Zweiheit. Der denkende Mensch möchte durch eine Vorstellungsart das Wesen der Wirklichkeit umfassen.
Und wenn er bemerkt, dass er dieses umsonst unternimmt, so behilft er sich damit, dass er sagt: alle Vorstellungen über die Wurzeln des wirklichen Lebens sind persönlich (subjektiv) gestaltet, und das Wesen des «Dinges an sich» bleibt unerkennbar. – Aus wie vielen Verwirrungen des Gedankenlebens heraus führte doch die Erkenntnis, dass gar mancher Mensch über eine von der seinigen abweichende Weltanschauung so spricht, wie einer, der das von einer Seite her aufgenommene Bild eines Baumes kennt, und der, gestellt vor ein von anderer Seite her erhaltenes, nicht zugeben will, dass dies ein «richtiges» Bild desselben Baumes ist!
Viele, die sich Lebenspraktiker dünken, trösten sich über solch quälende Weltanschauungsfragen allerdings dadurch hinweg, dass sie sagen: lasset diejenigen über diese Dinge streiten, die dazu Muße und Lust haben; dem wahren Leben schadet dies nichts; das braucht sich darum nicht zu bekümmern. Aber so sprechen können doch nur diejenigen Menschen, welche gar nicht ahnen, wie weit ihre Vorstellungen von den wirklichen Triebkräften des Lebens entfernt sind.
Es sind dies diejenigen Menschen, deren Bild Johann Gottlieb Fichte vor der Seele stand, als er die Worte sprach:
«Indes man in demjenigen Umkreise, den die gewöhnliche Erfahrung um uns gezogen, allgemeiner selbst denkt und richtiger urteilt, als vielleicht je, sind die mehrsten völlig irre und geblendet, sobald sie auch nur eine Spanne über denselben hinausgehen sollen. Wenn es unmöglich ist, in diesen den einmal ausgelöschten Funken des höheren Genius wieder anzufachen, muss man sie ruhig in jenem Kreise bleiben, und insofern sie in demselben nützlich und unentbehrlich sind, ihnen ihren Wert in und für denselben ungeschmälert lassen. Aber wenn sie darum nun selbst verlangen, alles zu sich herabzuziehen, wozu sie sich nicht erheben können, wenn sie zum Beispiel fordern, dass alles Gedruckte sich als ein Kochbuch, oder als ein Rechenbuch, oder als ein Dienstreglement solle gebrauchen lassen, und alles verschreien, was sich so nicht brauchen lässt, so haben sie selbst um ein Großes Unrecht.
Dass Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen, wissen wir andern vielleicht so gut als sie, vielleicht besser. Wir behaupten nur, dass nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modifiziert werden müsse. Gesetzt, sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, dass nur auf sie nicht im Plane der Veredlung der Menschheit gerechnet ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; über jene wolle die gütige Natur walten und ihnen zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nahrung und ungestörten Umlauf der Säfte, und dabei – kluge Gedanken verleihen!»
Ein Verhängnisvolles liegt gerade darin, dass die das Leben befruchtenden Ideen einzelner Weltanschauungen von diesem Leben ferngehalten werden durch den Glauben, ihre Verschiedenheit beweise, dass sie insgesamt subjektiv gefärbt seien durch die Vorstellungsarten ihrer Denker. Dadurch wird auf die Reden der charakterisierten Ideen-Gegner ein Schein des Rechtes geworfen. Nicht, was sie enthalten, verurteilt die Weltanschauungen der Denker zur Unfruchtbarkeit für das Leben, sondern der zumeist in ihrem Gefolge auftretende Glaube, entweder müsse eine Gedankenrichtung die ganze Wirklichkeit offenbaren, oder sie seien alle nur persönlich gefärbte Ansichten.
Diese Schrift möchte zeigen, inwiefern in den Ideen einzelner Denker trotz deren Verschiedenheit die Wahrheit lebt, und nicht bloß persönlich gefärbte Ansichten.
Nur dadurch, dass man versucht zu erkennen, inwiefern die Wirklichkeit selbst in ihrem Verhältnis zum Menschen durch verschiedene Vorstellungsarten sich offenbart, ringt man sich auch zu einem begründeten Urteile hindurch über dasjenige, was aus dem Wesen des die Welt beobachtenden Denkers stammt. Man durchschaut, wie des einen Denkers Wesenheit mehr nach dem einen, die des andern mehr nach dem anderen Verhältnis der außermenschlichen (objektiven) Wirklichkeit zum Menschen hindrängt.
Man sieht zunächst die scharf ausgeprägte persönliche Denkungsrichtung einer Persönlichkeit. Man ist versucht, zu glauben, deren Weltanschauung sei deshalb auch nur eine persönliche (subjektive) Vorstellungsart, weil man bemerkt, wie sie ihre Grundlagen in der persönlichen Denkrichtung hat. Erkennt man aber, wie diese persönliche Denkrichtung gerade bewirkt, dass der Denker sich auf einen bestimmten Gesichtspunkt stellt, durch den sich die außermenschliche (objektive) Wirklichkeit in ein besonderes Verhältnis zu ihm stellen kann, so entwindet man sich der Verwirrung, in die man durch den Anblick der verschiedenen Weltanschauungen gebracht werden kann.
Gar mancher wird zu dem Vorgebrachten vielleicht sagen: ja, aber das ist doch alles von einem gewissen Gesichtspunkte aus ganz selbstverständlich, und deshalb ist es überflüssig, es erst vorzubringen.
Aber der so sagt, wird oftmals gerade ein solcher sein, der in seinem Urteilen und Handeln überall gegen diese Anschauung von Wahrheit und Wirklichkeit verstößt.
Mit der dargestellten Ansicht soll aber nicht eine Rechtfertigung gegeben sein jeder menschlichen Meinung, die sich als Weltanschauung ansieht. Wirkliche Irrtümer, Fehlerhaftigkeit der Erkenntnisquellen, Gesichtspunkte, von denen aus nur eine umnebelte Einbildung Weltanschauungsgedanken schaffen will: alles dieses wird sich gerade in dem Lichte zeigen, zu dem diese Ansicht dringt. Indem sie zu erfahren sucht, inwiefern in voneinander abweichenden menschlichen Gedanken die eine Wirklichkeit sich offenbart, darf sie auch hoffen, einen Blick dafür zu gewinnen, wo eine menschliche Meinung von der Wirklichkeit selbst zurückgewiesen wird.
Empfindet man, wie die Kräfte der Volkheit in den Denkern eines Volkes wirken, so steht diese Empfindung mit der hier ausgesprochenen Ansicht in vollem Einklange. Die Volkheit will nicht darüber entscheiden, wie ein Denker seine Gedanken gestaltet; aber sie wirkt, zusammen mit andern seinen Gesichtspunkt bestimmenden Kräften, auf das Verhältnis zum Dasein, durch das die Wirklichkeit nach der einen oder der anderen Richtung sich ihm offenbart. Sie braucht nicht sein Anschauungsvermögen zu trüben; aber sie kann sich als besonders geeignet erweisen, den ihr angehörigen Denker auf einen Platz zu stellen, auf dem er eine gewisse Vorstellungsart der für die Menschheit gemeinsamen Wahrheit entwickeln kann. Sie will ihm nicht Richter sein über die Erkenntnis; aber sie kann ihm treu-fördernder Berater sein auf dem Wege zur Wahrheit.
Inwiefern dies von deutscher Volkheit empfunden werden kann, dafür sollten in dieser Schrift Andeutungen gegeben werden durch Schilderung einer Reihe von Persönlichkeiten, die aus dieser Volkheit aufgestiegen sind. Der Verfasser dieser Schrift hofft, man werde aus ihr seine Empfindung erkennen, dass liebevolles erkennendes Vertiefen in die seelische Eigenart einer Volkheit nicht führen müsse zur Verkennung und Missachtung des Wesens und Wertes anderer Volkheiten. Unnötig wäre zu anderer Zeit, dies besonders zu sagen. Heute ist es nötig angesichts der Gefühle, die von vielen Seiten deutschem Wesen entgegengebracht werden.
Von dem Anteil sowohl deutscher wie auch deutsch-österreichischer Persönlichkeiten am Geistesleben zu sprechen, liegt dem Verfasser dieser Schrift besonders nahe; ist er doch durch Geburt und Erziehung Deutschösterreicher, der seine ersten drei Lebensjahrzehnte in Österreich, und dann eine – bald ebenso lange – Zeit in Deutschland verlebt hat.
Wie er über die Stellung der meisten in dieser Schrift behandelten Persönlichkeiten im allgemeinen Geistesleben denkt, darüber hat er sich in seinem Buche «Die Rätsel der Philosophie» ausgesprochen. Dort Gesagtes hier zu wiederholen, lag nicht in seiner Absicht. Er kann gut verstehen, dass jemand über die Auswahl der geschilderten Persönlichkeiten anderer Ansicht sein kann als er. Aber er wollte, ohne nach irgendeiner Richtung Vollständigkeit anzustreben, einfach einiges schildern, was ihm Anschauung und Lebenserfahrung geworden ist.
Berlin, im Mai 1916
Rudolf Steiner
Zusatz für die Neu-Ausgabe 1918
Steht man als Betrachter dem «Denken, Schauen und Sinnen» einer Persönlichkeit gegenüber, so kann man die Empfindung haben, man beobachte in der Seele einer solchen Persönlichkeit wirksame Kräfte, die ihrer Vorstellungsart die Richtung und die besondere Kennzeichnung geben, die aber von ihr selbst nicht zum Inhalte ihres Denkens gemacht werden. Mit einer solchen Empfindung muss durchaus nicht die eitle Meinung verknüpft sein, man könne sich als Betrachter über die betrachtete Persönlichkeit stellen. Die Tatsache, dass man als Betrachter einen anderen Gesichtspunkt hat als der Betrachtete, macht möglich, dass man dies aussprechen kann, was der andere nicht ausgesprochen hat. Was er deshalb nicht ausgesprochen, ja, was er vor das eigene Denken nicht gebracht, sondern im unbewussten Seelenleben gelassen hat, weil durch dieses Nicht-Aussprechen das von ihm Gesagte seine volle Bedeutung erlangt hat. Je bedeutender dasjenige ist, was ein Mensch zu sagen hat, desto umfangreicher ist das, was in seinen Seelentiefen unbewusst waltet. In den Seelen derer, die sich in das Denken, das Sinnen einer solchen Persönlichkeit versenken, klingt aber dieses Unbewusste an. Und sie dürfen es auch ins Bewusstsein heraufholen, weil es bei ihnen ja nicht mehr zum Hemmnis für das Auszusprechende werden kann.
Die Persönlichkeiten, von welchen in dieser Schrift die Rede ist, sich einen in besonders starkem Maße solche zu sein, die Anlass geben, von ihrem Ausgesprochenen zu dem vorzudringen, was sie unausgesprochen gelassen haben. Deshalb glaubte der Verfasser dieses Buches dessen Darstellung mit den «Ausblicken», die den Abschluss bilden, erst von dem eingenommenen Gesichtspunkte aus zu einer vollständigen zu machen. Er ist der Ansicht, dass er dadurch in die Anschauungen der betrachteten Persönlichkeiten nicht etwas Unberechtigtes hineingetragen hat, sondern das gesucht hat, aus dem sie in wahrem Sinne des Gedankens herausgeflossen sind. Das Unausgesprochene ist in ,diesem Falle ein reich mit Samen besetzter Boden, aus dem das Ausgesprochene als einzelne Früchte hervorgesprosst ist.
Beobachtet man diese Früchte so, dass man sich bewusst wird des samentragenden Bodens, auf dem sie gereift sind, dann wird man gerade dadurch gewahr, wie dasjenige, was die Seele mit den bedeutsamsten Menschenrätseln erleben muss, bei den in dieser Schrift geschilderten Persönlichkeiten tiefgehende Anregungen, mächtige Hinweise in zielsichere Richtungen und stärkende Kräfte für fruchtbare Einsichten finden kann. Durch eine solche Betrachtung wird man hinwegkommen über die Scheu vor der scheinbaren Abstraktheit gegenüber den Gedanken dieser Persönlichkeiten, die viele gar nicht an sie herankommen lässt. Man wird ersehen, dass diese Gedanken, recht angesehen, von unbegrenzter Lebenswärme voll sind, einer Wärme, welche der Mensch suchen muss, wenn er sich nur wirklich selbst recht versteht.
Der Idealismus als Seelenerwachen: Johann Gottlieb Fichte
Johann Gottlieb Fichte sucht in seinen Reden über «Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters» und «an die deutsche Nation» eine Darstellung zu finden für die in der Menschheitsentwicklung wirksamen Geisteskräfte. Er durchdringt sich durch die Gedanken, die er in diesen Reden zum Ausdruck bringt, mit der Empfindung, dass die treibende Kraft seiner Weltanschauung aus dem innersten Wesen der deutschen Volksart fließt. Er hat die Ansicht, dass er Gedanken ausspricht, welche die deutsche Volksseele aussprechen muss, wenn sie aus dem Kern ihrer Geistigkeit heraus sich offenbaren will. Die Art, wie Fichte nach seiner Weltanschauung rang, macht verständlich, dass diese Empfindung in seiner Seele leben konnte. Für den Betrachter eines Denkers muss es bedeutsam erscheinen, die zu dessen Gedankenfrüchten gehörigen Wurzeln zu erforschen, die in seinen Seelentiefen wirken, und die nicht unmittelbar in seinen Gedankenwelten ausgesprochen sind; die jedoch als die treibenden Kräfte in diesen Gedankenwelten leben.
Was für eine Weltanschauung man hat, das hängt davon ab, was für ein Mensch man ist: Fichte sprach diese Überzeugung aus dem Bewusstsein heraus, dass alle Lebenstriebe seiner eigenen Persönlichkeit als ihre naturgemäße selbstverständliche Frucht die begriffsstarken Gipfelhöhen seiner Weltanschauung hervorbringen mussten. Dieser Weltanschauung, in deren Mittelpunkt des Verständnisses sich nicht viele versetzen wollen, weil sie, was sie finden, für weltenfremde Gedanken halten, in die einzudringen nur Aufgabe des Denkers «von Beruf» sein könne. Verständlich ist diese Empfindung bei demjenigen, der ohne philosophische Vorbereitung an Fichtes Gedanken herantritt, indem er sie in dessen Werken aufsucht. Doch ist es für denjenigen, der die Möglichkeit hat, sich in das volle Leben dieser Gedanken zu versetzen, nicht absonderlich, sich vorzustellen, dass eine Zeit kommen werde, in der man Fichtes Ideen wird in eine Form gießen können, die jedem verständlich ist, der aus dem Leben heraus sich über den Sinn dieses Lebens Vorstellungen machen will. Auch für das einfachste Menschengemüt, das ferne steht dem, was man philosophisches Denken nennt, werden diese Ideen dann zugänglich sein können. Denn sie haben zwar ihre philosophische Gestalt erhalten von dem Charakter, den die Gedankenentwicklung in Denkerkreisen um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts angenommen hat; ihre Lebenskraft haben sie aber aus Seelenerlebnissen, die in jedem Menschen vorhanden sind. Gewiss ist gegenwärtig die Zeit noch nicht gekommen, in der ein solches Umgießen Fichtescher Gedanken aus der Sprache seiner Zeitphilosophie in die allgemein-menschliche Ausdrucksform völlig möglich wäre. Solche Dinge werden nur mit dem allmählichen Fortschreiten gewisser Vorstellungsarten im Geistesleben möglich. So wie Fichte selbst genötigt war, seine Seelenerlebnisse in die Gipfelhöhen dessen zu tragen, was man gewöhnlich abstraktes Denken nennt und kalt und lebensfremd findet, so ist es auch gegenwärtig wohl nur in eingeschränktem Maße möglich, diese Seelenerlebnisse herunterzutragen aus jenen Höhen.
Nach immer neuen Ausdrucksformen für diese Seelenerlebnisse rang Fichte von seiner frühen Jugend an bis dahin, da jäh der Tod ihn noch im Mannesalter erreichte. In allem Ringen ist ein Erkenntnisgrundtrieb bei ihm offenkundig. In der eigenen Menschenseele will er ein Lebendiges suchen, in dem der Mensch nicht nur die Grundkraft seines eigenen Daseins erfasst, sondern in dem, seinem Wesen nach, erkannt werden kann auch dasjenige, was in der Natur und in allem anderen Außermenschlichen webt und wirkt. Im Wassertropfen hat man im Verhältnis zum Meere ein winziges Kügelchen. Erkennt man aber dieses in seinem Wassercharakter, so hat man in dieser Erkenntnis auch diejenige des Wassercharakters des ganzen Meeres. Ist im Menschenwesen etwas aufzufinden, das sich als eine Offenbarung des innersten Weltwebens erleben lässt, dann darf man hoffen, durch vertiefte Selbsterkenntnis zur Welterkenntnis fortzuschreiten.
Auf dem Wege, der sich aus dieser Empfindung ergibt, wandelte die Weltanschauungsentwicklung lange vor Fichtes Zeitalter. Er aber ward mit seinem Leben auf einen bedeutungsvollen Punkt dieser Entwicklung gestellt. Wie er seine nächsten Anstöße von den Weltanschauungen Spinozas und Kants her erhielt, das ist an vielen Orten zu lesen. Die Art, wie er sich durch das Wesen seiner Persönlichkeit zuletzt in Weltanschauungsfragen verhielt, wird aber am anschaulichsten, wenn man ihm den Denker gegenüberstellt, der ebenso aus romanischem Denken hervorgegangen ist wie Fichte aus deutschem: Descartes (Cartesius. 1596-1650). In Descartes tritt deutlich zutage, wie aus der angedeuteten Empfindung heraus der Denker eine Sicherheit in der Welterkenntnis durch das Gewinnen eines festen Punktes in der Selbsterkenntnis sucht. Vom Zweifel an aller Welterkenntnis nimmt Descartes seinen Ausgangspunkt. Er sagt sich: die Welt, in der ich lebe, offenbart sich in meiner Seele, und ich bilde mir aus ihren Offenbarungen Vorstellungen über den Lauf der Dinge.
Was aber verbürgt mir, dass diese meine Vorstellungen mir wirklich etwas über das Wirken und Weben im Weltlauf sagen? Könnte es nicht so sein, dass meine Seele zwar von den Dingen gewisse Eindrücke empfängt; diese Eindrücke aber den Dingen selbst so ferne ständen, dass mir in ihnen sich nichts von dem Sinn der Welt enthüllte? Darf ich angesichts dieser Möglichkeit sagen: ich weiß dies oder jenes von der Welt? Man sieht, in diesem Meer des Zweifels kann dem Denker alle Erkenntnis zu einem Traum der Seele werden, und ihm nur die eine Überzeugung sich aufdrängen: dass der Mensch nichts wissen könne. Für einen Menschen aber, dem die Triebkraft des Denkens in der Seele so lebendig geworden ist, wie im Körper die Triebkraft des Hungers lebendig ist: für den bedeutet seelisch die Überzeugung, dass der Mensch nichts wissen könne, das gleiche, was für den Körper das Verhungern bedeutet. Alle innersten Stimmungen von Seelengesundheit im höhern Sinne bis zum Erfühlen des «Seelenheiles» hängen damit zusammen.
In der Seele selbst findet Descartes den Punkt, auf den er die Überzeugung stützen kann: die Vorstellungen, die ich mir von dem Weltenlauf bilde, sind kein Traum; sie leben ein Leben, das im Leben der ganzen Welt ein Glied ist. Wenn ich auch an allem zweifeln kann, an einem kann ich es nicht, denn ich strafte mich mit solchem Zweifel selbst Lügen. Ist es denn nicht gewiss, dass ich, indem ich mich dem Zweifel hingebe, denke? Ich könnte nicht zweifeln, wenn ich nicht dächte. Unmöglich also kann ich mein eigenes Erleben im Denken bezweifeln. Wollte ich durch den Zweifel das Denken töten: es stünde aus dem Zweifel lebendig wieder auf. Mein Denken lebt also; es steht somit in keiner Welt des Traumes; es steht in der Welt des Seins. Könnte ich glauben, dass alles andere, auch mein eigener Leib, mir ein Sein nur vortäusche; mein Denken täuscht mich nicht. So wahr ich denke, so wahr bin ich, indem ich denke.
Aus solchen Empfindungen heraus erklang Descartes’: «Ich denke, also bin ich» (Cogito ergo sum). Und wer ein Ohr für solche Dinge hat, wird die Kraft dieses Wortes auch bei den auf Descartes folgenden Denkern bis zu Kant fortklingen hören.
Erst bei Fichte hört dieser Klang auf. Vertieft man sich in seine Gedankenwelt, sucht man sein Ringen nach einer Weltanschauung mitzuerleben, so fühlt man, wie auch er in der Selbsterkenntnis Welterkenntnis sucht: aber man hat die Empfindung, das «Ich denke, also bin ich» könnte seinem Ringen nicht der Fels sein, auf dem er sich sicher glaubte in den Wogen des Zweifels, die ihm die menschlichen Vorstellungen zu einem Meere von Träumen zu machen vermöchten. Man empfindet, wie bei Fichte die Fähigkeit zu zweifeln gewissermaßen in einer ganz andern Kammer der Seele sitzt als bei Descartes, wenn man sich die Sätze vorhält, die er in seiner (1800 erschienenen) «Bestimmung des Menschen» geschrieben hat: «Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen.
Es ist kein Sein. – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern.
Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt; in einen Traum, der in einem Traum von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken – die Quelle alles Seins und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seins, meiner Kraft, meiner Zwecke – ist der Traum von jenem Traume.» Diese Gedanken drängen sich Fichte nicht in die Seele wie eine letzte Wahrheit vom Dasein. Er will nicht etwa wirklich die Welt als Traumgebilde ansehen. Er will nur zeigen, dass all die Gründe, welche der Mensch gewöhnlich für die Gewissheit einer Erkenntnis aufbringt, vor einem durchdringenden Blick nicht bestehen können, dass man mit diesen Gründen nicht das Recht habe, die Ideen, die man sich über die Welt macht, als etwas anderes denn als Traumgebilde anzusehen.
Und nicht gelten lassen kann Fichte, dass im Denken selbst irgendeine Gewissheit über das Sein stecke.
Warum sollte ich sagen: «Ich denke, also bin ich», da doch, wenn ich in einem Meere von Träumen lebe, mein Denken nichts weiter sein kann als «der Traum vom Traume»? Der Einschlag, der in die Gedanken über die Welt die Wirklichkeit trägt, muss für Fichte von ganz anderer Seite kommen als vom bloßen Denken über die Welt.
Wenn Fichte davon spricht, dass die Art des deutschen Volkstums in seiner Weltanschauung lebt, so wird dieser Gedanke verständlich, wenn man gerade das Bild des Weges zur Selbsterkenntnis, den er im Gegensatze zu Descartes sucht, sich vor die Seele rückt. Dieser Weg kann als das angesehen werden, was Fichte als «deutsch» empfindet; und man kann ihn als Wanderer auf diesem Weg dem auf romanischen Geistesbahnen schreitenden Descartes gegenüberstellen. Descartes sucht einen festen Punkt für die Selbsterkenntnis; er erwartet, dass ihm irgendwo dieser feste Punkt gegenübertreten werde.
Im Denken glaubt er ihn gefunden zu haben. Fichte erwartet von solcher Art des Suchens gar nichts. Denn, was er auch finden könnte: warum sollte es denn eine höhere Gewissheit geben als vorher Gefundenes?
Nein, auf diesem Wege des Suchens ist überhaupt nichts zu finden. Denn er kann nur von Bild zu Bild führen; und kein Bild, auf das man stößt, kann von sich aus sein Sein verbürgen. Also muss man zunächst den Weg durch die Bilder ganz verlassen und ihn erst wieder betreten, wenn man von anderer Seite her Gewissheit geholt hat.
Man muss gegenüber dem «Ich denke, also bin ich» etwas scheinbar recht Einfältiges sagen, wenn man es entkräften will. Doch geht es so mit vielen Gedanken, die der Mensch in seine Weltanschauung aufnimmt: sie lösen sich nicht durch weitausholende Einwände auf, sondern durch das Bemerken einfach liegender Tatbestände. Man unterschätzt nicht die Denkerkraft einer Persönlichkeit von der Art des Descartes, wenn man ihm einen solch einfachen Tatbestand entgegenhält. Das Gleichnis vom Ei des Kolumbus bleibt ja doch ewig wahr. Und so ist es auch wahr, dass das «Ich denke, also bin ich» einfach zerschellt an dem Tatbestand des Schlafes. Jeder Schlaf des Menschen, der das Denken unterbricht, zeigt zwar nicht, dass im Denken nicht ein Sein liege, aber doch jedenfalls, dass «Ich bin, auch wenn ich nicht denke». Müsste man also das Sein aus dem Denken herausholen, so wäre es keinesfalls verbürgt für die Zustände der Seele, in denen das Denken aufhört. Wenn Fichte diese Wendung des Gedankens in dieser Form auch nicht ausgesprochen hat, so darf wohl doch gesagt werden: die Kraft, die in diesem einfachen Tatbestand liegt, wirkte – unbewusst – in seiner Seele und hinderte ihn, einen Weg zu nehmen, wie ihn Descartes genommen hat.
Durch den Grundcharakter seines Empfindens wurde Fichte auf einen ganz anderen Weg geführt.
Sein Leben von Kindheit an offenbart diesen Grundcharakter. Man braucht nur einzelne Bilder aus diesem Leben vor der Seele auftreten zu lassen, um das zu durchschauen. Aus der Kindheit wird ein bedeutsames Bild lebendig. Siebenjährig ist Johann Gottlieb. Er war bisher ein gut lernender Knabe. Der Vater schenkt ihm, um seinen Fleiß anzuerkennen, das Volksbuch vom «Gehörnten Siegfried». Der Knabe wird von dem Buche ganz eingenommen. Er vernachlässigt in etwas seine Pflichten. Er wird an sich selbst dieses gewahr. Der Vater trifft ihn, wie er eines Tages den «Gehörnten Siegfried» in den Bach wirft. Das ganze Herz des Knaben hängt an dem Buch; aber wie dürfte das Herz behalten etwas, das von der Pflicht abbringt! So lebt in dem Knaben Fichte schon unbewusst das Gefühl: der Mensch ist in der Welt als Ausdruck einer höheren Ordnung, die sich in die Seele senkt nicht durch das Interesse an diesem oder jenem, sondern durch die Wege, durch die er die Pflicht erkennt. Man sieht hier den Trieb zu Fichtes Stellungnahme gegenüber der Gewissheit von der Wirklichkeit. Gewiss für den Menschen ist nicht, was wahrnehmend erlebt wird, sondern was in der Seele so auflebt, wie die Pflicht sich offenbart.
Ein anderes Bild: Der Knabe ist neunjährig. Der Gutsnachbar seines Vaterdorfes kommt eines Sonntags in dieses, um sich die Predigt des Pfarrers anzuhören. Er trifft zu spät ein. Die Predigt ist vorbei. Die Leute erinnern sich, der neunjährige Johann Gottlieb bewahre die Predigten in seiner Seele so, dass er sie voll wiedergeben kann. Man holt ihn. Der Knabe im Bauernkittelchen tritt auf. Linkisch zunächst; dann aber die Predigt so von sich gebend, dass man merkt, was in dieser Predigt lebte, hat seine Seele ganz erfüllt; er gibt nicht bloß die gemerkten Worte wieder; er gibt sie aus dem Geiste der Predigt heraus, der in ihm lebt als vollkommenes Selbsterlebnis. Solche Fähigkeit, im eigenen Selbst aufleuchten zu lassen, was von der Welt an dieses Selbst herantrat, lebte in dem Knaben. Das ist doch die Anlage zu einem Erleben des Geistes der Außenwelt im eigenen Selbst. Das ist die Anlage dazu, in dem erkrafteten Selbst die tragende Macht einer Weltanschauung zu finden. Eine hell beleuchtete Entwicklungsströmung der Persönlichkeit führt von solchen Knabenerlebnissen zu einem Vortrag, den der geistvolle Naturforscher Steffens von Fichte, der damals Professor in Jena war, gehört hat, und den er beschreibt. Fichte fordert im Verlauf dieses Vortrages seine Zuhörer auf: «Denken Sie an die Wand!» Die Zuhörer bemühten sich, an die Wand zu denken. Nachdem sie das eine Zeitlang getan, folgt Fichtes nächste Aufforderung: «Und nun denken Sie an den, der an die Wand gedacht hat!» Welches Streben nach unmittelbarem Zusammenleben des eigenen Seelenlebens mit dem Seelenleben der Zuhörer! Der Hinweis auf eine unmittelbar vorzunehmende innere Seelenbetätigung, der nicht bloß anstrebt, dass ein mitzuteilendes Wort nachgedacht werde, sondern der ein in den Seelen der Zuhörer schlummerndes Lebendiges wecken will, auf dass diese Seelen in einen Zustand kommen, der ihr bisheriges Verhältnis zu dem Weltenlauf ändere.
In solchem Vorgehen spiegelt sich Fichtes ganze Art, einen Weg zu einer Weltanschauung zu bahnen. Er sucht nicht wie Descartes nach dem Denkerlebnis, das Gewissheit bringen soll. Er weiß, solchem Suchen winkt kein Finden. Man kann bei solchem Suchen nicht wissen, ob man im Traume oder in Wirklichkeit gefunden hat. Also nicht sich ergehen in einem Suchen. Sich erkraften aber in einem Aufwachen. Einem Aufwachen ähnlich muss sein, was die Seele erlebt, wenn sie aus dem Felde der gewöhnlichen in das der wahren Wirklichkeit dringen will. Das Denken verbürgt dem menschlichen Ich nicht das Sein. Aber in diesem Ich liegt die Kraft, sich selbst zum Sein zu erwecken. Jedesmal, wenn die Seele im Vollbewusstsein der inneren Kraft, die dabei lebendig wird, sich als «Ich» empfindet, tritt ein Vorgang ein, der sich darstellt als ein Sich-Erwecken der Seele. Dieses Sich-selbst-Erwecken ist die Grundwesenheit der Seele. Und in dieser sich selbst erweckenden Kraft liegt die Gewissheit des Seins der Menschenseele. Möge die Seele durch Traumes- und durch Schlafzustände hindurchgehen: man erfasst die Kraft ihrer Selbsterweckung aus jedem Traum und jedem Schlaf, indem man die Vorstellung des Erwachens zum Bilde ihrer Grundkraft macht. In dem Gewahrwerden der selbsterweckenden Macht erfühlt Fichte die Ewigkeit der Menschenseele. Aus diesem Gewahrwerden flossen ihm Worte wie diese: «Es verschwindet vor meinem Blicke und versinkt die Welt, die ich noch soeben bewunderte. In aller Fülle des Lebens, der Ordnung und des Gedeihens, welche ich in ihr schaue, ist sie doch nur der Vorhang, durch den eine unendlich vollkommenere mir verdeckt wird, und der Keim, aus dem diese sich entwickeln soll. Mein Glaube tritt hinter diesen Vorhang und erwärmt und belebt diesen Keim. Er sieht nichts Bestimmtes, aber erwartet mehr, als er hienieden fassen kann, und je in der Zeit wird fassen können.
So lebe, und so bin ich, und so bin ich unveränderlich, fest und vollendet für alle Ewigkeit; denn dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eignes, einiges wahres Sein und Wesen.» (Bestimmung des Menschen.)
Man wird nicht versucht sein, eine solche Anschauung bei Fichte als den Beweis für eine dem unmittelbaren kraftvollen Erdenleben abgewandte, lebenfeindliche Gedankenrichtung anzusehen, wenn man seine ganze Art, sich zu diesem Leben zu stellen, und die lebenfreundliche, lebenfördernde Gesinnung, die all sein Wirken und Denken durchdringt, ins Auge fasst. In einem Briefe aus dem Jahre 1790 steht ein Satz, der gerade mit Bezug auf seinen Unsterblichkeitsgedanken auf diese Gesinnung bedeutungsvolles Licht wirft: «Das sicherste Mittel, sich von einem Leben nach dem Tode zu überzeugen, ist das, sein gegenwärtiges so zu führen, dass man es wünschen darf.»
In der sich selbst erweckenden inneren Tätigkeit der Menschenseele liegt für Fichte die Kraft der Selbsterkenntnis. Und innerhalb dieser Tätigkeit findet er in der Seele auch die Stelle, wo Weltengeist im Seelengeist sich offenbart. Es webt und wirkt durch alles Sein für diese Weltanschauung der Weltenwille; und im Wollen des eigenen Wesens kann die Seele in sich diesen Weltenwillen darlegen. Das Ergreifen der Lebenspflichten, die in der Seele anders erlebt werden als die Wahrnehmungen der Sinne und der Gedanken, sind das nächste Beispiel dafür, wie der Weltenwille durch die Seele hindurchpulsiert.
So muss ergriffen werden die wahre Wirklichkeit; und alle andere Wirklichkeit, auch die des Denkens, erhält ihre Gewissheit durch das Licht, das auf sie von der Wirklichkeit des in der Seele sich offenbarenden Weltwillens fällt. Dieser Weltenwille treibt den Menschen zur Tätigkeit, zum Handeln. Als Sinneswesen muss der Mensch das, was der Weltenwille von ihm verlangt, in einer sinnlichen Weise verwirklichen. Wie aber könnten die Taten des Willens ein wirkliches Dasein haben, wenn sie dieses Dasein in einer Traumwelt suchen müssten. Nein, die Welt kann kein Traum sein, weil in ihr die Taten des Willens nicht bloß geträumt, sondern verwirklicht sein müssen.
Indem das Ich sich im Erleben des Weltwillens erweckt, erlangt es die feste Stütze der Gewissheit seines Seins. Fichte spricht sich darüber in seiner «Bestimmung des Menschen» aus: «Mein Wille soll schlechthin durch sich selbst, ohne alles seinen Ausdruck schwächende Werkzeug, in einer ihm völlig gleichartigen Sphäre, als Vernunft auf Vernunft, als Geistiges auf Geistiges wirken; – in einer Sphäre, der er jedoch das Gesetz des Lebens, der Tätigkeit, des Fortlaufens nicht gebe, sondern die es in sich selbst habe; also auf selbsttätige Vernunft. Aber selbsttätige Vernunft ist Wille. Das Gesetz der übersinnlichen Welt wäre sonach ein Wille … Jener erhabene Wille geht sonach nicht abgesondert von der übrigen Vernunftwelt seinen Weg für sich. Es ist zwischen ihm und allen endlichen vernünftigen Wesen ein geistiges Band, und er selbst ist dieses geistige Band der Vernunftwelt … Ich verhülle vor dir mein Angesicht und lege die Hand auf den Mund. Wie du für dich selbst bist und dir selbst erscheinest, kann ich nie einsehen, so gewiss ich nie du selbst werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten Geisterwelten werde ich dich noch ebensowenig begreifen als jetzt, in dieser Hütte von Erde.
Was ich begreife, wird durch mein bloßes Begreifen zum Endlichen; und dieses lässt auch durch unendliche Steigerung und Erhöhung sich nie ins Unendliche umwandeln. Du bist vom Endlichen nicht dem Grade, sondern der Art nach verschieden. Sie machen dich durch jene Steigerung nur zu einem größeren Menschen, und immer zu einem größeren; nie aber zum Gotte, zum Unendlichen, der keines Maßes fähig ist.»
Eine Weltanschauung erstrebte Fichte, die alles Sein bis zur Wurzel des Lebendigen verfolgt, und die in dem Lebendigen dessen Sinn erkennt durch das Zusammenleben der Menschenseele mit dem alles durchpulsenden Weltwillen, der die Natur schafft, um in ihr eine geistig moralische Ordnung wie in einem äußeren Leibe zu verwirklichen. Eine solche Weltanschauung war ihm die aus dem Charakter des deutschen Volkes entspringende. Ihm war eine Weltanschauung undeutsch, die nicht «an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt», und die nicht «die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit und Freiheit will».
«Was an Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz glaubt oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt», widerstrebt für seine Anschauung nicht nur einer tiefer dringenden Erkenntnis, sondern auch der wahrhaft deutschen Wesensart.
Der Idealismus als Natur- und Geistesanschauung: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling steht im Beginne seines Suchens nach einer Weltanschauung Fichte insofern nahe, als auch ihm die Vorstellung von der Seele, die sich in der Tätigkeit des Selbsterweckens als in der Gewissheit ihres Daseins ergreift, zur sicheren Stütze seiner Erkenntnis wird.
Doch strahlen von dieser Grundempfindung in Schellings Geist andere Gedanken aus als in dem Fichtes.
Für diesen leuchtet in die erwachende Seele der umfassende Weltenwille als ein geistiges Lichtreich hinein; und er will die Strahlen dieses Lichtes in ihrem Wesen erkennen. Für Schelling formt sich das Welträtsel dadurch, dass er sich mit der zum «Ich» erwachten Seele der scheinbar stummen, toten Natur gegenübergestellt sieht. Aus dieser Natur heraus erwacht die Seele. Dies offenbart sich der menschlichen Beobachtung. Und in diese Natur versenkt sich der erkennende, der fühlende Menschengeist und erfüllt sich durch sie mit einer inneren Welt, die dann in ihm geistiges Leben wird. Könnte dies so sein, wenn nicht eine dem Menschenerkennen zunächst verborgene tiefinnere Verwandtschaft bestände zwischen der Seele und der Natur? Aber die Natur bleibt stumm, wenn die Seele sich nicht zu ihrem Sprachwerkzeug macht; sie scheint tot, wenn der Geist des Menschen nicht aus dem Schein das Leben entzaubert. Aus den Tiefen der Menschenseele müssen die Geheimnisse der Natur herauftönen. Soll dies aber nicht eine Täuschung sein, so muss es das Wesen der Natur selbst sein, das aus der Seele spricht. Und wahr muss sein, dass die Seele nur scheinbar in ihre eigenen Untergründe hinabsteigt, wenn sie die Natur erkennt; in Wirklichkeit muss sie durch unterbewusste Gänge wandeln, um in den Kreislauf des Naturwebens mit dem eigenen Leben unterzutauchen, wenn sie die Natur finden will.
Schelling sieht in der Natur, wie diese dem gewöhnlichen menschlichen Bewusstsein vorliegt, gewissermaßen nur einen physiognomischen Ausdruck der wahren Natur, wie man in einem menschlichen Antlitz den Ausdruck der übersinnlichen Seele sieht. Und wie man durch diesen physiognomischen Ausdruck hindurch sich in die Seele des Menschen einlebt, wenn man imstande ist, in das eigene Erleben das fremde aufzunehmen, so gibt es für Schelling eine Möglichkeit, die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen so zu erwecken, dass diese in sich miterleben, was seelenhaft und geistig hinter dem äußeren Antlitz der Natur webt und wirkt. Weder also kann die Wissenschaft dieses äußeren Antlitzes für eine Offenbarung dessen gehalten werden, was in den Tiefen der Natur lebt; noch ist die in solcher Wissenschaft sich erschöpfende Erkenntniskraft des Menschen in der Lage, der Natur ihre wahren Geheimnisse zu entbinden. Schelling will daher eine hinter der gewöhnlichen menschlichen Erkenntniskraft liegende intellektuelle Anschauung in der Menschenseele zur Erweckung bringen. Diese Anschauungsart offenbart sich – in Schellings Sinne – als schöpferische Kraft im Menschen; aber so, dass sie nicht aus der Seele heraus Begriffe über die Natur schafft, sondern durch inniges Zusammenleben mit dem Seelenhaften der Natur die Ideenkräfte zur Erscheinung bringt, die in der Natur schaffend walten. Ängstliche Gemüter erbeben bei dem Gedanken einer Naturanschauung, die aus einer solchen «intellektuellen Anschauung» stammen soll. Und der Spott und Hohn, der über sie ergossen worden ist in der Zeit, die auf die Schellingsche folgte, waren groß. Für einen Menschen, der Einseitigkeit in diesen Dingen zu meiden versteht, gibt es gar nicht die zwiespältige Notwendigkeit: entweder sich den «Träumereien der Naturphantastik von der Art eines Schelling» hinzugeben und die sachgemäße, ernste Naturforschung des «groben Materialismus» anzuklagen; oder sich besonnen auf den Standpunkt dieser Forschung zu stellen und alle «Schellingsche Begriffsspielerei als Kinderei abzutun».
Man kann in rückhaltloser Art mit unter denen sein, welche der Naturforschung, wie sie das neueste «naturwissenschaftliche Zeitalter» fordert, die volle Geltung verschaffen wollen; und kann dennoch das Berechtigte des Schellingschen Versuches verstehen, über diese Naturforschung hinaus eine Naturanschauung zu schaffen, die auf dasjenige Feld sich begibt, welches diese Naturforschung gar nicht wird berühren wollen, wenn sie sich selbst richtig versteht. Unberechtigt ist nur der Glaube, dass es neben der mit den gewöhnlichen menschlichen Erkenntniskräften zu schaffenden Naturwissenschaft nicht eine Naturanschauung geben dürfe, die mit anderen Mitteln erlangt wird, als dieser Naturwissenschaft als solcher eigen sind. Warum sollte der Naturforscher glauben müssen, dass sein Feld nur ungefährdet ist, wenn neben ihm jeder von anderen Gesichtspunkten aus Strebende zum Schweigen gebracht wird? Wer sich in diesen Dingen nicht durch «naturwissenschaftlichen Fanatismus» den Sinn blenden lässt, dem erscheint die oft so bitter werdende Ablehnung einer geistgemäßen Naturanschauung, wie sie Schelling erstrebte, doch nicht anders, als wenn ein Liebhaber des Photographierens sagte: ich mache von dem Menschen genaue Bilder, die alles wiedergeben, was an ihm ist: man komme mir doch dieser Naturtreue gegenüber nicht mit dem Porträt eines Malers.
Mit der erweckten geistigen Anschauung wollte Schelling den «Geist der Natur» finden, der nicht nur in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auch in dem, was man Naturgesetze nennt, bloß seinen physiognomischen Ausdruck hat. Es ist bedeutungsvoll, sich vor die Seele zu stellen, welch gewaltigen Eindruck er mit einem solchen Streben auf diejenigen Menschen unter seinen Zeitgenossen machte, die ein offenes Gemüt für die Art hatten, wie dieses Streben aus seiner geistdurchleuchteten, machtvollen Persönlichkeit hervorbrach. Es gibt eine Schilderung, die ein liebenswürdig-geistvoller Denker, Gotthilf Heinrich Schubert, gegeben hat von den Eindrücken, die er von Schellings Wirksamkeit in Jena empfangen hat. «Was war es» – so schreibt Schubert –, «das Jünglinge wie gereifte Männer von fern und nahe so mächtig zu Schellings Vorlesungen hinzog? War es nur die Persönlichkeit des Mannes oder der eigentümliche Reiz seines mündlichen Vortrags, darinnen diese anziehende Kraft lag? … Das war es nicht allein… In seinem lebendigen Worte lag allerdings eine hinnehmende Kraft, welcher, wo sie nur einige Empfänglichkeit traf, keine der jungen Seelen sich erwehren konnte. Es möchte schwer sein, einem Leser unserer Zeit» (Schubert schreibt 1854 nieder, was er in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts mit Schelling erlebt hatte), «der nicht wie ich jugendlich teilnehmender Hörer war, es begreiflich zu machen, wie es mir, wenn Schelling zu uns sprach, öfter so zumute wurde, als ob ich Dante, den Seher einer nur dem geweihten Auge geöffneten Jenseitswelt, lese oder hörte. Der mächtige Inhalt, der in seiner wie mit mathematischer Schärfe im Lapidarstile abgemessenen Rede lag, erschien mir wie ein gebundener Prometheus, dessen Bande zu lösen und aus dessen Hand das unverlöschende Feuer zu empfangen die Aufgabe des verstehenden Geistes ist … . Aber weder die Persönlichkeit noch die belebende Kraft der mündlichen Mitteilung konnten es allein sein, welche für die Schellingsche Weltanschauung alsbald nach ihrem öffentlichen Kundwerden durch Schriften eine Teilnahme und eine Aufregung für oder wider ihre Richtung hervorrief, wie dies vor- und nachher in langer Zeit keine andere literarische Erscheinung ähnlicher Art vermocht hat. Man wird es da, wo es sich um sinnlich-wahrnehmbare Dinge oder natürliche Erscheinungen handelt, einem Lehrer oder Schriftsteller sogleich anmerken, ob er aus eigener Anschauung und Erfahrung spricht, oder bloß von dem redet, was er von andern gehört, ja, nach seiner eigenen selbstgemachten Vorstellung sich ausgedacht hat … Auf die gleiche Weise wie mit der äußeren Erfahrung verhält es sich mit der inneren. Es gibt eine Wirklichkeit von höherer Art, deren Sein der erkennende Geist in uns mit derselben Sicherheit und Gewissheit erfahren kann, als unser Leib durch seine Sinne das Sein der äußeren sichtbaren Natur erfährt. Diese, die Wirklichkeit der leiblichen Dinge, stellt sich unseren wahrnehmenden Sinnen als eine Tat eben derselben schaffenden Kraft dar, durch welche auch unsere leibliche Natur zum Werden gekommen. Das Sein der Sichtbarkeit ist in gleicher Weise eine wirkliche Tatsache als das Sein des wahrnehmenden Sinnes. Auch dem erkennenden Geiste in uns hat sich die Wirklichkeit der höheren Art als geistig-leibliche Tatsache genaht; er wird ihrer innewerden, wenn sich sein eigenes Erkennen zu einem Anerkennen dessen erhebt, von welchem er erkannt und aus welchem nach gleichmäßiger Ordnung die Wirklichkeit des leiblichen wie des geistigen Werdens hervorgeht. Und jenes Innewerden einer geistigen, göttlichen Wirklichkeit, in der wir selber leben, weben und sind, ist der höchste Gewinn des Erdenlebens und des Forschens nach Weisheit … . Schon zu meiner Zeit gab es unter den Jünglingen, die ihn hörten, solche, welche es ahnten, was er unter der intellektuellen Anschauung meinte, durch welche unser Geist den unendlichen Urgrund alles Seins und Werdens erfassen muss.»
Geist in der Natur suchte Schelling durch die intellektuelle Anschauung. Das Geistige, das aus der Kraft seines Schaffens die Natur heraussprießen ließ. Lebendiger Leib dieses Geistigen war einst diese Natur, wie des Menschen Leib der der Seele ist. Nun breitet er sich aus, dieser Leib des Weltengeistes, in seinen Zügen das offenbarend, was ihm einst das Geistige einverleibt hat, in seinem Werden und Weben die Gebärden zeigend, die Wirkungen des Geistigen darstellen. Vorangehen musste dieses Geistwirken im Weltenleibe dem gegenwärtigen Zustande der Welt, damit er sich verhärte und im Mineralreiche ein Knochensystem, im Pflanzenreiche ein Nervensystem, im Tierreiche einen seelischen Vorläufer des Menschen zeuge. So ward der Weltenleib aus seiner Jugend in sein Alter eingeführt; das gegenwärtige Mineral-, Pflanzen- und Tierreich sind die gewissermaßen verhärteten Erzeugnisse dessen, was dereinst geist-leiblich in einem Werden vollbracht wurde, das gegenwärtig erloschen ist. Aus dem Schoße des Altersleibes der Welt aber konnte die schaffende Geistigkeit erstehen lassen den seelen-geistbegabten Menschen, in dessen Innerem der Erkenntnis die Ideen aufleuchten, mit denen zuerst die schaffende Geistigkeit den Weltleib wirkte. Wie verzaubert ruht in der gegenwärtigen Natur der einst in ihr lebendig- wirksame Geist; in der Menschenseele wird er entzaubert. (Diese Darstellung des Verhältnisses Schellings zur Natur ist gewiss nicht nur keine wörtliche, sondern nicht einmal eine solche in Vorstellungen, die Schelling selbst gebraucht hat. Doch bin ich der Ansicht, dass man in solcher Kürze treu nur dann wiedergeben kann, wenn man den Geist einer Anschauung ins Auge fasst, und, um ihn auszudrücken, Vorstellungen gebraucht, die in freier Art sich ergeben, um in wenigen Worten zu sagen, was die Persönlichkeit, von der man spricht, in einer Reihe ausführlicher Werke ausgesprochen hat. Die eigenen Worte dieser Persönlichkeit können, zu diesem Ziel gebraucht, deren Geist nur entstellen.)
Mit einer solchen Art, sich zu dem «Geiste der Natur» und zu dessen Verhältnis zum Menschengeiste zu stellen, empfand sich Schelling vor der Notwendigkeit, eine Anschauung auch nun darüber zu gewinnen, wie dasjenige in der Welt aufzufassen ist, das störend in den Gang der Weltereignisse eingreift. Indem die Seele sich an die allwaltende Ideenwelt hingibt, wird sie deren fortschreitendes Schaffen erkennend erleben. Doch drängt sich, wie von einer anderen Seite des Weltdaseins, die Störung, das Übel, das Böse an die Seele heran. In dieses Feld kommt die erkennende Seele mit der Ideenwelt zunächst nicht hinein; es grenzt an sie wie der Schatten an das Licht. Wie das Licht nicht im Schattenraume anwesend sein kann, so auch nicht die im ersten Erkenntnisanlauf von der Seele unternommenen Tätigkeiten im Reiche der Störungen, des Übels, des Bösen. Im Suchen nach einer Möglichkeit, in dieses Gebiet einzudringen, fand Schelling Anregung durch diejenige Persönlichkeit, die aus dem einfachsten deutschen Volksempfinden heraus die Lösung hoher Welträtsel versucht hat: durch Jakob Böhme. Gewiss, Jakob Böhme hat über Weltanschauungsfragen viel gelesen und auch auf andere Art durch die Bildungswege viel aufgenommen, die sich dem einfachen Volksmanne in der deutschen Entwicklung des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts boten; das Beste aber, das in Jakob Böhmes Schriften auf so ungelehrte Art pulsiert, ist volkstümlicher Erkenntnisweg, ist ein Ergebnis des Volksgemütes selber. Und Schelling hat heraufgehoben in die Art der denkerischen Betrachtung, was dieses Volksgemüt in Jakob Böhmes ungelehrter, aber erleuchteter Seele erschaut hat. Es gehört zu den herrlichsten Beobachtungen, die man in der Weltliteratur machen kann, Jakob Böhmes elementarische Gemütsanschauung durch die philosophische Sprache in Schellings Abhandlung «Über das Wesen der menschlichen Freiheit» leuchten zu sehen. In dieser elementarischen Gemütsanschauung waltet die tiefsinnige Einsicht, dass niemand zu einer befriedigenden Weltanschauung kommen kann, der auf seinem Erkenntniswege nur die Mittel des denkenden Begreifens mitnimmt. In den Umkreis dessen, was denkendes Begreifen ist, schlägt aus den Weltentiefen etwas herein, das umfassender, mächtiger ist als dieses denkende Begreifen. Doch nicht mächtiger, als was die Seele in sich erleben kann, wenn ihr das denkende Begreifen nur als Glied ihres eigenen Wesens erscheint. Will man etwas begreifen, so muss man verstehen, wie es notwendig mit einem andern zusammenhängt. Die Dinge der Welt hängen aber wohl an ihrer Oberfläche, doch nicht im tiefsten Grunde ihres Wesens notwendig zusammen. In der Welt waltet Freiheit. Und nur der begreift die Welt, der in dem notwendigen Gange der Naturgesetze das Walten freier übersinnlicher Geistigkeit schaut. Die Freiheit als Tatsache kann immer mit logischen Gründen widerlegt werden. Wer das durchschaut, auf den macht keine Widerlegung der Freiheitsidee einen Eindruck.
Die urgesunde Erkenntnisart Jakob Böhmes, seine ursprüngliche volkssinngemäße Gemütserkenntnis schaute die Freiheit als durchwebend und durchwirkend alle Notwendigkeit, auch die naturgemäße. Und Schelling, von einer geistgemäßen Naturanschauung aufsteigend zur Geistesanschauung, fühlte sich im Einklang mit Jakob Böhme.
Und damit war ihm der Weg gegeben, die geschichtliche Entwicklung des Geisteslebens der Menschheit in seiner Art zu erschauen. Als das größte Erdenereignis stellte sich ihm die Tat des Christus in diese Entwicklung hinein. Was vor dieser Tat liegt, suchte er durch seine «Philosophie der Mythologie» zu verstehen. Wer da meint, in der Geschichte offenbaren sich nur Ideen, deren eine aus der anderen folgt, der versteht den Weltengang nicht. Denn mit Freiheit greift übersinnliche Wesenheit von Stufe zu Stufe in diesen Gang ein; und was die Freiheit auf einer Folgestufe vollbringt, das kann nur als eine dem Gemüt sich enthüllende Tatsache angeschaut, nicht durch logische Ideenentwicklung als notwendige Folge erdacht werden. Und als ganz freie Tatsache, als von Ideen nicht zu beleuchtende, sondern alle Ideenwelt überleuchtende Offenbarung muss das hingenommen werden, was übersinnliche Welten in der Erdenentwicklung durch Christus haben einfließen lassen. Von dieser seiner Weltauffassung will Schelling in seiner «Philosophie der Offenbarung» sprechen.
Es ist gewiss, dass gegen solche Vorstellungsart leicht der «Widerspruch» aufgewiesen werden kann, in den sie sich verstrickt. Und dieser «Widerspruch» ist Schelling auch in allen möglichen gut- und bösgemeinten Formen entgegengehalten worden. Allein, wer diesen «Widerspruch» aufbringt, der zeigt nur, dass er das Walten der freien Geistigkeit im Laufe des notwendig erscheinenden Weltenlaufes nicht anerkennen will. Schelling wollte das Wirken der Naturnotwendigkeit nicht leugnen; aber er wollte zeigen, wie auch diese Notwendigkeit eine Tat der Geistigkeit ist, die mit Freiheit die Welt durchwirkt. Und er wollte nicht etwa auf das Begreifen verzichten, weil der erste Anlauf dieses Begreifens an der Grenze der Weltenfreiheit zerschellt; er wollte zu einem Begreifen dessen aufsteigen, was die allwaltende Ideenwelt nicht in sich selber hat, aber aufnehmen kann. Die Ideen, welche die Welt erkennen wollen, brauchen nicht abzudanken, weil bloß denkendes Begreifen nicht zur Erkenntnis des Lebens ausreicht. Man braucht nicht zu sagen: weil die Ideen nicht in die Weltentiefen mit dem dringen, was zunächst in ihrem eigenen Wesen liegt, deshalb kann die Tiefe der Welt nicht erkannt werden. Nein, wenn die Ideen sich diesen Tiefen ergeben und durchdrungen werden von dem, was sie nicht in sich haben, dann tauchen sie aus Weltengründen auf, neugeboren, vom Wesen des «Geistes der Welt» durchweht. Zu solcher Weltanschauung hat es im neunzehnten Jahrhundert das in Schellings Philosophengeist fortwirkende deutsche Volksgemüt des Görlitzer Schusters Jakob Böhme aus dem siebzehnten Jahrhundert gebracht.
Der deutsche Idealismus als Gedankenanschauung: Hegel
Durch Hegel scheint in der deutschen Weltanschauungsentwicklung das «Ich denke, also bin ich» so wieder aufzuleben, wie ein Samenkorn, das in die Erde fällt, als allseitig entfalteter Baum ersteht. Denn was dieser Denker als Weltanschauung geschaffen hat, ist ein umfassendes Gedankengemälde oder gewissermaßen ein vielgliedriger Gedankenleib, der aus zahlreichen Einzelgedanken besteht, die gegenseitig sich tragen, stützen, bewegen, beleben, erleuchten. Und diese Gedanken sollen solche sein, die nicht aus den Sinneneindrücken der Außenwelt, auch nicht aus den täglichen Erlebnissen des menschlichen Gemütes stammen; sie sollen in der Seele sich offenbaren, wenn diese aus den Sinneseindrücken und Gemütserlebnissen sich heraushebt und sich zum Zuschauer des Vorgangs macht, durch den der von allem Nichtgedanklichen freie Gedanke sich zu weiteren und immer weiteren Gedanken entfaltet. Wenn die Seele diesen Vorgang in sich geschehen lässt, soll sie ihres gewöhnlichen Wesens enthoben und mit ihrem Tun in die geistig-übersinnliche Weltordnung einverwoben sein. Nicht sie denkt dann; das Weltall denkt sich in ihr; sie wird der Teilnehmer eines außermenschlichen Geschehens, in das der Mensch bloß eingesponnen ist; und sie erlebt auf diese Art in sich, was in den Tiefen der Welt wirkt und webt. Bei näherem Zusehen zeigt sich, wie bei Hegel die Weltanschauung von einem völlig anderen Gesichtspunkte aus gesucht wird als durch das Descartessche «Ich denke, also bin ich». Descartes will die Gewissheit des Seelen-Seins aus dem Denken der Seele herausholen. Bei Hegel handelt es sich darum, von dem Denken der einzelnen menschlichen Seele zunächst ganz zu schweigen, und das Leben dieser Seele so zu gestalten, dass deren Denken eine Offenbarung des Weltendenkens wird. Dann, meint Hegel, offenbart sich, was als Gedanke in allem Weltendasein lebt; und die einzelne Seele findet sich als Glied im Gedankenweben der Welt. Die Seele muss von diesem Gesichtspunkte aus sagen: Das Höchste und Tiefste, was in der Welt west und lebt, ist schaffendes Gedankenwalten, und ich finde mich als eine der Offenbarungsweisen dieses Waltens.
In der Wendung vom einzelnen Seelengedanken zum überseeischen Weltgedanken liegt der bedeutungsvolle Unterschied zwischen Hegel und Descartes. Hegel hat diese Wendung vollzogen, Descartes nicht.
Und dieser Unterschied bewirkt einen anderen, der sich auf die Ausbildung der Weltanschauungen der beiden Geister bezieht. Descartes sucht Gewissheit für die Gedanken, die der Mensch sich von der Welt bildet in dem Leben, in dem er mit seinen Sinnen und seiner Seele drinnen steht. Hegel sucht in dem Felde dieser Gedanken zunächst nicht, er sucht nach einer Gestalt des Gedankenlebens, das über diesem Felde liegt.
Ist so Hegel wohl im Gebiete des Gedankens stehengeblieben und befindet er sich dadurch in Gegensatz zu Fichte und Schelling, so tat er dies nur, weil er im Gedanken selbst die innere Kraft zu fühlen meinte, um in die übersinnlichen Reiche einzudringen. Hegel war Enthusiast gegenüber dem Erleben, das der Mensch haben kann, wenn er sich ganz der Urkraft des Gedankens hingibt. In dem Lichte des zur Idee erhobenen Gedankens entwindet sich für ihn die Seele ihres Zusammenhanges mit der Sinnenwelt.
Man kann die Kraft, die in diesem Enthusiasmus Hegels liegt, empfinden, wenn man in seinen Schriften, in denen eine für viele so zurückstoßende, knorrige, ja scheinbar grässlich abstrakte Sprache waltet, auf Stellen stößt, in denen sich oft so schön zeigt, welche Herzenstöne er finden kann für das, was er mit seinen «Abstraktionen» erlebt. Eine solche Stelle steht zum Beispiel am Schlusse seiner «Phänomenologie».
Er nennt da das Wissen, das die Seele erlebt, wenn sie die Weltideen in sich walten lässt, das «absolute Wissen». Und er blickt am Schlusse dieses Werkes zurück auf die Geister, die im Entwicklungsgange der Menschheit dem Ziele dieses «absoluten Wissens» zugestrebt haben. Von seiner Zeit aus schauend, findet er diesen Geistern gegenüber die Worte: «Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffne Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Thrones, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur –
aus dem Kelche dieses Geisterreiches
schäumt ihm seine Unendlichkeit.»
Dieses innerlich Kraftvolle des Gedankenlebens, das sich in sich selbst überwinden will, um in ein Reich sich zu erheben, in dem es nicht mehr selbst, sondern der unendliche Gedanke, die ewige Idee in ihm lebt, ist das Wesentliche in Hegels Suchen. Dadurch erhält bei ihm das höhere menschliche Erkenntnisstreben einen umfassenden Charakter, welcher Richtungen dieses Strebens, die oft getrennt und dadurch einseitig verlaufen, zu einem Ziele führen will. Man kann in Hegel einen reinen Denker finden, der nur durch die mystikfreie Vernunft an die Lösung der Welträtsel herantreten will. Von eisigen, abstrakten Gedanken, durch die er allein die Welt begreifen will, kann man sprechen. So wird man in ihm den trockenen, mathematisch gearteten Verstandesmenschen sehen können.
Aber wozu wird bei ihm das Leben in den Ideen der Vernunft? Zum Hingeben der Menschenseele an die in ihr waltenden übersinnlichen Weltenkräfte. Es wird zum wahren mystischen Erleben. Und es ist durchaus nicht widersinnig, in Hegels Weltanschauung Mystik zu erkennen. Man muss nur einen Sinn dafür haben, dass in Hegels Werken das an den Vernunftideen erlebt werden kann, was der Mystiker ausspricht. Es ist eine Mystik, die das Persönliche, das dem Gefühlsmystiker die Hauptsache ist und von dem er allein reden will, eben als eine persönliche Angelegenheit der Seele in sich abmacht und nur das ausspricht, wozu sich die Mystik erheben kann, wenn sie aus dem persönlichen Seelendunkel sich in die lichte Klarheit der Ideenwelt hinaufringt.
Hegels Weltanschauung hat ihre Stellung im geistigen Entwicklungsgange der Menschheit dadurch, dass sich in ihr die lichte Kraft des Gedankens aus den mystischen Tiefen der Seele heraufhebt, dass in seinem Suchen sich mystische Kraft mit gedanklicher Lichtmacht offenbaren will. Und so findet er sich auch selbst in diesem Entwicklungsgange drinnen stehend. Deshalb blickte er auf Jakob Böhme so zurück, wie es in seinen (in seiner «Geschichte der Philosophie» befindlichen) Worten ausgesprochen ist: «Dieser Jakob Böhme, lange vergessen und als ein pietistischer Schwärmer verschrien, ist erst in neueren Zeiten wieder zu Ehren gekommen, Leibniz ehrte ihn. Durch die Aufklärung ist sein Publikum sehr beschränkt worden; in neueren Zeiten ist seine Tiefe wieder anerkannt worden … Ihn als Schwärmer zu qualifizieren, heißt weiter nichts. Denn wenn man will, kann man jeden Philosophen so qualifizieren, selbst den Epikur und Bacon. … Was aber die hohen Ehren betrifft, zu denen Böhme erhoben worden, so dankt er diese besonders seiner Form der Anschauung und des Gefühls; denn Anschauung und inneres Fühlen… und die Bildlichkeit der Gedanken, die Allegorien und dergleichen werden zum Teil für die wesentliche Form der Philosophie gehalten. Aber es ist nur der Begriff, das Denken, worin die Philosophie ihre Wahrheit haben, worin das Absolute ausgesprochen werden kann, und auch ist, wie es an sich ist.»
Und weiter findet Hegel für Böhme die Sätze: «Jakob Böhme ist der erste deutsche Philosoph; der Inhalt seines Philosophierens ist echt deutsch. Was Böhme auszeichnet und merkwürdig macht, ist, … die Intellektualwelt in das eigene Gemüt hereinzulegen, und in seinem Selbstbewusstsein alles anzuschauen und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war. Die allgemeine Idee Böhmes zeigt sich einerseits tief und gründlich; er kommt anderseits aber, bei allem Bedürfnis und Ringen nach Bestimmung und Unterscheidung in der Entwicklung seiner göttlichen Anschauungen des Universums, nicht zur Klarheit und Ordnung.»
Solche Worte sind von Hegel doch nur aus dem Gefühle heraus gesprochen: In dem einfachen Gemüte Jakob Böhmes lebt der tiefste Drang der Menschenseele, mit dem eigenen Erleben sich in das Welterleben zu versenken – der wahre mystische Drang –; aber die bildliche Anschauung, das Gleichnis, das Symbol müssen sich zum Lichte der klaren Idee erheben, um zu erreichen, was sie wollen.
Als Vernunftideen sollen in Hegels Weltanschauung die Jakob Böhmeschen Weltenbilder wiedererstehen.
So steht der Enthusiast des Gedankens, Hegel, neben dem tiefen Mystiker Jakob Böhme innerhalb der Entwicklung des deutschen Idealismus. Hegel sah in Böhmes Philosophieren etwas «echt Deutsches», und Karl Rosenkranz, der Biograph und selbständige Schüler Hegels, schrieb zur hundertjährigen Geburtstagsfeier Hegels 1870 ein Buch «Hegel als deutscher Nationalphilosoph», in dem die Worte stehen: «Man kann behaupten, dass das System Hegels das nationalste in Deutschland ist, und dass, nach der früheren Herrschaft des Kantschen und Schellingschen, keines so tief in die nationale Bewegung, in die Förderung der deutschen Intelligenz, in die Klärung der öffentlichen Meinung, in die Ermutigung des Willens… eingegriffen hat als das Hegelsche.»
Mit solchen Worten spricht Karl Rosenkranz doch im hohen Grade die Wahrheit über eine Erscheinung des deutschen Geisteslebens aus, wenn auch anderseits Hegels Streben schon in den Jahrzehnten, bevor diese Worte geschrieben sind, bitterste und hohnerfüllte Gegnerschaft gefunden hat, eine Gegnerschaft, deren Anfangsentwicklung bald nach Hegels Tode Rosenkranz selbst mit den bedeutsamen Sätzen gekennzeichnet hat: «Wenn ich die Wut betrachte, mit welcher man die Hegelsche Philosophie verfolgt, so wundere ich mich, dass Hegels Ausdruck: die Idee in ihrer Bewegung sei ein Kreis von Kreisen, noch nicht Veranlassung gegeben hat, sie als den Danteschen Höllentrichter zu zeichnen, der, unten sich verengend, endlich auf den leibhaften Satan stoßen lässt.» (Rosenkranz: Aus meinem Tagebuch. Leipzig 1854. S.42.)
Es kann sehr verschiedene Gesichtspunkte geben, von denen aus man den Eindruck zu schildern versucht, den man von einer Denkerpersönlichkeit, wie Hegel eine ist, gewinnt. An anderer Stelle (in seinem Buche «Die Rätsel der Philosophie») hat der Verfasser dieser Schrift darzustellen versucht, welche Anschauung man über Hegel gewinnen könne, wenn man sein Werk als eine Stufe der philosophischen Entwicklung der Menschheit ins Auge fasst. Hier möchte er nur von dem sprechen, was durch Hegel als eine der Kräfte des deutschen Idealismus in der Weltanschauung zum Ausdrucke kommt. Es ist dies das Vertrauen in die tragende Macht des Denkens. Jede Seite in Hegels Werken ist eine Bekräftigung dieses Vertrauens, das zuletzt in der Überzeugung gipfelt: Wenn der Mensch völlig versteht, was er in seinem Denken hat, so weiß er auch, dass er den Zugang zu einer übersinnlich-geistigen Welt gewinnen kann. Der deutsche Idealismus hat durch Hegel das Bekenntnis zu der übersinnlichen Wesenheit des Denkens abgelegt. Und man kann die Empfindung haben, Hegels Stärken und auch seine Schwächen hängen mit der Tatsache zusammen, dass im Weltenlaufe einmal eine Persönlichkeit dastehen musste, bei der alles Leben und Wirken von diesem Bekenntnis durchseelt ist. Dann sieht man in Hegels Weltanschauung einen Quell, aus dem man schöpfen kann, was an Lebenskraft mit diesem Bekenntnis zu gewinnen ist, ohne vielleicht in irgendeinem Punkte den Inhalt der Hegelschen Weltanschauung für sich anzunehmen.
Stellt man sich so zu dieser Denkerpersönlichkeit, so kann man deren Anregung, und damit die Anregung einer Kraft des deutschen Idealismus empfangen, und mit dieser Anregung die Bestärkung zu einem ganz anderen Weltbilde gewinnen, als das durch Hegel gemalte ist. So sonderbar es klingt: Man versteht vielleicht Hegel am besten, wenn man die in ihm waltende Kraft des Erkenntnisstrebens in Bahnen leitet, die er gar nicht selbst gegangen ist.
Er hat die übersinnliche Natur des Denkens mit aller nach dieser Richtung dem Menschen zur Verfügung stehenden Kraft empfunden. Aber er hat viel Menschenkraft aufwenden müssen, um diese Empfindung einmal durch ein volles Denkerwirken hindurchzutragen, so dass er die übersinnliche Natur des Denkens nicht selbst hatte in übersinnliche Gebiete hinaufführen können. Der treffliche Seelenforscher Franz Brentano spricht in seiner «Psychologie» aus, wie die neuere Seelenkunde wohl in streng wissenschaftlicher Art das gewöhnliche Leben der Seele erforscht, wie dieser Forschung aber der Ausblick in die großen Fragen des Seelendaseins verlorengegangen ist.
«Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles – sagt Brentano – über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwicklung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein… und wenn wirklich» die neuere Denkungsart «den Ausschluss der Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen.»
Nun, man kann sagen, dass nach Ansicht vieler nicht nur die Wissenschaftlichkeit der Seelenkunde, sondern Wissenschaftlichkeit überhaupt den Ausschluss solcher Fragen zu besagen scheint. Und über Hegels Weltanschauung scheint es wie ein Verhängnis zu schweben, dass sie mit dem Bekenntnis zu der übersinnlichen Natur der Gedankenwelt sich den Zugang in eine wirkliche Welt übersinnlicher Tatsachen und Wesenheiten vermauert hat. Und wer in dem Sinne Schüler Hegels ist, wie etwa Karl Rosenkranz, in dem scheint dieses Verhängnis weiter zu wirken. Rosenkranz hat eine «Seelenkunde» geschrieben. (Psychologie oder Wissenschaft vom subjektiven Geist, von K. Rosenkranz. 1837. 3. Aufl. Königsberg 1863.)
Darin ist in dem Kapitel «Das Greisenalter» zu lesen (S. 119):
«Die Psychologie berührt hier die Frage nach der Unsterblichkeit, ein Lieblingsthema für die Laienphilosophie, oft mit einer vorgefassten Tendenz, ein Wiedersehen nach dem Tode, wie man sich auszudrücken pflegt, zu verbürgen. Ist der Geist als selbstbewusste Idealität qualitativ von seinem Organismus unterschieden, so leuchtet die Möglichkeit der Unsterblichkeit ein. Über das Wie ihrer Wirklichkeit vermögen wir aber nicht die geringste Vorstellung zu haben, die einen objektiven Wert anzusprechen vermöchte. Wir können einsehen, dass, wenn wir als Individualitäten fortexistieren, doch unser Wesen sich nicht zu ändern vermöge, nämlich im Wahren, Guten und Schönen leben zu müssen, allein die Modalität eines von unserem Organismus getrennten Daseins ist ein Rätsel für uns. Warum sollen wir denn hier die Grenze unseres Wissens nicht eingestehen? Warum sollen wir entweder die Möglichkeit der Unsterblichkeit geradezu leugnen, oder warum sollen wir phantastische Träumereien von einem Seelenschlaf, von einem Seelenleibe und ähnlichen Dogmen für Spekulation ausgeben? Wo hier das wirkliche Wissen aufhört, da tritt der Glaube ein, dem es überlassen bleiben muss, wie er sich ein nicht unmögliches Jenseits ausmalt.»
Solche Meinung offenbart Rosenkranz in einer Seelenkunde, die ganz von der Überzeugung durchdrungen ist, ein Wissen von dem zu haben, was der übersinnliche Weltengedanke in dem Wesen der menschlichen Seele zur irdischen Wirklichkeit macht. Eine ganz im Übersinnlichen weben wollende Wissenschaft, die sofort Halt macht, wo sie die Schwelle zur übersinnlichen Welt bemerkt.
Man wird dieser Erscheinung nur gerecht, wenn man in ihr etwas von dem Schicksal empfindet, das über das menschliche Erkenntnisstreben ausgegossen ist, und das in Hegels Weltanschauung so verwoben erscheint, dass sie mit aller Kraft auf die übersinnliche Natur des Denkens eingestellt ist, und um in dieser Einstellung groß zu wirken, die Möglichkeit einer anderen Einstellung für das Übersinnliche verliert.
Hegel sucht zuerst den Umkreis all der übersinnlichen Gedanken, die in der Menschenseele aufleben, wenn diese sich über alle Naturanschauung und alles irdische Seelenleben hinaushebt. Diesen Umkreis stellt er als seine «Logik» dar. Doch enthält diese Logik keinen einzigen Gedanken, der über das Gebiet hinausführte, das von der Natur und dem irdischen Seelenleben umschlossen wird.
Weiter sucht Hegel alle Gedanken darzustellen, die als übersinnliche Wesenheiten der Natur zugrunde liegen. Ihm wird da die Natur zur Offenbarung einer übersinnlichen Gedankenwelt, die in der Natur ihre Gedankenwesenheit verbirgt und sich als Ungedankliches, als das Gegenbild von sich selbst darstellt. Aber auch da finden sich keine Gedanken, die nicht im Umkreis der Sinneswelt sich auslebten.
In der Geistphilosophie stellt Hegel das Walten der Weltideen in der einzelnen Menschenseele, in den Verbänden von Menschenseelen (in Völkern, Staaten), in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, in Kunst, Religion und Philosophie dar. Überall auch da die Anschauung, dass in dem Seelischen, wie es mit seinem Wesen und Wirken in der Sinneswelt steht, durchaus die übersinnliche Gedankenwelt sich auslebt, dass also alles im Sinnlichen Vorhandene seiner wahren Wesenheit nach geistiger Art ist. Nirgend aber der Anlauf, mit der Erkenntnis in ein übersinnliches Gebiet zu dringen, für das keine Ausgestaltung im Sinnesreich vorhanden ist.
Man kann sich alles dieses gestehen, und doch den Ausdruck des deutschen Idealismus durch Hegels Weltanschauung nicht in dem Urteil der Verneinung suchen, dass Hegel trotz seines übersinnlichen Idealismus in der Betrachtung der Sinneswelt stecken geblieben ist. Man kann zu einem Urteil der Bejahung kommen und das Wesentliche dieser Weltanschauung in der Tatsache finden, dass hier das Bekenntnis vorliegt: Wer die vor den Sinnen sich ausbreitende Welt in ihrer wahren Gestalt erschaut, der erkennt, dass sie in Wirklichkeit eine Geistwelt ist. (1) Und dieses Bekenntnis zur Geistnatur des Sinnlichen hat der deutsche Idealismus durch Hegel ausgesprochen.
Anmerkung:
(1) In einem hervorragenden Buche hat Otto Willmann die «Geschichte des Idealismus» behandelt. Er weist mit umfassender Sachkenntnis auf die Schwächen und Einseitigkeiten, welche in die Weltanschauungsentwicklung des neunzehnten Jahrhunderts durch die fortwirkenden Kantschen Fragestellungen und Denkrichtungen gekommen sind. Die in dieser meiner Schrift gegebene Darstellung hat im Weltanschauungsleben des neunzehnten Jahrhunderts diejenigen Triebe und Strömungen aufgesucht, durch welche sich die Denker von jenen Fragestellungen und Denkrichtungen freigemacht haben. Durch welche sie Wege beschritten haben, denen gerade diejenigen gerecht werden könnten, welche aus einer solch umfassenden Anschauung heraus urteilen, wie sie dem Buche Willmanns zugrunde liegt. Manches, was in der neueren Zeit an Kant anknüpfen will, ohne genügende Einsicht in die vorhergehende Weltanschauungsentwicklung, fällt in der Tat in Ansichten zurück, die von Willmann mit Recht in den folgenden Worten charakterisiert werden: dass «nach Aristoteles unsere Erkenntnis von den Dingen anhebe und auf Grund der Sinneswahrnehmungen erst den Begriff bilde … dass diese Begriffsbildung durch einen schöpferischen Akt geschehe, in dem der Geist das Gedankliche in den Dingen ergreift … Die sensualistische Plattheit muss noch immer darauf hingewiesen werden, dass das Wahrnehmen sich nicht zum Denken steigern kann, die Empfindungen sich nicht zum Begriff zusammenzuballen vermögen, dass diese vielmehr konstituiert werden müssen, und zwar auf Grund des Gedankens in den Dingen … der uns allein notwendige und allgemeine Erkenntnis zu geben vermag» (Willmann, Geschichte des Idealismus II, 449). Wer so denkt, kann zu Schellings, zu Hegels Denkrichtung und zu manchem, was gleich ihnen sich abwendet von der «sensualistischen Plattheit», auch vom Standpunkte Willmanns aus verständnisvoll anerkennend sprechen, wenn er sich von gewissen Missverständnissen freimacht, die bei den Bekennern der Willmannschen Denkungsart – in begreiflicher Weise – herrschen. Auch die Zeit wird noch kommen, in der diese Denkungsart nach dieser Richtung hin unbefangener urteilen wird, als dies jetzt der Fall ist. Sie wird dann ebenso recht haben mit ihrer Anerkennung desjenigen, was sich in der neueren Weltanschauungsentwicklung der «sensualistischen Plattheit» entrungen bat, wie sie jetzt recht hat mit der Verurteilung dessen, was dieser und mancher anderen «Plattheit» verfallen ist.
Eine vergessene Strömung im deutschen Geistesleben
Fichte, Schelling und Hegel erscheinen in ihrer vollen Bedeutung ganz besonders dem, der auf die weittragenden Anregungen blickt, die sie für Persönlichkeiten hatten, denen eine weit geringere geistige Spannkraft als ihnen selbst eigen war. Es treibt und wirkt etwas in den Seelen dieser Denkerdreiheit, das in ihnen selbst nicht voll zum Ausdruck kommen konnte. Und, was so treibt als Grundton in den Seelen dieser Denker: es wirkt in Nachfolgern lebendig weiter und bringt diese zu geistgemäßen Weltanschauungen, die von den großen Vorgängern selbst nicht erreicht werden konnten, weil diese gewissermaßen ihre seelische Spannkraft in ersten Anläufen erschöpfen mussten.
So tritt in Johann Gottlieb Fichtes Sohn, Immanuel Hermann Fichte, ein Denker auf, der in das Geistige tiefer einzudringen versucht als sein Vater, und als Schelling und Hegel. Wer einen solchen Versuch wagt, der wird nicht nur von außen her den Widerspruch aller Ängstlichen in Weltanschauungsfragen außer ihm hören; er wird diesen Widerspruch, wenn er besonnener Denker ist, auch aus der eigenen Seele heraus deutlich wahrnehmen. Gibt es denn wirklich eine Möglichkeit, in der Menschenseele Erkenntniskräfte zu entbinden, die in Gebiete führen, aus denen die Sinne keine Anschauung geben? Was kann die Wirklichkeit solcher Gebiete verbürgen, was den Unterschied solcher Wirklichkeit von den Erzeugnissen der Phantasie und Träumerei kennzeichnen? Wer den Geist dieses Widerspruches nicht gewissermaßen wie den treuen Begleiter seiner Besonnenheit stets an seiner Seite hat, der wird mit seinen geisteswissenschaftlichen Versuchen leicht straucheln; wer ihn hat, wird in ihm einen hohen Lebenswert erkennen.
Wer sich in die Ausführungen Immanuel Hermann Fichtes einlässt, wird finden können, dass von seinen großen Vorgängern in ihn eine Geistesart übergegangen ist, die ebenso seine Schritte in das Geistgebiet kräftig macht, wie sie ihm Besonnenheit in dem angedeuteten Sinne verleiht.
Der Gesichtspunkt Hegelscher Weltanschauung, der die Geistwesenheit der Ideenwelt zur Grundüberzeugung macht, konnte auch für Immanuel Hermann Fichte Ausgangspunkt seiner Gedankenentwicklung sein. Doch empfand er es als Schwäche dieser Weltanschauung, dass sie von ihrem übersinnlichen Gesichtspunkte aus doch nur das schaut, was in der Sinnenwelt offenbar ist. Wer Immanuel Hermann Fichtes Anschauungen nachlebt, der kann etwa das folgende als deren Grundtöne empfinden. Die Seele erlebt sich selbst auf eine übersinnliche Art, wenn sie sich über die Sinnesanschauung zum Weben im Ideenreiche erhebt. Sie hat sich damit nicht nur befähigt, die Sinneswelt anders anzusehen, als die Sinne sie ansehen – was der Hegelschen Weltanschauung entsprechen würde –; sie hat vielmehr dadurch ein Selbsterlebnis, das sie durch nichts haben kann, was in der Sinneswelt zu finden ist. Sie weiß nunmehr von etwas, was selbst übersinnlich an ihr ist. Dieses «Etwas» kann nicht bloß «die Idee» ihres sinnlichen Leibes sein. Es muss vielmehr ein lebendig Wesenhaftes sein, das dem sinnlichen Leib so zugrunde liegt, dass dieser im Sinne seiner Idee gebildet ist.
So wird Immanuel Hermann Fichte über den sinnlichen Leib hinaus zu einem übersinnlichen Leib geführt, der aus seinem Leben heraus den ersteren bildet. Hegel schreitet von der Sinnesanschauung zum Denken über die Sinnesanschauung fort. Fichte sucht im Menschen das Wesen, welches das Denken als ein übersinnliches erleben kann. Hegel müsste, wenn er im Denken etwas Übersinnliches sehen will, diesem Denken selber die Fähigkeit des Denkens zuschreiben. Fichte kann das nicht mitmachen. Er muss sich sagen: Soll man nicht den sinnlichen Leib selbst als den Erzeuger der Gedanken ansehen, so ist man gezwungen, über ihn hinaus ein Übersinnliches anzunehmen. Getrieben von einer solchen Anschauung betrachtet Fichte den menschlichen Sinnenleib naturwissenschaftlich (physiologisch), und er findet, dass eine solche Betrachtung, wenn sie nur unbefangen genug ist, genötigt ist, dem sinnlichen Leibe einen übersinnlichen zugrunde zu legen. Im 118. und 119. Paragraph seiner «Anthropologie» (2. Auflage 1860) sagt er darüber: «In den Stoffelementen daher kann das wahrhaft Beharrende, jenes einende Formprinzip des Leibes nicht gefunden werden, welches sich während unseres ganzen Lebens wirksam erweist».
«So werden wir auf eine zweite, wesentlich andere Ursache im Leibe hingewiesen.» – «Indem» dieses «das eigentlich im Stoffwechsel Beharrliche enthält, ist es der wahre, innere, unsichtbare, aber in aller sichtbaren Stofflichkeit gegenwärtige Leib. Das andere, die äußere Erscheinung desselben, aus unablässigem Stoffwechsel gebildet, möge fortan ›Körper‹ heißen, der wahrhaft nicht beharrlich und nicht eins, der bloße Effekt oder das Nachbild jener inneren Leiblichkeit ist, welche ihn in die wechselnde Stoffwelt hineinwirft, gleichwie etwa die magnetische Kraft aus den Teilen des Eisenfeilstaubes sich einen scheinbar dichten Körper bereitet, der aber nach allen Seiten zerstäubt, wenn die bindende Gewalt ihm entzogen ist.»
Für Fichte ist damit die Aussicht eröffnet, herauszukommen aus der Sinnenwelt, in welcher der Mensch zwischen Geburt und Tod wirkt, in eine übersinnliche Welt, der er durch den unsichtbaren Leib so verknüpft ist, wie der sinnlichen durch den sichtbaren. Denn die Erkenntnis dieses unsichtbaren Leibes bringt ihn zu der Ansicht, die er mit den Worten ausspricht:
«Denn kaum braucht hier noch gefragt zu werden, wie der Mensch an sich selbst sich verhalte – in diesem Todesvorgange? Dieser bleibt auch nach dem letzten, uns unsichtbaren Akte des Lebensprozesses in seinem Wesen ganz derselbe nach Geist und Organisationskraft, welcher er vorher war. Seine Integrität ist bewahrt; denn er hat durchaus nichts verloren von dem, was sein war und zu seiner Substanz gehörte während des sichtbaren Lebens. Er kehrt nur im Tode in die unsichtbare Welt zurück, oder vielmehr, da er dieselbe nie verlassen hatte, da sie das eigentlich Beharrende in allem Sichtbaren ist, – er hat nur eine bestimmte Form der Sichtbarkeit abgestreift. ›Totsein‹ bedeutet lediglich, der gewöhnlichen Sinnesauffassung nicht mehr perceptibel (wahrnehmbar) bleiben, ganz auf gleiche Weise, wie auch das eigentlich Reale, die letzten Gründe der Körpererscheinungen den Sinnen imperceptibel (unwahrnehmbar) sind.»
Und so sicher fühlt sich Fichte mit einem solchen Gedanken in der übersinnlichen Welt stehend, dass er sagen kann:
«Mit diesem Begriffe der Seelenfortdauer überspringen wir daher nicht nur die Erfahrung und greifen in ein unbekanntes Gebiet bloß illusorischer Existenzen hinüber, sondern wir befinden uns mit ihm gerade mitten in der begreiflichen, dem Denken zugänglichen Wirklichkeit. Das Gegenteil davon, ein Aufhören der Seele zu behaupten, wäre das Naturwidrige, aller Erfahrungsanalogie Widersprechende. Die ›gestorbene‹, d.h. sinnlich unsichtbar gewordene Seele existiert um nichts weniger, unentrückt ihren ursprünglichen Lebensbedingungen fort. … Ihrer Organisationskraft muss nur ein anderes Verleiblichungsmittel sich darbieten, um auch in neuer leiblicher Wirksamkeit dazustehen….» (S 133 und S 134 von Fichtes «Anthropologie».)
Von solchen Anschauungen aus eröffnet sich für Immanuel Hermann Fichte die Möglichkeit einer Selbsterkenntnis des Menschen, die dieser erlangt, wenn er von dem Gesichtspunkt aus sich betrachtet, welchen er gewinnt durch das Erleben in seiner übersinnlichen Wesenheit. Seine sinnliche Wesenheit bringt den Menschen bis zum Denken. Doch im Denken ergreift er sich als übersinnliches Wesen. Erhebt er das bloße Denken zum inneren Erleben, wodurch es nicht mehr bloß Denken ist, sondern übersinnliches Anschauen, so gewinnt er eine Wissensart, durch die er nicht mehr nur auf Sinnliches, sondern Übersinnliches hinschaut. Ist Anthropologie die Wissenschaft vom Menschen, wenn dieser sein in der Sinneswelt befindliches Teil betrachtet, so kommt durch die Anschauung des Übersinnlichen eine andere Wissenschaft zum Vorschein, über die sich Immanuel Hermann Fichte so ausspricht (S. 270):
«… die Anthropologie endet in dem von den mannigfaltigsten Seiten her begründeten Ergebnisse, dass der Mensch nach der wahren Eigenschaft seines Wesens, wie in der eigentlichen Quelle seines Bewusstseins, einer übersinnlichen Welt angehöre. Das Sinnenbewusstsein dagegen und die auf seinem Augpunkte entstehende phänomenale Welt (Erscheinungswelt) mit dem gesamten, auch menschlichen Sinnenleben, haben keine andere Bedeutung, als nur die Stätte zu sein, in welcher jenes übersinnliche Leben des Geistes sich vollzieht, indem er durch frei bewusste eigene Tat den jenseitigen Geistesgehalt der Ideen in die Sinnenwelt einführt. …»
Diese gründliche Erfassung des Menschenwesens erhebt nunmehr die «Anthropologie» in ihrem Endresultate zur «Anthroposophie».
Durch Immanuel Hermann Fichte ist der Erkenntnistrieb, der im deutschen Weltanschauungs-Idealismus sich kundgibt, dazu gebracht worden, die ersten derjenigen Schritte zu unternehmen, welche die menschliche Einsicht zu einer Wissenschaft der geistigen Welt führen können. In ähnlicher Art wie Immanuel Hermann Fichte die Ideen seiner Vorgänger: Johann Gottlieb Fichte, Schelling und Hegel weiterzuführen sucht, strebten dasselbe noch viele andere Geister an. Denn dieser deutsche Idealismus deutet auf die Keimkraft zu einer wirklichen Entwicklung derjenigen Erkenntniskräfte des Menschen, die Übersinnlich-Geistiges so schauen wie die Sinne Sinnlich-Stoffliches schauen.
Hier soll nur auf einige dieser Geister der Blick gewendet werden. Wie fruchtbar sich die deutsche idealistische Geistesströmung nach dieser Richtung hin erweist, sieht man, wenn man nicht bloß auf diejenigen Geister deutet, die in den gebräuchlichen Handbüchern über Philosophie-Geschichte behandelt werden, sondern auch auf solche, deren geistiges Wirken in engere Grenzen eingeschlossen war. Es gibt zum Beispiel «Kleine Schriften» von dem am 16. August 1867 in Bromberg als Gymnasialdirektor verstorbenen Johann Heinrich Deinhardt (Hermann Schmidt hat diese Schriften 1869 in Leipzig, bei B. G. Teubner, herausgegeben).
Man findet darin Aufsätze über «den Gegensatz des Pantheismus und des Deismus in den vorchristlichen Religionen», über «den Begriff der Religion», über «Kepler, Leben und Charakter» usw. Der Grundton dieser Abhandlungen ist durchaus ein solcher, der zeigt, wie ihres Verfassers Gedankenleben im deutschen Weltanschauungs-Idealismus wurzelt. Einer der Aufsitze spricht über die «Vernunftgründe für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele». Dieser Aufsatz verteidigt die Unsterblichkeit zunächst nur mit den Gründen, die sich dem gewöhnlichen Denken ergeben. Allein am Schlusse findet sich die folgende bedeutungsvolle Anmerkung des Herausgebers:
«Der Verfasser hatte nach einem Briefe an den Herausgeber vom 14. August 1866 die Absicht, diese Abhandlung bei der Gesamtausgabe seiner gesammelten kleinen Schriften durch eine Bemerkung über den neuen Leib, den sich die Seele schon in diesem Leben ausarbeitete, zu erweitern. Sein im Jahr darauf erfolgender Tod verhinderte die Ausführung dieses Plans.»
Wie wirft eine solche Bemerkung ein Streiflicht auf die Anregungen, die vom deutschen Weltanschauungs-Idealismus aus die Geister trieben, in wissenschaftlicher Art in das Geistgebiet einzudringen! Wie viele derartige Versuche würde gegenwärtig jemand auffinden, der nur allein denjenigen nachginge, die in der Literatur noch zu finden sind! Wie viele lassen sie vermuten, die nicht für die Literatur, wohl aber für das Leben ihre Früchte getragen haben! Man blickt da auf eine in dem gegenwärtig herrschenden wissenschaftlichen Zeitbewusstsein wirklich mehr oder weniger vergessene Strömung des deutschen Geisteslebens.
Einer derjenigen Geister, von denen heute kaum gesprochen wird, ist Ignaz Paul Vitalis Troxler. Aus der Reihe seiner zahlreichen Schriften seien hier nur genannt seine 1835 erschienenen «Vorlesungen über Philosophie».
Durch sie spricht sich eine Persönlichkeit aus, die durchaus ein Bewusstsein davon hat, wie der Mensch, der sich bloß seiner Sinne und des mit den Beobachtungen der Sinne rechnenden Verstandes bedient, nur einen Teil der Welt erkennen kann. Auch Troxler fühlt sich wie Immanuel Hermann Fichte mit dem Denken in einer übersinnlichen Welt drinnenstehend. Aber er empfindet auch, wie der Mensch, wenn er sich der Kraft entrückt, die ihn an die Sinne bindet, nicht nur sich vor eine Welt stellen kann, die im Hegelschen Sinne erdacht ist, sondern wie er durch diese Entrückung in seinem inneren Wesen das Aufblühen von rein geistigen Erkenntnismitteln erlebt, durch die er eine geistige Welt geistig schaut, wie die Sinne die Sinnenwelt sinnlich schauen. Von einem «übergeistigen Sinn» spricht Troxler. Und man kann sich auf folgende Art eine Vorstellung von dem bilden, was er damit meint. Der Mensch beobachtet die Dinge der Welt durch seine Sinne. Dadurch erhält er sinnliche Bilder von den Dingen. Er denkt dann über diese Bilder nach. Dadurch erschließen sich ihm Gedanken, die nicht mehr das Sinnlich-Bildhafte in sich tragen. Der Mensch fügt also durch die Kraft seines Geistes zu den Sinnesbildern die übersinnlichen Gedanken hinzu. Erlebt er sich nun in der Wesenheit, die in ihm denkt, so dass er über das bloße Denken zu geistigem Erleben aufsteigt, dann ergreift ihn von diesem Erleben aus eine innere rein geistige Kraft des Verbildlichens. Er schaut dann eine Welt in Bildern, die übersinnlich erlebter Wirklichkeit als Offenbarung dienen kann. Diese Bilder sind nicht von den Sinnen empfangen; aber sie sind lebensvoll wie die Sinnesbilder; sie sind nicht Ergebnisse einer Träumerei, sondern die von der Seele bildhaft festgehaltenen Erlebnisse in der übersinnlichen Welt.
Im gewöhnlichen Erkennen liegt zuerst das Sinnbild vor, und der Gedanke kommt hinzu im Erkenntnisvorgange – der Gedanke, der nicht sinnlich-bildhaft ist. Im geistigen Erkenntnisvorgange liegt das übersinnliche Erlebnis vor; dieses könnte als solches nicht angeschaut werden, wenn es sich nicht durch eine dem Geist naturgemäße Kraft in das Bild ergösse, das sie zur geistig-anschaulichen Versinnlichung bringt. Ein solches Erkennen ist für Troxler das des «übergeistigen Sinnes». Und die Bilder dieses übergeistigen Sinnes werden durch den «übersinnlichen Geist» des Menschen so ergriffen, wie in der Sinneserkenntnis die sinnlichen Bilder durch die Vernunft. In dem Zusammenwirken von übersinnlichem Geist mit übergeistigem Sinn entwickelt sich, nach Troxlers Anschauung, das Geisterkennen (vergleiche dazu die sechste der «Vorlesungen über Philosophie» von Troxler).
Von solchen Voraussetzungen ausgehend, erahnt Troxler in dem Menschen, der in der Sinneswelt sich erlebt, einen «höheren Menschen», der diesem zugrunde liegt, und der der übersinnlichen Welt angehört; und er fühlt sich in dieser Meinung im Einklange mit dem, was Friedrich Schlegel ausgesprochen hat. Und so werden ihm wie schon früher Friedrich Schlegel die höchsten in der Sinneswelt sich offenbarenden Eigenschaften und Betätigungen des Menschen zum Ausdrucke von Fähigkeiten des übersinnlichen Menschen. Indem der Mensch in der Sinneswelt steht, eignet seiner Seele die Glaubenskraft. Doch ist diese eben nur die Offenbarung der übersinnlichen Seele durch den sinnlichen Leib. Im Übersinnlichen liegt der Glaubenskraft eine Fähigkeit der Seele zugrunde, die man – will man sie übersinnlich-bildhaft ausdrücken – ein Gehör des übersinnlichen Menschen nennen muss. Und so ist es mit der Kraft des Hoffens. Ihr liegt ein Sehen des übersinnlichen Menschen zugrunde; der Betätigung in Liebe entspricht im «höheren Menschen» die Fähigkeit, im Geiste zu «tasten», zu berühren, wie der Gefühlssinn in der sinnlichen Welt die Fähigkeit des Tastens ist.
Troxler spricht sich darüber (auf Seite 107 seiner «Vorlesungen über Philosophie», Bern 1835) in folgender Art aus:
«Sehr schön und wahr» hat das Verhältnis des Sinnes- zum Geistesmenschen «unser verewigter Freund, Friedrich Schlegel» ins Licht gesetzt. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Sprache und des Wortes sagt er:
‹Will man in jenem Alphabet des Bewusstseins, welches die einzelnen Elemente zu den einzelnen Silben und ganzen Worten hergibt, wieder die ersten Anfänge unserer höheren Erkenntnis finden, nachdem Gott selbst den Schlussstein des höchsten Bewusstseins bildet, so muss das Gefühl des Geistes, als der lebendige Mittelpunkt des gesamten Bewusstseins, und als Vereinigungspunkt mit dem höheren angenommen werden. … Man pflegt diese Grundgefühle des Ewigen sehr häufig als Glauben, Hoffnung und Liebe zu bezeichnen. … Sind jene drei Grundgefühle, oder Eigenschaften, oder Zustände im Bewusstsein, als ebenso viele Erkenntnis- und Wahrnehmungs- oder wenn man lieber will, wenigstens Ahnungsorgane des Göttlichen zu betrachten, so darf man sie in dieser Hinsicht, und in Beziehung auf die einem jeden derselben eigentümliche Auffassungsform wohl mit den äußeren Sinnen und Sinneswerkzeugen vergleichen. Da entspricht denn die Liebe in der ersten erregenden Seelenberührung, in der fortwährenden Anziehung, und endlich vollkommenen Vereinigung auffallend dem äußeren Gefühlssinn; der Glaube ist das innere Gehör des Geistes, welches das gegebene Wort einer höheren Mitteilung vereint, auffasst und in sich bewahrt; die Hoffnung aber ist das Auge, dessen Licht die mit tiefem Verlangen ersehnten Gegenstände schon aus der weiten Ferne erblickt.›»
Dass nun Troxler über den Sinn, den Schlegel diesen Sätzen gegeben, hinausgeht und durchaus sie in dem Sinne denkt, wie oben angedeutet ist, das zeigen schon die Worte, die er hinzusetzt:
«Weit über Verstand und Wille, wie deren Wechselwirkung, weit über Vernunft und Freiheit, und ihre Einheit sind diese in einem Bewusstsein von Geist und Herz sich einenden Gemütsideen erhaben, und wie Verstand und Wille, Vernunft und Freiheit, und alle unter ihnen liegenden seelischen Fähigkeiten und Vermögen eine erdwärts gewandte Reflexion darstellen, sind diese drei ein himmelwärts gerichtetes Bewusstsein, das von einem wahrhaft göttlichen Lichte erleuchtet wird.»
Ein gleiches zeigt sich dadurch, dass auch Troxler sich über den übersinnlichen Seelenleib ganz in der Art ausspricht, die bei Immanuel Hermann Fichte anzutreffen ist:
«Schon früher haben die Philosophen einen feinen, hehren Seelleib unterschieden von dem gröberen Körper … eine Seele, die ein Bild des Leibes an sich habe, das sie Schema nannten, und das ihnen der innere höhere Mensch war … In der neuesten Zeit selbst Kant in den Träumen eines Geistersehers träumt ernsthaft im Scherze einen ganzen inwendigen seelischen Menschen, der alle Gliedmaßen des auswendigen an seinem Geisterleib trage; Lavater dichtet und denkt ebenso; und selbst, wenn Jean Paul humoristisch über das Bonetsche Unterziehröckchen und das Platnersche Seelenschnürleibchen scherzt, die im gröberen Körperüberrock und Marterkittel stecken sollen, so hören wir ihn doch auch wieder fragen, ‹wozu und woher wurden diese außerordentlichen Anlagen und Wünsche in uns gelegt, die bloß wie verschluckte Diamanten unsere erdige Hülle langsam zerschneiden?
… In den steinernen Gliedern (des Menschen) wachsen und reifen seine lebendigen nach einer uns unbekannten Lebensweise› . Wir könnten» – sagt Troxler weiter – «noch eine Unzahl ähnlicher Denk- und Dichtweisen anführen, welche am Ende nur verschiedene Anschauungen und Vorstellungen sind, in welchen … die wahre, einzige Lehre von der Individualität und Unsterblichkeit des Menschen enthalten» ist.
Auch Troxler spricht davon, dass auf dem von ihm gesuchten Erkenntniswege eine Wissenschaft vom Menschen möglich ist, durch die – um seine eigenen Ausdrücke zu gebrauchen – der «übergeistige Sinn» im Verein mit dem «übersinnlichen Geist» die übersinnliche Wesenheit des Menschen in einer «Anthroposophie» erfassen. Auf S. 101 seiner «Vorlesungen» findet sich der Satz:
«Wenn es nun höchst erfreulich ist, dass die neueste Philosophie, welche … in jeder Anthroposophie … sich offenbaren muss, emporwindet, so ist doch nicht zu übersehen, dass diese Idee nicht eine Frucht der Spekulation sein kann, und die wahrhafte Individualität des Menschen weder mit dem, was sie als subjektiven Geist oder endliches Ich aufstellt, noch mit dem, was sie als absoluten Geist oder absolute Persönlichkeit diesem gegenüberstellt, verwechselt werden darf.»
Es ist kein Zweifel, dass Troxler mehr in einem dunklen Gefühle als in einer klaren Anschauung den Weg über Hegels Gedankenwelt hinaus gesucht hat. Dennoch kann man in seinem Erkenntnisleben beobachten, wie die Anregungen des deutschen Weltanschauungsidealismus Fichtes, Schellings, Hegels bei einer Persönlichkeit wirken, die nicht die Ansichten dieser Denker-Dreiheit zu den ihrigen machen kann; die aber ihre eigenen Wege dadurch findet, dass sie diese Anregungen empfängt.
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Zu den vergessenen, ja schon während ihres Lebens unbeachteten Persönlichkeiten der deutschen Geistesentwicklung gehört Karl Christian Planck. Geboren ist er 1819 in Stuttgart, gestorben 1880; er war Professor am Gymnasium in Ulm, später am Seminar in Blaubeuren. Noch 1877 hoffte er, dass man ihm den damals frei gewordenen philosophischen Lehrstuhl in Tübingen übertragen werde. Es geschah nicht. In einer Reihe von Schriften sucht er sich einer Weltanschauung zu nähern, welche ihm als der Ausdruck der geistigen Art des deutschen Volkes erschien. In seinem Buche «Grundlinien einer Wissenschaft der Natur» (1864) spricht er aus, wie er mit den eigenen Gedanken die Gedanken der forschenden deutschen Volksseele darstellen will:
«Welche Macht tiefgewurzelter Vorurteile von der bisherigen Anschauung aus seiner – des Verfassers – Schrift entgegensteht, dessen ist er sich vollkommen bewusst; allein, wie schon die Arbeit selbst, trotz aller Ungunst der Umstände, die zufolge der ganzen Lage und Berufsstellung des Verfassers einem Werk dieser Art sich entgegenstellte, doch ihre Durchführung und ihren Weg in die Öffentlichkeit sich erkämpft hat, so ist er auch gewiss, dass das, was sich jetzt erst seine Anerkennung erkämpfen muss, einst als die einfachste und selbstverständlichste Wahrheit erscheinen wird, und dass darin nicht bloß seine Sache, sondern die wahrhaft deutsche Anschauung der Dinge über alle noch unwürdig äußerliche und undeutsche Auffassung der Natur und des Geistes siegen wird.
Was in unbewusster tiefsinniger Ahnung schon unsere mittelalterliche Dichtung vorgebildet hat, das wird endlich in der Reife der Zeiten an unserer Nation sich erfüllen. Die unpraktische, mit Schaden und Spott heimgesuchte Innerlichkeit deutschen Geistes (wie Wolfram sie in seinem Parzival schildert) erringt endlich in der Kraft ihres unablässigen Strebens das Höchste; sie schaut den letzten einfachen Gesetzen der Dinge und des menschlichen Daseins selbst auf den Grund; und was die Dichtung phantastisch mittelalterlich in den Wundern des Grals versinnbildlicht hat, dessen Herrschaft ihr Held erringt, das erhält umgekehrt seine rein natürliche Erfüllung und Wirklichkeit in der bleibenden Erkenntnis der Natur und des Geistes selbst.»
In der letzten Zeit seines Lebens fasste Karl Christian Planck sein Gedankenwerk zusammen in einem Buche, das 1881 der Philosoph Karl Köstlin als das «Testament eines Deutschen» herausgegeben hat.
Es ist durchaus eine ähnliche Art von Empfindung des Erkenntnisrätsels in Plancks Seele wahrzunehmen, wie sie bei den andern in dieser Schrift charakterisierten Denkerpersönlichkeiten sich offenbart. Dies Erkenntnisrätsel in seiner ursprünglichen Gestalt wird für Planck Ausgangspunkt seines Forschens.
Ist im Umkreis der menschlichen Gedankenwelt die Kraft zu finden, durch die der Mensch die wahre Wirklichkeit erfassen kann, die Wirklichkeit, die seinem Dasein Sinn und Bedeutung im Weltendasein gibt? In die Natur sieht sich der Mensch hinein- und ihr gegenübergestellt. Er kann sich über das, was in deren Tiefen als wahre Wesenkräfte waltet, wohl Gedanken machen; allein wo ist, was ihm dafür bürgt, dass seine Gedanken irgend eine andere Bedeutung haben, als dass sie Geschöpfe seiner eigenen Seele, ohne Verwandtschaft mit jenen Tiefen sind? Wären sie dieses, so müsste dem Menschen ja unbekannt bleiben, was er selbst ist und wie er in der wahren Welt wurzelt.
Durch irgendeine andre Seelenkraft als durch das Denken sich den Weltentiefen nahen zu wollen, lag Planck so fern wie Hegel. Er konnte keine andere Ansicht haben als die, dem Denken müsse sich die echte Wirklichkeit irgendwie ergeben. Aber wie weit man auch ausgreift mit dem Denken, wie man auch die innere Kraft desselben zu erstarken sucht: man bleibt ja doch immer nur im Denken; man stößt in den Weiten und Tiefen des Denkens auf kein Sein. Durch seine eigene Wesenheit scheint sich das Denken von jeder Gemeinschaft mit dem Sein auszuschließen.
Doch der Einblick in diese Seinsfremdheit des Denkens wird für Planck nun eben der Lichtstrahl, der ihm lösend auf das Welträtsel fällt. Wenn das Denken gar nicht Anspruch darauf macht, selbst irgendwie etwas von der Wirklichkeit in sich zu tragen, wenn es wahrheitsgemäß sich als das Unwirkliche offenbart, dann erweist es sich doch gerade dadurch als das Werkzeug, um die Wirklichkeit auszudrücken. Wäre es selbst ein Wirkliches, dann könnte die Seele nur in seiner Wirklichkeit weben, und käme aus ihr nicht heraus; ist es selbst unwirklich, dann stört es die Seele durch seine eigene Wirklichkeit nicht; der Mensch ist, indem er denkt, gar nicht in einer Gedankenwirklichkeit, sondern in der Gedankenunwirklichkeit, die eben deshalb dem Menschen sich nicht aufdrängt mit ihrer eigenen Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ausdrückt, von der sie spricht. Wer im Denken selbst etwas Wirkliches sieht, der muss, nach Plancks Ansicht, auf ein Herankommen an die Wirklichkeit verzichten; denn ihm muss sich das Denken zwischen die Seele und die Wirklichkeit stellen. Ist das Denken selbst nichts, kann es also auch dem Erkennen die Wirklichkeit nicht verbergen, so muss diese im Denken sich offenbaren können.
Mit dieser Ansicht hat Planck zunächst nur den Ausgangspunkt für seine Weltanschauung gewonnen. Denn in dem Gedankenweben, das die Seele im Leben unmittelbar hat, ist keineswegs das reine, sich selbst verleugnende, ja sich verneinende Denken wirksam. Da hinein spielt, was im Vorstellen, Fühlen, Wollen, Wünschen der Seele lebt. Weil dies so ist, entstehen die Trübungen der Weltanschauung.
Und Plancks Streben ist, eine solche Weltanschauung zu erringen, in der alles, was sie enthält, Ergebnis des Denkens ist, aber nichts aus dem Denken selbst stammt. In allem, was zu einem Gedanken über die wirkliche Welt gemacht wird, muss auf das geschaut werden, was im Denken lebt, ohne selbst erdacht zu sein. Planck malt sein Weltbild mit einem Denken, das sich selbst aufgibt, um die Welt aus sich leuchten zu lassen.
Als Beispiel wie Planck in solchem Streben zu einem Weltbild gelangen will, sei mit einigen Strichen gekennzeichnet, wie er über das Wesen der Erde denkt.
Wenn jemand die Erde so vorstellt, wie die rein physische Geologie das mit sich bringt, so ist in dieser Vorstellung für Plancks Weltanschauung keine Wahrheit. So die Erde vorzustellen, wäre wie wenn man von einem Baum sprechen wollte und nur den Holzstamm ohne Blätter, Blüten und Früchte im Auge hätte. Ein solcher Stamm kann für den Anblick der physischen Augen Wirklichkeit genannt werden. Im höheren Sinne ist er keine Wirklichkeit.
Denn er kann, so wie er ist, im Weltenzusammenhang für sich nicht vorkommen. Er kann das nur sein, was er ist, indem zugleich die Triebkräfte in ihm entstehen, die Blätter, Blüten und Früchte entfalten. Man muss in der Wirklichkeit des Stammes diese Triebkräfte mitdenken und muss sich bewusst sein, dass der bloße Stamm nur ein über sich selbst täuschendes Wirklichkeitsbild gibt. Dass irgend etwas vor den Sinnen da ist, das ist noch kein Beweis, dass es so auch eine Wirklichkeit ist.
Die Erde als die Gesamtheit dessen vorgestellt, was sie an mineralischen Gebilden und innerhalb dieser Gebilde vorkommenden Tatsachen zeigt, ist keine Wirklichkeit. Wer Wirkliches über die Erde vorstellen will, der muss sie so vorstellen, dass ihr Mineralreich schon in sich enthält das Pflanzenreich, wie das Stammgebilde des Baumes die Blätter und Blüten; ja dass in der «wahren Erde» schon das Tierreich und der Mensch mit drinnen sind. Man sage nicht, das sei doch eine Selbstverständlichkeit, und im Grunde täusche sich Planck doch nur darüber, dass dies doch jeder ebenso halte wie er.
Planck müsste darauf erwidern: wo ist der, der dies tut? Gewiss stellen alle die Erde als den Weltkörper vor mit seinen Pflanzen, Tieren und Menschen. Aber sie stellen eben die mineralische Erde vor, aus ihren geologischen Schichten bestehend, aus ihrer Oberfläche heraus die Pflanzen wachsend, auf ihr die Tiere und Menschen herumwandelnd. Aber diese Summenerde, aus Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen addiert, gibt es gar nicht. Die ist bloß ein Trugbild der Sinne.
Dafür gibt es eine wahre Erde, die ist ein ganz übersinnliches Gebilde, ein unsichtbares Wesen, das aus sich heraus den mineralischen Untergrund sich gibt; sich aber nicht in diesem erschöpft, sondern in dem Pflanzenreiche weiter sich offenbart, dann im Tierreiche, dann im Menschenreiche.
Für das Mineralreich, das Pflanzen-, das Tier-, das Menschenreich hat nur derjenige den richtigen Blick, der das Ganze der Erde in seiner Übersinnlichkeit schaut, und der fühlt, wie zum Beispiel die Vorstellung des stofflichen Mineralreiches für sich, ohne die Vorstellung der Seelenentwicklung der Menschheit ein Truggebilde ist. Gewiss, man kann ein stoffliches Mineralreich vorstellen; aber man lebt in der Weltenlüge und nicht in der Weltenwahrheit, wenn man dabei nicht das Gefühl hat, mit einer solchen Vorstellung webt man in dem gleichen Wahn, wie wenn man sich denken wollte, ein Mensch, dem der Kopf abgeschlagen ist, werde weiter ruhig durchs Leben wandeln.
Es könnte gesagt werden: Wenn wahrhafte Erkenntnis das hier Angedeutete notwendig mache, dann könnte diese doch niemals erreicht werden; denn wer behauptet, die mineralische Erde sei keine Wirklichkeit, weil sie im Ganzen der Erde geschaut werden müsse, der sollte auch sagen, das Ganze der Erde müsse wieder im Pflanzensystem und so weiter geschaut werden. Wer solchen Einwand macht, hat den Sinn dessen aber nicht erfasst, das einer geistgemäßen Weltanschauung zugrunde liegt.
Es handelt sich nämlich bei allem Erkennen nicht bloß darum, dass man richtig, sondern das man auch wirklichkeitsgemäß denke. Wer von einem Gemälde spricht, kann wohl sagen, man denke nicht wirklichkeitsgemäß, wenn man nur auf eine Person blicke, während drei auf dem Gemälde sind; aber es kann diese Behauptung innerhalb ihrer Tragweite nicht damit widerlegt werden, dass man sagt: niemand verstehe dies Gemälde, der nicht auch alle vorhergehenden desselben Malers kenne.
Zum Erkennen der Wirklichkeit ist eben richtiges und wirklichkeitsgemäßes Denken nötig. Das Mineral als Mineral, die Pflanze als Pflanze und so weiter für sich betrachten, kann wirklichkeitsgemäß sein; die mineralische Erde ist kein wirkliches, sondern ein Phantasiegebilde; auch wenn man sich bewusst ist, dass sie nur ein Teil alles Irdischen ist.
Das ist das Bedeutsame bei einer solchen Persönlichkeit wie Planck, dass sie sich in eine Stimmung bringt, durch die sie die Wahrheit eines Gedankens nicht ersinnt, sondern erlebt. Dass sie in der eigenen Seele eine Kraft für sich entfaltet, durch die sie erlebt, wann ein Gedanke nicht gedacht werden darf, weil er sich durch seine eigene Wesenheit ertötet. Das Dasein einer Wirklichkeit zu ergreifen, die ihr eigenes Leben und ihren eigenen Tod in sich trägt, gehört zu solcher Seelenverfassung, die nicht sich auf die Sinneswelt verlässt, dass die ihr sage: dies ist, oder dies ist nicht.
Von diesem Gesichtspunkte aus hat Planck denkend zu begreifen gesucht, was in den Naturerscheinungen, was im Menschendasein lebt, im geschichtlichen, im künstlerischen, im Rechtsleben. Er hat in einem geistvollen Buche über die «Wahrheit und Flachheit des Darwinismus» geschrieben. Dieses Werk nennt er einen «Denkstein zur Geschichte heutiger (1872) deutscher Wissenschaft». Es gibt Menschen, die einer Persönlichkeit wie Planck gegenüber die Empfindung haben, eine solche schwebe in weltfremden Begriffshöhen und habe keinen Sinn für das praktische Leben. Dieses erfordere Menschen, die sich am «wirklichen» Leben – wie man es nennt – ihr gesundes Urteil bilden. Nun, man kann solcher Empfindung gegenüber auch die Meinung haben: vieles stünde anders im wirklichen Leben, wenn diese behäbige Ansicht vom Leben und der Lebenspraxis in der Wirklichkeit sich weniger breit machte.
Wenn dagegen die Meinung sich etwas mehr verbreiten könnte, dass Denker wie Planck, weil sie sich eine Seelenverfassung erwerben, durch die sie mit der wahren Wirklichkeit sich verbinden, auch über die Verhältnisse des Lebens ein wahreres Urteil haben als diejenigen, welche sie Begriffsschwärmer und unpraktische Philosophen nennen. Die Meinung ist auch möglich, dass die solcher angeblichen «Begriffsschwärmerei» abholden, sich so recht lebenspraktisch dünkenden Stumpflinge die Witterung für die wahren Verhältnisse des Lebens verlieren, während sie bei den unpraktischen Philosophen gerade zur Treffsicherheit herangezogen wird. Man kann zu einer solchen Meinung kommen, wenn man Planck betrachtet und bei ihm mit der Höhe philosophischer Ideenbildung verbunden sieht ein weitschauendes, treffendes Urteil für die Bedürfnisse echter Lebenspraxis und für die Geschehnisse des äußeren Lebens.
Auch wenn man über manches, was Planck an Ideen über äußere Lebensgestaltung entwickelt hat, anderer Ansicht ist als er – was auch bei dem Verfasser dieser Schrift zutrifft –, so kann man doch zugestehen, dass seine Anschauungen gerade auf diesem Gebiete einen lebenstüchtigen Ausgangspunkt für praktische Fragen abgeben können, von dem weitergeschritten werden kann; selbst wenn das Weiterschreiten zu ganz anderem führt, als wovon ausgegangen wird. Und man sollte meinen: Menschen, die in solcher Art «Begriffsschwärmer» sind und eben dadurch durchschauen, welche Kräfte in dem wirklichen Leben tätig sind, taugten für die Bedürfnisse dieses wirklichen Lebens doch besser als mancher, der sich mit Lebenspraxis gerade deshalb gesättigt glaubt, weil er, nach seiner Ansicht, sich durch die Berührung mit irgend einer Ideenwelt nicht hat «dumm machen lassen».
(Über die Stellung Karl Christian Plancks in der Weltanschauungsentwicklung der neueren Zeit hat sich der Verfasser dieser Schrift in seinem 1900 erschienenen Buche «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert» ausgesprochen, das unter dem Titel «Die Rätsel der Philosophie» 1914 in neuer Auflage erschienen ist.)
Es könnte jemand meinen, es sei ungerechtfertigt, Plancks Gedanken als bedeutsam anzusehen für die Triebkräfte der deutschen Volkheit, da diese Gedanken doch wenig Verbreitung gefunden haben. Eine solche Meinung verkennt, worauf es ankommt, wenn von Wirkung der Volkswesenheit in den Anschauungen der Denker eines Volkes die Rede ist. Was da wirkt, sind die unpersönlichen (oft unterbewussten) Kräfte der Volkheit, die in den Betätigungen des Volkes auf den mannigfaltigsten Gebieten des Daseins leben und die auch in einem solchen Denker die Ideen gestalten.
Diese Kräfte waren vor seinem Auftreten da, sind nach demselben wirksam; sie leben, auch wenn nicht von ihnen gesprochen wird; sie leben auch, wenn sie verkannt werden. Und es kann sein, dass sie in einem solchen volksbodenständigen Denker in besonders starker Art wirken, von dem nicht gesprochen wird, weil bis in die Meinungen, die man sich über ihn bildet, weniger hineinstrahlt, was solche Kräfte bergen, als in seine Gedanken. Ein solcher Denker kann oftmals einsam stehen nicht nur während seines Lebens, und auch seine Gedanken können einsam stehen in den Meinungen der Nachwelt.
Hat man aber die Eigenart seiner Gedanken erfasst, dann hat man einen Wesenszug der Volksseele erkannt, einen Zug, der in ihm Gedanke geworden ist, und der unverwüstlich bleibt in der Volkheit; bereit in immer neuen Trieben sich zu offenbaren. Unabhängig von der Frage: was ihm gegönnt war, zu wirken, ist die andere: was in ihm gewirkt hat? Und was immer wieder zu gleich gerichteten Leistungen führen wird? Das «Testament eines Deutschen» von Karl Christian Planck ist 1912 in zweiter Auflage neu herausgegeben worden. Es ist schade, dass manches schreibselige Philosophengemüt damals mehr Begeisterung aufbrachte für die leichtgewobenen und für anspruchslose Seelen deshalb auch leichter verständlichen Weltanschauungsgedanken Henri Bergsons als für die streng gefügten, weitausgreifenden Ideen Plancks.
Was ist doch alles geschrieben worden über die «Neugestaltung» der Weltanschauung durch Bergson, namentlich von solchen, die die Neuheit einer Weltanschauung so leicht entdecken, weil ihnen das Verständnis, manchmal sogar die Kenntnis dessen fehlt, was längst dagewesen ist. Bezüglich der «Neuheit» einer der Hauptideen Bergsons hat der Verfasser dieser Schrift ebenfalls in seinem Buche «Rätsel der Philosophie» auf den folgenden wichtigen Tatbestand hingewiesen. (Nebenbei nur sei bemerkt, dass dieser Hinweis vor dem gegenwärtigen Kriege geschrieben ist. Vergleiche das Vorwort des zweiten Bandes des genannten Buches.)
Bergson wird durch seine Gedanken zu einem Umgestalten der verbreiteten Entwicklungsidee für organische Wesen geführt. Er setzt nicht an den Anfang dieser Entwicklung das einfachste Lebewesen, um dann durch äußerliche Kräfte aus diesem die komplizierteren bis herauf zum Menschen hervorgehend zu denken, sondern er stellt sich vor, dass im Ausgangspunkte der Entwicklung ein Wesen stehe, das in irgend einer Form den Antrieb schon enthält, Mensch zu werden. Es kann aber diesen Antrieb nur dadurch zur Verwirklichung bringen, dass es andere Antriebe, die auch in ihm liegen, zuerst aus sich abscheidet. Es gewinnt in der Abscheidung der niederen Lebenswesen die Kraft zur Verwirklichung der höheren.
So ist der Mensch seiner Wesenheit nach nicht das zuletzt Entstandene, sondern das zuerst, vor allem anderen Wirksame. Er scheidet aus seinen Bildekräften zuerst die anderen Wesen ab, um in dieser Vorarbeit die Kraft zu seinem Hervortreten in die äußere sinnliche Wirklichkeit zu gewinnen. Selbstverständlich wird da mancher einwenden: nun, dass in der Entwicklung der Lebewesen ein innerer Entwicklungstrieb wirkt, haben doch schon Viele gedacht. Und man wird anführen können den längst vorhandenen Gedanken der Zielstrebigkeit; oder Anschauungen, die Naturforscher wie Nägeli und andere gehabt haben.
Solche Einwände treffen aber in einem Falle, wie der hier in Frage kommende ist, nicht das Ziel. Denn bei dem Bergsonschen Gedanken handelt es sich nicht darum, von einer allgemeinen Idee einer inneren Entwicklungskraft auszugehen, sondern von einer bestimmten Vorstellung von dem, was der Mensch in seinem vollen Umfange ist; und aus dieser Vorstellung zu ersehen, dass dieser übersinnlich gedachte Mensch in sich die Antriebe hat, die anderen Naturwesen zuerst in die sinnliche Wirklichkeit zu setzen und dann auch sich in diese hineinzustellen.
Nun liegt das Folgende vor. Was bei Bergson in schillernder, leichtgeschürzter Ideenentwicklung zu lesen ist, das hat vorher in gedankenstarker, kraftvoller Art der deutsche Denker Wilhelm Heinrich Preuß zum Ausdrucke gebracht. Preuß ist nun auch eine derjenigen Persönlichkeiten, die der hier geschilderten mehr oder weniger vergessenen Strömung einer geistgemäßen deutschen Weltanschauungsentwicklung angehören.
Mit machtvollem Wirklichkeitssinn verbindet Preuß Natur- und Weltanschauung – zum Beispiel in seinem Buche «Geist und Stoff» (1882). Den angeführten Bergsonschen Gedanken findet man bei ihm so ausgedrückt:
«Es dürfte … an der Zeit sein, eine … Lehre von der Entstehung der organischen Arten aufzustellen, welche sich nicht allein auf einseitig aufgestellte Sätze aus der beschreibenden Naturwissenschaft gründet, sondern auch mit den übrigen Naturgesetzen, welche zugleich auch die Gesetze des menschlichen Denkens sind, in voller Übereinstimmung ist. Eine Lehre zugleich, die alles Hypothesierens bar ist und nur auf strengen Schlüssen aus naturwissenschaftlichen Beobachtungen im weitesten Sinne beruht; eine Lehre, die den Artbegriff nach tatsächlicher Möglichkeit rettet, aber zugleich den von Darwin aufgestellten Begriff der Entwicklung hinübernimmt auf ihr Gebiet und fruchtbar zu machen sucht.
Der Mittelpunkt dieser neuen Lehre nun ist der Mensch, die nur einmal auf unserem Planeten wiederkehrende Spezies: Homo sapiens. Merkwürdig, dass die älteren Beobachter bei den Naturgegenständen anfingen und sich dann dermaßen verirrten, dass sie den Weg zum Menschen nicht fanden, was ja auch Darwin nur in kümmerlichster und durchaus unbefriedigender Weise gelang, indem er den Stammvater des Herrn der Schöpfung unter den Tieren suchte – während der Naturforscher bei sich als Menschen anfangen müsste, um so fortschreitend durch das ganze Gebiet des Seins und Denkens zur Menschheit zurückzukehren … Es war nicht Zufall, dass die menschliche Natur aus der irdischen hervorging, sondern Notwendigkeit. Der Mensch ist das Ziel der tellurischen Vorgänge, und jede andere neben ihm auftauchende Form hat aus der seinigen ihre Züge entlehnt. Der Mensch ist das erstgeborene Wesen des ganzen Kosmos … Als seine Keime entstanden waren, hatte der gebliebene organische Rückstand nicht die nötige Kraft mehr, um weitere menschliche Keime zu erzeugen. Was noch entstand, wurde Tier oder Pflanze … »
Die Idee, wie sie vom Wesen des Menschen in der Philosophie des deutschen Idealismus lebt, leuchtet auch aus diesen Vorstellungen des wenig gekannten Denkers von Elsfleth, Wilhelm Heinrich Preuß. Mit dieser Anschauung weiß er den Darwinismus, sofern dieser nur auf die in der Sinneswelt sich abspielende Entwicklung blickt, zum Gliede einer geistgemäßen Weltanschauung zu machen. Einer Weltanschauung, die die Menschenwesenheit in ihrer Entfaltung aus den Tiefen des Weltalls erkennen will.
Wie Bergson zu dem bei ihm glitzernden, aus Preuß’ Darstellung aber so kraftvoll leuchtenden Gedanken gekommen ist: darauf soll in diesem Zusammenhange weniger Wert gelegt werden als vielmehr darauf, dass in den Schriften des wenig gekannten Preuß fruchtbarste Keime zu erblicken sind, die manchem eine stärkere Anregung geben könnten als die glitzernde Gestalt vermag, in der man sie bei Bergson wiederfindet. Allerdings muss man auch für Preuß mehr Anlage zur Gedankenvertiefung mitbringen, als sich bei denjenigen zeigte, die so viel Begeisterung für die Bergsonsche «Neubelebung» der Weltanschauung aufbrachten. Was hier gesagt worden ist, hat mit nationaler Zu- oder Abneigung gar nichts zu tun.
In der letzten Zeit ist H. Bönke der «originellen philosophischen Neuschöpfung» Bergsons nachgegangen, weil dieser doch solch hassgetragene, verachtungsprühende Worte gegen das deutsche Geistesleben in dieser schicksaltragenden Zeit auszusprechen für nötig befunden hat. (Vergleiche die Schrift: Plagiator Bergson, Membre de l’Institut. Zur Antwort auf die Herabsetzung der deutschen Wissenschaft durch Edmond Perrier, Président de l’Academie des Sciences. Charlottenburg, Huth 1915.)
In Anbetracht alles dessen, was Bönke nachweist über die Art, wie Bergson wiedergibt, was er dem deutschen Gedankenleben verdankt, ist wohl kaum übertrieben, was der Philosoph Wundt im Literarischen Centralblatt für Deutschland Nr. 46 vom 13. November 1915 sagt:
«Bönke lässt es … an belastendem Beweismaterial nicht fehlen. Seine Schrift besteht zum größten Teil aus Stellen, die den Werken Bergsons und Schopenhauers entnommen sind, und in denen der jüngere Autor die Gedanken des älteren entweder wörtlich oder mit geringer Variation wiederholt. Immerhin ist dies nicht allein entscheidend. Es wird darum zweckmäßig sein, die Beispiele, die Bönke ins Feld führt, einigermaßen nach kritischen Gesichtspunkten zu ordnen. Dann lassen sie sich wohl in drei Kategorien bringen. Eine erste enthält Sätze, die, abgesehen von unwesentlichen Unterschieden, bei beiden Schriftstellern genau übereinstimmen … »
In anderen Kategorien liegt die Übereinstimmung mehr in der Formung des Gedankens. Nun, es ist vielleicht wirklich weniger wichtig, inwieweit der deutsches Geistesleben so wütend verurteilende Bergson sich als ein recht williger Verarbeiter dieses deutschen Geisteslebens zeigt; wichtiger kann es aber scheinen, dass bei Bergson die Verarbeitung in leichtgewobenem, leicht erringbarem Nachdenken auftritt, und dass gar mancher Beurteiler besser getan hätte, mit der begeisterten Erhebung dieses «Neubelebers» der Weltanschauung zu warten, bis er durch besseres Verständnis derjenigen Denker, denen Bergson seine Anregungen verdankt, diese Erhebung – vielleicht unterlassen hätte.
Dass ein Nachfolger sich von seinen Vorgängern anregen lässt, ist eine übrigens naturgemäße Sache im Entwicklungsgange der Menschheit; es kommt aber darauf an, ob die Anregung zu einem Fortbildungsvorgang führt, oder – das geht auch aus Bönkes Darstellung klar hervor – wie bei Bergson zu einem Rückbildungsvorgang.
Ein Seitenblick
Im Jahre 1912 ist erschienen «Das Hohe Ziel der Erkenntnis» von Omar al Raschid Bey (München, Verlag R. Piper). (Zu bemerken ist, dass der Verfasser kein Türke, sondern ein Deutscher ist, und dass die Ansicht, die er vertritt, nichts mit dem Mohammedanismus [Islam] zu tun hat, sondern eine im modernen Gewande auftretende altindische Weltanschauung ist.)
Das Buch ist nach dem Tode des Verfassers erschienen. Ein solches Buch würde in unserer Zeit nicht erscheinen, und sein Verfasser würde nicht glauben, sich und anderen mit dem darin Ausgesprochenen einen der Gegenwart entsprechenden Erkenntnisweg zeigen zu sollen, wenn er in seiner Seele die Bedingungen herstellen wollte, durch die ein Verständnis der Denkerreihe möglich ist, die in dieser Schrift geschildert wird. So wie für ihn die Dinge sich darstellen, könnte der Verfasser des «Hohen Zieles» für die hier ausgesprochene Behauptung nur ein mitleidiges Lächeln haben. Er würde nicht einsehen, dass alles, was er in seinem Schlusskapitel «Erwachen aus der Erscheinung» auf Grund des diesem Kapitel Vorangegangenen – und mit diesem – dem Seelenerleben darbietet, zwar ein rechter Erkenntnisweg war für das alte Indien, für den man als einen der Vergangenheit angehörigen volles Verständnis haben kann; dass aber dieser Erkenntnisweg in einen andern einmündet, wenn man nicht vorzeitig auf ihm stehen bleibt, sondern den geistgemäßen Wirklichkeitsweg wandelt, der von dem neueren Idealismus beschritten worden ist.
Er hätte erkennen müssen, wie sein «Erwachen aus der Erscheinung» nur ein Schein des Erwachens ist; in Wirklichkeit ist es ein von dem eigenen seelischen Erleben bewirktes Sich-Zurückziehen von der Erscheinung – gleichsam ein Erbeben vor der Erscheinung – und dadurch nicht ein «Erwachen aus der Erscheinung», sondern ein Einschlafen im Wahn; ein Selbstwahn, der seine Wahnwelt für Wirklichkeit hält, weil er nicht dazu gelangt, den Weg in die geistgemäße Wirklichkeit zu gehen. Plancks sich selbstverleugnendes Denken ist ein Seelenerlebnis, zu dem al Raschids Wahndenken nicht dringen mag.
Da findet man im «Hohen Ziel» die Sätze:
«Wer sein Heil in dieser Welt sucht, der bleibt dieser Welt verfallen; dem ist kein Entrinnen aus ungestilltem Verlangen; dem ist kein Entrinnen aus nichtigem Spiel; dem ist kein Entrinnen aus den engen Fesseln des ‹Ich› . Wer sich aus dieser Welt nicht erhebt, der lebt und vergeht mit seiner Welt.» Vor diesen Sätzen stehen diese: «Wer sein Heil im ‹Ich› sucht, dem ist Selbstsucht Gebot, dem ist Selbstsucht Gottheit.»
Wer aber die treibenden Seelenkräfte, die in Denkern der Reihe von Fichte bis Planck walten, lebensvoll erkennt, der durchschaut den Trug, der in diesen Sätzen des «Hohen Zieles» sich ausspricht. Denn er erkennt, wie die Sucht nach dem Selbst – die Selbstsucht – vor dem Erleben des «Ich» im Fichteschen Sinn liegt, und wie das Fliehen der Ich-Anerkennung – im altindischen Sinn – das hochmütige Erkenntnisstreben scheinbar weiter in die Geistwelt hineinführt, in Wirklichkeit aber zurückwirft in die Sucht nach dem Ich.
Denn erst das Finden des Ich lässt das Ich entrinnen den Fesseln der Sucht nach dem Ich, der Selbstsucht. Es kommt eben durchaus darauf an, ob man im «Erwachen aus der Erscheinung» die vom Rückfall in die Ich-Sucht verursachten Erlebnisse des «Hohen Zieles» hat, oder ob man Erlebnisse hat, auf die folgende Worte deuten können. Wer sein Heil im Fliehen des «Ich» sucht, der verfällt der Sucht nach dem «Ich»; wer das «Ich» findet, befreit sich von der Sucht nach dem Ich; denn Sucht nach dem Ich schafft das Ich zu seinem eigenen Götzen; Finden des «Ich» gibt das Ich der Welt.
Wer sein Heil im Fliehen der Welt sucht, der wird von der Welt in seinen eigenen Wahn zurückgeworfen; den täuscht hochmütiger Erkenntniswahn und lässt ihm nichtiges Ideen-Spiel als Weltenwahrheit erscheinen; der löst von vorne die Fesseln des Ich und sieht nicht, wie der Feind der Erkenntnis sie von hinten ihm nur fester anlegt. Wer sich, die Weltoffenbarung verschmähend, über die Welt erheben will, der führt sich in den Wahn, der ihn um so sicherer hält, als er ihm sich als Weisheit offenbart.
In den Wahn, mit dem man sich und andere vor dem schwierigen Erwachen in dem neueren Weltanschauungs-Idealismus zurückhält, und in ein «Erwachen aus der Erscheinung» hineinträumt. Ein vermeintliches Erwachen, wie es das «Hohe Ziel» weisen will, ist zwar ein Quell zu jenem Erlebnis, das immer erneut dem «Erwachten» von der Erhabenheit seiner Erkenntnis sprechen lässt, aber auch ein Hindernis für das Erleben dieses Weltanschauungs-Idealismus. Man nehme diese Bemerkungen nicht so, als ob der Verfasser dieser Schrift das Erkenntnisstreben al Raschid Beys in seiner Art irgendwie herabsetzen wollte; was er hier sagt, ist nur der ihm notwendig erscheinende Einwand gegen eine Weltanschauung, die ihm in dem ärgsten Selbstwahn zu leben scheint. Solchen Einwand kann man wohl auch machen, wenn man eine geistige Erscheinung von einem gewissen Gesichtspunkte aus schätzt; vielleicht kann es einem gerade dann am notwendigsten erscheinen, weil der Ernst dazu zwingt, der in der Behandlung von Erkenntnisfragen walten muss.
Bilder aus dem Gedankenleben Österreichs
Einige Bilder – nichts anderes als solche – und nicht über das gedanklich-geistige Leben Österreichs, sondern nur aus diesem Leben möchte der Verfasser zeichnen. Keine Art von Vollständigkeit soll angestrebt werden. Auch nicht in bezug auf dasjenige, was der Verfasser selbst zu sagen hätte.
Manches andere mag viel wichtiger sein als das hier Vorzubringende. Es soll aber für diesmal nur einiges aus dem geistigen Leben Österreichs angedeutet werden, was in irgend einer Art mit den Strömungen mittelbar oder unmittelbar, mehr oder weniger zusammenhängt, in denen der Schreiber dieser Ausführungen während seiner Jugendzeit selbst drinnen gestanden hat. Geistige Strömungen, wie die hier gemeinten, können ja auch wohl so gekennzeichnet werden, dass man nicht die Vorstellungen gibt, die man sich über sie gebildet hat, sondern dass man über Persönlichkeiten, deren Denkart und Gefühlsrichtung spricht, von denen man glaubt, dass sich – wie symptomatisch – in ihnen diese Strömungen ausdrücken. Was Österreich durch einige solcher Persönlichkeiten über sich offenbart, möchte ich schildern. Wenn ich dabei an einigen Orten in der Ichform spreche, so möge man dies in meinem dermaligen Gesichtspunkte begründet finden.
Von einer Persönlichkeit möchte ich zuerst sprechen, in der ich vermeine, die Offenbarung des geistigen Österreichertums innerhalb der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in einem sehr edlen Sinne erblicken zu dürfen, von Karl Julius Schröer. Als ich 1879 an die Wiener Technische Hochschule kam, war er dort Lehrer der deutschen Literaturgeschichte. Er wurde mir erst Lehrer, dann älterer Freund. Seit vielen Jahren ist er nun schon nicht mehr unter den Lebenden.
In der ersten Vorlesung, die ich von ihm hörte, sprach er über Goethes Götz von Berlichingen. Das ganze Zeitalter, aus der diese Dichtung herauswuchs, wurde aus Schröers Worten lebendig. Und auch, wie der Götz in dieses Zeitalter einschlug. Ein Mann sprach, der in jedes seiner Urteile einfließen ließ, was er aus der Weltanschauung des deutschen Idealismus allem Empfinden und Wollen seiner ganzen durchgeistigten Persönlichkeit einverleibt hatte. Die folgenden Vorlesungen bauten ein lebendiges Bild der deutschen Dichtung seit Goethes Auftreten auf. So, dass man durch die Schilderung von Dichtern und Dichtungen stets hindurchfühlte das lebendige Weben der Anschauungen, die im Wesen des deutschen Volkes nach Dasein ringen. Begeisterung für die Ideale der Menschheit trug Schröers Urteile; und es prägte sie lebendiges Sich-Fühlen in der Lebensanschauung, die in Goethes Zeitalter ihren Anfang nahm. Ein Geist sprach aus diesem Manne, der nur mitteilen wollte, was durch die Betrachtung des Geisteslebens tiefes Selbsterlebnis seiner Seele geworden war.
Viele, die diese Persönlichkeit kennenlernten, haben sie verkannt. Ich war, als ich bereits in Deutschland lebte, einmal bei einer Tischgesellschaft. Ein sehr bekannter Literarhistoriker saß neben mir.
Er sprach von einer deutschen Fürstin, die er sehr lobte, nur – meinte er – könne sie auch von ihrem sonstigen gesunden Urteile abirren, was sich zum Beispiele darin zeigte, dass sie «Schröer für einen bedeutenden Mann halte». Ich kann verstehen, dass mancher in Schröers Büchern nicht findet, was zahlreiche seiner Schüler durch den lebendigen Einfluss seiner Persönlichkeit fanden; bin aber doch der Überzeugung, dass derjenige vieles davon auch in Schröers Schriften verspüren könnte, der seinen Eindruck zu empfangen vermag nicht bloß nach sogenannter «strenger Methode», vielleicht gar nach einer solchen, die den Zuschnitt dieser oder jener Literatenschule trägt, sondern nach Eigenart des Urteilens, nach Offenbarung einer selbsterlebten Anschauung. Von einem solchen Gesichtspunkte aus spricht denn doch eine an dem deutschen Weltanschauungs-Idealismus gereifte Persönlichkeit auch aus dem viel angefeindeten Buche Schröers «Geschichte der deutschen Dichtung im neunzehnten Jahrhundert» und aus anderen seiner Werke. Eine gewisse Art der Darstellung zum Beispiele in seinem Faustkommentar mag manchen sich frei meinenden Geist abstoßen. Doch wirkt da in Schröers Darstellung das hinein, wovon ein gewisses Zeitalter die Ansicht hatte, dass es von dem Charakter des Wissenschaftlichen nicht trennbar sei. Auch starke Geister sind unter das Joch dieser Ansicht geraten; und man muss diese Geister selbst in ihrer wahren Eigenheit dadurch suchen, dass man eine von diesem Joch ihnen aufgedrungene Hülle ihres Schaffens durchdringt.
Im Lichte eines Mannes hat Karl Julius Schröer seine Knaben- und Jugendzeit verlebt, der – wie er selbst – in geistigem Deutsch-Österreichertum wurzelte; der eine der Blüten desselben war – seines Vaters Tobias Gottfried Schröer.
Es ist noch nicht lange her, da waren in weitesten Kreisen gewisse Bücher bekannt, denen zweifellos viele Menschen die Weckung einer idealistisch vertieften, von einer geistgemäßen Lebensansicht getragenen Empfindung der Geschichte, der Dichtung, der Kunst verdankten.
Es sind: «Briefe über die Hauptgegenstände der Ästhetik von Chr. Oeser, «Die kleinen Griechen» von Chr. Oeser, «Weltgeschichte für Töchterschulen» und andere von demselben Verfasser. In diesen Schriften spricht über die mannigfaltigsten Gebiete des geistigen Lebens, vom Gesichtspunkte des Jugendschriftstellers, eine Persönlichkeit, die an der Vorstellungsart des Goetheschen Zeitalters der deutschen Geistesentwicklung herangereift ist, und welche die Welt mit dem dadurch gebildeten Seelenauge ansieht. Der Verfasser dieser Schriften ist Tobias Gottfried Schröer, der sie unter dem Namen Chr. Oeser herausgegeben hat.
Nun hat – neunzehn Jahre nach dem Tode dieses Mannes – die deutsche Schillerstiftung seiner Witwe (im Jahre 1869) eine Ehrengabe überreicht, die von einem Schreiben begleitet war, in dem es heißt:
«Der unterzeichnete Vorstand hat zu seinem innigsten Bedauern erfahren, dass sich die Gattin eines der würdigsten deutschen Schriftsteller, eines Mannes, der mit Talent und Gemüt stets für nationalen Sinn einstand, keineswegs in Verhältnissen befindet, die ihrem Stande und den Verdiensten ihres Gatten entsprechen, und so erfüllt er nur eine ihm durch den Geist seiner Statuten gebotene Pflicht, wenn er sich nach Möglichkeit bemüht, die Ungunst eines harten Geschickes in etwas auszugleichen.»
Angeregt durch diesen Beschluss der Schillerstiftung schrieb dann Karl Julius Schröer in der Wiener Neuen Freien Presse einen Artikel über seinen Vater, aus dem bekannt wurde, was bis dahin nur ein engster Kreis wusste, dass Tobias Gottfried Schröer nicht nur der Verfasser der Schriften Chr. Oesers ist, sondern auch ein bedeutender Dichter und Schriftsteller von Werken, die wahre Zierden des österreichischen Geisteslebens darstellen und der nur unbekannt geblieben ist, weil er wegen der damals herrschenden Zensurverhältnisse seinen Namen nicht nennen konnte. Von ihm erschien zum Beispiel 1830 das Lustspiel «Der Bär». Karl von Holtei, der bedeutende schlesische Dichter und Bühnenmann, spricht sich darüber gleich nach dem Erscheinen aus in einem Brief an den Verfasser:
«Was das Lustspiel ‹Der Bär› betrifft, so hat es mich entzückt. Wenn die Erfindung, die Anlage der Charaktere ganz Ihnen gehört, so wünsche ich Ihnen von Herzen Glück, denn dann werden Sie noch schöne Stücke schreiben.»
Der Dichter hat seinen Stoff dem Leben Iwans IV. Wasiliewitsch entnommen und alle Charaktere außer dem Iwans selbst. sind seine freie Schöpfung. Ein später erschienenes Drama «Leben und Taten Emerich Tökölys und seiner Streitgenossen» erfuhr eine glänzende Aufnahme, ohne dass den Verfasser jemand kannte. In den «Blättern für literarische Unterhaltung» war darüber (am 25. Oktober 1839) zu lesen:
«Ein geschichtliches Bild von bewunderungswürdiger Frische. … Arbeiten so frischen Hauches und so entschiedenen Charakters gehören in unseren Tagen wirklich zu den Seltenheiten … jede der Gruppen ist voll hohen Reizes, weil sie voll hoher Wahrheit ist; … der Tököly des Verfassers ist ein ungarischer Götz von Berlichingen, und nur mit diesem lässt sich das Drama vergleichen. … Von einem solchen Geiste können wir alles, auch das Größte erwarten.»
Dieses Urteil rührt von W. v. Lüdemann her, der eine «Geschichte der Architektur», eine «Geschichte der Malerei», «Spaziergänge in Rom», Erzählungen und Novellen geschrieben hat, Werke, aus denen Feinsinnigkeit und hohes Kunstverständnis sprechen.
Durch die Geistesart seines Vaters hatte auf Karl Julius Schröer die Sonne des deutschen Weltanschauungs-Idealismus schon voraus geleuchtet, als er Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an die Universitäten Leipzig, Halle und Berlin ging und da durch vieles, das auf ihn wirkte, hindurch die Vorstellungsart dieses Idealismus noch empfinden konnte. In die Heimat zurückgekehrt, übernahm er 1846 die Leitung des «Seminariums für deutsche Literargeschichte und Sprache» am Lyzeum in Preßburg, das sein Vater in dieser Stadt gegründet hatte. In dieser Stellung entwickelte er nun eine Tätigkeit, deren Eigenart er so gestaltete, dass man sagen kann: Schröer suchte durch sein Streben die Aufgabe zu lösen, wie man im Geistesleben Österreichs am besten wirkt, wenn man die Richtung seines Strebens dadurch vorgezeichnet findet, dass man die Triebkräfte der eigenen Seele aus der deutschen Kultur erhalten hat. In einem «Lehr- und Lesebuch» (das 1853 erschienen ist und das eine «Geschichte der deutschen Literatur» darstellt) hat er über dieses sein Streben gesprochen:
«Es kamen daselbst (in dem Lyzeum) Primaner, Juristen, Theologen des Lyzeums … zusammen … Einem solchen Zuhörerkreise gegenüber bemühte ich mich nach großen Gesichtspunkten die Glorie des deutschen Volkes in ihrer Entwicklung darzulegen, für deutsche Kunst und Wissenschaft Ehrfurcht hervorzurufen, und die Zuhörer womöglich dem Standpunkte der modernen Wissenschaft näherzubringen.»
Und wie er sein Deutschtum auffasste, das drückt Schröer in dieser Art aus:
«Von diesem Standpunkte aus verschwanden natürlich die einseitigen Leidenschaften der Parteien vor meinem Blicke: man wird weder einen Protestanten, noch einen Katholiken, weder konservativen, noch subversiven Schwärmer hören und einen für deutsche Nationalität Begeisterten nur insofern, als durch dieselbe die Humanität gewann und das Menschengeschlecht verherrlicht wurde.»
Und ich möchte diese vor bald siebzig Jahren niedergeschriebenen Worte auch nicht deshalb wiederholen, um auszusprechen, was für einen Deutschen in Österreich damals richtig war, oder gar, was gegenwärtig richtig ist. Ich möchte nur zeigen, wie ein Mensch beschaffen war, in dem sich das deutsch-österreichische Wesen auf eine besondere Art auslebte.
Inwieweit dieses Wesen dem Österreicher die rechte Art des Strebens verleiht, darüber werden die Angehörigen der verschiedenen Parteien und Nationen in Österreich auch die verschiedensten Urteile fällen. Und zu alledem hinzu ist auch noch zu bedenken, dass Schröer sich so als noch junger Mann aussprach, der eben von deutschen Universitäten zurückgekommen war. Aber bedeutsam ist, dass in der Seele dieses jungen Mannes, nicht aus politischen Absichten, sondern aus rein geistigen Weltanschauungsgedanken heraus, das deutschösterreichische Bewusstsein ein Ideal für die Sendung Österreichs sich formte, das er mit diesen Worten ausdrückt:
«Wenn wir den Vergleich Deutschlands mit dem antiken Griechenland und der deutschen mit den griechischen Stämmen verfolgen, so finden wir eine große Ähnlichkeit zwischen Österreich und Mazedonien. Wir sehen die schöne Aufgabe Österreichs in einem Beispiele vor uns: den Samen westlicher Kultur über den Osten hinauszustreuen.»
Schröer wird später Professor an der Budapester Universität, dann Schuldirektor in Wien, zuletzt wirkte er viele Jahre als Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Wiener Technischen Hochschule. Diese Ämter waren bei ihm gewissermaßen nur die äußeren Umkleidungen einer bedeutsamen Wirksamkeit innerhalb des österreichischen Geisteslebens. Diese Wirksamkeit beginnt mit einer forschenden Vertiefung in die seelischen, die sprachlichen Äußerungen des deutschösterreichischen Volkslebens. Was im Volke wirkt und lebt, will er erkennen, und zwar nicht wie ein trockener, nüchterner Forscher, sondern wie jemand, der die Rätsel der Volksseele enthüllen will, um zu durchschauen, welche Menschheitskräfte in diesen Seelen sich ins Dasein ringen. In der Nähe der Preßburger Gegend lebten damals alte Weihnachtsspiele bei den Bauern. Sie werden jedes Jahr um die Weihnachtszeit gespielt.
Handschriftlich vererben sie sich von Geschlecht zu Geschlecht. Sie zeigen, wie im Volke die Geburt Christi, und was damit zusammenhängt, in gemüttiefen Bildern dramatisch lebt. Schröer sammelt solche Spiele in einem Büchlein und schreibt dazu eine Einleitung, in der er diese Offenbarung der Volksseele schildert mit liebevollster Hingabe, so dass seine Darstellung den Leser untertauchen lässt in Volksempfinden und Volksanschauung. Aus dem gleichen Geiste heraus unternimmt er es dann, die deutschen Mundarten des ungarischen Berglandes, der westungarischen Deutschen, des Gottscheerländchens in Krain darzustellen.
Überall ist da seine Absicht, den Organismus des Volkstums zu enträtseln; was er geforscht hat, gibt wirklich ein Bild des Lebens, das in Sprach- und Volksseelenentwicklung wirkt. Und im Grunde schwebt ihm bei allen solchen Bestrebungen der Gedanke vor, die Lebensbedingungen Österreichs aus den geistigen Triebkräften seiner Völker kennenzulernen. Viel, sehr viel von der Antwort auf die Frage: was webt in der Seele Österreichs? ist aus Schröers Mundartenforschung zu gewinnen.
Für ihn selbst hatte diese Geistesarbeit aber noch eine andere Wirkung. Sie lieferte ihm die Grundlage zu tiefen Einsichten in das Wesen der Menschenseele überhaupt. Als er dann im Amte des Direktors mehrerer Schulen erproben konnte, wie Ansichten über Erziehung und Unterricht sich einem Geiste gestalten, der so tief in das Wesen des Volksgemütes geschaut hat wie er durch seine Forschung, da wurden diese Einsichten fruchttragend. Und so konnte er ein kleines Werk veröffentlichen: «Unterrichtsfragen», das, wie ich meine, zu den Perlen der pädagogischen Literatur gezählt werden sollte. Leuchtend behandelt dies kleine Büchlein Ziele, Methoden und Wesen des Unterrichtens. Ich glaube, dass dieses heute ganz unbekannte Büchelchen von jedem gelesen werden müsste, der innerhalb des deutschen Kulturgebietes etwas mit Unterrichten zu tun hat. Obgleich es ganz für österreichische Verhältnisse geschrieben ist, lassen sich die darin gegebenen Richtlinien für den ganzen Umfang des Deutschtums anwendbar machen. Was man an der 1876 erschienenen Schrift gegenwärtig veraltet nennen mag, kommt gegenüber der in ihr lebenden Vorstellungsart nicht in Betracht. Eine solche auf Grund einer reichen Lebenserfahrung gewonnene Vorstellungsart bleibt immer fruchtbar, auch wenn sie der später Lebende auf neue Bedingungen hin anwenden muss. In seinen letzten Lebensjahrzehnten war Schröers Geistesarbeit fast ganz der Vertiefung in Goethes Lebenswerk und Vorstellungsart zugewandt. In der Einleitung zu seinem Buche «Die deutsche Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts» hat er ausgesprochen:
«Wir in Österreich wollen mit dem Geistesleben im Deutschen Reiche Hand in Hand gehn.»
Die Wurzeln dieses Geisteslebens sah er in der Weltanschauung des deutschen Idealismus. Und sein Bekenntnis zu dieser Weltanschauung drückte er mit den Worten aus:
«Das weltverjüngende Auftauchen des Idealismus in Deutschland, im Zeitalter der Frivolität vor hundert Jahren, ist die größte Erscheinung der neueren Geschichte. Der nur auf das Endliche gerichtete Verstand, der nicht in der Wesen Tiefe dringt; mit ihm die auf die Befriedigung der Sinnlichkeit gerichtete Selbstsucht, traten auf einmal zurück hinter dem Auftauchen eines Geistes, der über alles Gemeine erhebt.» (Vgl. Einleitung zur Faustausgabe Schröers, 1. Bd., 3. Aufl., S. XXVIII.)
In Goethes «Faust» erblickte Schröer «den Helden des unbesieglichen Idealismus. Es ist der ideale Held der Zeit, in der die Dichtung entstand. Sein Wettkampf mit Mephistopheles spricht das Ringen des neuen Geistes als das innerste Wesen der Epoche aus, und dadurch steht diese Dichtung so hoch: sie hebt uns auf eine höhere Stufe». (In derselben Faustausgabe, S. XXX.)
Schröer bekennt sich rückhaltlos zum deutschen Idealismus als Weltanschauung. In seiner «Geschichte der deutschen Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts» stehen die Worte, mit denen er kennzeichnen will, in welchen Gedanken sich der Geist des deutschen Volkes ausspricht, wenn er dies im Sinne seines ureigenen Wesens tut:
«In dem erfahrungsmäßig Wahrgenommenen werden überall Bedingungen erkannt, die hinter dem Endlichen, erfahrungsmäßig Erkennbaren, verborgen sind. Sie müssen als das Unbedingte bezeichnet werden und werden allerseits als ein Dauerndes im Wechsel, als eine ewige Gesetzmäßigkeit, zugleich als ein Unendliches empfunden. Das wahrgenommene Unendliche im Endlichen erscheint als Idee; die Fähigkeit es wahrzunehmen als Vernunft, im Gegensatz zum Verstande, der am überschaulich Endlichen haften bleibt und darüber hinaus nichts wahrnimmt.»
Zugleich liegt nun in der Art, wie Schröer sich zu diesem Idealismus bekennt, die Mitwirkung alles dessen, was in einer Seele schwingt, die in ihrem eigenen Wesen die österreichische Geistesströmung mitempfindet. Und dies gibt dem Weltanschauungs-Idealismus bei ihm die besondere Farbenschattierung. Es wird dem Gedanken, indem man ihn ausspricht, ein Farbenton gegeben, der diesen Gedanken nicht ohne weiteres in das Reich entlässt, das Hegel als das der philosophischen Erkenntnis mit den Worten geschildert hat:
«Das, was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie; denn, was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden; die Eule der Minerva beginnt erst in der einbrechenden Dämmerung ihren Flug» (Vergleiche mein Buch «Rätsel der Philosophie», 1. Band.)
Nein, nicht grau in grau möchte Schröer, der Österreicher, die Welt der Gedanken erblicken; die Ideen sollen in einer Farbe leuchten, die auf das Gemüt erfrischend, stets aufs neue verjüngend wirkt. Und näher als an den Vogel der Dämmerung hätte es wohl Schröer in solchem Zusammenhang gelegen, an das nach Licht ringende Menschengemüt zu denken, das in der Ideenwelt die Sonne des Reiches sucht, in dem der auf das Endliche und die Sinneswelt gerichtete Verstand das Erlöschen seines Lichtes empfinden sollte.
*
Herman Grimm, der geistvolle Kunstbetrachter, hat Worte restloser Anerkennung gefunden für den österreichischen Bildhauer Heinrich Natter. In dem Aufsatze, den er in seinen 1900 erschienenen «Fragmenten» über Natter veröffentlicht hat, steht auch, was Grimm über das Verhältnis Natters zum Österreichertum gedacht hat.
«Wo ich Österreichern begegne, ergreift mich die eingewurzelte Liebe zum Boden des besonderen Vaterlandes und der Drang, sich in geistiger Gemeinschaft mit allen Deutschen emporzuhalten. Sei nur eines dieser Männer diesmal gedacht, Ignaz Zingerles. Seinem unablässigen stillen Wirken verdankt die Walterstatue Natters ihr Dasein. Den Männern unserer früheren Jahrhunderte glich er darin, dass er außerhalb des Bezirkes seiner engsten Heimat kaum denkbar war. Eine Gestalt in einfachen Umrissen aus Treue und Ehrlichkeit wie aus Felsblöcken aufgebaut. Ein Tiroler, als ob seine Berge der Nabel der Erde seien, ein Österreicher durch und durch und zugleich einer der besten und edelsten Deutschen. Und so ist auch Natter ein guter Deutscher, Österreicher und Tiroler, alles gewesen.» Und über das Denkmal Walters von der Vogelweide in Bozen sagt Herman Grimm: «In Natter waren Innigkeit deutschen Gefühls und gestaltende Phantasie vereinigt. Sein Walter von der Vogelweide steht in Bozen als ein Triumphbild deutscher Kunst, aufragend im Kranze der Tiroler Berge an den Grenzmarken des Vaterlandes. Eine männliche feste Gestalt.»
Ich musste dieser Worte Herman Grimms oft gedenken, wenn in mir die Erinnerung lebendig wurde an die prächtige Gestalt des österreichischen Dichters Fercher von Steinwand, der 1902 gestorben ist. Er war «ein guter Deutscher, Österreicher und Kärntner, alles gewesen»; wenn man auch wohl kaum von ihm sagen konnte, dass er «außerhalb des Bezirkes seiner engsten Heimat kaum denkbar war». Ich lernte ihn Ende der achtziger Jahre in Wien kennen und konnte während einer kurzen Zeit mit ihm persönlich verkehren. Er war damals sechzigjährig; eine wahre Lichtgestalt; schon äußerlich; aus edlen Zügen, aus sprechenden Augen, in ausdrucksreichen Gesten offenbarte sich einnehmende Wärme; durch Abgeklärtheit und Besonnenheit hindurch wirkte im Greise noch wie mit Jugendfrische diese Seele. Und lernte man näher kennen diese Seele, ihre Eigenart, ihre Schöpfungen, so sah man, wie in ihr sich vereint hatte die von den Kärntner Bergen zugerichtete Empfindung mit einem zum Sinnen gewordenen Leben in der Kraft des deutschen Weltanschauungs- Idealismus.
Ein Sinnen, das ganz als dichterische Bilderwelt schon in der Seele geboren wird; das mit dieser Bilderwelt in Daseinstiefen weist; das Weltenrätseln sich künstlerisch gegenüberstellt, ohne dass die Ursprünglichkeit des Kunstschaffens sich in Gedankendichtung verblasst, ein solches Sinnen kann man in den folgenden Zeilen aus Fercher von Steinwands «Chor der Urträume» ersehen:
Allen erstiegenen
Räumen entzogen,
Wandelt ein Äther in strahlenden Bogen,
Gehn in verschwiegenen
Tiefen die Wogen.
Dort mit dem sehenden
Willen beladen,
Schwenken sich unsere Fähren in Schwaden,
Zwischen entstehenden
Wundergestaden.
Dort vor den wärmenden
Augen der Milde
Weifen und winden wir unsre Gebilde
Rings um die schwärmenden
Sternengefilde.
Dort, dem Verhängnisse
Nimmer verpflichtet,
Haben wir schwebende Burgen errichtet
Und die Bedrängnisse
Jauchzend vernichtet.
Wer dich mit heiligsten
Zügen beschriebe,
Höchste Behausung der sinnenden Triebe,
Warte der eiligsten
Diener der Liebe!
Die folgenden Strophen wollen offenbaren, wie die Seele im denkend-wachenden Träumen in weiten Sternenwelten und in naher Wirklichkeit lebt; dann fährt der Dichter fort:
Was auch bedächtige
Kräfte vollbringen:
Nur auf des Traumes entfalteten Schwingen
Läßt sich das Mächtige
Bleibend erringen.
Jede bemeisternde
Größe der Taten,
Alle beschirmenden Engel der Saaten
Sind durch begeisternde
Träume beraten.
Vom Eindringen des zum Träumen vergeistigten Denkens in die Weltentiefen singt Fercher von Steinwand weiter – vom Eindringen desjenigen Träumens, das ein Erwachen aus dem gewöhnlichen Wachen ist, in die Tiefen, in denen der Seele das Leben des Geistigen der Welt sich fühlbar machen kann:
Leben, mit schwingendem
Herzen vernommen,
Leben, mit ringendem Herzen erklommen
Unter erklingendem
Geister-Willkommen:
– und dann lässt er es herüberklingen zum Menschengeiste, was die Wesen des Geistesreiches zu der Seele sprechen, die sich ihnen sinnend erschließt –
Seid ihr Genesenen,
Liebend umwunden!
Was ihr gesucht in erhebenden Stunden,
Hier, ihr Erlesenen,
Ist es gefunden;
Hier in erhabenen
Göttlichen Hallen,
Wo dem Gemüt die Gemüter gefallen,
Wo die begrabenen
Stimmen erschallen –
Wo die Bekümmerten
Königlich schreiten,
Leuchtende Seelen ihr Lächeln verbreiten
Um die zertrümmerten
Räder der Zeiten – –
Nur die verblendeten
Irdischen Toren
Sind für den Schlund der Vernichtung geboren,
Geistig vollendeten
Welten verloren!
Wohl dem Empfänglichen,
Den wir beschweben,
Den wir beschwingen zum blühendsten Leben,
Ohne vergänglichen
Schatten zu weben!
An diesen «Chor der Urträume» schließt in den Dichtungen Fercher von Steinwands sich sein «Chor der Urtriebe»:
In den unbegrenzten Breiten
Unsrer alten Mutter Nacht,
Horch – da scheint mit sich zu streiten
Die geheimnisvolle Macht!
Hören wir die Ahnung schreiten?
Ist die Sehnsucht aufgewacht?
Ward ein Geistesblitz entfacht?
Gleiten Träume durch die Weiten?
Wie sich an Kräften die Kräfte berauschen,
Seliges Tauschen!
Plötzliches Eilen,
Stilles Verweilen,
Schwelgendes Lauschen
Wechselt mit Winken
Staunenden Bangens!
Reiz des Erlangens
Steigt, um zu sinken,
Sinkt, um zu hassen,
Weiß vor dem blassen
Bild des Umfangens
Hass nicht zu fassen.
Dunkle Verzweigungen
Sprießender Neigungen
Suchen nach Ranken.
Schwere Gedanken
Dämmern und wanken
Über den Weiten,
Scheinen zu raten
Oder zu leiten.
Was sie bereiten,
Sind es die Saaten
Riesiger Taten,
Strahlender Zeiten?
Wer das Erwühlte
Schöpferisch fühlte!
Wer es durchirrte,
Selig genießend
Oder entwirrte,
Hohes erschließend!
Droben bewegt sich’s
wie Geisterumarmung,
Wir in Erwarmung,
Wir auch gewinnen,
Suchen und sinnen,
Sehn uns gehoben,
Höchstem Beginnen
Glücklich verwoben.
Die uns umwehen,
In uns erstehen:
«Ihr seid’s, Ideen! – – »
So sinnt sich des Dichters Seele in das Erleben hinein, wo des Weltengeistes Ideen des Daseins Geheimnisse dem Seelengeiste künden, und der Seelengeist die übersinnlichen Gestalter des sinnlich Gestalteten schaut.
Nachdem die Schauungen der Seele in dem Chor der Weltenurtriebe in glänzenden, tönenden Bildern dargestellt worden sind, schließt der Dichter:
Mag der Dauer sich gewöhnen,
Was der Drang heraufbeschwor,
Das Verschönen, das Versöhnen
Walt’ im Strom der Schöpfung vor.
Süßes Licht, in holden Tönen
Klimmt das Herz zu dir empor,
Weile vor des Westens Tor,
Hilf die Tat der Liebe krönen!
Ist doch der Trieb aus den irdischen Banden
Seelisch erstanden!
Aber das Mündige,
Herrschende, Bündige,
Weist sich als Geist!
Alles, was kreist,
Irdisch Begründetes,
Himmlisch Entzündetes
Schuf sich im Geist,
Kam aus dem Geist,
Wirkt durch den Geist – –
Schuf doch die mächtige Chaosentrückung
Raum für Beglückung!
Hüllt in den Tau der eratmenden Milde
Wald und Gefilde!
Sorgt, dass zum Tau das Geleucht’ sich geselle,
Sinnig der Saum der Verklärung sich bilde –
Jeglicher Tropfen beschwebe die Schwelle
Geistiger Helle!
In Fercher von Steinwands «sämtlichen Werken» (erschienen bei Theodor Daberkow in Wien) sind auch einige Angaben über sein Leben abgedruckt, die er selbst auf Ersuchen von Freunden aus Anlass seines siebzigsten Geburtstages aufgeschrieben hat. Der Dichter schreibt:
«Ich begann mein Leben am 22. März 1828 auf den Höhen der Steinwand über den Ufern der Möll in Kärnten, also in der Mitte einer trotzigen Gemeinde von hochhäuptigen Bergen, unter deren gebieterischer Größe der belastete Mensch beständig zu verarmen scheint.»
Da man im «Chor der Urtriebe» die Weltanschauung des deutschen Idealismus in dichterische Schöpfung ergossen findet, so ist von Interesse zu sehen, wie der Dichter auf seinen Wegen durch das österreichische Geistesleben schon in der Jugend die Anregung aus dieser Weltanschauung empfängt. Er schildert, wie er an die Grazer Universität kommt:
«Mit meinen Wertpapieren, die natürlich nichts als Schulzeugnisse vorstellten, knapp an der Brust, meldete ich mich in Graz beim Dekan. Das war der Professor Edlauer, ein Kriminalist von bedeutendem Ruf. Er hoffe mich zu sehen (sprach er) als fleißigen Zuhörer in seinem Kollegium, er werde über Naturrecht lesen. Hinter dem Vorhang dieser harmlosen Ankündigung führte er uns das ganze Semester hindurch in begeisternden Vorträgen die deutschen Philosophen vor, die unter der väterlichen Obsorge unserer geistigen Vormünder wohlmeinend durch Verbote ferngehalten worden waren: Fichte, Schelling, Hegel und so weiter, also Helden, das heißt Begründer und Befruchter alles reinen Denkgebietes, Sprachgeber und Begriffsschöpfer für jede andere Wissenschaft, mithin erlauchte Namen, die heutzutage von unseren Gassenecken leuchten und sich dort in ihrer eigentümlichen diamantenen Klarheit fast wunderlich ausnehmen. Dieses Semester war meine vita nuova!»
Wer Fercher von Steinwands Trauerspiel «Dankmar», seine «Gräfin Seelenbrand», seine «Deutschen Klänge aus Österreich» und andres von ihm kennenlernt, wird dadurch vieles von den Kräften empfinden können, die im österreichischen Geistesleben der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wirkten. Und dass man aus Fercher von Steinwands Seele ein Bild aus diesem Geistesleben in Klarheit, Wahrheit und Echtheit empfängt, dafür zeugt das Ganze dieser Persönlichkeit. Der liebenswürdige österreichische Dialektdichter Leopold Hörmann hat recht gefühlt, als er die Worte schrieb:
Fern der Gemeinheit,
Gewinnsucht und Kleinheit;
Feind der Reklame,
Der ekligen Dame;
Deutsch im Gemüte,
Stark und voll Güte,
Groß in Gedanken,
Kein Zagen und Wanken,
Trutz allem Einwand –:
Fercher von Steinwand !
Aus dem österreichischen Geistesleben der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts taucht empor eine Denkergestalt, die tiefbedeutsame Züge des Weltanschauungsinhaltes der neueren Zeit zum Ausdrucke bringt: der Ethiker des Darwinismus Bartholomäus von Carneri.
Ein Denker, der das öffentliche Leben Österreichs wie selbsterlebtes Glück und Leid mitlebte und durch viele Jahre als Reichsratsabgeordneter an diesem Leben mit aller Kraft seines Geistes tätigen Anteil nahm. Carneri könnte zunächst nur als Widersacher einer geistgemäßen Weltanschauung erscheinen. Denn all sein Streben geht dahin, ein Weltbild zu gestalten, das allein durch Vorstellungen zustande kommt, die in der durch den Darwinismus angeregten Gedankenströmung liegen. Aber indem man Carneri liest mit einem Sinn nicht nur für den Inhalt seiner Ansichten, sondern für die Untergründe seiner nach Wahrheit ringenden Seele, wird man eine seltsame Tatsache entdecken.
In diesem Denker malt sich ein fast völlig materialistisches Weltbild, aber mit einer Gedankenklarheit, die dem tiefliegenden idealistischen Grundzug seines Wesens entstammt. Für ihn waren wie für viele seiner Zeitgenossen die Vorstellungen, die in einer ganz auf dem Boden des Darwinismus erwachsenen Weltanschauung wurzeln, mit solch überwältigender Kraft in das Gedankenleben hereingebrochen, dass er nicht anders konnte, als auch alle Betrachtung des Geisteslebens in diese Weltanschauung einbeziehen. Anders als auf den Bahnen, die Darwin gewandelt ist, sich erkennend dem Geiste nahen zu wollen, schien ihm das einheitliche Wesen zu zerreißen, das über alles menschliche Erkenntnisstreben ausgebreitet sein muss. Der Darwinismus hat nach seiner Meinung gezeigt, wie ein einheitlicher Gesetzeszusammenhang von Ursachen und Wirkungen das Werden aller Naturwesen bis herauf zum Menschen umschließt. Wer den Sinn dieses Zusammenhanges versteht, der müsse auch einsehen, wie dieselbe Gesetzmäßigkeit im Menschen die natürlichen Kräfte und Triebe steigert und verfeinert, so dass sie bis zur Höhe der sittlichen Ideale und Anschauungen emporwachsen. Carneri glaubt, dass nur verblendeter Hochmut und irregeleitete Selbstüberschätzung des Menschen das Erkenntnisstreben verführen können, der geistigen Welt mit anderen Erkenntnismitteln nahen zu wollen als der Natur.
Jede Seite in Carneris Schriften über das sittliche Wesen des Menschen beweist aber, dass er in der Art Hegels seine Lebensauffassung ausgestaltet hätte, wenn nicht in einem bestimmten Entwicklungspunkte seines Lebens mit unwiderstehlicher Suggestivkraft der Darwinismus wie ein Blitz in seine Gedankenwelt so eingeschlagen hätte, dass er mit großer Anstrengung die Veranlagung zu einer idealistisch durchgeführten Weltauffassung in sich zum Schweigen brachte. Wohl wäre – auch dies beweisen seine Schriften – diese Weltauffassung nicht durch das bei Hegel waltende reine Denken, sondern durch ein Denken, das von gemütvollem Sinnen durchtönt sich zeigte, zutage getreten: aber Hegels Richtung hätte es doch genommen.
Wie aus verborgenen Tiefen der Seele taucht öfters in Carneris Ausführungen Hegels Vorstellungsart gewissermaßen mahnend auf.
Auf Seite 79 der «Grundlegung der Ethik» liest man:
«Bei Hegel … war an die Stelle des Kausalgesetzes die dialektische Bewegung getreten, ein Riesengedanke, der, wie die Titanen alle, dem Schicksal der Überhebung nicht entrinnen konnte. Sein Monismus wollte den Olymp erstürmen und sank zurück auf die Erde, aber um allem künftigen Denken eine Leuchte zu bleiben, die den Weg erhellt und auch den Abgrund.»
Auf Seite 154 desselben Buches spricht Carneri von dem Wesen des Griechentums und sagt davon:
«Wir gedenken da nicht der mythischen Heroenzeit, auch nicht der Zeiten Homers … Wir versetzen uns in den Glanzpunkt der Jahre, die Hegel so treffend als das Jünglingsalter der Menschheit geschildert hat.»
Auf Seite 189 kennzeichnet Carneri die Versuche, die gemacht worden sind, um die Denkgesetze zu ergründen und bemerkt:
«Das großartigste Beispiel dieser Art ist Hegels Versuch, den Gedanken, sozusagen, ohne durch den Denkenden bestimmt zu werden, sich entfalten zu lassen. Dass er darin zu weit gegangen ist, hindert den Unbefangenen nicht, diesen Versuch, allem körperlichen und geistigen Werden ein einziges Gesetz zum Grunde zu legen, als den herrlichsten in der ganzen Geschichte der Philosophie anzuerkennen. Seine Verdienste um die Ausbildung des deutschen Denkens sind unvergänglich, und ihm hat mancher begeisterte Schüler, der später sein erbitterter Gegner geworden ist, in der Vollendung der durch ihn erworbenen Darstellungsweise wider Willen ein dauerndes Denkmal gesetzt.»
Auf Seite 421 liest man: «wieweit man im Philosophieren» mit dem bloßen sogenannten gesunden Menschenverstande «kommt, hat in unübertrefflicher Weise Hegel uns gesagt».
Nun, man kann meinen, dass auch Carneri selbst Hegel «in der Vollendung der durch ihn erworbenen Darstellungsweise … ein dauerndes Denkmal gesetzt» hat, wenn er auch diese Darstellungsweise auf ein Weltbild angewendet hat, dem Hegel wohl nie zugestimmt hätte. Aber auf Carneri hat der Darwinismus mit solcher Suggestivkraft gewirkt, dass er Hegel neben Spinoza und Kant zu den Denkern zählt, von denen er sagt:
«Die Aufrichtigkeit seines (Carneris) Strebens würden sie gelten lassen, das nie gewagt hätte, über sie hinauszublicken, hätte nicht Darwin den Schleier zerrissen, der die gesamte Schöpfung umnachtete, so lang die Zweckmäßigkeitslehre unabweisbar war. Dieses Bewusstsein haben wir, aber auch die Überzeugung, dass jene Männer manches gar nicht oder anders gesagt hätten, wäre es ihnen gegönnt gewesen, in unserer Zeit zu leben, mit der befreiten Naturwissenschaft ….».
Carneri hat eine Spielart des Materialismus ausgebildet, in welcher oft der Scharfsinn in Naivität, die Einsicht in die «befreite Naturwissenschaft» in Blindheit gegen die Unmöglichkeit der eigenen Begriffe ausartet.
«Als Materie fassen wir den Stoff, insofern die aus seiner Teilbarkeit und Bewegung sich ergebenden Erscheinungen körperlich, d. i. als Masse auf unsere Sinne wirken. Geht die Teilung oder Differenzierung so weit, dass die daraus sich ergebenden Erscheinungen nicht mehr sinnlich, sondern nur mehr dem Denken wahrnehmbar sind, so ist die Wirkung des Stoffs eine geistige» (Carneris Grundlegung der Ethik, Seite 30).
Das ist so, wie wenn jemand das Lesen erklären wollte, und folgendes sagte: Solange jemand nicht lesen gelernt hat, kann er nicht sagen, was auf einer geschriebenen Buchseite steht. Denn seinem Anblick zeigen sich nur die Buchstabenformen. Solange er nur diese Buchstabenformen, in welche die Worte teilbar sind, anschauen kann, führt sein Betrachten des Bedruckten nicht zum Lesen. Erst wenn er dazu gelangt, auch die Buchstabenformen noch weiter geteilt oder differenziert wahrzunehmen, wirkt der Sinn des Gedruckten auf seine Seele.
Selbstverständlich wird ein überzeugter Bekenner des Materialismus einen solchen Einwand lächerlich finden. Allein eben darin liegt die Schwierigkeit, den Materialismus in das rechte Licht zu setzen, dass man dabei solch einfache Gedanken aussprechen muss.
Gedanken, denen gegenüber es kaum glaubhaft ist, dass sie die Anhänger des Materialismus sich nicht selber bilden. Und so fällt leicht auf den Beleuchter dieser Weltanschauung das Vorurteil, dass er mit nichtssagenden Redensarten einer Auffassung begegne, die auf den Erfahrungen der neueren Wissenschaft und auf deren strengen Grundsätzen beruhe. (1)
Und doch ergibt sich die stark überzeugende Kraft des Materialismus für dessen Bekenner nur dadurch, dass er die Tragkraft der einfachen Vorstellungen, die seine Auffassung vernichten, nicht zu empfinden vermag. Er ist überzeugt – wie so viele – nicht durch das Licht von logischen Gründen, die er durchschaut hat, sondern durch die Macht von Denkgewohnheiten, die er nicht durchschaut; ja, die zu durchschauen er zunächst kein Bedürfnis empfindet.
Aber Carneri unterscheidet sich von solchen Materialisten, die von diesem Bedürfnis kaum etwas ahnen, doch dadurch, dass sein Idealismus ihm dasselbe fortwährend in das Bewusstsein hereinträgt und er es deshalb oft auf recht künstliche Art zum Schweigen bringen muss. Kaum hat er sich dazu bekannt, dass das Geistige eine Wirkung des fein zerteilten Stoffes sei, so setzt er sogleich hinzu:
«Gar manchen Ansprüchen gegenüber wird diese Auffassung des Geistes eine unbefriedigende sein; jedoch im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird der Wert unserer Auffassung als ein bedeutender sich erweisen, und als ganz genügend, um den Materialismus, der die Erscheinungen des Geistes körperlich anfassen will, auf die Unübersteiglichkeit seiner Schranken aufmerksam zu machen.» (Grundlegung der Ethik, Seite 30.)
Ja, Carneri hat eine wahre Scheu davor, zu den Materialisten gezählt zu werden; er wehrt sich dagegen mit Worten, wie diesen:
«Der starre Materialismus ist genau so einseitig wie die alte Metaphysik: jener bringt es zu keinem Sinn für seine Gestaltung, diese zu keiner Gestaltung für ihren Sinn; dort ist eine Leiche, hier ein Gespenst, und wonach beide vergebens ringen, ist die schöpferische Glut des empfindenden Lebens.» (Grundlegung der Ethik, Seite 68.)
Nun fühlt aber Carneri doch, wie berechtigt es ist, ihn einen Materialisten zu nennen; denn zuletzt wird doch niemand mit gesunden Sinnen, auch wenn er sich zum Materialismus bekennt, behaupten, dass ein sittliches Ideal sich «körperlich anfassen» lässt, um Carneris Ausdruck zu gebrauchen.
Er wird nur sagen, das sittliche Ideal erscheint an dem Materiellen durch einen Vorgang an diesem. Und das spricht doch auch Carneri aus mit der angeführten Behauptung über die Teilbarkeit des Stoffes. Aus diesem Gefühle heraus sagt er denn (in seiner Schrift «Empfindung und Bewusstsein»):
«Man wird gegen uns den Vorwurf des Materialismus erheben, insofern wir allen Geist leugnen und nur die Materie gelten lassen. Dieser Vorwurf trifft aber nicht zu, sobald von der Idealität des Weltbildes ausgegangen wird, für welche die Materie selbst nichts ist als ein Begriff des denkenden Menschen.»
Nun aber fasse man sich an den Kopf und fühle, ob er noch ganz ist, nachdem man solchen Begriffstanz mitgemacht hat! Der Stoff wird zur Materie, wenn er so grob zerteilt ist, dass er nur «als Masse auf die Sinne» wirkt; zum Geist, wenn er so fein zerteilt ist, dass er nur mehr dem «Denken wahrnehmbar» ist. Und die Materie, das heißt der grob zerteilte Stoff ist doch nur «ein Begriff des denkenden Menschen». Mit der groben Zerteilung bringt es also der Stoff zu nichts anderem, als zu der ja für einen Materialisten bedenklichen Rolle eines menschlichen Begriffes; zerteilt er sich aber feiner, so wird er Geist. Dann müsste sich ja doch der bloße menschliche Begriff feiner zerteilen.
Nun aber mache doch solche Weltanschauung sogleich den Helden, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Wasser zieht, zum Musterbilde aller Wirklichkeit!
Man kann es begreifen, dass ein anderer österreichischer Denker, F. von Feldegg (in den «Deutschen Worten» vom November 1894), Carneri die Worte entgegenhielt:
«Sobald von der Idealität des Weltbildes ausgegangen wird! Welche, bei aller gezwungenen Verschrobenheit des Gedankens, willkürliche Supposition! Ja, hängt denn dies so ganz von unserem Belieben ab, ob wir von der Idealität des Weltbildes oder etwa von dem Gegenteil – also wohl von seiner Realität ausgehen? Und vollends die Materie soll für diese Idealität nichts als ein Begriff des denkenden Menschen sein? Das ist ja der absoluteste Idealismus, etwa Hegels, welcher hier Beistand leisten soll, dem Vorwurfe des Materialismus zu begegnen; aber es geht nicht an, sich im Augenblicke der Not an denjenigen zu wenden, den man bis dahin hartnäckig verleugnet hat. Und wie will Carneri dieses idealistische Bekenntnis mit allem vereinigen, was sonst in seiner Schrift enthalten? In der Tat gibt es dafür nur eine Erklärung, und die ist die: Auch Carneri bangt vor und – gelüstet nach dem Transzendenten. Das ist aber eine Halbheit, die sich bitter rächt. Carneris ‹Monistische Bedenken› zerfallen solcherart in zwei heterogene Teile, in einen grob materialistischen Teil und in einen versteckt idealistischen. In dem ersteren behält des Verfassers Kopf recht, denn es lässt sich nicht leugnen, dass er bis über den Scheitel im Materialismus versunken ist; im letzteren dagegen wehrt sich des Verfassers Gemüt mit der Macht jenes metaphysischen Zaubers, dem selbst in unserer grobsinnlichen Zeit edlere Naturen sich nicht völlig zu entziehen vermögen, gegen die plumpen Forderungen des rationalistischen Modedünkels.»
Und trotz alledem: Carneri ist eine bedeutende Persönlichkeit, von der gesagt werden darf (was ich in meinem Buche «Rätsel der Philosophie», 2. Band andeutete):
«Weite Perspektiven der Weltanschauung und Lebensgestaltung suchte aus dem Darwinismus heraus dieser österreichische Denker zu eröffnen. Er trat elf Jahre nach dem Erscheinen von Darwins ‹Entstehung der Arten› mit seinem Buche ‹Sittlichkeit und Darwinismus› hervor, in dem er in umfassendster Weise die neue Ideenwelt zur Grundlage einer ethischen Weltanschauung machte. Seitdem war er unablässig bemüht, die Darwinistische Ethik auszubauen. Carneri versucht in dem Bilde der Natur die Elemente zu finden, durch welche sich das selbstbewusste Ich innerhalb dieses Bildes vorstellen lässt. Er möchte dieses Naturbild so weit und groß denken, dass es die menschliche Seele mit umfassen kann.»
Carneris Schriften scheinen mir nämlich überall durch ihren eigenen Charakter dazu herauszufordern: aus ihrem Inhalte alles hinwegzutilgen, wozu sich deren Verfasser gezwungen hat, indem er sich unter das Joch der materialistischen Weltanschauung begab; und nur auf das zu blicken, was in ihnen als Offenbarung eines groß angelegten Menschen, wie eine elementarische Eingebung seines Gemütes erscheint. Man lese von einer solchen Voraussetzung aus, wie er sich die Aufgabe der Erziehung zu wahrer Menschlichkeit denkt:
«Aufgabe der Erziehung ist es …, den Menschen derart heranzubilden, dass er das Gute tun muss. Dass darunter die Menschenwürde nicht leidet, dass vielmehr die harmonische Entwicklung des Wesens, das seiner Natur nach freudig das Edle und Große vollbringt, eine ethische Erscheinung ist, die schöner nicht gedacht werden kann … Möglich wird die Lösung dieser herrlichen Aufgabe durch das Glückseligkeitsstreben, zu dem sich im Menschen der Selbsterhaltungstrieb läutert, sobald sich die Intelligenz voll entwickelt. Das Denken beruht auf Empfindung und ist nur die andere Seite des Gefühls, weshalb alles Denken, was nicht an der Wärme des Gefühls zur Reife gelangt, wie alles Fühlen, das nicht am Lichte des Denkens sich klärt, einseitig ist. Sache der Erziehung ist es, durch die übereinstimmende Entwicklung des Denkens und Fühlens das Streben nach Glückseligkeit zu läutern, so dass das Ich im Du seine natürliche Erweiterung, im Wir seine notwendige Vollendung erblickt, der Egoismus den Altruismus als seine höhere Wahrheit erkennt … Nur vom Standpunkt des Glückseligkeitstriebes ist es erklärlich, dass einer für ein geliebtes Wesen oder einen erhabenen Zweck sein Leben hingibt: er sieht eben darin sein höheres Glück. Sein wahres Glück suchend, gelangt der Mensch zur Sittlichkeit; allein er hat dazu erzogen, so erzogen zu sein, dass er gar nicht anders kann. Er findet im beseligenden Gefühl des Adels seiner Tat den schönsten Lohn und fordert nicht mehr.» (Vergleiche Carneris Buch: Der moderne Mensch. Einleitung.)
Man sieht: Carneri hält das Glückseligkeitsstreben, wie er es ansieht, für eine naturgemäße Kraft in der wahren Menschennatur, für eine Kraft, die sich unter den rechten Bedingungen entfalten muss, wie sich ein Pflanzenkeim entfaltet, wenn er dazu die Bedingungen hat. Wie der Magnet durch die ihm eigene Wesenheit die Anziehungskraft hat, so das Tier den Selbsterhaltungstrieb, und so der Mensch den Glückseligkeitstrieb. Man braucht auf die menschlichen Wesen nichts aufzupfropfen, um sie zur Sittlichkeit zu führen; man braucht nur ihren Glückseligkeitstrieb recht zu entwickeln, so entfalten sie sich durch diesen zur wahren Sittlichkeit.
Carneri betrachtet in Einzelheiten die verschiedenen Äußerungen des Seelenlebens: wie die Empfindung dieses Leben anregt oder abstumpft; wie die Affekte, die Leidenschaften wirken: und wie in all dem der Glückseligkeitstrieb sich entfaltet. Diesen setzt er in allen diesen Seelenäußerungen als deren eigentliche Grundkraft voraus. Und dadurch, dass er diesem Begriffe von Glückseligkeit einen weiten Sinn gibt, fällt allerdings für ihn alles Wünschen, Wollen und Tun der Seele in dessen Bereich. Wie der Mensch ist, das hängt davon ab, welches Bild ihm von seinem Glücke vorschwebt: der eine sieht sein Glück in der Befriedigung niederer Triebe, der andere in den Taten hingebungsvoller Liebe und Selbstverleugnung. Wenn von jemand gesagt würde: der strebt nicht nach Glück, der tut nur selbstlos seine Pflicht, so würde Carneri einwenden: gerade darin besteht seine Glücksempfindung, dem Glücke nicht bewusst nachzujagen.
Aber mit solch einer Erweiterung des Begriffes von Glückseligkeit offenbart Carneri den durchaus idealistischen Grundton seiner Weltanschauung. Denn ist für verschiedene Menschen das Glück etwas ganz Verschiedenes, so kann die Sittlichkeit nicht in dem Streben nach Glück liegen; sondern es liegt die Tatsache vor, dass der Mensch seine Fähigkeit, sittlich zu sein, als ihn beglückend empfindet. Es wird dadurch das menschliche Streben nicht aus dem Gebiete der sittlichen Ideale herabgezogen in das Begehren des Glückes, sondern es wird als im Wesen des Menschen liegend erkannt, im Erringen der Ideale sein Glück zu sehen.
«Unserer Überzeugung nach» – sagt Carneri – «hat die Ethik sich zu begnügen mit der Darlegung, dass der Weg des Menschen der Weg zur Glückseligkeit ist, und dass der Mensch, den Weg zur Glückseligkeit wandelnd, zu einem sittlichen Wesen heranreift.» (Grundlegung der Ethik, Seite 423.)
Wer nun glaubt, dass durch solche Ansichten Carneri die Ethik darwinistisch machen will, der lässt sich täuschen durch die Ausdrucksweise dieses Denkers. Diese ist erzwungen durch die überwältigende Kraft der in seinem Zeitalter herrschenden naturwissenschaftlichen Vorstellungsart. In Wahrheit will Carneri nicht die Ethik darwinistisch, sondern den Darwinismus ethisch machen. Er will zeigen, dass man den Menschen in seiner wahren Wesenheit nur zu erkennen braucht, wie der Naturforscher ein Naturwesen zu erkennen sucht, dann findet man in ihm nicht ein Natur-, sondern ein Geistwesen. Darin liegt Carneris Bedeutung, dass er den Darwinismus in eine geistgemäße Weltanschauung einfließen lassen will. Und damit ist er einer der bedeutenden Geister der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Man versteht die durch die naturwissenschaftlichen Einsichten dieses Zeitalters an die Menschheit gestellten Forderungen nicht, wenn man gleich denen denkt, die alles Erkenntnisstreben in Naturwissenschaft aufgehen lassen wollen.
Gleich denen, die bis gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts sich Bekenner des Materialismus nannten, aber auch gleich denen, die es heute in Wirklichkeit nicht weniger sind, wenn sie auch immer von neuem versichern, dass der Materialismus von der Wissenschaft «längst überwunden sei». Gegenwärtig nennen sich viele nur deshalb nicht Materialisten, weil ihnen die Fähigkeit mangelt, einzusehen, dass sie es sind. Man kann geradezu sagen, jetzt beruhigen sich manche Menschen über ihren Materialismus dadurch, dass sie sich vortäuschen, sie hätten nach ihren Ansichten nicht mehr nötig, sich Materialisten zu nennen. Man wird sie trotzdem so bezeichnen müssen. Den Materialismus hat man damit noch nicht überwunden, dass man die Ansicht einer Reihe von Denkern der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ablehnt, die alle geistigen Erlebnisse für bloße Stoffwirkung hielten; sondern nur dadurch, dass man sich darauf einlässt, über das Geistige in dem Sinne geistgemäß zu denken, wie man über die Natur naturgemäß denkt. Was damit gemeint ist, geht schon aus den vorangehenden Ausführungen dieser Schrift hervor, wird sich aber noch besonders zeigen in den als «Ausblick» gedachten Schlussbetrachtungen.
Aber man wird den erwähnten Forderungen auch nicht gerecht, wenn man eine Weltanschauung gegen die Naturwissenschaft begründet, und sich nur ergeht in Ablehnungen der «rohen» Vorstellungen des «Materialismus». Es muss seit Gewinnung der naturwissenschaftlichen Einsichten des neunzehnten Jahrhunderts jede geistgemäße Weltanschauung, die ihrem Zeitalter entsprechen will, diese Einsichten als ein Glied in ihre Gedankenwelt aufnehmen.
Und dieses hat Carneri kraftvoll erfasst, und durch seine Schriften eindringlich ausgesprochen. Dass ein echtes Verständnis der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungen nicht zur Befestigung, sondern zur wahren Überwindung des Materialismus führt, das konnte Carneri, der die ersten Schritte auf dem Wege dieses Verständnisses machte, noch nicht voll einsehen. Deshalb war er der Meinung, um noch einmal an die Worte Brentanos zu erinnern (vergleiche S. 53 dieser Schrift), «dass für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles, über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen» von der neueren Wissenschaft keine Erfüllung zu erwarten sei. Wer aber sich in Carneris Gedanken so vertieft, dass er nicht nur den Inhalt derselben hinnimmt, sondern auf den Erkenntnisweg blickt, auf dem dieser Denker nur die ersten Schritte machen konnte, der wird finden, dass durch ihn, nach einer anderen Richtung hin, für die Fortbildung der Weltanschauung des deutschen Idealismus etwas Ähnliches geschehen ist wie durch Troxler, Immanuel Hermann Fichte und andere nach der in dieser Schrift gekennzeichneten Richtung hin.
Diese Geister suchten mit den Kräften des Hegelschen Denkens nicht bloß in den versinnlichten Geist, sondern auch in dasjenige Geistgebiet einzudringen, das sich in der Sinneswelt nicht offenbart. Carneri strebt dahin, mit einer geistgemäßen Lebensanschauung an die naturwissenschaftliche Vorstellungsart sich hinzugeben. Die weitere Verfolgung des von diesen Denkern empfundenen Weges kann zeigen, dass die Erkenntniskräfte, an die sie sich gewandt haben, die «Hoffnungen eines Platon und Aristoteles über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes» nicht vernichten, sondern ihnen eine feste Wissensgrundlage geben werden.
Es ist sicherlich einerseits berechtigt, wenn der schon genannte F. v. Feldegg (Deutsche Worte, vom November 1894) anknüpfend an den Konflikt, in den Carneri gegenüber Idealismus und Materialismus hineingestellt war, sagt: «Aber die Zeit ist nicht mehr ferne, in welcher dieser Konflikt nicht etwa bloß im einzelnen Individuum, sondern im ganzen Kulturbewusstsein zum Austrag kommen wird. Aber die ‹Bedenken› Carneris sind vielleicht ein vereinzelter Vorläufer ganz anderer und gewaltigerer ‹Bedenken›, welche dann, gleich einem Sturme heranbrausend, hinwegfegen werden, was an unserem ‹wissenschaftlichen› Glaubensbekenntnisse bis dahin noch nicht der Selbstzersetzung verfallen sein wird.» Anderseits aber kann anerkannt werden, dass Carneri durch die Art, wie er den Darwinismus für die Ethik verarbeitete, zugleich einer der ersten Überwinder der darwinistischen Denkart geworden ist.
*
Carneri war eine Persönlichkeit, bei der das Denken über die Fragen des Daseins allem ihrem Wirken und Arbeiten im Leben das Gepräge gab. Keiner von denen, die zum «Philosophen» werden, indem sie die gesunden Wurzeln der Lebenswirklichkeit in sich verdorren lassen. Sondern einer von denen, welche den Beweis liefern, dass wirklichkeitsgemäßes Erforschen des Lebens praktischere Menschen erzeugen kann, als das ängstliche, aber auch bequeme Sich-Fernhalten von jeder Idee und das starrsinnige Pochen darauf, dass man sich die «wahre» Lebenspraxis nicht durch Begriffsträumereien verderben lassen dürfe.
Carneri war österreichischer Volksvertreter, von 1861 ab im steierischen Landtag, von 1870 bis 1891 im Reichsrat. Ich muss oft noch jetzt denken an den herzerhebenden Eindruck, den ich empfing, wenn ich als junger fünfundzwanzigjähriger Lebensanfänger von der Galerie des Wiener Reichsrates Carneri reden hörte. Ein Mann stand da unten, der Österreichs Lebensbedingungen, der die aus der Entwicklung von Österreichs Kultur und aus den Lebenskräften seiner Völker entstandenen Verhältnisse tief in seine Gedanken aufgenommen hatte, und der, was er zum Ausdruck brachte, von jener hohen Warte aus sprach, auf die ihn seine Weltanschauung gestellt hatte. Und bei alledem, niemals ein blasser Gedanke; immer herzenswarme Töne; immer Ideen, die wirklichkeitsstark waren; nicht die Worte eines bloß denkenden Kopfes; sondern die Offenbarungen eines ganzen Menschen, der Österreich in der eigenen Seele pulsierend fühlte und dieses Gefühl geklärt hatte durch die Idee:
«Ganz wird die Menschheit ihren Namen erst verdienen und auf der Bahn der Sittlichkeit wandeln, wenn sie keinen anderen Kampf kennt, denn Arbeit, keinen anderen Schild, denn Recht, keine andere Waffe, denn Intelligenz, kein anderes Banner, denn Zivilisation.» (Carneri, Sittlichkeit und Darwinismus, Seite 508.)
Versucht habe ich zu zeigen, wie ein sinniger Idealismus die fest in der Wirklichkeit stehende Wurzel in Carneris Seelenleben ist; wie aber auch – überwältigt von einer materialistischen Zeitanschauung – dieser Idealismus neben einem Denken einhergeht, dessen Widersprüche zwar empfunden, aber nicht völlig gelöst werden. Ich glaube, dass dies in der Form, wie es bei Carneri auftritt, auf einer besonderen Eigenart beruht, welche das Volkstum in Österreich leicht der Seele aufdrücken kann.
Einer Eigenart, die – wie mir scheint – auch selbst den Deutschen außerhalb Österreichs nur schwer verständlich ist. Man kann sie vielleicht nur empfinden, wenn man selbst aus österreichischer Volksart herausgewachsen ist. Durch die Entwicklung des österreichischen Lebens seit Jahrhunderten ist sie bedingt. Man wird da durch die Erziehung in ein anderes Verhältnis gebracht zu den Äußerungen des unmittelbaren Volkstums als in deutschen Gebieten außerhalb Österreichs. Was man durch die Schule aufnimmt, trägt Züge, die nicht in solch unmittelbarer Art eine Umwandlung dessen sind, was man aus dem Volkstum heraus erlebt wie bei den Deutschen Deutschlands. In Fichtes höchsten Gedankenentfaltungen lebt etwas, worin sich eine unmittelbare Fortsetzung erkennen lässt des Volkstümlichen, das in seinem mitteldeutschen Vaterlande gewirkt hat, im Hause des Bauern und Bandwirkers Christian Fichte. In Österreich trägt oft, was man durch Erziehung und Selbsterziehung in sich entwickelt, weniger solche unmittelbar bodenständige Züge. Es lebt das Bodenständige mehr mittelbar, wenn auch deshalb oft nicht weniger stark. Man trägt einen Konflikt der Empfindungen in der Seele, der in seinem unbewussten Wirken den Lebensäußerungen die besondere österreichische Färbung gibt.
Als Beispiel eines Österreichers mit dieser Seelenart möchte ich die Persönlichkeit Missons ansehen, eines der bedeutendsten österreichischen Dialektdichter. Gewiss, Dialektdichtung ist aus ähnlichen Seelenuntergründen wie bei Misson auch bei anderen Deutschen erstanden. Bei ihm ist aber das Eigentümliche, dass er durch den angedeuteten Zug im Seelenleben vieler Österreicher zum Dialektdichter geworden ist.
Joseph Misson ist zu Mühlbach im niederösterreichischen Viertel unterm Mannhardtsberg 1803 geboren; er machte die Schule in Krems durch und trat in den Orden der frommen Schulen ein. Er wirkte als Gymnasiallehrer in Horn, Krems, Wien. 1850 erschien von ihm eine Perle aller österreichischen Mundart-Dichtung: «Da Naaz, a niederösterreichischer Bauernbui, geht in d’Fremd.» (Der Ignaz, ein niederösterreichischer Bauernjunge, geht in die Fremde.) Sie ist unvollendet herausgegeben. (Der Probst Karl Landsteiner hat später in einem schönen Büchelchen über Misson geschrieben, und die unvollendete Dichtung wieder gedruckt.)
Karl Julius Schröer sagt darüber (1875), wie ich meine, treffend:
«So klein die Dichtung ist und so vereinzelt sie geblieben ist, indem Misson nichts weiter veröffentlicht hat, so verdient sie doch hervorgehoben zu werden. Sie nimmt unter den mundartlichen Dichtungen Österreichs den ersten Rang ein. Die epische Ruhe, die über das Ganze ausgegossen ist, die meisterhafte Schilderung im einzelnen, die uns fortwährend fesselt und uns durch ihre Wahrheit überrascht und erquickt, sind Eigenschaften, in denen kein Zweiter Misson gleichkommt.»
Das Antreten der Wanderschaft eines niederösterreichischen Bauernjungen stellt Misson dar. Eine unmittelbar wahrheitgetragene Offenbarung niederösterreichischen Volkstums lebt in der Dichtung. Misson lebte in seiner durch Erziehung und Selbsterziehung errungenen Gedankenwelt. Dieses Leben stellte die eine Seite seiner Seele dar. Das war keine unmittelbare Fortsetzung des Lebens, das in seinem Niederösterreichertum wurzelte. Aber gerade darum trat, wie ohne Zusammenhang mit dieser Seite seelischen Erlebens – in seinem Gemüte das wahrste Bild seines Volkstums wie aus Seelenuntergründen auf, und stellte sich als die andere Seite inneren Erlebens hin. Der Zauber des unmittelbar Volkstümlichen von Missons Dichtung ist eine Wirkung der «zwei Seelen in seiner Brust». Ich werde ein Stück dieser Dichtung hier folgen lassen, und dann in möglichst getreuer, anspruchsloser hochdeutscher Prosa die niederösterreichische Mundart wiedergeben.
(Ich werde bei dieser Wiedergabe nur darauf achten, dass der Sinn der Dichtung empfindungsgemäß voll herauskommt. Wenn man bei solcher Übertragung einfach das Mundartwort durch das entsprechende hochdeutsche ersetzt, so wird im Grunde die Sache verfälscht. Denn das Mundartwort entspricht oft einer ganz anderen Empfindungsfärbung als das entsprechende hochdeutsche.)
Lehr vo main Vodern auf d’Roas
Naaz, iazn loos, töös, wos a ta so, töös sockt ta tai Voda.
Gottsnom, wails scho soo iis! und probiast tai Glück ö da Waiden.
Muis a da sogn töös, wo a da so, töös los der aa gsackt sai.
Ih unt tai Muida san olt und tahoam, woast as ee, schaut nix außa.
Was ma sih schint und rackert und plockt und obi ta scheert töös
Tuit ma für d’Kiner, wos tuit ma nöd olls, bolds’ nöd aus der Ort schlog’n! –
I is ma aamol a preßhafts Leut und san schwari Zaiden,
Graif an s’am aa, ma fint töös pai ortlinga rechtschoffan Kinern,
Gern untern Orm, auf taas mer d’Ergiibnus laichter daschwingan. –
Keert öppa s Glück pal dia ai, soo leeb nöd alla Kawallaa.
Plaib pain ann gleicha, Mittelstroß goldas Moß, nöd üwa t’Schnua haun.
S’ Glück iis ja kugelrund, kugelt so laicht wida toni wia zuuaha.
Geets owa gfalt und passiat der an Unglück, socks nöd ön Leuden.
Tui nix taglaicha, loß s goa nöd mirka, sai nöd goa z kloanlaud.
Klock’s unsan Heagoot, pitt’en, iih so ders, er mochts wida pessa!
Mocka’r und hocka’r und pfnotten und trenzen mit den kimt nix außa.
Kopfhängad, grod ols won amt’ Heana s Prot häden gfressa:
Töös mochts schlimmi nöd guit, gidanka’r ös Guidi no pessa!
Schau auf tai Soch, wost miit host, denk a wenk füri aufs künfti! –
Schenkt ta w’ea wos, so gspraiz ti nöd, nimms und so dafüa: gelts Goot!
Schau Naaz, mirk ta dos fai: weng da Höflikeit iis no koans gstroft woan! –
Holt ti nea ritterla, Fremd zügelt t’Leud, is a Sprichwoat, a Worwoat.
Los ti no glai ö koan Gspül ai, keer di nöd fainl nochn Tonzplotz.
Los ta ka Koatn nöd aufschlogn, suich da tai Glük nöd in Trambuich.
Gengan zween Wö unt tar oani is naich, so gee du en olden.
Geet oana schips, wos aa öftas iis, so gee du en groden –
Schau auf tain Gsund, ta Gsund iis pai olln no allwail tos Pessa.
So mer, wos hot tenn aa Oans auf da Welt, sobolds nöd ön Gsund hod
Kimst a mol hahm und tu findst ö ten Stübl uns oldi Leud nimma,
Oft samma zebn, wo tai Aenl und Aanl mit Freuden uns gewoaten,
Unsari Guittäter finten und unsa vastoabani Freundschoft!
Olli, sö kenan uns glai – und töös, Naaz, töös is dos Schöner!»
Wiedergabe:
Eine Lehre von meinem Vater für die Wanderschaft
Ignaz, nun höre zu, das, was ich dir sage, das sagt dir dein Vater.
In Gottes Namen, weil es doch so sein muss, und du dein Glück in der weiten Welt versuchen sollst,
Deshalb muss ich dir das sagen, und was ich dir sage, das beherzige wohl.
Ich und deine Mutter sind alt und zu Hause geblieben; du weißt, dabei kommt nichts heraus.
Man schindet sich viel, müht sich ab, arbeitet hart und schwächt sich sorgend durch Arbeit –
Man tut dies den Kindern zu Liebe; was möchte man nicht alles tun, sobald sie nicht auf falsche Wege geraten.
Ist man später schwach und kränklich geworden, und kommen schwere Zeiten
Springen sie uns auch liebevoll, man findet solches bei ordentlichen, rechtschaffenen Kindern,
Helfend bei, damit man eine Erleichterung habe, zu leisten, was der Staat und das Leben verlangen.
Sollte etwa das Glück bei dir einkehren, so leb nicht wie ein Kavalier.
Bleibe so, wie du warst, bei dem goldenen Maß der Mittelstraße, weiche nicht ab von dem rechten Lebenswege.
Das Glück ist rund wie eine Kugel; es rollt ebenso leicht von uns weg, wie zu uns.
Gelingt etwas nicht, oder trifft dich ein Unglück, so sprich davon nicht zu den Menschen.
Bleib’ gelassen; lasse dir nichts anmerken; sei nicht kleinmütig;
Klage alles nur Gott; bitte ihn; ich sage dir, er macht alles wieder besser!
Bekümmert tun, sich zurückziehn, saure Gesichter machen, weinerlich sein: dadurch wird nichts erreicht.
Den Kopf hängen lassen, als ob einem die Hühner das Brot weggegessen hätten:
Das bessert nichts Schlimmes, geschweige denn macht es das Gute noch besser!
Bewahre deinen Besitz, den du mit dir nimmst; sorge ein wenig für die Zukunft.
Schenkt dir jemand etwas, so nimm es, ohne dich zu zieren, und sage dafür: vergelte es Gott! –
Beachte, Ignaz; und erinnere dich daran wohl: der Höflichkeit wegen ist noch niemand bestraft worden! –
Zeige dich nicht widerborstig, die Fremde macht den Menschen bescheiden; dies ist ein Sprichwort und ein Wahrwort.
Lasse dich nicht zum Spielen verführen; mache dir nicht zu viel aus dem Tanzplatz.
Lasse dir nicht die Karten legen; und suche dein Schicksal nicht nach dem Traumbuch.
Gehen zwei Wege, und einer ist neu, so gehe du den alten.
Geht einer ungerade, was des öfteren ist, so gehe du den geraden.
Behüte deine Gesundheit; die Gesundheit ist von allen Gütern das bessere.
Gestehe mir doch zu: was besitzt man in der Welt wirklich, wenn man nicht die Gesundheit hat?
Kommst du einst nach Hause, und findest du uns alte Leute nicht mehr in diesem Stübchen,
Dann sind wir da, wo dein Großvater und deine Großmutter in Freuden uns erwarten,
Wo uns unsere Wohltäter finden und unsere verstorbenen Verwandten!
Alle werden uns sogleich wiedererkennen – und dies, Ignaz, ist etwas sehr Schönes.
Karl Julius Schröer schreibt 1879 von diesem Österreicher, aus dessen gelehrter Seele das Bauernleben, aber auch, wie gerade das angeführte Stück seiner Dichtung zeigt, die urwüchsige Bauernphilosophie – so prächtig auftauchte:
«Sein Talent fand keine Aufmunterung. Obwohl er noch mancherlei dichtete, verbrannte er seine sämtlichen Dichtungen… und nun lebt er, als Bibliothekar des Piaristenkollegiums bei St. Thekla auf der Wieden in Wien, abgeschieden von allem Umgang nach seinem eigenen Ausspruch ‹ohne Freud und Leid›.»
Wie Joseph Misson muss man viele Persönlichkeiten des österreichischen Geisteslebens in verborgenen Lebenslagen suchen.
Misson kann nicht als Denker unter den in dieser Schrift geschilderten Persönlichkeiten in Betracht kommen. Doch wenn man sich sein Seelenleben vorstellt, so gibt dies ein Verständnis für die besondere Färbung der Ideen österreichischer Denker. Die Gedanken Schellings, Hegels, Fichtes, Plancks gestalten sich plastisch auseinander wie die Glieder eines Gedankenorganismus. Der eine Gedanke wächst aus dem andern heraus. Und in der Physiognomie dieses ganzen Gedanken-Organismus erkennt man ein Volkheitmäßiges.
Bei den österreichischen Denkern steht mehr ein Gedanke neben dem andern; und ein jeder wächst für sich – weniger aus dem andern – sondern aus dem gemeinsamen Seelengrunde hervor. Dadurch trägt nicht die Gesamtgestalt das unmittelbar Volkheitmäßige; dafür aber ist über jeden einzelnen Gedanken dieses Volkheitmäßige wie eine Grundstimmung ausgegossen. Solche Grundstimmung wird von den Denkern naturgemäß im Gemüte zurückgehalten; sie klingt nur leise an. Sie tritt in einer Persönlichkeit wie Misson als Heimweh nach dem Elementarischen der Volkheit auf. Bei Schröer, bei Fercher von Steinwand, bei Carneri, und auch bei Hamerling wirkt sie in der Grundtönung ihres Strebens überall mit. Das Denken erhält dadurch den Charakter des Sinnens. –
*
In Robert Hamerling ist dem niederösterreichischen Waldviertel einer der größten Dichter der neueren Zeit entsprossen. Er ist zugleich einer der Träger des deutschen Weltanschauungs-Idealismus.
Über Wesen und Bedeutung von Hamerlings Dichtungen zu sprechen, beabsichtige ich für diese Schrift nicht. Wie er sich in die Weltanschauungsentwicklung der neueren Zeit hineingestellt hat, darüber nur will ich einiges andeuten. Er hat in dem Werke: «Die Atomistik des Willens» auch in Gedankenform seiner Weltansicht Ausdruck gegeben. (Der steiermärkische Dichter und völkische Schriftsteller Adolf Harpf hat nach Hamerlings Tode dieses Buch 1891 herausgegeben.) Das Buch trägt den Untertitel «Beiträge zur Kritik der modernen Erkenntnis».
Hamerling wusste, dass viele, die sich Philosophen nennen, diese seine «Beiträge» mit – vielleicht nachsichtiger – Verwunderung aufnehmen werden. Was sollte – so mochte mancher denken – der idealistisch gestimmte Dichter in einem Felde anzufangen wissen, in dem strenge Wissenschaftlichkeit herrschen muss? Und die Ausführungen seines Buches überzeugten diejenigen nicht, in denen ein solches Urteil nur die an die Oberfläche getriebene Welle ist aus Seelentiefen, in denen es auf unbewusste (oder unterbewusste) Art aus Denkgewohnheiten gebildet wird. Solche Menschen können sehr scharfsinnig, sie können wissenschaftlich sehr bedeutend sein: das Ringen der wahren Dichternatur ist ihnen doch nicht verständlich. Derjenigen Dichternatur, in deren Seele alle die Konflikte leben, aus denen heraus sich die Rätsel der Welt vor den Menschen hinstellen. Die deshalb innere Erfahrung über diese Welträtsel hat.
Wenn sich eine solche Natur dichterisch ausspricht, so waltet in den Untergründen ihrer Seele die fragende Weltenordnung, die ohne im Bewusstsein sich in Gedanken umzuwandeln, in der elementarischen Kunstschöpfung sich offenbart. Allerdings ahnen von dem Wesen solch wahrer Dichternaturen auch diejenigen Dichter nichts, welche vor einer Weltanschauung zurückzucken, wie vor Feuer, das ihre «lebensvolle Ursprünglichkeit» anbrennen könnte. Ein wahrer Dichter mag vielleicht nie in seinem Bewusstsein in Gedanken formen, was in den Wurzeln seines Seelenlebens an unbewussten Weltgedanken kraftet: er steht deshalb doch mit seinem inneren Erleben in denjenigen Tiefen der Wirklichkeit, von welchen man nichts ahnt, wenn man in behaglicher Weisheit dort nur Träumereien erblickt, wo der Sinneswirklichkeit ihr Dasein aus dem Geiste heraus verliehen wird.
Wenn nun einmal eine wahre Dichternatur wie Robert Hamerling ohne Abstumpfung ihrer dichterischen Schöpferkraft das oft bei andern unbewusst Bleibende als Gedankenwelt ins Bewusstsein zu heben weiß, dann kann man einer solchen Erscheinung gegenüber auch die Ansicht haben, dass dadurch aus Geistestiefen herauf besondere Lichter auf die Rätsel der Welt geworfen werden. Hamerling selbst spricht in dem Vorwort seiner «Atomistik des Willens» darüber, wie er zu seiner Gedankenwelt gekommen ist.
«Ich habe mich nicht plötzlich auf die Philosophie geworfen vor längerer oder kürzerer Zeit, etwa weil ich zufällig Lust dazu bekam, oder weil ich mich einmal auf einem andern Gebiete versuchen wollte. Ich habe mich mit den großen Problemen der menschlichen Erkenntnis beschäftigt von meiner frühen Jugend an, infolge des natürlichen, unabweisbaren Dranges, welcher den Menschen überhaupt zur Erforschung der Wahrheit und zur Lösung der Rätsel des Daseins treibt. Ich habe in der Philosophie niemals eine spezielle Fachwissenschaft erblicken können, deren Studium man betreiben oder beiseite lassen kann, wie das der Statistik oder der Forstwissenschaft, sondern sie stets als die Erforschung desjenigen betrachtet, was jedem das Nächste, Wichtigste und Interessanteste ist … Ich für meine Person konnte es mir schlechterdings nicht versagen, dem ursprünglichsten, natürlichsten und allgemeinsten aller geistigen Antriebe zu folgen und mir im Laufe der Jahre ein Urteil über die Grundfragen des Daseins und Lebens zu bilden.»
Einer derjenigen, die Hamerlings Gedankenwelt hoch schätzten, war der in Wien lebende gelehrte und feinsinnige Benediktinerordenspriester Vincenz Knauer. Er hat als Privatdozent der Wiener Universität Vorlesungen gehalten, durch die er darstellen wollte, wie Hamerling in der Entwicklungsströmung der Weltanschauungen steht, die mit Thales in Griechenland anhebt und in dem österreichischen Dichter und Denker sich in der für das Ende des neunzehnten Jahrhunderts bedeutungsvollsten Erscheinung offenbart. Allerdings gehörte Vincenz Knauer zu den Forschern, denen Engherzigkeit fremd ist. Er hat als junger Philosoph ein Buch über die Moralphilosophie in Shakespeares Dichtungen geschrieben. (Knauers Wiener Vorlesungen sind unter dem Titel «Die Hauptprobleme der Philosophie von Thales bis Hamerling» im Druck erschienen.)
Auch in der Dichtung Robert Hamerlings lebt die idealistische Grundstimmung seiner Anschauung von der Wirklichkeit. Die Gestalten seiner epischen und dramatischen Schöpfungen sind nicht eine Wiedergabe dessen, was eine geistscheue Beobachtung im äußeren Leben sieht; sie zeigen überall, wie die Menschenseele aus einer geistigen Welt herein Richtungen und Impulse erhält. Die geistscheue Beobachtung schilt auf solche Schöpfungen. Sie nennt sie blutleere Gedankenerzeugnisse, denen die Vollsaftigkeit des Lebens fehle. Man kann diese Ansicht oft die Formel bemühen hören: die Menschen dieses Dichters sind keine Personen, die in der Welt wandeln; sie sind Schemen aus der Abstraktion heraus geboren. Wenn so sprechende «Wirklichkeitsmenschen» doch ahnen könnten, wie sehr sie selbst wandelnde Abstraktionen sind und ihr Bekenntnis die Abstraktion einer Abstraktion ist! Wenn sie nur wüssten, wie seelenleer ihre bluterfüllten Gestalten dem sind, der einen Sinn hat nicht nur für pulsierendes Blut, sondern auch dafür, wie Seele im Blute pulsiert. Man hat von solch einem Wirklichkeitsstandpunkte aus gesagt, die dramatische Dichtung Hamerlings «Danton und Robespierre» bereichere nur das Schattenvolk ehemaliger Revolutionshelden um eine Anzahl neuer Schemen.
Hamerling hat solche Einwürfe in dem «Epilog an die Kritiker» abgewehrt, den er den späteren Auflagen seines «Ahasver in Rom» beigefügt hat. In diesem Epilog stehen die Worte: »Man besagt, ‹Ahasver in Rom› sei eine ‹allegorische› Dichtung, bei welchem Worte viele sogleich von einer Gänsehaut überlaufen werden.
Allegorisch ist das Gedicht allerdings insofern, als eine mythische Gestalt hineinverwoben ist, deren Existenzberechtigung immer nur darauf beruht, dass sie etwas bedeutet. Denn jeder Mythus ist eine durch die Volksphantasie verbildlichte Idee. Aber, sagt man, auch Nero will etwas ‹bedeuten› – den ‹Lebensdrang›! Nun ja, er bedeutet den Lebensdrang; aber nicht anders als Molières ‹Geiziger› den Geiz, Shakespeares ‹Romeo› die Liebe bedeutet. Es gibt allerdings poetische Gestalten, die gar nichts weiter sind als allegorische Schemen und nichts an sich haben, als ihre innere abstrakte Bedeutung – dem kranken, magern Kanonikus bei Heine vergleichbar, der zuletzt aus nichts anderem bestand, als aus ‹Geist und Pflastern›. Aber für eine mit realem Leben erfüllte dichterische Figur ist die innewohnende Bedeutung kein Vampir, der ihr das Blut aussaugt. Existiert überhaupt etwas, das nichts ‹bedeutet›? Ich möchte doch wissen, wie es der Bettler anstellen sollte, um nicht die Armut, und ein Krösus, um nicht den Reichtum zu bedeuten? … Ich glaube also, dass der lebensdurstige Nero dadurch, dass er dem todessehnsüchtigen Ahasver gegenüber den Lebensdrang ‹bedeutet› , an seiner Realität so wenig einbüßt, als ein reicher Kaufherr an seiner blühenden Wohlbeleibtheit einbüßen würde, wenn er zufällig neben einen Bettler zu stehen käme und notgedrungen den Kontrast von Armut und Reichtum in einer allegorischen Gruppe versinnlichte.»
In solcher Art weist der von idealistischer Weltanschauung beseelte Dichter die Angriffe von Menschen zurück, welche erschaudern, wenn sie irgendwo eine in der wahren Wirklichkeit – der Geistwirklichkeit – wurzelnde Idee wittern.
Beginnt man mit dem Lesen von Hamerlings «Atomistik des Willens», so kann man allerdings zunächst die Empfindung erleben, er habe sich durch den Kantianismus von der Unmöglichkeit überzeugen lassen, dass es eine Erkenntnis der wahren Wirklichkeit, des «Dinges an sich» geben könne.
Doch sieht man im weiteren Verlaufe der Darstellung seines Buches, dass es Hamerling mit dem Kantianismus so ergangen ist wie Carneri mit dem Darwinismus. Er hat sich durch die suggestive Kraft gewisser Kantischer Gedanken überwältigen lassen; dann aber siegt die Ansicht bei ihm, dass der Mensch, wenn er auch durch die Sinnesanschauung nach außen hin nicht an die wahre Wirklichkeit heranbringen kann, dieser doch begegnet, wenn er durch die Oberfläche des seelischen Erlebens hindurch in die Seelenuntergründe eintaucht.
Hamerling beginnt ganz Kantisch:
«Gewisse Reizungen erzeugen den Geruch in unserem Riechorgan. Die Rose duftet also nicht, wenn sie niemand riecht.
Gewisse Luftschwingungen erzeugen in unserm Ohr den Klang. Der Klang existiert also nicht ohne ein Ohr. Der Flintenschuss würde also nicht knallen, wenn ihn niemand hörte … . Wer dies festhält, wird begreifen, welch ein naiver Irrtum es ist, zu glauben, dass neben der von uns ‹Pferd› genannten Anschauung oder Vorstellung noch ein anderes, und zwar erst das rechte, wirkliche ‹Pferd› existiere, von welchem unsere Anschauung eine Art Abbild ist.
Außer mir ist – wiederholt sei es gesagt – nur die Summe jener Bedingungen, welche bewirken, dass sich in meinen Sinnen eine Anschauung erzeugt, die ich Pferd nenne.»
Diese Gedanken wirken mit solch suggestiver Kraft, dass Hamerling an sie die Worte zu schließen vermag:
«Leuchtet dir, lieber Leser, das nicht ein und bäumt dein Verstand sich vor dieser Tatsache wie ein scheues Pferd, so lies keine Zeile weiter; las dieses und alle anderen Bücher, die von philosophischen Dingen handeln, ungelesen; denn es fehlt dir die hierzu nötige Fähigkeit, eine Tatsache unbefangen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten.»
Ich möchte Hamerling gegenüber sagen: Mögen sich doch recht viele Menschen finden, deren Verstand zwar bei diesen Eingangsworten seines Buches sich wie ein scheues Pferd bäumt, die aber Ideenstärke genug besitzen, um die tiefdringenden späteren Kapitel recht zu würdigen; und ich bin froh, dass Hamerling doch diese späteren Kapitel geschrieben hat, obgleich sich sein Verstand nicht bäumte bei der Behauptung: da ist in mir die Vorstellung «Pferd»; aber da draußen existiert nicht das rechte wirkliche Pferd, sondern nur die «Summe jener Bedingungen, welche bewirken, dass sich in meinen Sinnen eine Anschauung erzeugt, die ich Pferd nenne». Denn man hat es hier wieder mit einer Behauptung zu tun, wie Carneri eine mit Bezug auf Materie, Stoff und Geist aussprach. Mit einer Behauptung, die überwältigende Macht über einen Menschen bekommt, weil er so gar nicht sieht, in welch unmöglichen Gedanken er sich eingesponnen hat. Der ganze Hamerlingsche Gedankengang ist nicht mehr wert als dieser: Gewisse Wirkungen, die von mir ausgehen auf die Fläche einer belegten Glasscheibe, erzeugen mein Bild im Spiegel. Es entsteht durch die von mir ausgehenden Wirkungen nichts, wenn kein Spiegel da ist. Außer dem Spiegel gibt es nur die Summe jener Bedingungen, welche bewirken, dass sich im Spiegel ein Bild erzeugt, das ich mit meinem Namen bezeichne.
Ich höre im Geiste alle Deklamationen über einen bis zur Frivolität gehenden philosophischen Dilettantismus, der es wagt, ernste wissenschaftliche Philosophengedanken mit solch einem kindischen Einwand abzutun. Weiß ich doch, was seit Kant alles im Sinne dieser Gedanken beigebracht worden ist. Von dem Chor, von dem dies ausgeht, wird man nicht verstanden, wenn man spricht, wie es hier geschehen ist. Man muss sich an die unbefangene Vernunft wenden, die begreift, dass die Form der Gedankenführung in beiden Fällen dieselbe ist: ob ich gegenüber der Vorstellung des Pferdes in der Seele das äußere Pferd wegdekretiere, oder ob ich gegenüber dem Bilde im Spiegel meine Existenz bezweifle. Auf gewisse erkenntnistheoretisch sein sollende Widerlegungen dieses Vergleiches braucht man nicht erst einzugehen. Denn was da vorgebracht würde über die doch ganz anderen Beziehungen der «Vorstellung zu dem Vorgestellten» als des Spiegelbildes zu dem sich Spiegelnden, steht für gewisse Erkenntnistheoretiker mit unbedingter Sicherheit fest; für andere Leser aber könnte eine entsprechende Widerlegung dieser Gedanken doch nur ein Gewebe von unfruchtbaren Abstraktionen sein.
Hamerling empfindet aus seinem gesunden Idealismus heraus, dass eine Idee, die in einer Weltanschauung Berechtigung haben soll, nicht nur richtig, sondern auch wirklichkeitsgemäß sein muss. (Ich muss hier durch die Vorstellungen mich ausdrücken, die ich in den Ausführungen dieser Schrift über Karl Christian Planck gekennzeichnet habe.)
Wäre er weniger durch die angedeutete Denkweise suggestiv beeinflusst gewesen, so hätte er bemerkt, dass in Gedanken, wie diejenigen, die er für notwendig hält, trotzdem «der Verstand wie ein scheues Pferd» sich davor bäumt, nichts Wirklichkeitsgemäßes steckt. Sie entstehen in der menschlichen Seele, wenn diese von wirklichkeitfremdem Abstraktionssinn angekränkelt, sich dem Fortspinnen von Gedanken überlässt, die in sich zwar logisch zusammenhängend sind, in denen aber keine geistige Wirklichkeit lebendig waltet. Aber eben der gesunde Idealismus führt Hamerling in den weiteren Gedanken seiner Willensatomistik über das Gedankengewebe hinaus, das er in den Anfangskapiteln dargestellt hat.
Besonders deutlich wird dies da, wo er von dem menschlichen «Ich» im Zusammenhange mit dem Seelenleben spricht. Man sehe, wie Hamerling sich zu dem «Ich denke, also bin ich» des Descartes verhält. Fichtes Vorstellungsart (von der in den Ausführungen dieser Schrift über Fichte gesprochen ist) wirkt wie ein leise mitklingender Grundton in den schönen Worten auf Seite 223 des ersten Bandes der «Atomistik des Willens».
«Das Cogito ergo sum des Cartesius (Descartes) bleibt aller Begriffshaarspalterei zum Trotz, welche an ihm nergelt, der zündende Lichtblitz aller modernen Spekulation. Aber dies ‹Ich denke, somit bin ich› ist, genau genommen, nicht darum gewiss, weil ich denke, sondern weil ich sage, dass ich denke. Die Folgerung würde gleiche Gewissheit haben, auch wenn ich die Prämisse in ihr Gegenteil verkehrte und sagte: ‹Ich denke nicht, somit bin ich.› Um dies sagen zu können, muss ich existieren.»
Bei Besprechung von Fichtes Weltansicht ist in dieser Schrift gesagt, dass gegenüber dem Schlafzustand der Satz «Ich denke, also bin ich» nicht zu halten ist. Man muss die Gewissheit vom Ich ergreifen so, dass diese Gewissheit nicht durch die Innenwahrnehmung «Ich denke» erschöpft erscheinen kann. Hamerling empfindet dieses; deshalb sagt er, es gelte auch das: «Ich denke nicht, somit bin ich.»
Er sagt es, weil er fühlt: im menschlichen Ich wird etwas erlebt, das die Gewissheit seines Daseins nicht vom Denken empfängt, sondern dem Denken vielmehr seine Gewissheit gibt. Das Denken wird von dem wahren Ich in gewissen Zuständen entfaltet; das Erleben des Ich ist aber von der Art, dass sich die Seele durch dasselbe in eine Geistwirklichkeit versenkt fühlen kann, in der sie ihr Dasein auch für andere Zustände verankert weiß als die sind, für welche das «Ich denke, also bin ich» des Descartes gilt.
Alles dies aber beruht darauf, dass Hamerling weiß: wenn das «Ich» denkt, so lebt in seinem Denken der Lebenswille. Das Denken ist gar nicht bloß Denken; es ist gewolltes Denken. «Ich denke» ist als Gedanke ein bloßes Gespinst, das nie und nirgends da ist. Es ist immer nur das «Ich denke wollend» da. Wer an das Gespinst: «Ich denke» glaubt, der kann sich damit absondern von der gesamten Geisteswelt; und dann entweder zum Bekenner des Materialismus werden oder zum Zweifler an der Wirklichkeit der Außenwelt. Zum Materialisten wird er, wenn er von dem in seinen Grenzen voll berechtigten Gedanken sich einfangen lässt, dass zum Denken, wie es Descartes im Sinne hat, die Nervenwerkzeuge notwendig sind. Zum Zweifler an der Wirklichkeit der Außenwelt wird er, wenn er in den – wieder innerhalb gewisser Grenzen berechtigten – Gedanken sich verwickelt, dass alles Denken über die Dinge doch in der Seele erlebt wird; man also mit seinem Denken doch nie an eine an sich bestehende Außenwelt herankommen könnte, auch wenn diese Außenwelt existierte. Wer den Willen in allem Denken bemerkt, der kann, wenn er zur Abstraktion neigt, nun allerdings den Willen vom Denken begrifflich absondern und im Stile Schopenhauers von einem Willen sprechen, der in allem Weltdasein walten soll, und der das Denken wie Schaumwellen an die Oberfläche der Lebenserscheinungen treibt.
Wer aber die Einsicht hat, dass nur das «Ich denke wollend» Wirklichkeit hat, der denkt in der menschlichen Seele Wille und Denken so wenig getrennt, wie er bei einem Menschen Kopf und Leib getrennt denkt, wenn er den Gedanken von einer Wirklichkeit haben will. Ein solcher weiß aber auch, dass er mit dem Erleben eines vom Willen getragenen erlebten Denkens aus den Grenzen seiner Seele herausgeht und in das Erleben des auch durch seine Seele pulsierenden Weltgeschehens eintritt. Und in der Richtung nach einer solchen Weltanschauung bewegt sich Hamerling. Nach einer Weltanschauung, die weiß, dass sie mit einem wirklichen Gedanken ein Erlebnis des Weltenwillens in sich hat; nicht bloß ein Erlebnis des eigenen «Ich». Einer Weltanschauung strebt Hamerling zu, die nicht in das Chaos einer Willensmystik sich verirrt, die vielmehr in der Klarheit der Ideen den Weltenwillen erleben will.
Mit diesem Ausblick auf den durch die Ideen erschauten Weltenwillen weiß sich nun Hamerling stehend in dem Mutterboden des deutschen Weltanschauungs-Idealismus. Seine Gedanken erweisen sich vor ihm selber als wurzelnd im deutschen Volkstum, das schon in Jakob Böhme in elementarischer Art nach Erkenntnis rang. Auf Seite 259 f. von Hamerlings «Atomistik des Willens» liest man:
«Den Willen zum obersten philosophischen Prinzip zu machen, ist – was man bisher übersehen zu haben scheint – ein vorzugsweise deutscher Gedanke, ein Kerngedanke des deutschen Geistes. Von den deutschen Naturphilosophen des Mittelalters bis zu den Klassikern der deutschen Spekulation und bis herab zu Schopenhauer und Hartmann durchzieht dieser Gedanke, bald mehr, bald weniger hervortretend, oft nur gleichsam auf einen Augenblick hervortretend, um dann in den gärenden Ideenmassen unserer Denker wieder zu verschwinden, die Philosophie des deutschen Volkes. Und so war es auch der ‹philosophus teutonicus› , der in Wahrheit deutscheste und tiefste aller modernen Philosophen, der in seiner tiefsinnigen originellen Bildersprache den Willen zuerst ausdrücklich als das Absolute, als die Einheit erfasste . . .»
Und um noch auf einen anderen deutschen Denker dieser Richtung hinzuweisen, führt Hamerling Worte Jacobis, des Zeitgenossen Goethes, an:
«Erfahrung und Geschichte lehren, dass des Menschen Tun viel weniger von seinem Denken, als sein Denken von seinem Tun abhängt; dass seine Begriffe sich nach seinen Handlungen richten und sie gewissermaßen nur abbilden, dass also der Weg der Erkenntnis ein geheimnisvoller Weg ist – kein syllogistischer – kein mechanischer.»
Weil Hamerling aus dem Grundton seiner Seele heraus ein Empfinden dafür hat, dass zur bloßen logischen Richtigkeit einer Idee deren Wirklichkeitsgemäßheit hinzukommen muss, kann er auch die Lebensansichten der pessimistischen Philosophen nicht gelten lassen, die durch abstrakt-begriffliches Abwägen bestimmen wollen, ob die Lust oder die Unlust im Leben überwiege, dieses also als Gut oder als Übel angesehen werden müsse. Nein, darüber entscheidet nicht das zur Theorie gewordene Nachdenken; darüber wird in viel tieferen Gründen des Lebens entschieden, in Tiefen, die über dieses Nachdenken zu richten haben; aber sich nicht von ihm richten lassen. Darüber sagt Hamerling:
«Die Hauptsache ist nicht, ob die Menschen recht haben, dass sie alle, mit verschwindend kleinen Ausnahmen, leben wollen, leben um jeden Preis, gleichviel, ob es ihnen gut ergeht oder schlecht. Die Hauptsache ist, dass sie es wollen, und dies ist schlechterdings nicht zu leugnen. Und doch rechnen mit dieser entscheidenden Tatsache die doktrinären Pessimisten nicht Sie wägen immer nur in gelehrten Erörterungen Lust und Unlust, wie es das Leben im besonderen bringt, verständig gegeneinander ab; aber da Lust und Unlust Gefühlssache, so ist es das Gefühl und nicht der Verstand, welcher die Bilanz zwischen Lust und Unlust endgültig und entscheidend zieht. Und diese Bilanz fällt tatsächlich bei der gesamten Menschheit, ja man kann sagen, bei allem, was Leben hat, zugunsten der Lust des Daseins aus. Dass alles, was da lebt, leben will, leben unter allen Umständen, leben um jeden Preis, das ist die große Tatsache, und dieser Tatsache gegenüber ist alles doktrinäre Gerede machtlos.»
In die geistige Wirklichkeit hinein sucht Hamerling den Weg in einer ähnlichen Art, wie ihn die Denker von Fichte bis Planck gesucht haben, die in dieser Schrift geschildert sind. Nur ist er bestrebt, der naturwissenschaftlichen Vorstellung in einem höheren Grade Recht widerfahren zu lassen, als dies etwa Schelling oder Hegel vermochten. Nirgends verstößt die «Atomistik des Willens» gegen die Forderungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Überall aber ist sie durchdrungen von der Einsicht, dass dieses Weltbild nur ein Glied der Wirklichkeit darstellt. Sie beruht auf der Anerkennung des Gedankens, dass man sich dem Glauben an eine unwirkliche Welt hingibt, wenn man es ablehnt, die Kräfte einer geistigen Welt in die Gedankenwelt aufzunehmen. (Ich gebrauche hier das Wort unwirklich in dem Sinne, wie es bei der Besprechung von Planck angewendet ist.)
In welch einem hohen Sinne Hamerlings Denken wirklichkeitsgemäß war, dafür spricht eindringlich seine satirische Dichtung «Homunculus» . In dieser zeichnet er mit großer dichterischer Kraft den Menschen, der selber seelenlos wird, weil zu seiner Erkenntnis nicht Seele und Geist sprechen. Was würde aus Menschen, die einer solchen Weltordnung wirklich entstammten, wie sie die naturwissenschaftliche Vorstellungsart dann sich als Glaubensbekenntnis zurechtlegt, wenn sie eine geistgemäße Weltanschauung ablehnt?
Was wäre der Mensch, wenn das Unwirkliche dieser Vorstellungsart wirklich wäre? So etwa könnte man die Fragen stellen, die im «Homunculus» ihre künstlerische Antwort finden. Homunculismus müsste sich einer solchen Menschheit bemächtigen, die nur an eine im Sinne der mechanischen Naturgesetze gezimmerte Welt glaubte. Auch bei Hamerling zeigt sich, wie der zu den Ideen des Daseins Strebende den gesünderen Blick hat für das praktische Leben dem gegenüber, der geistesscheu vor der Ideenwelt zurückzuckt und sich dadurch als rechter «Wirklichkeitsmensch» fühlt. An Hamerlings Homunculus könnten diejenigen gesunden, die gerade in der Gegenwart sich von der Meinung verführen lassen, dass Naturwissenschaft die einzige Wissenschaft vom Wirklichen sei. Solche sprechen in ihrer Geistesscheu davon, dass ein heute, wie sie meinen, überwundener Idealismus der klassischen Zeit des Denkens den homo sapiens zu sehr in den Vordergrund gerückt habe. «Wahre Wissenschaft» müsse erkennen, dass der Mensch als homo öconomus innerhalb der Welt- und Menschenordnung vor allem zu betrachten sei. «Wahre Wissenschaft» ist für solche Menschen allein die aus der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart entsprossene. Homunculismus entsteht aus solchem Glauben. Die ihn vertreten, ahnen nicht, wie sie dem Homunculismus zustreben. Hamerling hat mit dem Seherblick des Erkennenden diesen Homunculismus gezeichnet. Dass durch die rechte Schätzung des «homo sapiens» im Sinne Hamerlings nicht eine Überschätzung des Literatentums gezeugt wird, das können aus dem «Homunculus» auch diejenigen ersehen, welche sich vor solcher Überschätzung fürchte
Anmerkung:
(1) Aus einer späteren Bemerkung in dieser Schilderung von Carneris Gedankenwelt wird man sehen, dass der Verfasser dieser Schrift seine Kennzeichnung des Materialismus nicht bloß auf Carneri anwendbar findet, sondern dass er der Ansicht ist, sie treffe zu auf weitverbreitete Anschauungen der Gegenwart, die oft betonen, der Materialismus sei wissenschaftlich überwunden, ohne zu wissen, ja oft auch nur zu ahnen, wie materialistisch dasjenige ist, wodurch ihnen der Materialismus überwunden zu sein dünkt.
Ausblicke
Auf die Entwicklungskeime, die sich in den Weltanschauungen einer Reihe von Denkern von Fichte bis Hamerling ankündigen, sollte in dieser Schrift hingedeutet werden. Die Betrachtung dieser Keime ruft die Empfindung hervor, dass diese Denker aus einem Quell des geistigen Erlebens schöpfen, aus dem noch vieles fließen kann, was sie noch nicht herausgeholt haben. Weniger scheint es darauf anzukommen, Zustimmung oder Ablehnung zu hegen zu dem, was sie ausgesprochen haben; als vielmehr darauf, die Art ihres Erkenntnisstrebens, die Richtung ihres Weges zu verstehen. Man kann dann die Ansicht gewinnen, dass in dieser Art, in dieser Richtung etwas liegt, das mehr ein Versprechen denn eine Erfüllung ist. Doch ein Versprechen, das durch die ihm innewohnende Kraft die Bürgschaft seiner Erfüllung in sich trägt.
Daraus gewinnt man ein Verhältnis zu diesen Denkern, das nicht das eines Bekenntnisses zu den Dogmen ihrer Weltanschauung ist; sondern ein solches, das zur Einsicht führt, dass auf Wegen, auf denen sie wandelten, lebendige Kräfte des Suchens nach Erkenntnissen liegen, die in dem von ihnen Anerkannten sich nicht ausgewirkt haben, sondern über dieses hinausführen können.
Das braucht nun nicht die Meinung herbeizuführen: man müsse zurück zu Fichte, zurück zu Hegel und so weiter gehen in der Hoffnung, dass, wenn man von ihren Ausgangspunkten aus richtigere Wege einschlägt als sie, man dadurch zu besseren Ergebnissen komme.
Nein, nicht darauf kann es ankommen, sich so von diesen Denkern «anregen» zu lassen, sondern darauf, den Zugang zu gewinnen zu den Quellen, aus denen sie schöpften, und zu erkennen, was in diesen Quellen selbst an anregenden Kräften trotz der Arbeit dieser Denker noch verborgen ist.
Ein Blick auf den Geist der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart kann fühlen lassen, inwiefern der in den charakterisierten Denkern lebende Weltanschauungs-Idealismus ein «Versprechen» ist, das auf Erfüllung weist.
Diese naturwissenschaftliche Vorstellungsart hat durch ihre Ergebnisse in einer gewissen Richtung die Tragkraft der von ihr angewandten Erkenntnismittel erwiesen. Man kann diese Vorstellungsart ihrem Wesen nach schon vorgezeichnet finden bei einem Denker, der im Anfange ihrer Entwicklung gewirkt hat, bei Galilei. (In schönster Art hat die Bedeutung Galileis Laurenz Müllner, der österreichische Philosoph und katholische Priester, besprochen in seiner Rektoratsrede von 1894 an der Wiener Universität.)
Was bei Galilei schon angedeutet ist, findet sich ausgebildet in den Forschungsrichtungen der neueren naturwissenschaftlichen Denkweise. Sie hat ihre Bedeutung dadurch erlangt, dass sie die Welterscheinungen, welche auf dem Felde der Sinnesbeobachtung auftreten, in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen rein für sich sprechen lässt, und in das, was sie für die Erkenntnis zulässt, nichts von dem hineinfließen lassen will, was die menschliche Seele an diesen Erscheinungen erlebt. Welche Ansicht man auch haben mag über das naturwissenschaftliche Weltbild, das heute in Erfüllung dieser Erkenntnisforderung schon möglich, oder erreicht ist: das kann nicht beeinträchtigen, dass man die Tragkraft dieser Forderung für ein berechtigtes Bild des Naturdaseins anerkennt. Wenn der Bekenner einer idealistischen oder geisteswissenschaftlichen Weltanschauung gegenwärtig dieser Forderung ablehnend gegenübersteht, so offenbart er damit entweder, dass er den Sinn derselben nicht versteht, oder dass mit seiner dem Geiste Rechnung tragenden Ansicht selbst etwas nicht in Ordnung ist.
Wahrer geistgemäßer Weltanschauung gegenüber aber geben sich die Bekenner der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart zumeist dem Missverständnisse hin, dass durch solche Weltanschauung irgend etwas von dem in Frage gestellt werde, was Ergebnis der Naturwissenschaft ist.
Es zeigt sich für denjenigen, der in den wahren Sinn der neueren Naturwissenschaft eindringt, dass diese nicht die Erkenntnis der geistigen Welt untergräbt, sondern diese Erkenntnis stützt und sichert.
Man wird zu dieser Ansicht nicht dadurch kommen können, dass man aus allerlei theoretischen Erwägungen heraus sich zum Gegner einer Erkenntnis der Geisteswelt heranphantasiert, sondern vielmehr dadurch, dass man seinen Blick richtet auf das, was das naturwissenschaftliche Weltbild einleuchtend und bedeutsam macht. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart schließt aus allem, was sie betrachtet, dasjenige aus, was an dem Betrachteten durch das Innenwesen der Menschenseele erlebt wird. Wie die Dinge und Vorgänge untereinander zusammenhängen, das erforscht sie. Was die Seele durch ihr Innenwesen an den Dingen erleben kann, dient nur dazu, zu offenbaren, wie die Dinge sind, abgesehen von den Innenerlebnissen. Dadurch kommt das Bild des rein natürlichen Geschehens zustande. Es wird sogar dieses Bild um so besser seine Aufgabe erfüllen, je mehr die Ausschließung des Innenlebens gelingt.
Man muss nun aber auf die charakteristischen Züge dieses Bildes sehen. Was in dieser Art als Naturbild vorgestellt wird, kann gerade dann, wenn es das Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis erfüllt, nicht etwas in sich tragen, was jemals von einem Menschen – oder sonst einem seelischen Wesen – wahrgenommen werden könnte. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart muss ein Weltbild liefern, das den Zusammenhang der Naturtatsachen erklärt, dessen Inhalt aber unwahrnehmbar bleiben müsste.
Wäre die Welt so, wie sie die reine Naturwissenschaft vorstellen muss, so könnte diese Welt nie innerhalb eines Bewusstseins als Vorstellungsinhalt auftauchen. Hamerling meint:
«Gewisse Luftschwingungen erzeugen in unserem Ohr den Klang. Der Klang existiert also nicht ohne ein Ohr. Der Flintenschuss würde also nicht knallen, wenn ihn niemand hörte.»
Hamerling hat unrecht, weil er die Bedingungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes nicht durchschaut. Durchschaute er sie, so würde er sagen: die Naturwissenschaft muss, wenn ein Klang auftritt, etwas vorstellen, was auch dann nicht klingen würde, wenn ein Ohr bereit wäre, es klingen zu hören. Und die Naturwissenschaft tut recht damit.
Der Naturforscher Du Bois-Reymond drückt sich darüber (1872) in seinem Vortrage: «Über die Grenzen des Naturerkennens» ganz treffend aus:
«Stumm und finster an sich, d.h. eigenschaftslos» ist die Welt für die durch die naturwissenschaftliche Betrachtung gewonnene Anschauung, welche «statt Schall und Licht nur Schwingungen eines eigenschaftslosen, dort zur wägbaren, hier zur unwägbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt», aber er schließt daran die Worte: «Das mosaische: Es werde Licht, ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmal Hell und Dunkel unterschied. Ohne Seh- und ohne Gehörsubstanz wäre diese farbenglühende, tönende Welt um uns her finster und stumm.»
Nein, diesen zweiten Satz kann eben derjenige nicht sagen, welcher die ganze Tragweite des ersten kennt. Denn die Welt, deren Bild die Naturwissenschaft mit Recht entwirft, bliebe «stumm und finster», auch wenn sich ihr eine Seh- oder Gehörsubstanz gegenüberstellte. Man täuscht sich darüber nur deshalb, weil die wirkliche Welt, aus der heraus man das Bild der «stummen und finsteren» gewonnen hat, nicht stumm und finster bleibt, wenn man in ihr wahrnimmt. Aber ich soll von diesem Bilde ebenso wenig erwarten, dass es der wirklichen Welt entspricht, wie ich von dem Bilde meines Freundes, das ein Maler gemalt hat, erwarten kann, dass mir der Freund daraus entgegentritt.
Man sehe sich nur die Sache von allen Seiten unbefangen an; man wird schon finden: wäre die Welt so, wie die Naturwissenschaft sie zeichnet: von dieser Welt würde niemals ein Wesen etwas erfahren. Die Welt der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ist allerdings in der Wirklichkeit gewissermaßen dort, woher der Mensch seine Sinneswelt wahrnimmt; allein sie wird ohne alles das vorgestellt, wodurch sie für irgend ein Wesen wahrnehmbar sein könnte. Was diese Vorstellungsart als dem Licht, dem Ton, der Wärme zum Grunde legen muss, das leuchtet nicht, tönt nicht, wärmt nicht. Man weiß nur aus dem Erleben, dass man die Vorstellungen dieser Denkart von dem Leuchtenden, Tönenden, Wärmenden genommen hat; deshalb lebt man in dem Glauben, dass auch das Vorgestellte ein Leuchtendes, Tönendes, Wärmendes sei. Am schwersten ist die Täuschung für den Tastsinn zu durchschauen. Da scheint zu genügen, dass das Stoffliche eben als Stoffliches ausgedehnt sei, um durch den Widerstand die Tastwahrnehmung zu erregen. Allein auch ein Stofflich-Ausgedehntes kann nur stoßen; nicht aber kann der Stoß empfunden werden. Der Schein trügt hier am meisten. Man hat es aber doch nur mit einem Schein zu tun.
Auch das den Tastempfindungen zugrunde liegende ist nicht tastbar. Es sei noch ausdrücklich hervorgehoben, dass hier nicht bloß gesagt wird: die hinter der Sinnesempfindung liegende Welt sei eben anders, als was aus ihr die Sinne machen; es wird vielmehr betont, diese Welt müsse von der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart so gedacht werden, dass die Sinne aus ihr nichts machen könnten, wenn sie in Wirklichkeit das wäre, als was sie gedacht wird. Aus der Beobachtung heraus holt die Naturwissenschaft ein Weltbild, das durch seine eigene Wesenheit gar nicht beobachtet werden kann. (1)
Was hier vorliegt, ist in einem weltgeschichtlichen Augenblicke der Geistesentwicklung zutage getreten: damals, als Goethe aus der in seiner ganzen Natur gelegenen Weltanschauung des deutschen Idealismus heraus die Farbenlehre Newtons ablehnte. (Der Verfasser dieser Schrift sucht seit fast drei Jahrzehnten in verschiedenen Schriften auf diesen entscheidenden Punkt in der Beurteilung von Goethes Farbenlehre hinzuweisen. Allein es gilt auch gegenwärtig noch, was er in einem 1893 im Frankfurter «Freien deutschen Hochstifte» gehaltenen Vortrage sagte:
«Die Zeit wird kommen, in der auch für diese Frage die wissenschaftlichen Voraussetzungen zu einer Verständigung der Forscher vorhanden sein werden. Gegenwärtig bewegen sich gerade die physikalischen Untersuchungen in einer Richtung, die zu Goetheschem Denken nicht führen kann.»
Goethe verstand, dass Newtons Farbenlehre nur ein Bild einer Welt liefern könne, die nicht leuchtet und nicht in Farben erstrahlt. Da er auf die Bedingungen eines rein naturwissenschaftlichen Weltbildes sich nicht einließ, so ist seine tatsächliche Gegnerschaft gegen Newton an manchen Stellen schief geraten. Die Hauptsache aber ist, dass er ein rechtes Gefühl von dem hatte, was zugrunde liegt. Wenn der Mensch durch das Licht Farben beobachtet, so steht er einer anderen Welt gegenüber als die ist, welche Newton allein zu beschreiben vermag. Und Goethe beobachtete die wirkliche Welt der Farben. Betritt man aber ein solches Gebiet, sei es das der Farben oder anderer Naturerscheinungen, so bedarf man anderer Ideen als diejenigen sind, die in die «finstere und stumme Welt» des Bildes der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart gezeichnet sind. Mit diesem Bilde ist keine Wirklichkeit gezeichnet, die wahrgenommen werden kann». Die wirkliche Natur enthält eben einfach schon in sich, was in dieses Bild nicht aufgenommen werden kann». Die «finstere Welt» des Physikers könnte von keinem Auge wahrgenommen werden; das Licht ist schon geistig. Im Sinnlichen waltet das Geistige. (2)
Dieses Geistige mit den Mitteln der Naturforschung ergreifen zu wollen, hieße in demselben Irrtum leben, wie wenn man als Maler von sich verlangen wollte, einen Menschen zu malen, der in der Welt umhergeht. Goethe bewegte sich auch als Physiker auf dem Boden des Geistigen: Die Weltanschauung, für die er das Wort «geistgemäß» angewendet hat, machte es ihm unmöglich, in Newtons Farbenlehre etwas von Ideen über wirkliches Licht und wirkliche Farben zu finden. Aber man findet nicht mit der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart den Geist in der Sinneswelt. Dass die Weltanschauung des deutschen Idealismus dafür eine richtige Empfindung hatte, ist eines ihrer wesentlichen Kennzeichen. Möge das, was die eine oder die andere Persönlichkeit aus dieser Empfindung heraus gesprochen hat, auch erst ein Keim sein für eine vollständige Pflanze: der Keim ist vorhanden und hat in sich die Kraft seiner Entfaltung.
Doch muss zu der Einsicht, dass in der Sinneswelt Geist ist, der nicht durch die naturwissenschaftliche Vorstellungsart zu ergreifen ist, noch eine andere hinzukommen. Diejenige nämlich, dass die neuere Naturwissenschaft die Abhängigkeit des gewöhnlichen, in der Sinneswelt verlaufenden menschlichen Seelenlebens von den Werkzeugen des Leibes entweder schon gezeigt hat, oder auf dem Wege ist, sie zu zeigen.
Man betritt da ein Gebiet, auf dem man, wie mit ganz selbstverständlichen Einwänden, scheinbar vernichtend widerlegt werden kann, wenn man sich zu dem Dasein einer selbständigen geistigen Welt bekennt. Denn was könnte einleuchtender sein, als dass das Seelenleben des Menschen sich von Kindheit auf so entfaltet, wie sich die physischen Organe heranbilden, dass es verfällt in dem Maße, in dem die Organe altern. Was ist einleuchtender, als dass die Lähmung gewisser Gehirnpartien auch den Wegfall gewisser geistiger Fähigkeiten bedingt. Was scheint also einleuchtender zu sein, als dass alles Seelisch-Geistige an die Materie gebunden sei und ohne dieselbe keinen Bestand haben kann, wenigstens keinen solchen, von dem der Mensch wissen könne.
Man braucht nicht einmal die glänzenden Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft zu Rate zu ziehen; das Selbstverständliche dieser Behauptung hat schon in genügend richtiger Art De la Mettrie 1746 in «Der Mensch, eine Maschine» (L’homme machine) ausgesprochen. Dieser französische Denker sagt:
«Wenn es einem Schwachsinnigen, wie man gewöhnlich beobachten kann, nicht an Gehirn fehlt, so wird die schlechte Beschaffenheit dieses Eingeweides, z. B. seine zu große Weichheit, daran schuld sein. Dasselbe gilt von Narren; die Fehler ihres Gehirns bleiben unseren Nachforschungen nicht immer verborgen; wenn aber die Ursachen des Schwachsinns und der Narrheit und so weiter nicht immer erkennbar sind, wo soll man da die Ursachen der Verschiedenheit aller Geister suchen? Sie würden Luchs- und Argusaugen entgehen. Ein Nichts, eine kleine Faser, ein Ding, das auch die feinste Anatomie nicht entdecken kann, würde aus Erasmus und Fontenelle zwei Toren gemacht haben, eine Bemerkung, die letzterer selbst in einem seiner besten Dialoge macht» (nach der deutschen Übersetzung von Max Brahn).
Nun, der Bekenner einer geistgemäßen Weltanschauung würde wenig Einsicht verraten, wenn er das Schlagende, das Selbstverständliche einer solchen Behauptung nicht zugäbe. Er kann sogar diese Behauptung noch verschärfen und sagen: hätte die Welt jemals bekommen, was der Geist des Erasmus bewirkt hat, wenn seinen Leib irgend jemand erschlagen hätte, da Erasmus noch ein Knabe war?
Wenn eine geistgemäße Weltanschauung darauf angewiesen wäre, solch selbstverständliche Tatsachen nicht anzuerkennen, oder ihre Bedeutung auch nur abzuschwächen, so wäre es schlecht um sie bestellt. Aber es kann eine solche Weltanschauung in Gründen wurzeln, die ihr von keinem materialistischen Einwand entzogen werden können.
Zunächst ist das seelische Erleben des Menschen, wie es sich im Denken, Fühlen und Wollen offenbart, an die leiblichen Werkzeuge gebunden. Und es gestaltet sich so, wie es durch diese Werkzeuge bedingt ist. Wer aber meint, er sehe das wirkliche Seelenleben, wenn er die Äußerungen der Seele durch den Leib beobachtet, der ist in demselben Fehler befangen, wie einer, der glaubt, seine Gestalt werde von dem Spiegel hervorgebracht, vor dem er steht, weil der Spiegel die notwendigen Bedingungen enthalte, durch die sein Bild erscheint. Dieses Bild ist sogar in gewissen Grenzen als Bild von der Form des Spiegels und so weiter abhängig; was es aber darstellt, das hat mit dem Spiegel nichts zu tun. Das menschliche Seelenleben muss, um innerhalb der Sinneswelt sein Wesen voll zu erfüllen, ein Bild seines Wesens haben.
Dieses Bild muss es im Bewusstsein haben; sonst würde es zwar ein Dasein haben; aber von diesem Dasein keine Vorstellung, kein Wissen. Dieses Bild, das im gewöhnlichen Bewusstsein der Seele lebt, ist nun völlig bedingt durch die leiblichen Werkzeuge. Ohne diese würde es nicht da sein, wie das Spiegelbild nicht ohne den Spiegel. Was aber durch dieses Bild erscheint, das Seelische selbst, ist seinem Wesen nach von den Leibeswerkzeugen nicht abhängiger als der vor dem Spiegel stehende Beschauer von dem Spiegel.
Nicht die Seele ist von den Leibeswerkzeugen abhängig, sondern allein das gewöhnliche Bewusstsein der Seele. Die materialistische Ansicht von der menschlichen Seele verfällt einer Täuschung, die dadurch bewirkt wird, dass das gewöhnliche Bewusstsein, das nur durch die Leibeswerkzeuge da ist, mit der Seele selbst verwechselt wird. Das Wesen der Seele fließt so wenig in dieses gewöhnliche Bewusstsein hinein, wie mein Wesen in ein Spiegelbild hineinfließt. Dieses Wesen der Seele kann also auch nicht in dem gewöhnlichen Bewusstsein gefunden werden; es muss außerhalb dieses Bewusstseins erlebt werden. Und es kann erlebt werden, denn der Mensch kann noch ein anderes Bewusstsein in sich entwickeln als dasjenige, das durch die Leibeswerkzeuge bedingt ist.
Der aus der Weltanschauung des deutschen Idealismus hervorgegangene Denker Eduard von Hartmann hat nun klar erkannt, dass das gewöhnliche Bewusstsein ein Ergebnis der Leibeswerkzeuge ist und dass die Seele selbst in diesem Bewusstsein nicht enthalten ist. Er hat aber nicht erkannt, dass die Seele ein anderes von den Leibeswerkzeugen unabhängiges Bewusstsein entwickeln kann, durch das sie sich selbst erlebt. Daher meinte er, dieses Seelenwesen läge in einem Unbewussten, über das man sich nur Vorstellungen machen könne, wenn man von dem gewöhnlichen Bewusstsein aus Schlüsse auf ein eigentlich unbekannt bleibendes «Ding an sich» der Seele ziehe.
Aber damit ist Hartmann, wie mancher seiner Vorgänger, auch vor der Schwelle stehen geblieben, die überschritten werden muss, wenn eine Erkenntnis der geistigen Welt mit einer sicheren Grundlage erreicht werden soll. Man kommt eben nicht über diese Schwelle, wenn man davor zurückschreckt, den Seelenkräften eine ganz andere Richtung zu geben, als sie unter dem Einfluss des gewöhnlichen Bewusstseins haben. Die Seele erlebt ihr eigenes Wesen innerhalb dieses Bewusstseins nur in den Bildern, die ihr von den Leibeswerkzeugen erzeugt werden. Könnte sie nur so erleben, so wäre sie in einer Lage, die sich vergleichen ließe mit der eines Wesens, das vor einem Spiegel steht und nur sein Bild sehen, von sich selbst aber nichts erleben kann. In dem Augenblicke aber, in dem dieses Wesen sich selber lebendig-offenbar würde, träte es in ein ganz anderes Verhältnis zum Spiegelbilde als sein voriges war.
Wer sich nicht entschließen kann, in seinem Seelenleben etwas anderes zu entdecken, als ihm durch das gewöhnliche Bewusstsein geboten wird, der wird entweder in Abrede stellen, dass das Wesen der Seele erkennbar ist, oder er wird geradezu erklären, dieses Wesen sei vom Leibe erzeugt.
Man steht hier vor einer anderen Schranke, welche die naturwissenschaftliche Vorstellungsart aus ihren durchaus berechtigten Forderungen heraus aufrichten muss. Die erste ergab sich dadurch, dass diese Forderungen das Bild einer Welt zeichnen müssen, die niemals durch eine Wahrnehmung in ein Bewusstsein eintreten könnte. Die zweite entsteht, weil das naturwissenschaftliche Denken mit Recht von den Erlebnissen des gewöhnlichen Bewusstseins behaupten muss, dass sie durch die Leibeswerkzeuge zustande kommen, also in Wirklichkeit nichts von einer Seele enthalten. Es ist durchaus begreiflich, dass sich das neuere Denken zwischen diese zwei Schranken gestellt fühlt, und aus wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit heraus an der Möglichkeit zweifelt, zu einer Erkenntnis der wirklichen geistigen Welt zu kommen, die weder durch das Bild einer «stummen und finsteren» Natur, noch durch die vom Leibe abhängigen Erscheinungen des gewöhnlichen Bewusstseins erreicht werden kann. Und wer nur aus einem dunklen Gefühle heraus, oder aus verschwommenem Mystizismus für sich von dem Dasein einer geistigen Welt glaubt überzeugt sein zu können, der sollte eher die schwierige Lage des neueren Denkers kennenlernen, als über die «rohen, plumpen» Vorstellungen der Naturwissenschaft wettern.
Über dasjenige, was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart geben kann, kommt man nur hinaus, wenn man im inneren Seelenleben die Erfahrung macht, dass es ein Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein gibt; ein Erwachen zu einer Art und Richtung des seelischen Erlebens, die sich zu der Welt des gewöhnlichen Bewusstseins verhalten, wie dieses zu der Bilderwelt des Traumes. Goethe spricht in seiner Art von dem Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein und nennt die Seelenfähigkeit, die dadurch erlangt wird, «anschauende Urteilskraft».
Diese anschauende Urteilskraft verleiht der Seele, nach Goethes Ansicht, die Fähigkeit, das zu schauen, was sich als die höhere Wirklichkeit der Dinge dem Erkennen des gewöhnlichen Bewusstseins verbirgt. Goethe hatte sich mit dem Bekenntnis zu einer solchen Fähigkeit des Menschen in Gegensatz gestellt zu Kant, der dem Menschen eine «anschauende Urteilskraft» abgesprochen hat. Goethe aber wusste aus der Erfahrung des eigenen Seelenlebens heraus, dass ein Erwachen des gewöhnlichen Bewusstseins zu einem solchen mit anschauender Urteilskraft möglich ist. Kant hatte geglaubt, ein solches Erwachen als «Abenteuer der Vernunft» bezeichnen zu sollen. Goethe erwidert darauf ironisch:
«Hatte ich doch erst unbewusst und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge nennt, mutig zu bestehen.» (Der «Alte vom Königsberge» ist Kant. Vergleiche über Goethes Ansicht darüber meine Ausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Band I in Kürschners Deutscher National-Literatur.)
Es wird in dem Folgenden das erwachte Bewusstsein als schauendes Bewusstsein bezeichnet werden. Ein solches Erwachen kann nur eintreten, wenn man zur Welt der Gedanken und des Willens ein anderes Verhältnis ausbildet als im gewöhnlichen Bewusstsein erlebt wird. Es ist durchaus begreiflich, dass der Bedeutung eines solchen Erwachens gegenwärtig Misstrauen entgegengebracht wird. Denn was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart groß gemacht hat, ist, dass sie sich den Ansprüchen eines dunklen Mystizismus widersetzt hat. Und während Berechtigung als geisteswissenschaftliche Forschungsart nur ein solches Erwachen im Bewusstsein haben kann, das in Ideengebiete von mathematischer Klarheit und Geschlossenheit führt, verwechseln Menschen, die auf leichte Art zu Überzeugungen über die höchsten Fragen des Weltdaseins kommen wollen, dieses Erwachen mit ihren mystischen Verworrenheiten, für die sie sich auf wahre Geistesforschung berufen. Aus der Furcht heraus, dass alles Hinweisen auf ein «Erwachen der Seele» zu solch mystischer Verworrenheit führen könne und durch den Anblick, den die Erkenntnisse solch «mystisch Erleuchteter» oft bieten, halten sich die mit den Forderungen der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart Vertrauten von aller Forschung fern, die durch Inanspruchnahme eines «erwachten Bewusstseins» in die geistige Welt eintreten will. (3)
Nun aber ist ein solches Erwachen durchaus möglich dadurch, dass man in innerem (seelischen) Erleben eine gewisse, von der gewöhnlichen abweichende Betätigung der Kräfte des Seelenwesens (Gedanken- und Willenserlebnisse) entwickelt. Der Hinweis darauf, dass mit der Idee von dem erwachten Bewusstsein in der Richtung weitergegangen wird, in der Goethes Weltanschauung sich bewegt, kann zeigen, dass das hier Vorgebrachte nichts mit Vorstellungen eines verworrenen Mystizismus zu tun haben will. Man kann sich in innerer Erkraftung so aus dem Zustand des gewöhnlichen Bewusstseins herausheben, dass man dabei ein ähnliches Erlebnis hat, wie beim Übergange vom Träumen zum wachen Vorstellen.
Wer vom Träumen zum Wachen übergeht, der erfährt, wie der Wille eindringt in den Ablauf seiner Vorstellungen, während er im Träumen willenlos dem Ablauf der Bilder hingegeben ist. Was da durch unbewusste Vorgänge geschieht, kann auf einer anderen Stufe durch die bewusste Seelenverrichtung bewirkt werden.
Der Mensch kann in das gewöhnliche bewusste Denken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist. Er kann dadurch vom Denken zum Erleben des Denkens übergehen. Im gewöhnlichen Bewusstsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird. Es gibt nun eine innere Seelenarbeit, welche es allmählich dazu bringt, nicht in dem, was gedacht wird, sondern in der Tätigkeit des Denkens selbst zu leben. Ein Gedanke, der nicht einfach hingenommen wird aus dem gewöhnlichen Verlauf des Lebens, sondern der mit Willen in das Bewusstsein gerückt wird, um ihn in seiner Wesenheit als Gedanke zu erleben, löst in der Seele andere Kräfte los, als ein solcher, der durch auftretende äußere Eindrücke oder durch den gewöhnlichen Verlauf des Seelenlebens hervorgerufen wird. Und wenn die Seele in sich die im gewöhnlichen Leben doch nur in geringem Maße geübte Hingabe an den Gedanken als solchen immer erneut bewirkt – sich auf den Gedanken als Gedanken konzentriert –: dann entdeckt sie in sich Kräfte, die im gewöhnlichen Leben nicht angewendet werden, sondern gleichsam schlummernd (latent) bleiben.
Es sind Kräfte, die nur im bewussten Anwenden entdeckt werden. Sie stimmen aber die Seele zu einem ohne ihre Entdeckung nicht vorhandenen Erleben. Die Gedanken erfüllen sich mit einem ihnen eigentümlichen Leben, das der Denkende (der Meditierende) verbunden fühlt mit seinem eigenen Seelenwesen. (Das hier gemeinte schauende Bewusstsein entsteht aus dem gewöhnlichen Wach-Bewusstsein nicht durch körperliche [physiologische] Vorgänge, wie das gewöhnliche Wachbewusstsein aus dem Traumbewusstsein. Beim Erwachen aus diesem in das Tagesbewusstsein hat man es mit einer sich verändernden Einstellung des Leibes im Verhältnis zur Wirklichkeit zu tun. Beim Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein zum schauenden Bewusstsein mit einer sich verändernden Einstellung der geistig-seelischen Vorstellungsart im Verhältnis zu einer geistigen Welt.)
Es ist aber zu diesem Entdecken des Gedankenlebens die Aufwendung bewussten Willens notwendig. Das kann aber auch nicht ohne weiteres der Wille sein, der im gewöhnlichen Bewusstsein zutage tritt. Auch der Wille muss in anderer Art und in anderer Richtung gewissermaßen eingestellt werden, als er eingestellt ist für das Erleben in dem bloßen Sinnesdasein. Im gewöhnlichen Leben fühlt man sich selbst im Mittelpunkte dessen, was man will, oder was man wünscht.
Denn auch im Wünschen ist ein gleichsam angehaltener Wille wirksam. Der Wille strömt von dem Ich aus und taucht in das Begehren, in die Leibesbewegung, in die Handlung unter. Ein Wille in dieser Richtung ist unwirksam für das Erwachen der Seele aus dem gewöhnlichen Bewusstsein. Es gibt aber auch eine Willensrichtung, die in einem gewissen Sinne dieser entgegengesetzt ist. Es ist diejenige, welche wirksam ist, wenn man, ohne unmittelbaren Hinblick auf ein äußeres Ergebnis, das eigene Ich zu lenken sucht. In den Bemühungen, die man macht, um sein Denken zu einem sinngemäßen zu gestalten, sein Fühlen zu vervollkommnen, in allen Impulsen der Selbsterziehung äußert sich diese Willensrichtung.
In einer allmählichen Steigerung der in dieser Richtung vorhandenen Willenskräfte liegt, was man braucht, um aus dem gewöhnlichen Bewusstsein heraus zu erwachen. Eine besondere Hilfe leistet man sich in der Verfolgung dieses Zieles dadurch, dass man mit innigerem Gemütsanteil das Leben in der Natur betrachtet. Man sucht zum Beispiel eine Pflanze so anzuschauen, dass man nicht nur ihre Form in den Gedanken aufnimmt, sondern gewissermaßen mitfühlt das innere Leben, das sich in dem Stengel nach oben streckt, in den Blättern nach der Breite entfaltet, in der Blüte das Innere dem Äußeren öffnet und so weiter. In solchem Denken schwingt der Wille leise mit; und er ist da ein in Hingabe entwickelter Wille, der die Seele lenkt; der nicht aus ihr den Ursprung nimmt, sondern auf sie seine Wirkung richtet. Man wird naturgemäß zunächst glauben, dass er seinen Ursprung in der Seele habe. Im Erleben des Vorgangs selbst aber erkennt man, dass durch diese Umkehrung des Willens ein außerseelisches Geistiges von der Seele ergriffen wird.
Wenn ein Wille nach dieser Richtung erstarkt ist und das Gedankenleben in der angedeuteten Art ergreift, so wird in der Tat aus dem Umkreise des gewöhnlichen Bewusstseins ein anderes herausgehoben, das sich zu dem gewöhnlichen verhält wie dieses zu dem Weben in den Traumbildern. Und ein solches schauendes Bewusstsein ist in der Lage, die geistige Welt erlebend zu erkennen. (Der Verfasser dieser Schrift hat in einer Reihe von Schriften in ausführlicher Art dargestellt, was hier gewissermaßen wie eine Mitteilung in Kürze angedeutet ist. Es kann in solch kurzer Darstellung nicht auf Einwände, Bedenken und so weiter eingegangen werden; in den anderen Schriften ist dies geschehen; und man kann dort manches vorgebracht finden, was dem hier Dargestellten seine tiefere Begründung gibt. Die Titel meiner diesbezüglichen Schriften findet man am Schlusse dieser Schrift angegeben.)
Ein Wille, der nicht in der angegebenen Richtung liegt, sondern in derjenigen des alltäglichen Begehrens, Wünschens und so weiter, kann, wenn er auf das Gedankenleben in der beschriebenen Art angewendet wird, nicht zu dem Erwachen eines schauenden Bewusstseins aus dem gewöhnlichen, sondern nur zu einer Herabstimmung dieses gewöhnlichen führen, zu wachendem Träumen, Phantasterei, visionsgleichen Zuständen und ähnlichem.
Die Vorgänge, die zu dem hier gemeinten schauenden Bewusstsein führen, sind ganz geistig-seelischer Art; und ihre einfache Beschreibung müsste schon davor behüten, das durch sie Erreichte mit pathologischen Zuständen (Vision, Mediumismus, Ekstase und so weiter) zu verwechseln. Alle diese pathologischen Zustände drücken das Bewusstsein unter den Stand herab, den es im wachenden Menschen einnimmt, der seine gesunden physischen Seelenorgane voll brauchen kann. (4)
Es ist in dieser Schrift öfter darauf hingewiesen worden, wie die unter dem Einflusse der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart entwickelte Seelenwissenschaft von den bedeutungsvollen Fragen des Seelenlebens ganz abgekommen ist. Eduard von Hartmann hat ein Buch «Die moderne Psychologie» geschrieben, in dem er eine Geschichte der Seelenwissenschaft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt. Er sagt darin:
«Das Freiheitsproblem lassen die heutigen Psychologen entweder ganz beiseite oder sie beschäftigen sich doch nur soweit mit ihm, als nötig ist, um zu zeigen, dass auf streng deterministischem Boden dasjenige Maß von praktischer Freiheit zustande komme, welches für die juridische und sittliche Verantwortlichkeit ausreicht. Nur in der ersten Hälfte des zu besprechenden Zeitraumes halten noch einige theistische Philosophen, wie an der Unsterblichkeit einer selbstbewussten Seelensubstanz, so auch an einem Rest indeterministischer Freiheit fest, begnügen sich dann aber meistens damit, die wissenschaftliche Möglichkeit dieser Herzenswünsche begründen zu wollen.»
Nun kann vom Gesichtspunkte naturwissenschaftlicher Vorstellungsart wirklich weder von wahrer Freiheit der Menschenseele, noch über die Unsterblichkeitsfrage gesprochen werden. Bezüglich der letzteren darf noch einmal an die Worte des bedeutenden Seelenforschers Franz Brentano erinnert werden:
«Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwicklung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein. … Und wenn wirklich» die neue naturwissenschaftliche Denkweise «den Ausschluss der Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen».
Nun liegt für die naturwissenschaftliche Denkart nur das gewöhnliche Bewusstsein vor. Dieses ist aber in seinem ganzen Umfange abhängig von den Leibesorganen. Fallen diese mit dem Tode weg, so fällt auch die gewöhnliche Bewusstseinsart weg. Das aus diesem gewöhnlichen Bewusstsein heraus erwachte schauende Bewusstsein kann an die Unsterblichkeitsfrage herantreten.
So sonderbar dies auch für die bloß im Naturwissenschaftlichen bleiben wollende Vorstellungsart erscheint: dieses schauende Bewusstsein erlebt sich in einer geistigen Welt, in welcher die Seele ein Dasein außerhalb des Leibes hat. So wie das Aufwachen aus dem Traume das Bewusstsein gibt: Man ist nun nicht mehr dem Ablauf von Bildern willenlos hingegeben, sondern man steht durch seine Sinne mit einer wirklichen Außenwelt in Verbindung, so gibt das Erwachen in das schauende Bewusstsein hinein die unmittelbare Erfahrungsgewissheit: Man steht mit seinem Wesen in einer geistigen Welt; man erlebt erkennend sich selbst in dem, was vom Leibe unabhängig ist, und was wirklich der von Immanuel Hermann Fichte erschlossene Seelenorganismus ist, der einer geistigen Welt angehört und angehören muss nach der Zerstörung des Leibes.
Und da man in dem schauenden Bewusstsein ein anderes als das gewöhnliche, ein in der geistigen Welt wurzelndes Bewusstsein kennenlernt, so kann man auch nicht mehr der Meinung verfallen, mit der Zerstörung des Leibes müsse jedes Bewusstsein aufhören, weil doch die gewöhnliche Bewusstseinsart mit ihrem Leibeswerkzeuge dahinfallen muss.
In einer Geisteswissenschaft, die in dem schauenden Bewusstsein eine Erkenntnisquelle sieht, verwirklicht sich, was aus dem deutschen Weltanschauungs-Idealismus heraus der Schuldirektor von Bromberg (vergleiche S. 63 ff. dieser Schrift), Johann Heinrich Deinhardt, geahnt hat: dass es möglich ist, zu erkennen, wie die Seele «schon in diesem Leben» den «neuen Leib … ausarbeite», den sie dann über die Schwelle des Todes in die geistige Welt trägt. (Wenn man von «Leib» in diesem Zusammenhange spricht, so ist dies gewiss eine materialistisch klingende Bezeichnung; denn gemeint ist natürlich gerade das leibfreie Geistig- Seelische; doch ist man in solchen Fällen genötigt, vom Sinnlichen hergenommene Namen für Geistiges zu gebrauchen, um scharf darauf hinzudeuten, dass man ein wirkliches Geistiges, nicht eine begriffliche Abstraktion meine.)
Bei der Frage nach der menschlichen Freiheit zeigt sich ein eigentümlicher Konflikt der Seelenerkenntnis. Das gewöhnliche Bewusstsein kennt den freien Entschluss als eine innerlich erlebte Tatsache. Und diesem Erlebnis gegenüber kann es sich eigentlich die Freiheit nicht hinweglehren lassen.
Und doch scheint es, als ob die naturwissenschaftliche Vorstellungsart dieses Erlebnis nicht anerkennen könnte. Sie sucht zu jeder Wirkung die Ursachen. Was ich in diesem Augenblicke tue, erscheint ihr abhängig von den Eindrücken, die ich jetzt habe, von meinen Erinnerungen, von den mir angeborenen oder anerzogenen Neigungen und so weiter. Es wirkt vieles zusammen; ich kann es nicht überschauen, daher erscheine ich mir frei.
Aber in Wahrheit bin ich durch die zusammenwirkenden Ursachen zu meinem Handeln bestimmt. Freiheit erschiene somit als eine Illusion. Man kommt aus diesem Konflikt nicht heraus, solange man nicht vom Standpunkte des schauenden Bewusstseins in dem gewöhnlichen Bewusstsein nur eine durch die Leibesorganisation bewirkte Spiegelung der wahren Seelenvorgänge erblickt, und in der Seele eine in der Geisteswelt wurzelnde, vom Leibe unabhängige Wesenheit.
Was bloß Bild ist, kann durch sich selbst nichts bewirken. Wenn durch ein Bild etwas bewirkt wird, so muss dies durch ein Wesen geschehen, das sich durch das Bild bestimmen lässt. In diesem Falle aber ist die menschliche Seele, wenn sie etwas tut, wozu ihr bloß Anlas ein im gewöhnlichen Bewusstsein vorhandener Gedanke ist. Mein Bild, das ich im Spiegel sehe, bewirkt nichts, was nicht ich aus Anlass des Bildes bewirke. Anders ist die Sache, wenn der Mensch nicht durch einen bewussten Gedanken sich bestimmt, sondern, wenn er durch einen Affekt, durch den Impuls einer Leidenschaft mehr oder weniger unbewusst getrieben wird, und die bewusste Vorstellung nur dem blinden Zusammenhang der Triebkräfte gleichsam zusieht.
Sind es so die bewussten Gedanken im gewöhnlichen Bewusstsein, welche den Menschen frei handeln lassen, so könnte doch dieser durch das gewöhnliche Bewusstsein von seiner Freiheit nichts wissen. Er würde nur auf das Bild schielen, das ihn bestimmt, und müsste diesem die Kraft der Ursächlichkeit zuschreiben. Er tut dies nicht, weil instinktiv im Erleben der Freiheit die wahre Wesenheit der Seele in das gewöhnliche Bewusstsein hereinleuchtet. (Der Verfasser dieser Schrift hat die Freiheitsfrage in seinem Buche «Philosophie der Freiheit» ausführlich aus der Beobachtung der menschlichen Seelenerlebnisse zu beleuchten gesucht.) Die Geisteswissenschaft sucht vom Gesichtspunkte des schauenden Bewusstseins in dasjenige Gebiet des wahren Seelenlebens hineinzuleuchten, aus dem heraus in das gewöhnliche Bewusstsein die instinktive Gewissheit von der Freiheit strahlt.
*
Die Bilderwelt des Traumes erlebt der Mensch dadurch, dass der Lebensstand, den er in der Sinneswelt inne hat, herabgestimmt ist. Der gesund denkende Mensch wird sich nicht vom Traumbewusstsein aufklären lassen über das wache Bewusstsein; sondern er wird das wache Bewusstsein zum Beurteiler der Traumbilderwelt machen.
In ähnlicher Art denkt über das Verhältnis des schauenden Bewusstseins zum gewöhnlichen Bewusstsein eine Geisteswissenschaft, die sich auf den Gesichtspunkt des ersteren stellt. Durch eine solche Geisteswissenschaft erkennt man, dass die Welt des Materiellen und ihrer Vorgänge in Wahrheit nur ein Glied in einer umfassenden geistigen Welt ist; einer geistigen Welt, die hinter der Sinneswelt so liegt, wie die Welt der sinnenfälligen materiellen Vorgänge und Stoffe hinter der Bilderwelt des Traumes. Und man erkennt, wie der Mensch zu seinem Sinnesdasein aus einer geistigen Welt herabsteigt; wie aber dieses Sinnesdasein selbst eine Offenbarung geistigen Wesens und geistiger Vorgänge ist.
Es ist begreiflich, dass viele Menschen aus ihren Denkgewohnheiten heraus eine solche Weltanschauung verpönen, weil sie ihnen wirklichkeitsfremd dünkt, und weil sie glauben, dass sie sie lebensuntüchtig mache. Für solche Menschen wirkt es abschreckend, wenn einer höheren Wirklichkeit gegenüber die gewöhnliche Wirklichkeit etwas Traumähnliches genannt wird. Aber verändert sich denn im Traumbewusstsein dadurch etwas, dass man seinen Wirklichkeitscharakter vom wachen Bewusstsein aus zu verstehen sucht?
Wer in Aberglauben zu seinen Traumbildern steht, der kann sich dadurch sein Urteil im wachen Bewusstsein trüben. Nie aber wird das wache Urteil den Traum verderben können. So kann auch eine Weltanschauung, die zur geistigen Welt keinen Zugang gewinnen will, das Urteil trüben über diese nicht aber kann echte Einsicht in die geistige Welt die wahre Bewertung der physischen stören. In keiner Art wird daher das schauende Bewusstsein störend in das Leben des gewöhnlichen Bewusstseins eingreifen können; es wird nur klärend für dasselbe wirken können.
Erst eine Weltansicht, die den Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins anerkennt, wird ein gleiches Verständnis entgegenbringen können sowohl der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart wie auch den Erkenntniszielen des neueren Weltanschauungs-Idealismus, der in der Richtung wirkt, das Wesen der Welt als geistiges zu erkennen. (Eine weitere Ausführung über Erkenntnisse der geistigen Welt ist in dem Rahmen dieser Schrift nicht möglich. Der Verfasser muss dafür auf seine anderen Schriften verweisen. Hier sollte nur der Grundcharakter einer Weltanschauung, die den Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins anerkennt, soweit dargestellt werden, als nötig ist, um den Lebenswert des deutschen Weltanschauungs-Idealismus zu kennzeichnen.)
Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart hat ihre Berechtigung gerade dadurch, dass der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins seine Geltung hat. Der naturwissenschaftliche Forscher und Denker baut seine Erkenntnisarbeit auf der Voraussetzung der Möglichkeit dieses Gesichtspunktes auch dann auf, wenn er dies als theoretischer Betrachter seines Weltbildes nicht zugibt. Nur die Theoretiker, welche das Weltbild der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart für das einzig und allein in einer Weltanschauung berechtigte erklären, durchschauen diese Sachlage nicht. Es können natürlich auch Theoretiker und Naturforscher in einer Person vereinigt sein.
Für das schauende Bewusstsein erfahren nämlich die sinnlichen Wahrnehmungen ein Ähnliches wie die Traumbilder beim Erwachen. Die Kräftewirkungen, die im Traume die Bilderwelt zustande bringen, müssen beim Erwachen denjenigen Kräftewirkungen weichen, durch welche der Mensch sich Bilder, Vorstellungen macht, von denen er weiß, dass sie durch die ihn umgebende Wirklichkeit bedingt sind. Erwacht das schauende Bewusstsein, so hört der Mensch auf, seine Vorstellungen im Sinne dieser Wirklichkeit zu denken; er weiß jetzt, dass er vorstellt im Sinne einer ihn umgebenden Geistwelt. So wie das Traumbewusstsein seine Bilderwelt für Wirklichkeit hält und von der Umgebung des Wachbewusstseins nichts weiß, so hält das gewöhnliche Bewusstsein die materielle Welt für Wirklichkeit und weiß nichts von der geistigen Welt. Der Naturforscher aber sucht ein Bild derjenigen Welt, welche in den Vorstellungen des gewöhnlichen Bewusstseins sich offenbart.
Diese Welt kann in den Vorstellungen des gewöhnlichen Bewusstseins nicht enthalten sein. Sie darinnen zu suchen, wäre ein Ähnliches, als ob man erwarten wollte, dass man einmal träumen werde, was der Traum seinem Wesen nach ist. (An der Klippe, auf die hier gedeutet ist, scheiterten in der Tat solche Denker wie Ernst Mach und andere.)
Der Naturforscher wird, sobald er beginnt, seine eigene Forschungsart zu verstehen, nicht meinen können, dass mit der Welt, die er zeichnet, das gewöhnliche Bewusstsein ein Verhältnis eingehen könne. In Wirklichkeit geht ein solches Verhältnis das schauende Bewusstsein ein. Aber dieses Verhältnis ist ein geistiges. Und die sinnliche Wahrnehmung des gewöhnlichen Bewusstseins ist die Offenbarung eines geistigen Verhältnisses, das jenseits dieses gewöhnlichen Bewusstseins sich abspielt zwischen der Seele und derjenigen Welt, welche der Naturforscher zeichnet. Geschaut werden kann dieses Verhältnis erst durch das schauende Bewusstsein.
Wird die Welt, welche die naturwissenschaftliche Vorstellungsart zeichnet, materiell gedacht, so bleibt sie unverständlich; wird sie so gedacht, dass in ihr ein Geistiges lebt, das als Geistiges zum Menschengeiste spricht, in einer Art, die erst von dem schauenden Bewusstsein erkannt wird, so wird dies Weltbild in seiner Berechtigung verständlich.
Eine Art Gegenbild zur naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ist die altindische Mystik. Zeichnet jene eine Welt, die unwahrnehmbar ist, so diese eine solche, in welcher der Erkennende zwar Geistiges erleben, aber dieses Erleben nicht bis zu der Kraft steigern will, wahrzunehmen.
Der Erkennende sucht da nicht durch die Kraft der Seelenerlebnisse aus dem gewöhnlichen Bewusstsein heraus zu einem schauenden Bewusstsein zu erwachen, sondern er zieht sich von aller Wirklichkeit zurück, um mit dem Erkennen allein zu sein. Er glaubt so die ihn störende Wirklichkeit überwunden zu haben, während er nur sein Bewusstsein von ihr zurückgezogen hat und sie gewissermaßen mit ihren Schwierigkeiten und Rätseln außer sich stehen lässt. Auch glaubt er von dem «Ich» frei geworden und in einer selbstlosen Hingabe an die Geistwelt mit dieser eins geworden zu sein.
In Wahrheit hat er nur sein Bewusstsein vom «Ich» verdunkelt und lebt unbewusst gerade ganz im «Ich». Statt aus dem gewöhnlichen Bewusstsein zu erwachen, fällt er in ein träumerisches Bewusstsein zurück. Er meint die Rätsel des Seins gelöst zu haben, während er nur den Seelenblick von ihnen abgewendet hält. Er hat das Wohlgefühl der Erkenntnis, weil er die Erkenntnisrätsel nicht mehr auf sich lasten fühlt. Was erkennendes «Wahrnehmen» ist, kann nur im Erkennen der Sinneswelt erlebt werden. Ist es da erlebt, dann kann es weiter für geistiges Wahrnehmen gebildet werden. Zieht man sich von dieser Art des Wahrnehmens zurück, so beraubt man sich des Wahrnehmungserlebnisses ganz und bringt sich auf eine Stufe des Seelenerlebens zurück, die weniger wirklich ist als die Sinneswahrnehmung. Man sieht im Nichterkennen eine Art Erlösung vom Erkennen und glaubt gerade dadurch in einem höheren Geisteszustand zu leben. Man verfällt dem bloßen Leben im «Ich und meint, das Ich überwunden zu haben, weil man das Bewusstsein dafür gedämpft hat, dass man ganz im Ich webt. Nur das Finden des Ich kann den Menschen von dem Verstricktsein vom Ich befreien. (Vergleiche auch die Ausführungen auf S. 138 ff. dieser Schrift.)
Man kann wahrlich dies alles sagen müssen und deshalb doch nicht weniger Verständnis und Bewunderung für die herrliche Schöpfung der Bhagavad-Gita und ähnlicher Erzeugnisse indischer Mystik haben wie jemand, der, was hier gesagt ist, als Beweis ansieht, dass der Sprechende «eben kein Organ» habe für die Erhabenheit echter Mystik. Man sollte nicht glauben, dass nur ein unbedingter Bekenner einer Weltanschauung diese zu schätzen wisse. (Ich schreibe dies, trotzdem ich mir bewusst bin, nicht weniger mit der indischen Mystik erleben zu können, als irgend einer ihrer unbedingten Bekenner.)
Nach den Erkenntnissen hin, die sich in der hier gekennzeichneten Art zur Welt stellen, richtet sich, was Johann Gottlieb Fichte zum Ausdrucke bringt. In der Art, wie er das Bild vom Traum aussprechen muss, um die Welt des gewöhnlichen Bewusstseins zu charakterisieren, zeigt sich dies.
«Bilder sind – sagt er – sie sind das einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder; – Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sei, dem sie vorüberschweben: die durch Bilder von Bildern zusammenhängen … Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich zusammenhängt.»
Das ist die Schilderung der Welt des gewöhnlichen Bewusstseins; und es ist der Ausgangspunkt zur Anerkennung des schauenden Bewusstseins, welches das Erwachen aus dem Traum der physischen zur Wirklichkeit der geistigen Welt bringt.
Schelling will die Natur als eine Stufe in der Entwicklung des Geistes betrachten. Er fordert, dass sie erkannt werde durch eine intellektuelle Anschauung. Er nimmt also die Richtung, deren Ziel nur von dem Gesichtspunkte des schauenden Bewusstseins aus ins Auge gefasst werden kann. Er bemerkt den Punkt, wo im Bewusstsein der Freiheit das schauende Bewusstsein in das gewöhnliche Bewusstsein hineinstrahlt. Er sucht endlich über den bloßen Idealismus in seiner «Philosophie der Offenbarung» hinauszukommen, indem er anerkennt, dass die Ideen selbst nur Bilder dessen sein können, was aus einer geistigen Welt heraus mit der Menschenseele im Verhältnis steht.
Hegel empfindet, dass in der Gedankenwelt des Menschen etwas liegt, durch das der Mensch nicht nur ausspricht, was er an der Natur erlebt, sondern was in ihm und durch ihn der Geist der Natur selbst erlebt. Er fühlt, dass der Mensch geistiger Zuschauer werden kann eines Weltenvorganges, der sich in ihm abspielt. Die Heraufhebung dessen, was er so empfindet und fühlt, zum Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins erhebt auch das Weltbild, das bei ihm nur ein Nachdenken der Vorgänge ist, die sich in der physischen Welt vollziehen, zur Anschauung einer wirklichen geistigen Welt.
Karl Christian Planck erkennt, dass der Gedanke des gewöhnlichen Bewusstseins nicht selbst am Weltgeschehen beteiligt ist, weil er, richtig gesehen, Bild eines Lebens, nicht selbst dieses Leben ist.
Deshalb ist Planck der Ansicht, dass eben derjenige, der diese Bildnatur des Denkens richtig durchschaut, die Wirklichkeit finden könne. Indem das Denken selbst nichts sein will, aber von etwas spricht, das ist, weist es auf eine wahre Wirklichkeit.
Denker wie Troxler, Immanuel Hermann Fichte nehmen in sich die Kräfte des deutschen Weltanschauungs-Idealismus auf, ohne sich zu beschränken in den Ansichten, die er in Johann Gottlieb Fichte, Schelling und Hegel hervorgebracht hat. Sie deuten bereits auf einen «inneren Menschen» im «äußeren Menschen», also auf den geistig-seelischen Menschen, den der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins als eine Wirklichkeit anerkennt, die erlebt werden kann.
Besonders an der Weltanschauungsströmung, die sich als neuere Entwicklungslehre von Lamarck, über Lyell und andere bis zu Darwin und den gegenwärtigen Ansichten von den Lebenstatsachen zieht, kann die Bedeutung eingesehen werden, welche der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins hat.
Diese Entwicklungslehre sucht das Aufsteigen der höheren Lebensformen aus den niederen darzustellen.
Sie erfüllt damit eine Aufgabe, die grundsätzlich in sich berechtigt ist. Allein sie muss dabei so verfahren, wie die Menschenseele im Traumbewusstsein mit den Traumerlebnissen verfährt; sie lässt das Folgende aus dem Früheren hervorgehen. In Wirklichkeit sind aber die treibenden Kräfte, die ein folgendes Traumbild aus dem früheren hervorzaubern, in dem Träumenden und nicht in den Traumbildern zu suchen. Dies zu empfinden, ist erst das wachende Bewusstsein in der Lage.
Das schauende Bewusstsein kann sich nun ebenso wenig zufrieden geben, in einer niederen Lebensform die wirksamen Kräfte zu suchen für das Entstehen einer höheren, wie sich das Wachbewusstsein dazu hergeben kann, einen Folgetraum aus einem vorhergehenden Traum wirklich hervorgehen zu lassen, ohne auf den Träumenden zu sehen.
Das in der wahren Wirklichkeit sich erlebende Seelenwesen schaut das Seelisch-Geistige, das es wirksam in der gegenwärtigen Menschennatur findet, auch schon wirksam in den Entwicklungsformen, welche zu dem gegenwärtigen Menschen geführt haben. Es wird nicht anthropomorphistisch in die Naturerscheinungen die gegenwärtige Menschenwesenheit hineinträumen; aber es wird das Geistig- Seelische, das durch schauendes Bewusstsein im gegenwärtigen Menschen erlebt wird, wirksam wissen in allem Naturgeschehen, das zum Menschen geführt hat. Es wird so erkennen, dass die dem Menschen offenbar werdende Geistwelt den Ursprung enthält auch der Naturbildungen, die dem Menschen vorangegangen sind.
Dadurch findet seine rechte Ausgestaltung, was aus den treibenden Kräften des deutschen Idealismus heraus Wilhelm Heinrich Preuß angestrebt hat mit seiner Lehre, die «den Artbegriff nach tatsächlicher Möglichkeit rettet, aber zugleich den von Darwin aufgestellten Begriff der Entwicklung hinübernimmt auf ihr Gebiet und fruchtbar zu machen sucht». Vom Gesichtspunkte des schauenden Bewusstseins aus wird zwar nicht gesagt werden können, was Preuß sagte:
«Der Mittelpunkt dieser neuen Lehre nun ist der Mensch, die nur einmal auf unserem Planeten wiederkehrende Spezies: Homo sapiens»; sondern der Mittelpunkt einer die menschliche Wirklichkeit umfassenden Weltanschauung ist die sich im Menschen offenbarende Geistwelt. Und so gesehen – wird wahr erscheinen, was Preuß meint:
«Merkwürdig, dass die älteren Beobachter bei den Naturgegenständen anfingen und sich dann dermaßen verirrten, dass sie den Weg zum Menschen nicht fanden, was ja auch Darwin nur in kümmerlichster und durchaus unbefriedigender Weise gelang, indem er den Stammvater des Herrn der Schöpfung unter den Tieren suchte, – während der Naturforscher bei sich als Menschen anfangen müsste, um so fortschreitend durch das ganze Gebiet des Seins und Denkens zur Menschheit zurückzukehren … »
Zu einem anthropomorphistischen Ausdeuten der Naturerscheinungen kann der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins nicht führen, denn er anerkennt eine geistige Wirklichkeit, von der das im Menschen Erscheinende die Offenbarung ebenso ist wie das in der Natur Erscheinende. Dieses anthropomorphische Hineinträumen der Menschenwesenheit in die Natur war das Schreckgespenst Feuerbachs und der Feuerbachianer. Für sie wurde dieses Schreckgespenst das Hindernis der Anerkennung einer geistigen Wirklichkeit.
Auch in Carneris Denkertätigkeit wirkte dieses Schreckgespenst nach. Es schlich sich störend ein, wenn er das Verhältnis. suchte seiner auf die seelische Wesenheit des Menschen gestützten ethischen Lebensansicht zur darwinistisch gefärbten Naturanschauung. Aber die treibenden Kräfte des deutschen Weltanschauungs-Idealismus übertönten diese Störung bei ihm, und so tritt in Wirklichkeit bei ihm ein, dass er bei dem als ethisch veranlagten Geistig-Seelischen im Menschen beginnt und fortschreitend durch das ganze Gebiet des Seins und Denkens zur ethisch sich vervollkommnenden Menschheit zurückkehrt.
Die Richtung, welche der deutsche Weltanschauungs-Idealismus genommen hat, kann nicht einlaufen in die Anerkennung einer Lehre, die in die Entwicklung von den niederen zu den höheren Daseinsformen ungeistige Triebkräfte hineinträumt. Aus diesem Grunde musste schon Hegel sagen:
«Solcher nebulöser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Tierorganisationen aus den niedrigeren und so weiter ist, muss sich die denkende Betrachtung entschlagen» (vergleiche Hegels Werke, Vollst. Ausg., 2. Aufl. Berlin 1847, Bd. 7a, S. 33).
Und aus diesem Weltanschauungs-Idealismus heraus sind die Empfindungen geboren, mit denen Herman Grimm dem naturwissenschaftlichen Weltbilde seine Stellung in der Gesamtweltanschauung zuweist. Herman Grimm, der geistvolle Kunstbetrachter, der anregende Darsteller großer Zusammenhänge in der Menschheitsgeschichte, sprach sich über Weltanschauungsfragen nicht gerne aus; er überließ dies Gebiet lieber anderen. Wenn er sich aber doch über diese Dinge äußerte, dann tat er es aus der unmittelbaren Empfindung seiner Persönlichkeit heraus. Er fühlte sich mit solchen Urteilen geborgen in dem Urteilsfelde, das die deutsche idealistische Weltanschauung umfasste und auf dem er sich stehend wusste.
Und aus solchem Untergrunde seiner Seele kamen die Worte, die er in seiner dreiundzwanzigsten Vorlesung über Goethe ausgesprochen hat:
«Längst hatte, in seinen (Goethes) Jugendzeiten schon, die große Laplace-Kantsche Phantasie von der Entstehung und dem einstigen Untergange der Erdkugel Platz gegriffen. Aus dem in sich rotierenden Weltnebel – die Kinder bringen es bereits aus der Schule mit – formt sich der zentrale Gastropfen, aus dem hernach die Erde wird, und macht, als erstarrende Kugel, in unfassbaren Zeiträumen alle Phasen, die Episode der Bewohnung durch das Menschengeschlecht mit einbegriffen, durch, um endlich als ausgebrannte Schlacke in die Sonne zurückzustürzen; ein langer, aber dem Publikum völlig begreiflicher Prozess, für dessen Zustandekommen es nun weiter keines äußeren Eingreifens bedarf, als die Bemühung irgendeiner außenstehenden Kraft, die Sonne in gleicher Heiztemperatur zu erhalten.
Es kann keine fruchtlosere Perspektive für die Zukunft gedacht werden, als die, welche uns in dieser Erwartung als wissenschaftlich notwendig heute aufgedrängt werden soll. Ein Aasknochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes appetitliches Stück im Vergleich zu diesem letzten Schöpfungsexkrement, als welches unsere Erde schließlich der Sonne wieder anheimfiele, und es ist die Wissbegier, mit der unsere Generation dergleichen aufnimmt und zu glauben vermeint, ein Zeichen kranker Phantasie, die als ein historisches Zeitphänomen zu erklären, die Gelehrten zukünftiger Epochen einmal viel Scharfsinn aufwenden werden.
Niemals hat Goethe solchen Trostlosigkeiten Einlass gewährt … Goethe würde sich wohl gehütet haben, die Folgerungen der Schule Darwins aus dem abzuleiten, was in dieser Richtung er zuerst der Natur abgelauscht und ausgesprochen hatte …»
(Über Goethes Verhältnis zur naturwissenschaftlichen Vorstellungsart vergleiche meine Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners «Deutscher National-Literatur» und mein Buch: «Goethes Weltanschauung».)
*
Auch Robert Hamerlings Sinnen bewegt sich in einer Richtung, die im Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins ihre Rechtfertigung findet. Von dem menschlichen Ich aus, das sich denkt, lenkt er die Betrachtung auf das Ich, das sich denkend erlebt; von dem Willen aus, der im Menschen wirkt, auf den Weltenwillen. Doch das sich erlebende Ich kann nur geschaut werden, wenn im seelischen Erleben ein Erwachen in der geistigen Wirklichkeit eintritt; und der Weltenwille dringt nur in die Erkenntnis ein, wenn das menschliche Ich erlebend ein Wollen ergreift, in dem es nicht sich zum Ausgangspunkte, sondern zum Zielpunkte macht, in dem es sich auf die Entfaltung dessen richtet, was in der Welt des Innenlebens vorgeht. Dann lebt die Seele sich ein in die geistige Wirklichkeit, in welcher die treibenden Kräfte der Naturentwicklung in ihrer Wesenheit miterlebt werden können. Wie Hamerlings Sinnen zu einer Empfindung davon führt, dass von solchem Erwachen des in der Geisteswelt sich wissenden Ich zu sprechen berechtigt ist, das zeigen Stellen seiner «Atomistik des Willens» wie diese:
«Im Dämmerschein kühner Mystik und im Lichte freier Spekulation deutet und erfasst dieses Rätsel, dies Wunder, dies geheimnisvolle Ich sich als eine der ungezählten Erscheinungsformen, in welchen das unendliche Sein zur Wirklichkeit gelangt, und ohne welche es nur ein Nichts, ein Schatten wäre» (Atomistik des Willens, 2. Bd. S. 166).
Und: «Den Gedanken im menschlichen Gehirn aus der Tätigkeit schlechterdings lebloser Stoffatome herleiten zu wollen, bleibt für alle Zeit ein vergebliches und törichtes Unterfangen. Stoffatome könnten niemals Träger eines Gedankens werden, wenn nicht in ihnen selbst schon etwas läge, was wesensgleich mit dem Gedanken ist. Und eben dies Ursprüngliche, mit dem lebendigen Denken Wesensverwandte, ist ohne Zweifel auch ihr wahrer Kern, ihr wahres Selbst, ihr wahres Sein» (Atomistik des Willens, 1. Bd. S. 279 f.).
Hamerling steht mit diesem Gedanken allerdings erst bloß ahnend vor dem Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins. Die Gedanken des menschlichen Gehirnes aus der Tätigkeit der Stoffatome herleiten zu wollen, bleibt gewiss «ein für alle Zeiten vergebliches und törichtes Unterfangen». Denn es ist dies nicht besser, als das Spiegelbild eines Menschen bloß aus der Tätigkeit des Spiegels herleiten zu wollen. Aber im gewöhnlichen Bewusstsein erscheinen die Gedanken doch als die von dem Stofflichen des Gehirns bedingte Widerspiegelung des Lebendig-Wesenhaften, das in ihnen als für dies gewöhnliche Bewusstsein unbewusst kraftet. Dieses Lebendig-Wesenhafte wird erst vom Gesichtspunkte des schauenden Bewusstseins verständlich. Es ist das Wirkliche, in dem das schauende Bewusstsein sich erlebt, und zu dem sich auch das Stoffliche des Gehirns verhält wie ein Bild zu dem verbildlichten Wesen. Der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins sucht den «Dämmerschein kühner Mystik» einerseits zu überwinden durch die Klarheit eines in sich folgerichtigen, sich voll durchschauenden Denkens, andererseits aber auch das unwirkliche (abstrakte) Denken der philosophischen «Spekulation» durch ein Erkennen, das denkend zugleich Erleben eines Wirklichen ist.
*
Verständnis für die Erfahrungen, welche die Menschenseele durch eine Vorstellungsart macht, wie sie sich in der Denkerreihe von Fichte bis Hamerling offenbart, wird verhindern, dass eine Weltanschauung, die den Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins als einen berechtigten anerkennt, zurückfällt in Seelenstimmungen, welche ähnlich wie die alte indische eher durch eine Herabdämpfung als durch eine Steigerung des gewöhnlichen Bewusstseins das Erwachen in der geistigen Wirklichkeit suchen. (Der Verfasser dieser Schrift hat in seinen Büchern und Vorträgen immer wieder darauf hingewiesen, dass die Meinung, man könne gegenwärtig in einer Wiederbelebung solch älterer Weltanschauungsrichtungen wie der indischen einen Gewinn für Geisterkenntnis ziehen, auf Irrwegen wandelt. Was allerdings nicht gehindert hat, dass die von ihm vertretene geisteswissenschaftliche Weltanschauung immer wieder mit solchen fruchtlosen und geschichtsfeindlichen Wiederbelebungsversuchen verwechselt wird.)
Der deutsche Weltanschauungs-Idealismus strebt nicht nach Herabdämpfung des Bewusstseins, sondern sucht innerhalb dieses Bewusstseins nach den Wurzeln derjenigen Seelenkräfte, die stark genug sind, um mit vollem Ich-Erlebnis in die geistige Wirklichkeit einzudringen. In ihm hat die Geistesentwicklung der Menschheit das Streben in sich aufgenommen, durch Erstarkung der Bewusstseinskräfte zur Erkenntnis der Weltenrätsel zu kommen.
Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart, die manchen über die Tragkraft dieser Weltanschauungsströmung in Irrtum gebracht hat, kann aber auch die Unbefangenheit erwerben, anzuerkennen, welche Wege zur Erkenntnis der wirklichen Welt in den Richtungen liegen, die von dieser idealistischen Weltansicht gesucht werden. Man wird sowohl die Gesichtspunkte des deutschen Weltanschauungs-Idealismus wie auch denjenigen des schauenden Bewusstseins verkennen, wenn man durch sie hofft eine sogenannte «Erkenntnis» zu erlangen, die durch eine Summe von Vorstellungen die Seele über alle weiteren Fragen und Rätsel hinweghebt und sie in den Besitz einer «Weltanschauung» bringt, in dem sie sich von allem Suchen ausruhen kann.
Der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins bringt die Erkenntnisfragen aber nicht zum Stillstande; im Gegenteile, er bewegt sie weiter, und er vergrößert in einem gewissen Sinne sowohl ihre Zahl als auch ihre Lebhaftigkeit. Aber er hebt diese Fragen in einen Wirklichkeitskreis hinein, in dem sie denjenigen Sinn erhalten, nach dem das Erkennen schon unbewusst sucht, bevor es ihn noch entdeckt hat. Und in diesem unbewussten Suchen erzeugt sich das Unbefriedigende der Weltanschauungsstandpunkte, die das schauende Bewusstsein nicht gelten lassen wollen. Es kommt in diesem unbewussten Suchen auch die sich sokratisch dünkende, aber in Wirklichkeit sophistische Ansicht zustande, dass diejenige Erkenntnis die höchste sei, die nur die eine Wahrheit kennt, dass es keine Wahrheit gäbe.
Es finden sich Menschen, welche ängstlich werden, wenn sie daran denken, der Mensch könne den Antrieb zum Erkenntnisfortschritt verlieren, sobald er sich ausgerüstet glaubt mit einer Lösung der Welträtsel. Diese Sorge braucht gegenüber dem deutschen Idealismus wie auch gegenüber dem Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins niemand zu haben. (5)
Auch von anderen Seiten kann eine rechte Würdigung des neuen Weltanschauungs-Idealismus zur Austilgung von Missverständnissen führen, die ihm entgegengebracht werden. Es ist allerdings nicht in Abrede zu stellen, dass manche Bekenner dieses Weltanschauungs-Idealismus durch ihr eigenes Missverstehen des von ihnen Anerkannten ebenso zu Gegnerschaften Veranlassung gegeben haben, wie Bekenner der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart dadurch, dass sie die Tragkraft ihrer Anschauungen für die Erkenntnis der Wirklichkeit überschätzen, unberechtigte Ablehnungen dieser Anschauungen selbst hervorrufen.
Der bedeutende österreichische Philosoph (und katholische Priester), Laurenz Müllner, hat in einem Aufsatz über Adolf Friedrich Graf von Schack (Literatur- und kunstkritische Studien von Dr. Laurenz Müllner S. 54) in eindringlicher Art sich vom Standpunkte des Christentums über den Entwicklungsgedanken der neueren Naturwissenschaft ausgesprochen. Er weist die Behauptungen Schacks zurück, die in den Worten gipfeln:
«Die gegen die Deszendenztheorie gemachten Einwendungen rühren alle von Oberflächlichkeit her.»
Und nach dieser Zurückweisung sagt er:
«Das positive Christentum hat keinen Grund, sich gegen den Entwicklungsgedanken als solchen ablehnend zu verhalten, wenn der Naturprozess nicht lediglich als von Ewigkeit auf sich gestellter kausaler Mechanismus gefasst und wenn der Mensch nicht als Produkt desselben hingestellt wird. »
Diese Worte gingen aus demselben christlichen Geiste hervor, aus dem heraus Laurenz Müllner beim Antritte des Rektorats an der Wiener Universität in seiner bedeutungsvollen Rede über Galilei gesagt hat:
«So kam die neue Weltanschauung (gemeint ist die Kopernikanisch-Galileische) vielfach in den Schein eines Gegensatzes zu Meinungen, die in sehr fraglichem Rechte ihre Abfolge aus den Lehren des Christentums behaupteten. Es handelte sich vielmehr um den Gegensatz des erweiterten Weltbewusstseins einer neuen Zeit zu dem enger geschlossenen der Antike, um einen Gegensatz zur griechischen, nicht aber zur richtig verstandenen christlichen Weltanschauung, die in den neu entdeckten Sternenwelten nur neue Wunder göttlicher Weisheit hätte sehen dürfen, wodurch die auf Erden vollzogenen Wunder göttlicher Liebe nur höhere Bedeutung gewinnen können.»
Wie bei Müllner eine schöne Unbefangenheit des christlichen Denkers gegenüber der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart vorliegt, so ist eine solche gewiss auch möglich gegenüber dem deutschen Weltanschauungs-Idealismus. Solche Unbefangenheit würde sagen: Das positive Christentum hat keinen Grund, sich gegen den Gedanken eines Geisterlebnisses in der Seele als solchen ablehnend zu verhalten, wenn das Geisterlebnis nicht zur Ertötung des religiösen Andacht- und Erbauungs-Erlebnisses führt und wenn die Seele nicht vergottet wird.
Und die anderen Worte Laurenz Müllners könnten für einen unbefangenen christlichen Denker die Form annehmen: Die Weltanschauung des deutschen Idealismus kam vielfach in den Schein eines Gegensatzes zu Meinungen, die in sehr fraglichem Rechte ihre Abfolge aus den Lehren des Christentums behaupten. Es handelt sich vielmehr um den Gegensatz einer Weltanschauung, welche die Geistwesenheit der Seele anerkennt, zu einer solchen, welche zu dieser Geistwesenheit keinen Zugang finden kann, um einen Gegensatz zur missverstandenen naturwissenschaftlichen Vorstellungsart, nicht aber zur richtig verstandenen christlichen Weltanschauung, die in den rechten Geisterlebnissen der menschlichen Seele nur Offenbarungen göttlicher Macht und Weisheit sehen dürfte, wodurch die Erlebnisse der religiösen Andacht und Erbauung, sowie die Kräfte zu liebegetragener Menschenpflicht eine weitere Verstärkung gewinnen können.
*
Robert Hamerling empfand die Kraft zum Weltanschauungs-Idealismus als eine Grundkraft im Wesen des deutschen Volkstums. Die Art, wie er sein Erkenntnissuchen in seiner «Atomistik des Willens» dargestellt hat, zeigt, dass er für seine Zeit nicht an eine Wiederbelebung alter indischer Weltanschauungsströmung denkt. Aber so denkt er über den deutschen Idealismus, dass dieser ihm im Sinne der Forderungen einer neuen Zeit aus dem Wesen seines Volkstums heraus zu den geistigen Wirklichkeiten zu streben scheint, die in abgelebten Zeitaltern durch die damals stärksten Seelenkräfte der asiatischen Menschheit gesucht wurden. Und dass das Erkenntnisstreben dieses Weltanschauungs-Idealismus mit seiner Richtung nach den geistigen Wirklichkeiten den Aufblick des Menschen zu göttlichen Höhen nicht stumpft, sondern erstarkt, davon ist er durchdrungen, weil er dieses Erkenntnisstreben selbst als mit den Wurzeln religiöser Gesinnung verwachsen erblickt. Mit Gedanken über die Aufgabe seines Volkes, die Ausdruck dieses Wesenszuges ist, ist Robert Hamerling erfüllt, als er 1864 seinen «Germanenzug» dichtet. Wie die Schilderung einer Vision ist diese Dichtung. Von Asien herüber ziehen in uralter Zeit die Germanen nach Europa. Am Kaukasus ist Rast des wandernden Volkes.
Der Abend sinkt herab. Als goldne Mäler
Im letzten Dämmerschein erglühn die Kuppen
Des Kaukasus und wie aus fernen Welten
Schaun sie bedeutsam nieder auf die Gruppen
Des Volks, das rastend rings erfüllt die Täler
Mit seinen Waffen, Rossen und Gezeiten.
Zuletzt als Phönix aus den Opfergluten
Der Sonne steigt der Mond, hoch überm Plane
Des Orients mit voller Scheibe schwebend.
Nun aber ruhn die Völker. Wach geblieben
Ist Teut, der Jüngling, königlichen Blicks,
Das blonde Haupt in Sinnen tief versunken,
Und wie, aus kurzem Traum erwacht, nach oben
Sein Aug’ sich wendet und ein Licht, ein klares,
Herniedertauet, sieh, da wollt’ ihn deuchten,
Als ob hoch über ihm die goldnen Globen
Des Himmels sich vereinten ihre Leuchten
Im Schimmer eines Augensternenpaares:
Als ob ein wunderbares
Mildernstes Antlitz sich herunterneigte
Als ob vor seinen stolzen Sonnenflügen
Urmutter Asia mit hehren Zügen
Sich Aug’ in Aug’ dem mut’gen Sohne zeigte –
Und Urmutter Asia offenbart Teut seines Volkes Zukunft; sie spricht nicht bloß Lobeshymnen; sie spricht ernst von des Volkes Schatten- und Lichtseiten. Aber sie spricht auch von dem Wesenszug des Volkes, der das Erkenntnisstreben in voller Einheit mit dem Aufblick zum Göttlichen zeigt:
Fortleben wird in dir die traumesfrohe
Gottrunkenheit, die sel’ge Herzenswärme
Des alten asiat’schen Heimatlandes.
Geruhigen Bestandes
Wird dieser heil’ge Strahl, ein Tempelfeuer
Der Menschheit, frei von Rauch, mit reiner Flamme
Fortglühn in deiner Brust und Seelenamme
Dir bleiben und Pilote deinem Steuer!
Du strebst nur, weil du liebst: dein kühnstes Denken
Wird Andacht sein, die sich in Gott will senken.
Anmerkungen:
(1) Wenn jemand der oben gegebenen Darstellung mit dem Einwand begegnen wollte, sie berücksichtigte die Ergebnisse der Sinnes-Physiologie nicht, so würde er damit nur zeigen, dass er die Tragweite dieser Darstellung nicht richtig wertet. Ein solcher könnte nämlich sagen: aus der finsteren und stummen Welt erheben sich Bildungen, die sich immer weiter vermannigfaltigen und zuletzt zu Organen werden, durch deren Funktion z. B. die «finstern Ätherwellen» in Licht umgesetzt werden. Doch damit ist nicht etwas gesagt, das durch die hier gegebene Darstellung nicht betroffen würde. In dem Bilde der «finstern Welt» ist das Auge verzeichnet; aber durch kein Auge kann als wahrnehmbar gedacht werden, was durch seine eigene Wesenheit als unwahrnehmbar gedacht werden muss.
Man könnte vielleicht auch meinen, diese Darstellung berücksichtige nicht, dass das neueste naturwissenschaftliche Weltbild nicht mehr auf dem Boden stehe, auf dem noch z. B. Du Bois-Reymond gestanden hat. Man erwarte nicht mehr so viel wie dieser und seine wissenschaftlichen Gesinnungsgenossen von einer «Mechanik der Atome», von einer Zurückführung «aller Naturerscheinungen auf Bewegungen kleinster Materieteile» usw. In den Anschauungen von E. Mach, dem Physiker Max Planck und anderen seien diese älteren Theorien überwunden. Doch das in dieser Schrift Gesagte gilt auch von diesen neuesten Anschauungen. Dass z. B. Mach das Feld der Naturforschung auf die Sinnesempfindung aufbauen will, zwingt ihn gerade, in sein Weltbild nur dasjenige von der Natur aufzunehmen, was seinem Wesen nach niemals als wahrnehmbar gedacht werden kann. Er geht von der Sinnesempfindung zwar aus, kann aber nicht wieder mit seinen Ausführungen in einer wirklichkeitgemäßen Art zu ihr zurückkommen. Wenn Mach von Empfindung spricht, deutet er auf dasjenige, was empfunden wird; aber er muss, indem er den Gegenstand der Empfindung denkt, ihn vom «Ich» absondern. Er bemerkt nun nicht, dass er eben dadurch etwas denkt, was nicht mehr empfunden werden kann. Er zeigt dies dadurch, dass in seiner Empfindungswelt der Ich-Begriff völlig zerflattert.
Das «Ich» wird bei Mach zum mythischen Begriff. Er verliert das «Ich». Weil er, trotzdem er sich dessen nicht bewusst ist, doch unbewusst gezwungen ist, seine Empfindungswelt unempfindbar zu denken, wirft sie ihm das Empfindende – das Ich – aus sich heraus. Dadurch wird gerade Machs Ansicht zu einem Beweis für das hier Angeführte. Und Max Plancks, des Physiktheoretikers Ansichten, sind das beste Beispiel für die Richtigkeit der obigen Darstellung. Es darf sogar gesagt werden, dass die neuesten Gedanken über Mechanik und Elektrodynamik sich immer mehr noch der Richtung zubewegen, die hier als notwendig bezeichnet wird: aus der Wahrnehmungswelt heraus ein Bild einer Welt zu zeichnen, die nicht wahrnehmbar ist.
(2) Dasjenige, was man gegenwärtig Relativitätstheorie nennt, muss an Vorstellungen dieser Art orientiert werden; sonst kommt es nicht aus dem Logisch-Theoretischen zu wirklichkeitsgemäßen Ideen, in dem Sinne, wie in dieser Schrift der Begriff des «Wirklichkeitsgemäßen» bei Schilderung von Plancks Ansichten charakterisiert worden ist.
(3) Wem es um eine wirkliche Erkenntnis der geistigen Welt zu tun ist, der hat eine große Befriedigung, wenn ein geistreicher Künstler wie Hermann Bahr in seiner glänzenden Komödie «Der Meister» die Lebenskomödien darstellt, die sich oft so aufdringlich an die Bestrebungen anhängen, welche nach einer Wissenschaft des Geistigen suchen.
(4) Dass, was hier gemeint ist, nicht mit der Seelenverfassung verwechselt werden sollte, die dem altindischen Erkenntnisstreben zugrunde liegt, darauf wird in dem Folgenden noch gedeutet. (Vergleiche auch oben S. 84)
(5) In der Beurteilung von Weltanschauungsfragen durch manche Menschen wirkt ganz besonders verwirrend das Eingenommensein von Worten, mit denen man glaubt, Gedanken zu haben, während man sich nur in einer gedanklichen Unbestimmtheit beruhigt. Viel ist gewonnen, wenn man sich darüber nicht im unklaren ist, dass Worte wie Gebärden sind, die auf ihren Gegenstand bloß hindeuten können, deren eigentlicher Inhalt aber mit dem Gedanken selbst nichts zu tun hat. (Ebensowenig wie das Wort »Tisch« mit einem wirklichen Tisch.) Eindringlich in vieler Beziehung spricht darüber eine kleine Schrift »Kultur-Aberglaube« von Alexander von Gleichen-Rußwurm [1916, Forum-Verlag, München].
Wer den Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins gelten lässt, wird ganz besonders nötig haben, voll anzuerkennen, was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart auch über die Seelenerscheinungen zu sagen hat. Eine von einem gewissen Gesichtspunkte aus hervorragende »Seelenkunde« in naturwissenschaftlicher Vorstellungsart hat der bedeutende Wiener Anthropologe Moritz Benedict geschrieben (1894). Man kann in dieser »Seelenkunde« wegen des gesunden Wirklichkeitssinnes des Verfassers in der Beurteilung des seelischen Lebens ein in mancher Beziehung geradezu klassisches Werk sehen. Und man kann diesem Buche gegenüber diese Ansicht haben, selbst wenn man sich sagen muss, dass der in dieser Schrift charakterisierte Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins von dem Verfasser dieser »Seelenkunde« wohl entschieden abgelehnt werden würde. Die so denken wie dieser Naturforscher, werden diese Ablehnung aber nicht immer haben müssen.
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