Geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Dreigliederung

Geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Dreigliederung

Öffentlicher Vortrag, Basel, 23. November 1917, GA 72

Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, von der hier wieder die Rede sein soll, wie in den Vorträgen vor einigen Wochen von ihr die Rede war, diese Geisteswissenschaft wird von vielen Menschen in unserer Zeit noch aufgefasst, wie man etwa – man könnte den Vergleich schon machen – einen uneingeladenen Gast innerhalb einer Gesellschaft auffasst. Man verhält sich zunächst, selbstverständlich, gegenüber einem uneingeladenen Gaste, wenn man ihn so ansehen muss, recht ablehnend. Andere wissenschaftliche Strömungen, andere wissenschaftliche Zweige sind durch die schon erkannten Bedürfnisse der Menschen durchaus eben, ich möchte sagen, geladene Gäste im geistigen Streben der Menschheit der Gegenwart. Allein, wenn man gegenüber einem ungeladenen Gaste dann die Wahrnehmung macht, dass er einem etwas zu bringen hat, das man verloren hatte und das einem doch in einer gewissen Beziehung sehr, sehr wertvoll sein kann, dann beginnt man, auch den ungeladenen Gast etwas anders zu behandeln als vorher. Und in dieser Lage ist im Grunde die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Sie hat zu sprechen von geistig-seelischen Gütern der Menschheit, die in einer gewissen Beziehung in ganz begreiflicher Art der neueren Kulturmenschheit verlorengegangen sind und die wiederum  gebracht werden müssen. Verlorengegangen sind sie dadurch, dass während Jahrhunderten, Jahrtausenden geschichtlicher Entwicklung die Menschheit für dasjenige, was da in Betracht kommt, ein gewisses instinktives Erkennen hatte; dieses instinktive Erkennen kann die Menschheit sich nicht fernerhin in derselben Art bewahren, hat es sogar bis zu einem gewissen Grade schon verloren.

Geradesowenig, wie die Menschheit bleiben konnte bei der mittelalterlichen Weltanschauung vom Stillstehen der Erde, den Drehestellungen des Himmels und der Sonne, so wenig konnte die Menschheit bei den alten instinktiven Erkenntnissen über das Wesen des Seelischen und damit über das eigentliche Kernwesen des Menschen bleiben. Und in den Vorträgen, die ich vor Wochen hier gehalten habe, war es insbesondere meine Aufgabe, auszuführen, wie in begreiflicher und gerechtfertigter Weise naturwissenschaftliche Art des Denkens von den Seelen der Menschen Besitz ergriffen hat, wie dieses naturwissenschaftliche Vorstellen sich immer mehr und mehr verbreitet, immer mehr und mehr auf die gesamte Kulturentwickelung der Menschheit Einfluss gewinnen muss. Aber dieses naturwissenschaftliche Erkennen ist auf der anderen Seite, so einleuchtend, so anschaulich es ist, nicht geeignet, dem Menschen die Geheimnisse seines eigenen seelischen Wesens zu enthüllen, gerade wenn es stark und kräftig bleiben will auf dem Gebiete, das ihm zugewiesen ist. Und dieses naturwissenschaftliche Vorstellen hat die Eigentümlichkeit, dass es die alten instinktiven Erkenntnisse über das Seelische nicht mehr gelten lassen kann, dass es sie gewissermaßen vernichtet.

Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, will, in derselben Art wie die Naturwissenschaft auf ihrem Gebiete, durch geregeltes Erkennen in das geistige Gebiet bewussterweise hineinleuchten und damit dem Menschen in bewusster Art wieder bringen, was er als eine instinktive Erkenntnis verloren hat.

Ganz gewiss, die Menschen, die heute noch diese Anthroposophie als einen ungebetenen, ungeladenen Gast empfinden, sie werden ihn gerade deshalb als einen sehr willkommenen Gast ansehen – so ist die Hoffnung desjenigen, der drinnensteht in diesem geisteswissenschaftlichen Streben –, wenn sie eingesehen haben, dass er die Kunde, die Erkenntnis eines verlorenen Lebensgutes bringt.

Wenn wir Umschau halten in den verschiedenen Darstellungen über die menschliche Seele und ihr Wesen, wie sie aufgetreten sind in der Zeit, in welcher die naturwissenschaftliche Denkart schon ihren tiefen Einfluss geübt hat, und bis in die Gegenwart herein, so sehen wir, dass zwei der allerwichtigsten Fragen, welche der alten Seelenwissenschaft eigen waren, geradezu aus dieser neueren, naturwissenschaftlich angehauchten Seelenwissenschaft verschwunden sind. Allerdings gliedern sich mit diesen zwei Hauptfragen eine ganze Reihe anderer zusammen; aber diese anderen sind gewissermaßen mitgegeben, wenn man die Aufmerksamkeit auf diese zwei Hauptfragen richtet: auf die Frage nach dem Ewigen in der Menschenseele, die sogenannte Unsterblichkeitsfrage, und auf die Frage nach der menschlichen Freiheit. Inwiefern die Frage nach dem Ewigen immer mehr und mehr aus dem Gesichtskreise der neueren Betrachtungen verschwinden musste, soweit von Wissenschaft die Rede ist, davon habe ich in den letzten Vorträgen gesprochen, und ich habe dazumal schon die Bemerkung gemacht, dass es heute meine Aufgabe sein soll, so gut das in einem Vortrage geht, die Seelenfrage zu behandeln von dem Gesichtspunkte einer wenigstens skizzenhaften Betrachtung der menschlichen Freiheit.

Wenn Naturwissenschaft ihre Denkweise ausdehnt auf das Seelische, muss sie zunächst ihr Hauptaugenmerk darauf richten, inwiefern dieses Seelische seine Grundlage in dem Leiblichen des Menschen hat. Nun ist aber diese naturwissenschaftliche Betrachtungsart ganz und gar darauf angewiesen, den Verlauf der äußeren Vorgänge, auch den Verlauf der seelischen Vorgänge, wie sie sich ergeben in der Zeit, ursächlich zu betrachten. Die naturwissenschaftliche Denkart kann, wenn sie Seelenlehre wird, das Seelische nur im engsten Zusammenhange mit dem Leibe betrachten. Der Leib aber gehört ganz und gar dem materiellen, dem stofflichen Zusammenhang der äußeren Welt an. Für diesen Zusammenhang findet naturwissenschaftliche Denkungsweise in einer großartigen Form gesetzmäßige Zusammenhänge. Aber diese gesetzmäßigen Zusammenhänge führen geradezu weg, nicht hin, von einer Betrachtung der beiden angedeuteten Hauptfragen über das menschliche Seelenleben.

Um nur ein Beispiel anzuführen: Indem die Naturwissenschaft immer mehr und mehr, ich möchte sagen, Besitz ergriff von der Betrachtung des Seelenlebens, versuchte sie auch, ihre auf ihrem eigenen Gebiete so fruchtbaren Gesetze anzuwenden auf die Betrachtung dieses Seelischen. Da kann sie nicht anders als darauf hinsehen, wie eine menschliche Handlung, wie ein menschlicher Willensimpuls, wie alles dasjenige, was der Mensch von seiner Seele aus unternimmt, herausfließt aus dem leiblichen Erleben. Sie muss in ihrer Art Versuche anstellen, wie sie es gewöhnt ist auf ihrem naturwissenschaftlichen Gebiete, und sie fühlt sich, gewissermaßen mit Recht, tief befriedigt, wenn sie in ihren Versuchen findet, dass auch das seelische Leben in keiner Art durchbricht, was naturwissenschaftlich für das äußere natürliche Leben festgestellt ist. Man braucht nur solch einer Sache zu gedenken wie, dass Physiologen, Biologen Versuche darüber angestellt haben, welches die Kraftmenge ist, die der Mensch, die das Tier durch ihre Nahrung aufnehmen; dann wiederum, welches die Kraftmenge ist, welche der Mensch, das Tier entwickeln, wenn sie seelische Äußerungen in der Welt unternehmen. Rubner, der Biologe, der ausgezeichnete Forscher, hat Versuche angestellt mit Tieren, in denen er gezeigt hat, wie alles, was sich in der Bewegung, im Handeln der Tiere als Kraft äußert, nichts anderes ist als berechenbar umgesetzte Nahrungsenergie, die aufgenommen wird. Und Atwater hat Versuche angestellt, welche zeigen, wie dieses Gesetz auch für den Menschen gilt, wie alles, was wir aufbringen an Bewegungsarbeit und dergleichen, sich zahlenmäßig berechnen lässt als Umsatzprodukt desjenigen, was wir stofflich mit der Nahrung als Kraft aufnehmen und dann in Wärme und dergleichen in uns verwandeln.

So führt Naturwissenschaft aus ihrer Denkweise heraus auch das seelische Leben auf das sogenannte Gesetz von der Erhaltung der Kraft zurück. Sie kann nicht anders als von ihrem Gesichtspunkte aus sagen: Wo sollte ein Seelisches von sich aus in das Getriebe des menschlichen Wesens eingreifen, gewissermaßen wie durch ein Wunder etwas Neues schaffen, wenn man beweisen kann, dass alles, was gewissermaßen vom Menschen nach außen sich betätigt, nur Umwandlungsprodukt desjenigen ist, was der Mensch wiederum aus der Welt aufnimmt? Wenn die menschliche Äußerung dasjenige ist, was der Leib in sich aufgenommen hat, dann ist das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, dieses seit Julius Robert Mayer, Helmholtz und so weiter so bedeutungsvoll in die Naturwissenschaft eingetretene Gesetz, erfüllt. Nirgends tritt eine neue Kraft auf; alles, was an Kraftäußerungen auftritt, ist nur umgewandeltes schon Vorhandenes. Man kann also nicht sagen, wenn der Mensch eine sogenannte freie, willkürliche Handlung vollbringt, so komme diese aus seiner Seele heraus, denn dann würde sich zu den Kräften, die schon da sind, eine neue gleichsam aus dem Nichts heraus gesellen.

Wer sich in naturwissenschaftliche Vorstellungen eingelebt hat, empfindet selbstverständlich so etwas als einen ganz geschlossenen Gedankengang. Und weil dieses so ist, weil Naturwissenschaft auf ihrem Gebiete so Großes, so Eindrückliches leistet, hat selbstverständlich Anthroposophie, die wissenschaftliche Strenge auf das Geistgebiet ausdehnen will, in ganz begreiflicher Weise einen schweren Stand. Aber nicht in einigen abstrakten Sätzen, sondern, ich möchte sagen, durch den ganzen Geist dessen, was ich in diesen Vorträgen vorzubringen habe, soll sich ergeben, dass diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft durchaus nicht nur in keinen Widerspruch kommt mit der Naturwissenschaft, sondern dass sie im Gegenteil diese Naturwissenschaft voll fortsetzt, ausbildet, trotzdem sie den Pfad, den Weg einschlägt aus dem Gebiete der Sinnenbetrachtung heraus in die Betrachtung des geistigen Lebens hinein.

Da allerdings begegnet sie unzähligen Vorurteilen. Wer in der Anthroposophie drinnen lebt, weiß am allerbesten, wie berückend Vorurteile wirken und der Anthroposophie eine Gegnerschaft erwecken müssen. Man kann sagen: Schon gegen die Art und Weise, wie auf dem Gebiete der Anthroposophie geforscht werden soll, liegen genügend Gründe vor – wenn man nur Vorurteils voll genug sein will, sie anzuerkennen –, Einwände zu machen, Gegnerschaften zu erheben. Denn «Beweise», wie man sie in der gewöhnlichen Wissenschaft und im gewöhnlichen Leben kennt, sie sind durchaus innerhalb der Anthroposophie vorhanden; aber sie werden in einer gewissen Weise anders gehalten sein und anders aufgefasst werden müssen, als was man «Beweise» in der gewöhnlichen Wissenschaft und im gewöhnlichen Leben nennt.

Vor allen Dingen handelt es sich in der gewöhnlichen Wissenschaft und im gewöhnlichen Leben darum, dass man dasjenige, was man untersuchen will, gegeben vor sich hat. Niemand kann leugnen, dass die Welt der Sinne eben vor den Sinnen ausgebreitet ist, dass sie Fragen an uns stellt.

Dieses ist in einer gewissen Weise nicht der Fall bei anthroposophischer Betrachtung. Da muss die Welt selbst erst zur Offenbarung gebracht werden, von der man eigentlich zu reden hat, so zur Offenbarung gebracht werden, wie für ein Wesen aus der niederen Reihe der Organismen etwa, wenn es sich weiterentwickeln würde, die Welt der Sinne zur Offenbarung gebracht würde, wenn dieses Wesen erst Sinne bekäme. In demselben Maße, in dem das Wesen Sinne bekommen würde, würde sich ihm die Sinneswelt erschließen. Dann, wenn sich die Sinneswelt ihm erschließt, dann ist eben deren Dasein erwiesen. Daher wird vieles – nicht alles – von der beweisenden Kraft, welche der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft innewohnt, davon abhängen, dass man einsieht: Die vorbereitenden Arbeiten in der eigenen Seele, die der Geistforscher durchgeführt hat, um erst zu der Welt, die er betrachtet, zu kommen, sie sind berechtigt.

In der anderen Wissenschaft arbeitet man auf einer gewissen Grundlage, und dann erst beginnt die geistige Tätigkeit, dann beginnt dasjenige, was die Seele zu verarbeiten hat. In der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft muss die Seele zuerst arbeiten, und ihre Arbeit ist nicht etwas, was wieder Gesetze entwirft über anderes, sondern ihre Arbeit ist zunächst etwas, wodurch sie sich selbst zubereitet, um das zu beobachten, um was es sich in der geistigen Welt eigentlich handelt. Da kommt man darauf, für die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft fordern zu müssen, was in der Gegenwart so ungern anerkannt wird: Dass, sobald es sich darum handelt, Einsicht in das Übersinnliche zu gewinnen, erst die Fähigkeiten in der Seele, welche dieses Übersinnliche schauen können, erweckt werden müssen, herausgeholt werden müssen aus der Seele. Aber geradeso, wie im Laufe der Entwickelung niedere Organismen, die noch gewisse Sinne nicht haben, durch ihre Wechselbeziehung mit der Außenwelt solche Sinne aus ihrem noch undifferenzierten Organismus herausentwickeln, so ist es möglich, aus der undifferenzierten menschlichen Seele heraus Fähigkeiten zu entwickeln, welche zur Anschauung der geistigen Welt so führen wie zur Anschauung der Sinneswelt eben die physischen Sinne.

Ich werde heute nicht eingehen auf die Entwickelung dieser seelischen Fähigkeiten. Ich habe in vielen Vorträgen, die ich im Laufe der Jahre hier gehalten habe, auch in den letzten Vorträgen, einiges Prinzipielle über die Entwickelung solcher Fähigkeiten, über das Heraufholen solcher Fähigkeiten vorgebracht. Heute möchte ich in dieser Richtung nur auf meine Bücher verweisen, namentlich auf meine Schrift: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und meine «Geheimwissenschaft», in der sich gezeigt findet, was die Seele mit sich vorzunehmen hat, damit sie die Fähigkeit erlangt – die durchaus erlangbar ist –, Wahrnehmungen zu machen in der geistigen Welt. Sie kann diese Fähigkeit nur erlangen, wenn sie ihr inneres Wesen unabhängig von dem Leiblichen macht. Um nicht in Wiederholungen zu verfallen, werde ich, wie gesagt, heute nicht davon zu sprechen haben, wie solche Fähigkeiten erlangt werden. Nur einiges möchte ich anführen von den Eigentümlichkeiten dieses geistigen Weges, der in das übersinnliche Gebiet, dem der Mensch angehört, hineinführt.

Eine zunächst sonderbare Wahrheit in bezug auf diesen Weg ins Übersinnliche möchte ich aussprechen. Der Geistesforscher muss in der Seele Fähigkeiten zu einer Erkenntnisart entwickeln, welche sich auf Dinge bezieht, die im Grunde genommen jeder sich selbst verstehende Mensch zu dem Gegenstande seiner Betrachtung machen möchte, wenn ihn nicht irgendwelche naturwissenschaftlichen oder anderen Vorurteile davon abhalten. Das Ewige der Seele, das Wesen der menschlichen Freiheit und alles, was damit zusammenhängt, diese ewigen Philosophen-Fragen der Menschheit, sind Fragen für jeden Menschen. Die alte instinktive Erkenntnis hat sich mit ihnen befasst. Die neuere, geisteswissenschaftliche Erkenntnis muss einen solchen Erkenntnisweg gehen, der sich auf etwas bezieht, was sozusagen von jedem sich selbst verstehenden Menschen begehrt wird. Aber die Wege, welche einzuschlagen sind, um durch wirkliche Erkenntnis in dieses übersinnliche Gebiet einzudringen, werden weniger geliebt, werden geradezu abgelehnt. Und zwar nicht bloß abgelehnt in Vorurteilen, sondern, ich möchte schon sagen, abgelehnt durch gewisse Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur selber. Und da kommt namentlich das Folgende in Betracht.

Wir sind gewohnt, wenn wir uns Vorstellungen bilden, Begriffe bilden, diese anzulehnen an ein Seiendes, an ein Wesenhaftes, das unabhängig von diesen Vorstellungen, von diesen Begriffen, an uns herantritt. Wir stehen in der Welt als Sinneswesen mit dem Seienden in Verbindung, über das wir uns Vorstellungen machen. Als Menschen zwischen Geburt und Tod, als Menschen, die im Leibe leben, stehen wir nun nicht in unmittelbarer Verbindung mit demjenigen, worauf sich die übersinnlichen Erkenntnisse beziehen. Daher müssen diese übersinnlichen Erkenntnisse eine größere Kraft der Seele, eine weit höhere innere Energie in Anspruch nehmen als die Erkenntnisse der gewöhnlichen sinnlichen Außenwelt, die uns immer dadurch zu Hilfe kommt, dass sie eben von vornherein da ist. Diese innere Verstärkung des seelischen Lebens, worinnen namentlich die Erweckung der höheren Erkenntnisfähigkeiten besteht, dieses Heraufholen von aktiven, nicht bloß passiven Erkenntniskräften, das ist etwas, vor dem viele Menschen zurückscheuen, das ist etwas, was sehr vielen Menschen deshalb, weil es sich nicht unmittelbar auf ein Sein bezieht, wie ein Phantastisches, wie ein bloßes Phantasiegebilde erscheint. Das Allerbegreiflichste ist es, dass derjenige, der in ein tieferes Verständnis der Sache nicht eindringt, die Vorstellungen, die Begriffe der Geisteswissenschaft für Phantasiebilder nimmt, weil er gewöhnt ist, nur diejenigen Vorstellungen als wirklich gelten zu lassen, für die das Seiende, das Wirkliche, wie man es nennt, schon draußen vor den Sinnen ausgebreitet ist. Was aber den Menschen von der übersinnlichen Welt vor allem interessiert, was von seinem eigenen Wesen über Geburt, oder sagen wir Empfängnis, und Tod hinaus lebt, das nicht in dieser Sinneswelt und in dem Leben dieser Sinneswelt sich erschöpft, das muss in solchen Vorstellungen eines übersinnlichen Erkennens erfasst werden. Diese Vorstellungen müssen aus großen Tiefen der Seele herausgeholt werden. Die Seele, wie sie gewöhnt ist, die sinnliche Welt zu verfolgen, naturwissenschaftlich mit gewissen Gesetzen zu durchdringen, ist schwach im Verhältnis zu jener Seele, die die Erkenntniskräfte aufbringen muss, um durch sie in das Übersinnliche hineinzuschauen. Nicht wie man sie erforscht, aber wie sie in einer gewissen Beziehung sind, diese Erkenntniskräfte, davon will ich gerade im heutigen Vortrag sprechen.

Der Mensch ist gewohnt: Wenn er sich eine Vorstellung von irgend etwas, das gleichsam in der Wirklichkeit abläuft, bildet, dann hat er eben ein Bild von irgend etwas Wirklichem; an das kann er sich dann erinnern; das bleibt ihm als Erinnerung. Das ist ja eine Eigentümlichkeit unseres gewöhnlichen Vorstellens, eine Eigentümlichkeit, die uns eigentlich alle Lebenssicherheit gibt, dass wir uns in der Lage fühlen, dasjenige zu behalten, was uns die äußere Welt verbildlicht. Wenn der Geistesforscher aus den Tiefen seiner Seele diejenigen Kräfte heraufholt, die ihn befähigen, in das Übersinnliche hineinzuschauen, dann ist es so, dass er im «schauenden Bewusstsein» – so habe ich in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» diese Fähigkeit genannt – in die Lage kommt, in das Übersinnliche einen Blick hineinzutun. Aber wenn er nun versuchen wollte, das, was er geschaut hat, das, was ihm geistig vor die Seele getreten ist, in derselben Weise wie irgend etwas anderes, was er aus der äußeren Sinneswelt erfahren hat, durch das Gedächtnis zu bewahren, so würde er zunächst einen vergeblichen Versuch machen. Erlebnisse der geistigen Welt, Erlebnisse, die sich auf das Ewige, auf das Unsterbliche unserer Seele beziehen, können durch übersinnliche Erkenntniskräfte erkannt werden; aber sie können nicht in der gewöhnlichen Weise dem Gedächtnisse einverleibt werden, sie werden gewissermaßen wie ein flüchtig durch die Seele eilender Traum sogleich vergessen.

Nun können Sie sagen: Wie ist es also dann mit diesen Erkenntnissen? Können sie überhaupt nur wie Ergebnisse eines flüchtigen Traumes angesehen werden? – Man muss sagen: In einem gewissen Sinne durchaus! Aber das Folgende gilt nun: Man muss, um solche Einschau in das Übersinnliche zu haben, die ganze menschliche Seelenverfassung in einer gewissen Weise vorbereiten; man muss jedesmal von neuem eine solche innere Seelen Verfassung herbeiführen, vor welcher die Geistesschau auftreten kann. Das, was man da in der Seele als Verrichtung anstellt, was man in der Seele vornimmt, um in die Geisteswelt hineinzuschauen, das kann man im Gedächtnisse behalten, daran kann man sich erinnern. Hat man also einmal einen Einblick in dieses oder jenes Geschehnis der Geisteswelt, über diese oder jene Wesen der geistigen Welt erlangt, so hat man gewusst, was man mit der Seele für Übungen vornehmen muss, damit diese Geistesschau eintreten kann. Soll nach einiger Zeit diese Geistesschau wieder eintreten, so muss man dieselben Bedingungen in der Seele herstellen. An diese Bedingungen kann man sich erinnern. Was man schaut, dass muss immer wieder von neuem auftreten. Dadurch ist ein großer Unterschied gegenüber den gewöhnlichen Erkenntnissen gegeben.

Der Geistesforscher ist nicht in der Lage – so paradox das klingt –, einmal etwas zu erfahren, dann es gewissermaßen auswendig gelernt zu haben, um es immer wieder und wiederum in seiner Seele lebendig machen zu können wie eine Erinnerung. Nein, will er derselben geistigen Wesenheit oder demselben geistigen Geschehnisse wieder entgegentreten, dann muss er in sich selber die Gelegenheit herbeiführen, es neuerdings zu erleben. So sonderbar es klingt, wenn der Geistesforscher von den elementarsten Wahrheiten spricht – ich möchte sagen: an fünf aufeinanderfolgenden Tagen zu irgendeiner Gemeinde, zu irgendeinem Publikum –, und er will so sprechen, dass das Gesprochene unmittelbar herausgesprochen ist aus der geistigen Erfahrung, dann muss er jedesmal diese geistige Erfahrung von neuem machen.

Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass eines der wichtigsten Gesetze, eine besondere Eigentümlichkeit unseres geistigen Erlebens, ist: Während unsere sinnlichen Vorstellungen scheinen – es ist ja auch nur scheinbar der Fall –, als ob sie später wieder auftauchen könnten aus der Erinnerung, als ob sie ein geistiger Besitz wären, gilt dies ganz und gar nicht für die Praxis der geistigen Erkenntnis. Geistige Erkenntnisse müssen immer von neuem und neuem erworben werden.

Warum setze ich gerade dieses auseinander? Ich möchte hier – worauf ich auch schon Öfter hingewiesen habe – besonders darauf aufmerksam machen, dass die Aneignung des geisteswissenschaftlichen, des geistesforscherischen Weges keineswegs eine Notwendigkeit für jedermann ist, der sich mit der Geisteswissenschaft im modernen Sinne beschäftigen will. Gewiss, es ist heute ein allgemeines Bestreben, was man für wahr halten soll, auch selber bis zu einem gewissen Grade zu erfahren; und insofern ist es gerechtfertigt, wenn diejenigen, die von Geisteswissenschaft und ihren Ergebnissen hören, auch danach fragen: Wie kann ich selber auf solche Dinge kommen? – Allein das Wesentliche im Verhältnisse des Menschen zur Geisteswissenschaft besteht gar nicht darinnen, dass man selber Geistesforscher wird. Denn der geistesforscherische Weg ist ein solcher, der dem Leben, und auch dem unsterblichen Leben, nur dann etwas gibt, wenn das, was in der Geistesschau auftritt, nun zurückverwandelt wird in gewöhnliche menschliche Begriffe, wie wir sie für die Sinnes weit auch haben. Der Geistesforscher könnte ein noch so hochentwickeltes Wesen in bezug auf übersinnliche Erkenntnisse sein, als Mensch hätte er vor anderen Menschen durch diese Geistesschau nichts Besonderes voraus; denn alles, was in diese Geistesschau eintritt, ist nur ein Weg, ist nicht das Ziel. Das Ziel besteht darinnen, das, was durch die Geistesschau gewonnen wird, in gangbare menschliche Begriffe zurückzuverwandeln, in diejenigen Vorstellungen, die wir gerade an der äußeren Sinneswelt gewonnen haben, wenn dann auch vieles bildlich klingen muss, was wir durch solche Vorstellungen ausdrücken, die wir in der Sinneswelt gewonnen haben.

Wenn daher jemand – mehr oder weniger hypothetisch sei das gesagt – gar nicht Geistesforscher werden wollte, gar nicht einen innerlichen Weg machen wollte, dann könnte er von dem Geistesforscher das übernehmen, was dieser durch seine Forschung findet. Die Ergebnisse, zu denen er kommt, sind für sich verständlich, wenn man nur genügend vorurteilslos ist. Und der Besitz dieser Erkenntnisse im gewöhnlichen menschlichen Vorstellen – nicht im übersinnlichen Schauen –, der macht das eigentliche Lebensgut aus. Der Geistesforscher würde gar nichts von seiner Geistesforschung haben, wenn er nur im übersinnlichen Schauen schwelgen und beseligt sein wollte, gar nichts; das wäre etwas, das viel vergänglicher, viel vorübergehender wäre als die gewöhnlichen äußeren Sinnesergebnisse. Worauf es ankommt, ist, dass, was also Vergängliches in der Seele ist, die Schau des Geistigen, zurückverwandelt wird in gangbare menschliche Vorstellungen. Die teilen sich dann der Seele mit, die sind dann dasjenige, was die Seele mitnehmen kann, wenn sie durch die Pforte des Todes aus diesem sinnlichen Leben in ein anderes geistiges Leben tritt. Die Geistesschau als solche kann man nicht mitnehmen, nur, was die Geistesschau bringt. Und so, wie man sich als Geistesforscher aus der geistigen Welt heraus selbst mitteilt, was eben von solchen Vorstellungen umgesetzt werden kann, wie das für einen selbst ein Gut werden kann, so, und geradesogut, kann es ein Gut werden für den anderen, der nicht selbst Geistesforscher ist, sondern die Dinge nur aus dem allgemeinen gesunden Menschenverstand heraus, der durchaus dazu imstande ist, einsieht.

Dieses muss einmal mit aller Schärfe gesagt werden, weil selbst von vielen Menschen, welche innerhalb der anthroposophischen Bewegung stehen, das Vorurteil erweckt wird, als ob dasjenige, worauf es ankommt, ein Sichzurückziehen vom Leben, ein Sichhineinleben in ein ganz anderes, was weiß ich, mystisches Seelendunkel wäre. Das ist es nicht, um was es sich handelt. Um was es sich handelt, ist, dass durch gewisse Veranstaltungen der Seele – wie gesagt, Sie können die Sache lesen in meinen genannten Schriften – gefunden wird, was für die übersinnliche Welt gilt, dass dies Gefundene dann umgewandelt werden kann in gewöhnliche menschliche Begriffe, die allerdings heute noch abgewiesen werden von den Menschen, weil sie glauben, dass diese Begriffe vom gesunden Menschenverstand nicht durchdrungen sein können. Aber sie sind begreiflich, und man wird im Laufe der Zeit einsehen, dass sie begreiflich sind.

Wenn trotzdem heute das Bedürfnis besteht, dass jeder bis zu einem gewissen Grade selbst hineinschauen will in die geistige Welt, so ist das im Leben einmal berechtigt. Die Literatur kommt dem entgegen. Und es entspricht dieses eben einer Forderung unserer Zeit, nicht bloß zu glauben, sondern selbst zu sehen. Allein, wie gesagt, die Hauptsache, um die es sich handelt, ist das nicht. Und wenn in ausführlicher Weise gerade von mir der Erkenntnispfad beschrieben wird, durch den man in die geistige Welt hineingelangt, so ist es erstens, um den eben angeschnittenen Bedürfnissen entgegenzukommen, zweitens aber vorzugsweise, weil der Geistesforscher selbst als Ziel vor sich sehen muss, Rechenschaft abzulegen von der Art und Weise, wie er zu seinen Wahrheiten gekommen ist. Dann kann aber auch derjenige, welcher solch eine Schrift wie zum Beispiel «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder den zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft» liest, aus der Art und Weise, wie der Geistesforscher den geistesforscherischen Weg beschreibt, ersehen, dass es sich nicht um Phantastik handelt, sondern um einen realen, wirklichen Hineingang in die übersinnliche Welt. Er kann gewissermaßen sehen, wie von einer Wirklichkeit Rechenschaft abgelegt wird.

Das ist wiederum etwas, was gesagt werden muss zu der Tatsache, dass in vieler Beziehung die Beweise, die der Geistesforscher beizubringen hat, in einer anderen Weise geführt werden müssen als gewöhnliche Beweise. Der Geistesforscher muss eben darauf Anspruch machen, dass man die Begreiflichkeit, die Berechtigtheit des Weges anerkennt, den er Stück für Stück angibt, der in die geistige Welt hineinführt. Wenn er nun aber trotzdem solch eine besondere charakteristische Eigentümlichkeit der Geistesschau hervorhebt, wie die eben angedeutete ist – dass das Hineinschauen in die geistige Welt ganz und gar nicht stimmt zu unserem gewöhnlichen Seelenleben –, dann geschieht dieses gerade, um die übersinnliche Welt besonders zu charakterisieren, in die man da hineinkommt.

Für das gewöhnliche Seelenleben, so sagte ich, ist es eine charakteristische Eigentümlichkeit, dass wir in der Erinnerung behalten, was wir einmal aus der Sinneswelt aufgenommen haben; für die Geistesschau gilt dies nicht. Indem man so etwas ausspricht, weist man darauf hin, dass das Darinnenstehen in der geistigen Welt noch etwas ganz anderes ist als das Darinnenstehen in der sinnlichen Welt. Man gibt gewissermaßen Eigentümlichkeiten der geistigen Welt an; man zeigt, dass man auf dem geistesforscherischen Wege in eine solche Welt eintritt, die sich gar nicht so mit unserem Leibe verbindet, wie sich die sinnliche Welt mit ihm verbindet. Die sinnliche Welt verbindet sich so, wenn wir sie wahrnehmen mit unserem Leibe, dass wir das Wahrgenommene behalten können in der Erinnerung. Die geistige Welt steht uns leiblich so ferne, dass sie gar nicht die Veränderungen in unserem Leibe hervorruft, welche zur Erinnerung führen. Das ist gerade eine Eigentümlichkeit der geistigen Welt, die man ins Auge fassen muss. Und die richtige Erkenntnis dieser Eigentümlichkeit ist eben ein Beweis dafür, dass man mit der Geistesschau in einer Welt drinnensteht, welche mit unserem Leib gar nichts zu tun hat, dass es vollständig berechtigt ist, zu sagen: Während alles, was im Leib wahrgenommen wird, mehr oder weniger Erinnerungen hervorruft, ruft dasjenige, was wahrgenommen wird, wenn die Seele sich außerhalb des Leibes befindet, wie in der Geistesschau, eben deshalb keine Erinnerungen hervor, weil es nur in Beziehung zu unserer übersinnlichen Seele, nicht in Beziehung zu unserem Leibe tritt.

Also um eine Eigentümlichkeit des Wesens der geistigen Welt anschaulich zu machen, wird so etwas erwähnt.

Und auch andere Eigentümlichkeiten, die vor dem Geistesforscher auftreten, wenn er sich in die übersinnliche Welt hineinbegibt, werden aus demselben Grunde und in demselben Sinne erwähnt. In der gewöhnlichen physischen Wahrnehmungswelt stellt sich die Sache so: Wenn man immer wieder und wiederum eine Vorstellung wiederholt – wie viel Pädagogisches beruht darauf! –, dann wird sie uns geläufiger, wir können sie besser behalten, sie verbindet sich besser mit unserer Seele. Das Entgegengesetzte ist der Fall für das, was wir auf geistigem Gebiete erfahren. So sonderbar das wieder klingt, man kann geradezu sagen: Habe ich ein geistiges Erlebnis und versuche ich, es öfter zu haben, so wird es nicht leichter, sondern schwieriger. Man kann sich nicht üben, geistige Erlebnisse immer besser und besser zu haben.

Damit hängt etwas sehr Eigentümliches zusammen. Es gibt Menschen, welche Anstrengungen machen, durch gewisse Seelenübungen Einblicke in die geistige Welt zu bekommen. Die in jeder Seele aufgesammelten Kräfte, die in den Tiefen der Seele befindlich und nach der übersinnlichen Welt hingerichtet sind, werden dadurch aufgerufen. Dadurch tritt einmal, ich möchte sagen, wie traumhaft vorübergehend, ein beseligendes, vielleicht oftmals ein großartiges Erlebnis auf. Es braucht nicht, wenn der Betreffende auch Anstrengungen gemacht hat, um dieselben Seelenbedingungen wieder herbeizuführen, die sogar verstärkt wirken können, beim zweiten-, drittenmal wieder aufzutreten. Man kann geradezu sagen: Ein richtiges geistiges Erlebnis flieht uns, wenn es einmal dagewesen ist, und wir müssen stärkere, erheblichere Anstrengungen machen, wenn wir es wieder hereinbringen wollen.

Darüber wundern sich oftmals diejenigen, die die ersten Anstrengungen gemacht haben, dass einem ein sehr bedeutsames geistiges Erlebnis nicht immer wieder und wiederum aus der Seele herauf auftaucht. Auch dies führe ich an, um zu zeigen, wie die Erfahrungen, die der Geistesschauer macht, indem er sich der übersinnlichen Welt nähert, ganz andere sind als die Erfahrungen, die man macht gegenüber der sinnlichen Wahrnehmungswelt.

Eine weitere Eigentümlichkeit ist die: Man verspürt, indem man vorschreitet in geistiger Erkenntnis, dass man die Ereignisse, die geistig wesenhaft vor einem auftreten, mit dem reifen Zustand seines Vorstellungslebens bemeistern muss, wenn man nicht zu Phantasmen, zu allerlei phantastischen Vorstellungen kommen will. Man muss daher einsehen, dass die Vorbereitung für die Geistesschau von ganz besonderer Bedeutung ist. Man muss möglichst reife, möglichst vielseitige, möglichst eindringliche Vorstellungskräfte schon entwickelt haben, damit man mit dem, was man den geistigen Erlebnissen entgegenbringt, sie bemeistern kann. Wiederum ist das ganz anders, als wenn man Erlebnisse hat auf dem gewöhnlichen sinnlichen Wahrnehmungsgebiet. Da ist dieses Wahrnehmungsgebiet vor uns ausgebreitet; wir gewinnen immer mehr und mehr Vorstellungen aus diesem Wahrnehmungsgebiet; wir bereichern daraus unsere Vorstellungen. Nachdem wir die Wahrnehmungen gehabt haben, bereichern wir unsere Vorstellungen. Umgekehrt ist es bei den geistigen Erlebnissen: Wir müssen unsere Vorstellungen zuerst reich und vielseitig machen, damit sie vorbereitet sind, wenn wir übersinnliche Erfahrungen haben wollen. Sie sehen wiederum etwas ganz anderes, als in dem gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft da ist.

Ich wollte damit andeuten, dass der Weg in das übersinnliche Gebiet hinein ein solcher ist, der uns in ganz anderes Erleben, in ganz anderes Erfahren und Wahrnehmen führt, als dasjenige ist, das wir im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft haben. Vor dieser anderen Art des Wahrnehmens, vor dieser ganz anderen Art, Begriffe und Vorstellungen zu haben, schrecken sehr viele Menschen heute noch zurück. Und was Geisteswissenschaft durchzumachen haben wird, ist dies: Sie wird vor allen Dingen darauf angewiesen sein, dass die Menschen wiederum Mut und Kraft finden, auch solche Vorstellungen sich zu bilden, welche nicht, ich möchte sagen, getragen werden von dem, wozu wir nichts tun, wozu wir nichts beitragen: von der schon vorhandenen äußeren Wahrnehmungswelt.

Diese Vorstellungen aber bildet vorzugsweise die naturwissenschaftliche Denkweise aus. Und da sie in ihrer Art ihre großen Erfolge errang, so hat sie für eine Zeitlang die Menschen von dem geistigen Erkennen abgeführt. Sie wird sie wiederum, gerade durch ihre Eigentümlichkeit, zu diesem geistigen Erkennen zurückführen. Gerade indem sie auf das Materielle hinweist und auch von den Menschen das Materielle immer mehr und mehr durchschaut wird, wird der Mensch gedrängt werden, anzuerkennen, dass das Geistige auf einem anderen Wege gesucht werden muss.

Da möchte ich nun an gewissen Forschungsergebnissen der Geisteswissenschaft zeigen, wie Menschheitserkenntnis überhaupt etwas anderes werden wird, wenn nach und nach die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft eingreift in das menschliche Arbeiten nach den Erkenntniszielen. Diejenigen der verehrten Anwesenden, die mich öfter hören, wissen, dass ich von Persönlichem ganz ungerne spreche. Aber eine Andeutung darf ich machen, weil sie gewissermaßen mit dem zusammenhängt, was ich vorzubringen habe: Was ich nun zu sagen mir vorgesetzt habe über die Beziehung des menschlichen Geistig-Seelischen zu dem menschlichen Leiblich-Körperhaften, das ist für mich das Ergebnis eines mehr als dreißig Jahre lang dauernden Forschungsweges. Denn auf geistigem Gebiete werden die Dinge nicht so gewonnen, dass man wie im Laboratorium irgendein Objekt oder irgendeinen Vorgang vor sich hat und von dem entnehmen kann, was über ihn zu sagen ist, wenn man die Methode entwickelt hat. Das geistige Forschen ist vorzugsweise ein solches, das in der Zeit verläuft. Und es handelt sich darum, dass man auf gewisse Dinge erst dann kommt, wenn man zeitlich auseinanderliegende Erlebnisse miteinander in Beziehung zu setzen vermag.

Das Aufrücken von der gewöhnlichen wissenschaftlichen Erkenntnis und von dem gewöhnlichen Bewusstsein zu der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis lässt sich zunächst vergleichen mit dem unmusikalischen Anhören einzelner Töne und dem musikalischen Auffassen von Melodien oder Harmonien. Hört man einen einzelnen Ton, dann ist das eine Wahrnehmung eben dieses einzelnen Tones; es ist ein einzelnes Erlebnis. Will man in die Welt des Musikalischen eintreten, dann ist der einzelne Ton in Beziehung zu setzen mit anderen Tönen, dann wird er, was er ist, nur dadurch, dass er mit anderen Tönen in Beziehung tritt. Im gewöhnlichen sinnlichen Wahrnehmen tritt die Seele mit einer sinnlichen Außenwelt, mit einer stofflichen Außenwelt in Beziehung. Das lässt sich vergleichen mit der Wahrnehmung des einzelnen Tones. Im geistigen Erkennen muss die Seele in Beziehung treten zu demjenigen, was in der Zeit verläuft. Andeuten will ich nur, wie es zum Beispiel von großer Bedeutung ist, dass der Geistesforscher in der Lage ist, das, was er,  sagen wir, heute innerlich seelisch erlebt, nicht nur als einzelnes Ereignis des unmittelbaren gegenwärtigen Daseins zu erleben, sondern dass er das in Beziehung zu setzen vermag mit einem Erlebnis, das vielleicht ein Jahr zurückliegt, so wie ein Ton einer Melodie mit einem anderen Ton der Melodie in Beziehung gesetzt wird, wenn eine musikalische Auffassung da sein soll. Wie man durch das gewöhnliche Wahrnehmen mit der Seele in Verbindung tritt mit irgend etwas räumlich außer uns Gelegenem, so tritt man im geistigen Erleben zunächst mit dem gegenwärtigen Erlebnis in Verbindung, setzt es dann aber in Beziehung zu dem lebendig in der Seele Heraufgeholten der Vergangenheit. Man schaut von einem Falle der Vergangenheit aus ein gegenwärtiges Erlebnis an; wiederum so von einem weiter zurückliegenden Erlebnis aus. Auf diese Weise, indem man innerhalb der Zeit hinschaut, gliedern sich die seelischen Erlebnisse, so dass man sagen kann: Aus dem gewöhnlichen Erkennen wird etwas wie ein musikalisches Überschauen des Seelischen.

Dadurch wird die Seele auch in die Lage gebracht, nicht nur das aufzunehmen, was sie im Leibe erlebt. Sondern sie bringt das, was sie durchlebt und was erinnerungsfähig ist zwischen Geburt und Tod – wie das Ohr einen musikalischen Ton in einer Melodie in Beziehung bringt mit einem anderen –, sie bringt, wenn sie die innerliche «musikalische» Auffassung des Seelendaseins hat, dieses gegenwärtige, zwischen Geburt und Tod verlaufende Seelenleben in Beziehung zu dem, was vor der Geburt, oder sagen wir vor der Empfängnis, liegt und was nach dem Tode liegt. Aber die Seele muss sich dazu vorbereiten dadurch, dass sie innerhalb des Lebens zwischen Geburt und Tod einzelne Erlebnisse wie die Töne von Melodien miteinander in Beziehung setzt, nicht bloß die einzelnen Erlebnisse auffasst, nicht bloß diese durchlebt, sondern das Erleben ausdehnt über die Zeit und in der Zeit die verschiedenen Abstufungen, die verschiedenen Differenzierungen wirklich wie innerliche Musik erlebt.

Was dann weiter auftritt, ist nicht nur innerliche Musik, sondern das ist etwas, was wie innerliches Lesen oder Anhören von Worten ist, wo man nicht nur Töne hört, die mit anderen in melodische oder harmonische Beziehungen treten, sondern die einen Sinn ausdrücken, der darin liegt. Dann wird für den Geistesforscher entstehen, was ich so charakterisieren kann, dass ich sage: Die gewöhnliche naturwissenschaftliche Betrachtung sieht die Dinge so an, wie man eine bedruckte Seite ansehen würde, wenn man nur die Form der Buchstaben beschreiben würde, die Striche und Winkel zueinander bei den Buchstaben, die Aufeinanderfolge der Buchstaben. Das auf die Natur angewendet, so wie es die Naturforschung macht, ist Naturwissenschaft. Das ist eine Beschreibung der Buchstaben. Der Geistesforscher lernt lesen. Er löst sich vollständig los von dem, was bloßes Buchstabenlesen ist. Und was er in der Natur findet als Übersinnliches, verhalt sich zu dem, was in der Natur vor den Sinnen ausgebreitet ist, wie der Sinn des Gelesenen und Gehörten, den man aufnimmt, zu den einzelnen bloßen Tönen, die die Worte bilden, oder zu den einzelnen Buchstaben, mit denen das Papier bedruckt ist.

Aber das ist im wesentlichen abhängig von einem inneren Fortschritt, zu dem man jedoch auch kommt, wenn man nicht selbst Geistesschüler ist, sondern wenn man nur die Begriffe, die Vorstellungen aufnimmt, welche durch die Geistesforschung erlangt werden. Man lernt die Welt gewissermaßen in ihrem eigentlichen Zusammentönen und Zusammenklingen kennen; man lernt den Sinn erkennen, der hinter dieser, vergleichsweise gesprochen, «tönenden» Welt liegt.

Auf eine solche Weise hat sich mir geistesforscherisch im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten etwas ergeben, was ich als den Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Leiblich-Körperhaften aussprechen möchte, was sich ganz gewiss in der nächsten Zeit der Naturwissenschaft, die heute von der Anhörung einer solchen Sache noch weit entfernt ist, auch ergeben wird. Denn Geistesforschung und Naturwissenschaft werden einander begegnen, die Geistesforschung von der geistigen Seite her, die Naturwissenschaft von der materiellen Seite her. Sie werden sich treffen, wie Arbeiter, die einen Tunnel graben, wenn sie richtig orientiert sind, von beiden Seiten her in der Mitte zusammentreffen.

Was ich also vorzubringen habe, ist geistesforscherisch gefunden. Aber schon die heutige Naturwissenschaft, Physiologie und Biologie, bieten Gelegenheit genug, das voll zu erhärten, was ich als geistesforscherisches Ergebnis nun vorzubringen habe. Bei den Besprechungen und Betrachtungen über den Zusammenhang des Seelischen mit dem Leiblichen gibt man sich nämlich heute einer, ich möchte fast sagen, verhängnisvollen Einseitigkeit hin. Wer heute eine Psychologie, eine Seelenwissenschaft in die Hand nimmt, der wird sehen, dass sich als Einleitung überall eine Betrachtung des Nervensystems findet. Das ist vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus heute voll berechtigt. Man kann durchaus sagen: Der Naturforscher kommt zu nichts anderem, als dass er das Seelische einseitig zu dem bloßen Nervensystem in Beziehung stellt. Einer totalen Betrachtung des Lebens ergibt sich etwas ganz anderes. Einer totalen Betrachtung des Lebens ergibt sich, dass nur ein Teil des seelischen Erlebens unmittelbar in Beziehung gesetzt werden darf zu dem Nervensystem, und zwar bloß das Vorstellungsleben. So dass wir sagen können: Alles, was in unserem seelischen Erleben Vorstellungsleben ist, findet sein – nun, gebrauchen wir den Ausdruck – physisches Gegenbild in dem Nervensystem. Das Nervensystem ist die Grundlage, der Träger, der physische Träger für das Vorstellungsleben.

Nicht aber für das Gefühlsleben. Das Gefühlsleben wird ja ohnedies von den naturforscherischen Psychologen, welche die Psychologie für die Naturwissenschaft erobern wollen, höchst stiefmütterlich behandelt. Theodor Ziehen lässt – mit Recht von seinem Standpunkt aus – das Gefühlsleben in der Seele überhaupt als etwas Selbständiges nicht gelten; er spricht nur von der «Gefühlsbetonung der Vorstellungen». Jede Vorstellung hätte gewissermaßen einen «Gefühlston». Das widerspricht selbstverständlich den gewöhnlichsten seelischen Erfahrungen. Für das gewöhnliche seelische Erfahren ist das Gefühlsleben ein so reales wie das Vorstellungsleben. Es ist nicht bloß irgendein «Gefühlston» unserer Vorstellungen da, sondern es bildet sich neben dem Vorstellungsleben das Gefühlsleben aus. Wenn man dieses Gefühlsleben so unmittelbar zu dem Nervenleben in Beziehung bringt wie das Vorstellungsleben, begeht man einen zwar heute noch durchaus begreiflichen, aber deshalb nicht minder so zu nennenden Irrtum. Denn so unmittelbar wie das Vorstellungsleben mit dem Nervenleben zusammenhängt, so unmittelbar hängt das Gefühlsleben – so sonderbar es eben heute klingt – zusammen mit all den rhythmischen Vorgängen in unserem Organismus, die abhängig sind, die begrenzt sind vom Atmungsrhythmus und seiner Fortsetzung, vom Blutrhythmus, von den rhythmischen inneren Bewegungen; wobei wir allerdings nicht bloß an den groben Rhythmus der Atmung und Blutzirkulation denken dürfen, sondern an die feineren Ausästelungen des rhythmischen Systems. An dasjenige müssen wir denken, was Rhythmus, rhythmische Bewegung ist, wenn wir die physische, die körperhafte Grundlage für das Gefühlsleben suchen.

Ich weiß sehr gut, dass Hunderte von Einwänden sich ergeben können, wenn so etwas ausgesprochen wird. Ich könnte diese Einwände wirklich alle herzählen. Aber ich möchte nur eines erwähnen, nur um ein Beispiel anzuführen, wie man – allerdings exakter, viel exakter als die «exakte» Wissenschaft will – diesen Dingen zuleibe gehen muss, wenn man sie in ihrer wahren Gestalt erkennen will. Da könnte zum Beispiel jemand sagen: Na ja, da kommt jetzt so jemand und führt dilettantisch aus, dass das Gefühlsleben, um körperhaft dazusein, das rhythmische Bewegungsleben im Körper so unmittelbar ergreift, wie das Vorstellungsleben das Nervenleben ergreift. Weiß denn der nicht, dass zum Beispiel, wenn irgendein musikalischer Eindruck bei uns stattfindet, wir den aufnehmen durch das Ohr, dass er also zunächst als Vorstellung überliefert wird, dass in diesem Leben in der musikalischen Vorstellung das ästhetische Erlebnis liegt, dass es also Unsinn ist, zu sagen, das Gefühl, das selbstverständlich mit einem musikalischen Eindruck verbunden ist, sei nicht eine Folge, eine Konsequenz des Vorstellungslebens?

Ich weiß, dass für die heutigen Denkvorstellungen dieser Einwand eigentlich allgemein gültig sein muss; für die Wirklichkeit ist er es nicht. Wir müssen uns nur klar sein darüber, dass dasjenige, was wir als das Tonbild durch unser Ohr aufnehmen, noch nicht das musikalische Erlebnis ist. Musikalisches Erlebnis wird es erst, wenn der Tonvorstellung das entgegenkommt, was als die Verästelungen des Atmungsrhythmus vom Atmungsvorgang in das Gehirn hinaufgelangt. In dem Begegnen des Rhythmus, der her auf schlägt aus dem Atmen in das Gehirn, in das die Tonvorstellung eindringt, haben wir das körperhafte Gegenbild für den musikalischen Eindruck. Alles, was Gefühlsleben ist, hängt ursprünglich physisch zusammen mit dem rhythmischen Leben in unserem Leib.

Drittens ist etwas, was wir in unserer Seele haben, das Wollen. So wie das Vorstellen mit dem Nervenleben, so wie das Gefühlsleben mit dem rhythmischen Wechselspiel der Kräfte zusammenhängt, die vom Atmungsrhythmus und vom Blutrhythmus ausgehen, so hängt alles Wollen im menschlichen Organismus zusammen mit dem Stoffwechsel. So sonderbar es klingt, alle Willensvorgänge sind unmittelbar so, dass sie ihren Ausdruck finden in Stoffwechselvorgängen, wie alle Gefühlsvorgänge ihren Ausdruck finden in rhythmischen Bewegungen, alle Denkvorgänge, alle Vorstellungsvorgänge in gewissen nervösen Vorgängen. Ich habe darauf aufmerksam gemacht in meinem neuesten Buche «Von Seelenrätseln», wo ich diese wissenschaftlichen Ergebnisse zum ersten Male habe drucken lassen, allerdings in einer kürzeren Gestalt, wie das jetzt bei dem Papiermangel eben angemessen ist.

Man muss, wenn man diese Dinge durchschauen will, allerdings ins Auge fassen, dass Nervenleben, rhythmisches Bewegungsleben, Stoffwechselleben im Organismus nicht nebeneinanderliegen. Der Nerv muss auch ernährt werden, selbstverständlich. So dass fortwährend Ernährungsvorgänge im Nerv vor sich gehen. Alle Organe der rhythmischen Bewegungen müssen ernährt werden.

Alle diese einzelnen Glieder, diese drei Glieder des Organismus, durchdringen sich gegenseitig. Aber eine genaue, eine wirklich exakte Forschung zeigt uns, dass dasjenige, was zum Beispiel im Nerv Stoffwechsel ist, nichts zu tun hat mit dem Vorstellen, sondern zu tun hat mit dem Willensvorgang, der sich auch in das Vorstellen hineinerstreckt. Natürlich, wenn ich etwas vorstellen will, so will ich es vorstellen; wenn ich meine Aufmerksamkeit auf das Vorstellen richte, so ist das schon eine Willensentfaltung. Dieser Keim, der mit dem Willen zusammenhängt, hängt auch mit dem Stoffwechsel im Nervenleben zusammen. Aber das Eigentliche im Vorstellen hängt mit Vorgängen zusammen, die nichts zu tun haben mit dem Stoffwechsel, sondern, im Gegenteil, die zu tun haben mit einem Abbau des Stoffwechsels, die zu tun haben mit etwas in den Nerven, ja, was sich vergleichen lässt – die Vergleiche werden noch paradox sein, Geistesforschung ist eben etwas Junges, Neues und muss sich erst allmählich einleben in die Gemüter der Menschen –, was sich vergleichen lässt nicht mit dem Stoffwechsel, sondern viel eher mit dem Zurückziehen des Stoffwechsels, mit der Entstehung des Hungers. Nur handelt es sich eben darum, dass man es mit einem Abbau im Nervensystem zu tun hat, der nicht verwechselt werden darf mit dem Abbau im ganzen Organismus.

Solche Verwechslungen sind geschehen. Und gerade indem ich auf solche Verwechslungen hinweise, werde ich das spezifisch Eigentümliche der neueren anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft gegenüber älteren und heute noch immer als gültig anerkannten Geistesströmungen hervorheben können. Wer wüsste nicht, dass, was die neue Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, durch rein innerliche Seelenmethoden, die gar nichts zu tun haben mit irgend etwas Leiblichem, zu erreichen sucht, früher auf solchen Wegen zu erreichen versucht worden ist, die sehr wohl viel zu tun hatten mit allerlei Leibes Verrichtungen, mit allerlei asketischen Dingen. Man erinnere sich nur, wie gewisse Mystiker durch gewisse Hungervorgänge, durch Hungerasketik, also durch Abbau im Organismus, ihre Vereinigung mit dem Geiste herstellten. Das ist kein Weg, mit dem wahre Geistesforschung im heutigen Sinne irgend etwas zu tun hat. Aber hinweisen muss diese Geistesforschung darauf, dass allerdings ein Abbau, der nun nicht abnorm ist, sondern normal, im Nervensystem stattfindet, wenn das Vorstellungsleben seinen Ausdruck durch das Nervensystem finden soll. Und ich habe in dem Vortrag, den ich vor Wochen hier gehalten habe, darauf hingewiesen, wie das Bewusstsein, das im Vorstellungsleben erfahren wird, zusammenhängt mit dem Tode. Ich habe sogar den Satz ausgesprochen vor Wochen hier: Indem wir vorstellen, ersterben wir fortwährend in das Nervensystem hinein. Nur wenn solche Vorstellungen ausgebildet werden, wird Naturwissenschaft sich begegnen können mit der Geistesforschung. Und so – ich kann es nur andeuten, die Zeit würde nicht ausreichen, um eine weitumspannende Anschauung in allen Details anzuführen –, so müssen wir sagen: Nach der leiblichen Seite hin hängt das dreigliedrige Seelenleben, das Vorstellungsleben, das Gefühlsleben, das Willensleben, mit dem ganzen Leibe, nicht bloß mit einem Teil des Leibes, nicht bloß mit dem Nervenleben, sondern mit dem ganzen Leibe zusammen; denn der ganze Leib ist dabei beteiligt mit seinen drei organischen Gliedern: dem Nervenleben, dem rhythmischen Leben, dem Stoffwechselleben. Unser Seelenleben steht nicht in einseitiger Weise mit unserem Nervenleben bloß in Verbindung, sondern die ganze Seele findet ihren ganzen Ausdruck in dem ganzen Leib. Das ist ein Ergebnis, zu dem Geisteswissenschaft in ihren Forschungen führt: dass das Vorstellungs-, das Gefühls- und das Willensleben ihre Gegenstücke haben nach dem Leibe zu.

Aber ebenso wie diese drei Glieder des menschlichen Seelenlebens ihre leiblichen Gegenstücke haben, so haben sie ihre geistigen Gegenstücke. Wie das Vorstellungsleben, auch für das naturforscherische Bestreben, immer mehr und mehr zusammengegliedert wird nach der Leibesseite hin mit dem Nervenleben, so gliedert es sich zusammen für ein übersinnliches Erkennen, wie ich es heute charakterisiert habe und wie Sie es charakterisiert finden können in meinen Büchern, mit einem Geistigen, das nur zu erfassen ist in gewissen inneren Erlebnissen, die ich in meinen Schriften genannt habe: die imaginative Erkenntnis. Es ist die erste Stufe der geistigen Erkenntnis, die erste Stufe des Hineinschauens in die geistige Welt. So wie wir nach der einen Seite als ein leibliches Gegenstück für das Vorstellungsleben das Nervenleben finden, finden wir nach der anderen Seite das Vorstellungsleben hervorgehend aus einem Geistigen, das nur in übersinnlicher Anschauung zu erfassen ist, und zwar durch die erste Stufe der übersinnlichen Anschauung, durch die sogenannte imaginative Erkenntnis. In einer Wirklichkeit, die sich in Bildern auslebt, die sich in Bildern der Erkenntnisdramatik auslebt, zeigt sich, was geistig dem Vorstellungsleben entspricht. Und in diesem, was geistig dem Vorstellungsleben entspricht, wenn es aufgefasst wird durch übersinnliche Erkenntnis, haben wir nun zu gleicher Zeit dasjenige vor uns, was zeitlich als Bildekräfteleib unser ganzes Dasein durchzieht von der Geburt, oder sagen wir von der Empfängnis, bis zum Tode. Während unser Stoff fortwährend sich ändert, während er immerfort neu ersetzt wird, bleibt uns von der Geburt bis zum Tode der einheitliche Bildekräfteleib, der zugleich die geistige Grundlage unseres Vorstellungslebens ist.

Das ist das erste übersinnliche Glied des Menschen, das mit dem Vorstellungsleben so zusammenhängt wie das leibliche Nervenleben nach der anderen Seite.

Fassen wir aber das Gefühlsleben ins Auge. Nach der leiblichen Seite hin hängt es mit dem Atmungs- und dem Blutrhythmus zusammen; auf der anderen Seite hängt es geistig zusammen mit einem geistig Wesenhaften, das erfasst werden kann auf einer höheren Stufe der geistigen Schau des übersinnlichen Erkennens, als die imaginative Erkenntnis ist, durch das, was ich in meinen Schriften genannt habe die inspirierte Erkenntnis, diejenige Erkenntnis, die nun keine Bilder mehr braucht, sondern die bildlos sich in die übersinnliche Welt erhebt. Wird aber das, was so geistiger Ursprung unseres Gefühlslebens ist, wirklich durchschaut mit übersinnlicher Erkenntnis, dann ist es das in unserem geistigen Wesen, was sich nicht bloß erstreckt von der Geburt bis zum Tode oder von der Empfängnis bis zum Tode, sondern was uns eigen ist in der geistigen Welt, bevor wir durch die Geburt zu dem leiblichen Leben gehen und womit wir durch die Pforte des Todes schreiten; denn sich wirklich geistig mit dem, was geistig dem Gefühlsleben zugrunde liegt, vereinigen, dass heißt: ausdehnen seine Geistesschau über das, was über Geburt und Tod hinausgeht.

Und – es ist wieder paradox, aber gerade auf dem Gebiete der Anthroposophie treten, weil die Dinge ja neu sind, nur aus diesem Grunde manche Paradoxa auf – so, wie unser Willensleben nach der Leibesseite hin mit dem Stoffwechsel zusammenhängt, so hängt es nach der geistigen Seite zusammen mit dem höchsten, das nun zunächst uns Menschen beschieden ist in geistiger Schau zu erreichen, mit dem, was ich in meinen Büchern genannt habe intuitives Erkennen. Nicht die gewöhnliche verwaschene intuitive Erkenntnis, von der man gewöhnlich spricht, ist damit gemeint, sondern das, was in meinen Büchern als intuitive Erkenntnis charakterisiert ist: Das wirkliche Hineinleben in das Wesenhafte der geistigen Welt habe ich intuitive Erkenntnis genannt. Das umfasst, was geistig als Höchstes unserem Menschenwesen zugrunde liegt.

Und das Merkwürdige tritt auf: Während der Stoffwechsel – wenn wir die Ausdrücke überhaupt gebrauchen wollen das Niedrigste nach der Leibesseite hin ist, ist umgekehrt dasjenige, was dem Wollen nach der Geistesseite hin entspricht, das Höchste, das unserem Wesen zugrunde liegt. Und dem, was wir als das Höchste ansehen müssen zwischen Geburt und Tod, dem Nervenleben, das dem Vorstellungsleben entspricht, dem liegt das Niederste der geistigen Welt zugrunde, nämlich dasjenige, was durch imaginative Erkenntnis zu erreichen ist.

Für den Menschen selbst – ich möchte es hier, obwohl ich vielleicht vor Jahren darauf schon aufmerksam gemacht habe, noch einmal ausführen – wird insbesondere eines klar, wenn er die Beziehung seines Geistig-Seelischen zu diesem in der Intuition zu erfassenden Geistigen kennenlernt. Das aber kann ich nur in folgender Weise charakterisieren. Was ich da charakterisiere, ist nicht nur etwas, was man in der Geistesschau erlebt, sondern etwas, was jeder Mensch, der durch gesunden Menschenverstand die Ergebnisse der Geistesforschung begreift, durchmachen kann. Nimmt man diese geistesforscherischen Resultate wirklich in sich auf, lernt man erkennen, was Geist ist, erlebt man in der Seele, was Geist ist, dann bedeutet das etwas Besonderes. Dieses Ereignis darf schon beschrieben werden, weil es als etwas ganz Besonderes in die Seele hereingreift, dieses Ereignis, das uns zum ersten Male das innerliche Bewusstsein erweckt: Jetzt weißt du, was eigentlich Geist ist, was das Ewige in deiner Seele ist; jetzt weißt du es.

Dieses Erlebnis kann man nur so bezeichnen, dass man sagt: Es ist ein innerliches Schicksalserlebnis. Das ganze menschliche Leben ändert sich unter Umständen, bekommt eine andere Richtung unter dem Einflüsse dieses Erlebnisses, das sich darin kundgibt, dass man weiß, was Geist in einem ist. Man braucht dadurch nicht stumpfer zu werden für andere Schicksalserlebnisse. Gewiss, wir erleben in dem äußeren Leben, in das wir hineingestellt sind, Ereignisse, die uns himmelhoch jauchzend machen, Ereignisse, die uns zu Tode betrübt machen, wir erleben Glückliches, Erhebendes, Beseligendes, wir erleben Trauriges, Niederschmetterndes. Der Geistesforscher braucht für das nicht stumpf zu werden. Im Gegenteil, er wird empfindlicher dafür dadurch, dass er auch die geistige Seite von alledem durchschaut. Aber was auch – obwohl er ebenso in einem Erleben steht, wie es für den Nicht-Geistesforscher der Fall ist –, was auch im äußeren Leben an ihn herantritt: Ein größerer Einschnitt in das Leben, eine stärkere Schicksalssituation ist das Hereingreifen dessen, was das Erleben des Geistes, des Ewigen in sich ist. Daran lernt man erkennen, wie man selber Schicksal herbeiführt, denn man muss geistige Erkenntnis durch eigene Kräfte herbeiführen, wie man Wendungen im Leben herbeiführt, indem Geisterkenntnis eine Schicksalsfrage allerallerersten Ranges wird. Das bringt einem auch das Verständnis für das übrige Menschenschicksal.

Das bringt einem aber auch das volle Verständnis für das, was Intuition ist. Dann merkt man, womit das menschliche Wollen nach der geistigen Seite zusammenhängt. Und dann ruft man durch ein solches in das Seelenleben hereinbrechendes Schicksal eine Kraft hervor, welche das übersinnliche Erkennen nicht bloß zu dem führt, was sich im Leben zwischen Geburt und Tod, und nicht nur zu dem, was sich im Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt vollzieht, sondern zu dem, was ewig-geistiger Seelenkern ist und was auch in wiederholten Erdenleben auftritt. Was der Mensch im innersten Wesenskern zur Darstellung bringt, lernt er dann erkennen als zusammenhängend mit den Impulsen, die in früheren Erdenleben dagewesen sind. Und was er jetzt erlebt als Schicksal, was er jetzt erlebt, indem er eigene Handlungen vollführt, das wird ihm, wenn die Erkenntnis Schicksal geworden ist, so, dass er es auch weiß als Grundlage für folgende Erdenleben.

Durch den Zusammenhang des dreigliedrigen Seelenlebens – des Vorstellungslebens, Gefühlslebens, Willenslebens mit dem Nervenleben, dem rhythmischen und dem Stoffwechselleben – lernt man das Vergängliche im Menschen kennen. Durch die Beziehung dieser drei Seelenglieder zu dem Geistigen lernt man das Unsterbliche, Ewige, das durch Geburten und Tode geht, kennen, so dass man dieses vollständige menschliche Leben überschaut, das ja in aufeinanderfolgenden Erdenleben und in dazwischenliegenden geistigen Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt verläuft.

So sieht man hinein in das, was das Ewige im Menschenleben ist, anders als durch philosophische Spekulationen. Anders als bloß durch Begriffszergliederung oder Begriffssynthese sucht Geistesforschung in dieses Ewige hineinzuführen dadurch, dass sie die Anschauung von diesem Ewigen hervorruft. Was wir als zeitlich-leibliches Wesen sind, ist herausgestaltet aus dem Ewigen, das ebenso aus dem imaginativen, dem inspirierten und dem intuitiven Teil besteht, wie unser Leibliches aus Nervenleben, rhythmischem Leben und Stoffwechselleben besteht.

Dies sind einige angedeutete Forschungsergebnisse über das, was sich als das Ewige in der Menschenseele ergibt. Nur diesem Ewigen, nur dem, was unabhängig ist von dem Leibesleben, kann das zugesprochen werden, was man die menschliche Freiheit nennt. Der Naturforscher muss stehenbleiben innerhalb desjenigen Erlebens, das im Vergänglichen abläuft: im Nervenleben, im rhythmischen Leben, das er heute noch gar nicht nach dieser Seite durchforscht, und im Stoffwechselleben, das er heute noch verwechselt mit dem Nervenleben, indem er auch im Stoffwechsel sucht, was dem Nervenleben zugrunde liegt. Der Naturforscher muss innerhalb dieses stofflichen Lebens stehenbleiben. Daher findet er auch für jeden Willensakt irgend etwas, was diesen Willensakt hervorbringt. Lernt man aber erkennen, was als Ewiges in der Menschenseele wirkt, lernt man dadurch erkennen, dass dieses Ewige in sich einen Inhalt hat, der unabhängig von dem Leibesleben ist, dann wird das, was als menschliche Freiheit innerlich-seelisch erfahren wird, eine Wirklichkeit. Wieso?

Nun, ich habe ja gerade in den letzten Vorträgen und in dem heutigen ausgeführt, dass in uns ein Abbauprozeß stattfinden muss, dass Bewusstsein in einer gewissen Beziehung ähnlich ist dem Tode, dass es ein Hineinsterben in das Nervensystem ist, wenn wir zur bewussten Vorstellung kommen. Dadurch zeigt sich aber für die Geistesforschung, dass alles, was zum Seelenwesen gehört, nicht ein Ausfluss des leiblichen Wesens ist, sondern dass das leibliche Wesen nur die Grundlage ist für das seelische Erleben und dass dieses seelische Erleben gerade dann seine Grundlage im Leibesleben findet, wenn dieses Leibesleben nicht seine wachsenden, seine fortschreitenden Kräfte entwickelt, sondern wenn diese wachsenden, diese fortschreitenden Kräfte abgebaut werden. Rückbildungsprozesse in uns sind es, die dem bewussten Seelenleben zugrunde liegen.

Die Naturforschung wird schon finden, dass diese eben ausgesprochenen Wahrheiten durchaus auch mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen zusammenstimmen. Ich deute nur darauf hin, wie in Parenthese, dass die Nervenzellen zum Beispiel nicht teilbar sind, während die Fortpflanzungszellen teilbar sind. Die Fähigkeiten, die den wachsenden, den fortschreitenden Zellen eigentümlich sind, sind gerade abgebaut in den Nervenzellen, sind abgebaut aus demselben Grund in den Zellen der roten Blutkörperchen, Dem, was sich in dem bewussten Leben entwickelt, entspricht im Leibe nicht ein pflanzenhaft Fortschreitendes, Wachsendes, Zeugendes, dem entspricht ein Zurückgehen, ein Abbauen des Lebens. So dass dort, wo in uns bewusstes Leben sich entwickeln soll, das Leibesleben zuerst abgebaut werden muss, dass die Prozesse zurücktreten müssen, die dem Leibesleben und seinen Funktionen besonders dienen.

Das seelische Leben wird in seiner Selbständigkeit erkannt durch Geisteswissenschaft. Dadurch aber bekommt der Freiheitsbegriff erst einen Sinn, und er wird vollständig vereinbar mit dem Begriffe, den die Naturwissenschaft auf ihrem Gebiete ganz mit Recht entwickelt, mit dem Begriff: dass alles, was in unseren Handlungen, in unseren Willensimpulsen auftritt, aus unserem Organismus heraus verursacht sein muss. Diese naturwissenschaftlichen Vorstellungen bestehen voll zu Recht. Aber der Organismus führt eben, indem er dem Bewusstsein immer mehr und mehr als Grundlage dient, er führt dazu, gerade dadurch diesem Bewusstsein als Grundlage zu dienen, dass er seine Prozesse aufhebt, dass er zurücktritt gegenüber den bewussten Prozessen.

Dadurch bekommt der Freiheitsbegriff den Sinn, den wir etwa vergleichsweise in der folgenden Art ausdrücken können: Das Kind ist physisch ganz gewiss ein Ergebnis des Elternpaares; aber es löst sich von dem Elternpaare los. Suchen wir nach den Ursachen, müssen wir sie bei den Eltern suchen. Aber wenn das Kind größer geworden ist und selbständig handelt, werden wir für seine Handlungen und für das, was es ist, nicht in allem immer zu den Eltern zurückzugehen haben. Wenn das Kind dies oder jenes ausführt, nachdem es einmal dreißig Jahre alt geworden ist, gehen wir für die Ursachen nicht zu dem Elternpaar zurück. Das Kind löst sich los von den Eltern, wird frei. So löst dereinst sich das geistige Leben von dem Leibesleben, so dass das Gesetz der Erhaltung der Kraft allen Ursächlichkeiten nach vollbracht ist. Aber wie im Kinde die Ursache in dem Elternpaare ist, das Kind aber doch zur Selbständigkeit heranwächst, so entwickelt sich das seelische Leben in Selbständigkeit gegenüber dem Leibe, in dem die Ursachen zu dem Seelenleben liegen.

Damit habe ich vergleichsweise darauf hingewiesen, wie der Freiheitsbegriff dadurch einen Sinn erhält, dass wir von anderer Seite her dazu kommen, dieses Seelenleben wirklich zu erklären: nicht bloß zugeordnet Leibesverhältnissen, sondern zugeordnet dem selbständigen Geistesleben, das durch Geburten und Tode geht. Diese geistig-seelische Wesenheit des Menschen ist es, der wir die Freiheit zuschreiben können. Freiheit wurde immer so behandelt in den Philosophien, dass man von einem Entweder-Oder sprach: Entweder ist der Mensch frei, oder er ist unfrei. Ich habe schon, indem ich nur von der philosophischen Seite her die Freiheitsfrage in Angriff genommen habe, in meiner «Philosophie der Freiheit» – sie ist 1894 erschienen, heute allerdings vergriffen, aber in den Bibliotheken einzusehen – gezeigt, dass man dem Freiheitsbegriff beikommt, wenn man das selbständige Seelenleben ins Auge fasst. Dieses selbständige Seelenleben wird aber im Laufe der physischen Menschheitsentwickelung nach und nach erst errungen. Man kann nicht davon sprechen: Der Mensch ist entweder frei oder nicht frei. Sondern man kann nur davon sprechen: Freiheit ist etwas, was der Mensch im Lauf seiner Entwickelung erwirbt, dem er sich immer mehr und mehr nähert – dadurch nähert, dass er dem innerlichen geistig-seelischen Wesen auch die Kräfte zuführt, die dieses Wesen in sich selber so erstarken, dass es Ursächlichkeit entwickeln kann für das menschliche Handeln, für das menschliche » Wollen, trotzdem auf der anderen Seite, von anderer Richtung her, diese Ursächlichkeit im menschlichen Leibe liegt.

Sonderbarer Widerspruch, nicht wahr! Auf der einen Seite wird behauptet: Aus dem menschlichen Leibe muss zwischen Geburt und Tod alles kommen, was der Mensch in seine Handlung hineinlegt; auf der andern Seite wird das selbständige freie Seelenleben behauptet. Ich möchte nochmals durch einen Vergleich klarmachen, um was es sich handelt. Nehmen wir an, wir haben einen Raum, den wir luftleer machen können, den Raum also unter dem Rezipienten einer Luftpumpe. In den können wir die Luft einströmen lassen, wenn wir in die Luftpumpe eine Öffnung hineinmachen; die Luft strömt hinein, nachdem wir die Öffnung gemacht haben.

In diesem Verhältnisse, das man erst finden muss, steht der freie menschliche Entschluss zu dem, was eine menschliche, gewollte Handlung ist. Es wird sich schon durch Geistesforschung herausstellen: Wenn der Mensch nicht den bloßen Antrieben des Trieblebens, sondern dem folgt, was ich in meiner «Philosophie der Freiheit» die rein geistigen Antriebe, zu denen man sich erst durchzuringen hat, genannt habe, dann lässt er nicht dasjenige Wollen unmittelbar sich vollziehen, welches sich durch leibliche Ursachen nach außen äußert. Gewiss, auch das freie Handeln vollzieht sich so, dass leibliche Ursachen da sind. Aber diese leiblichen Ursachen werden erst so vorbereitet, dass der freie Begriff, die freie Vorstellung gewissermaßen geistig einen Hohlraum erzeugt, wie ich unter dem Rezipienten einer Luftpumpe einen Hohlraum erzeuge; und wie dann mit Notwendigkeit darauf folgt, dass die äußere Luft durch eine Öffnung einströmt, so folgt auf diejenige Handlung, die ganz und gar in Seelenkräften durch unsere Seele konzipiert ist, die Wirkung auf unseren Leib. Und wie die von außen einströmende Luft nach rein natürlichen Ursachen in den leeren Luftraum einströmt, so vollzieht dann der Leib entsprechend durch seine Gesetze, die nun rein naturwissenschaftliche Gesetze sind, dasjenige, was erst in ihm vorbereitet wurde, indem die Grundlage geschaffen wurde durch den freien Seelenentschluss.

Auf diesen Freiheitsbegriff werden wir morgen in dem Vortrage zu bauen haben, und ich werde ihn dann auch noch weiter ausführen. Ich wollte die heutigen Auseinandersetzungen gipfeln lassen in dem Aufzeigen des Freiheitsbegriffs, gipfeln lassen darinnen, dass Geisteswissenschaft zeigt, wie der Freiheitsbegriff erst denkbar ist, wenn man durch Geistesforschung zu dem wirklich vom Leibesleben unabhängigen Seelenleben sich erhebt. Erst aus dem heraus, was Geisteswissenschaft erkennt als den intuitiven, inspirierten und imaginativen Teil des Menschenwesens, entsteht die freie Handlung.

Was sich dann unter dem Einflüsse der Geisteswissenschaft für die sozial-sittlichen Begriffe, die für unsere Gegenwart von so einschneidender Bedeutung sind, nach denen so vieles hinweist in bezug auf Erneuerung, in bezug auf Ergründung dessen, was in dieser tragischen Gegenwart an uns herantritt, was sich für Rechtsbegriffe, überhaupt für das äußere menschliche Gemeinschaftsleben ergibt, das soll morgen ausgeführt werden. Heute wollte ich nur zeigen, dass anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft durchaus in bezug auf den Ernst und die Exaktheit ihrer Forschung sich neben die Naturwissenschaft der neueren Zeit hinstellen kann, wollte aber auch zeigen, wie für den Geist ganz andere Wege eingeschlagen werden müssen, wenn er erkannt werden soll in demselben Sinne, wie die Natur von der Naturforschung erkannt wird, wie aber die Geistesforschung selbst ihr Licht auch auf die Natur wirft, wie die Geistesforschung zeigt, dass der ganze geistig-seelische Mensch dem ganzen physischen Menschen, nach Nervensystem, rhythmischem Leben und Stoffwechselleben, zugeordnet ist. Gerade dadurch, dass Geisteswissenschaft mit der Naturwissenschaft im Einklänge arbeiten wird, wird sich ein Großes ergeben können für den Fortschritt der Menschheit.

Man wird sich allmählich abgewöhnen, davon zu sprechen, dass es für den neueren Menschen geradezu beschämend sei, noch eine wirkliche geistige Erkenntnis anzuerkennen. Nicht nur, dass man Vorurteilen heute begegnet, wenn von Geisteswissenschaft geredet wird; man kann schon sagen: Viele Menschen sind heute so geartet, dass sie sich geradezu schämen, dass sie glauben, in einen alten Aberglauben zu verfallen, wenn sie anerkennen, was als der Nerv der heutigen Ausführungen dargestellt worden ist.

Man beruft sich heute gerne auf Goethe. Ich habe in dem letzten Vortrage hier gesagt, daß, wenn es auf mich ankommt, ich die Geisteswissenschaft, die ich vertrete, am liebsten «Goetheanismus» nennen würde und den Bau in Dornach, der ihr gewidmet ist, «Goetheanum». Ich sage das noch einmal mit Rücksicht darauf, dass es heute scheinbar recht viele sich aufgeklärt dünkende Menschen gibt, Menschen, die voll auf dem Standpunkte der gegenwärtigen Erkenntnis stehen wollen, die da sagen: Ja, Goethe war ja auch einer derjenigen, die mit der Natur etwas Allumfassendes haben denken wollen.

Aber schon der junge Goethe hat die Natur nicht als etwas angesehen, was erschöpft werden kann durch solche Vorstellungen, wie sie die heutigen gangbaren monistischen oder ähnliche Weltanschauungen haben. Sondern Goethe hat schon als junger Mann die Natur in seinem Prosa-Hymnus, der auch «Die Natur» überschrieben ist, so angesprochen, dass er gesagt hat: «Gedacht hat sie und sinnt beständig.» Um Worte streitet sich die Geisteswissenschaft am allerwenigsten. Wenn jemand dasjenige, was aus Stoff und Geist in der Welt besteht, «Natur» nennen will und in der Natur nur den Geist sucht, dann mag er das ganze Weltall «die Natur» nennen; wenn er soweit geht wie Goethe, zu sagen: Die Natur denkt und sinnt beständig – wenn auch nicht als Mensch, sondern als Natur –, dann ist für einen solchen Denker wie für Goethe eben der Geist-Begriff schon im Natur-Begriff drinnen. Und denjenigen, die aus dieser Anerkennung des Natur-Begriffs gerne ableiten möchten ein Zusammenstimmen der Goetheschen Ansicht mit irgendeiner Ansicht von den Grenzen des Erkennens, dass man nicht eindringen könne in die geistige Welt, denen muss immer wieder und wiederum erwidert werden, was auch hier schon in früheren Vorträgen erwähnt worden ist, dass Goethe gegenüber einem sehr verdienten Physiologen, dem Physiologen Albrecht Haller, der auch – von seinem Gesichtspunkte aus mit vollem Recht – das Wort ausgesprochen hat:

«Ins Innere der Natur

Dringt kein erschaffner Geist.

Glückselig! wem sie nur

Die äußre Schale weist!»

dass Goethe gegenüber diesem Naturforscher protestiert hat, so protestiert hat, dass er durch diesen Protest deutlich gemacht hat: Der Mensch kann in sich diejenigen Erkenntniskräfte finden, die ihm den Geist nicht nur als etwas Unerforschliches hinstellen, sondern als etwas, in das er nach und nach bei emsiger, wirklich geistig exakter Forschung eintreten kann. Denn Goethe hat gegen Hallers Worte, die eben angedeutet worden sind, einen Einwand gemacht, im hohen Alter, ich möchte sagen, auf Grundlage einer gereiften Erkenntnis:

«In’s Innre der Natur Dringt kein erschaffner Geist. Glückselig! wem sie nur Die äußre Schale weist!»

Das hör’ ich an die sechzig Jahre wiederholen,

Und fluche drauf, aber verstohlen;

Natur hat weder Kern

Noch Schale,

Alles ist sie mit einemmale;

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,

Was drinnen ist, ist auch draußen, –

Dich prüfe du nur allermeist,

Ob du selbst Kern oder Schale seist!

Das sind doch die Worte, die uns auf den wahren Goetheanismus hinweisen, der da besteht in der Anerkenntnis der Möglichkeit, mit dem menschlichen Geiste in den Geist des Weltenalls einzudringen und das Unsterbliche und Freiheitliche der Menschennatur zu erkennen.

Wie unendlich das notwendig ist und wie unendlich notwendig es ist in der heutigen tragischen Zeit, den Blick hinzuwenden nach solchen Vorstellungen, die aus der Geistesforschung kommen, für unser praktisches Leben, das sich selbst in solche Katastrophen hineingebracht hat, davon möchte ich dann morgen sprechen, um zu zeigen, dass Geistesforschung ein ungeladener Gast nur für diejenigen ist, die da nicht andere Bedürfnisse dem Menschen zuerkennen als diejenigen, die sich durch die mechanistischen Erkenntnisse befriedigen lassen. Lernt man noch andere Bedürfnisse des Menschen erkennen – diejenigen Bedürfnisse des Menschen, von denen gerade heute in dieser tragischen Zeit deutlich die Zeichen der Zeit sprechen –, dann wird man auch auf sozial-sittlichem Gebiete die Notwendigkeit der Geistesforschung erkennen.


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