Philosophie und Anthroposophie
Autoreferat vom Vortrag, Stuttgart, 17. August 1908. GA 35
Vorbemerkung
Die folgenden Ausführungen über «Philosophie und Anthroposophie» sind im wesentlichen die Wiedergabe eines Vortrages, den ich 1908 in Stuttgart gehalten habe. Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut, und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen. –
Eine solche Geisteswissenschaft gilt der anerkannten Philosophie zumeist als eine dilettantische Betrachtungsart. Durch eine kurze Darstellung des Entwicklungsganges der Philosophie versuche ich, zu zeigen, dass dieser Vorwurf völlig unberechtigt ist, und dass er nur erhoben werden kann, weil die gegenwärtige philosophische Betrachtungsart sich in Irrwege verrannt hat, die es ihr, wenn sie sie nicht verlässt, unmöglich machen, zu erkennen, dass ihre eigenen, wahren Ausgangspunkte von ihr die Verfolgung des Weges fordern, der zuletzt zur Anthroposophie führt.
Rudolf Steiner
Ein gesund ausgebildetes Seelenleben kommt ganz naturgemäß an zwei Klippen, deren Widerstand es überwinden Muss, wenn es nicht wie ein führerloses Schiff sich auf dem Lebenspfade treiben lassen will. Ein solches Treibenlassen bringt zuletzt Unsicherheit in das eigene Innere und endet in eine irgendwie geartete Lebensnot; oder auch es benimmt dem Menschen die Möglichkeit, sich im Sinne der wahren Daseinsgesetze in die Weltordnung einzuleben und macht ihn so zu einem störenden, nicht zu einem fördernden Gliede dieser Ordnung.
Eine derjenigen Kräfte, durch die der Mensch die Möglichkeit der inneren Sicherheit in der Lebensentwickelung und der wesenswahren Einordnung in das Dasein gewinnen kann, ist die Erkenntnis, die in bezug auf den Menschen Selbsterkenntnis werden muss.
Der Trieb nach Selbstkenntnis ist in jedem Menschen. Er kann mehr oder weniger unbewusst bleiben; aber er ist immer vorhanden. Er kann sich äußern in ganz unbestimmten Gefühlen, die wie Wogen aus den Seelenuntergründen heraufschlagen in das Bewusstsein, die als unbefriedigtes Leben empfunden werden. Man deutet oft solche Gefühle ganz unrichtig; man sucht für sie einen Ausgleich in äußeren Lebensumständen. Man ist in einer – auch oft ihrem Wesen nach unbewusst bleibenden-Ängstlichkeit gegenüber diesen Gefühlen. Könnte man diese Ängstlichkeit überwinden, so würde man sehen, dass eine rückhaltlose Erkenntnis des menschlichen Wesens, nicht äußerliche Mittel, zur Abhilfe führt. Aber eine solch rückhaltlose Erkenntnis erfordert, dass man an den zwei Klippen auch wirklich Widerstand empfindet, an welche die menschliche Erkenntnis geführt wird, wenn sie Erkenntnis des menschlichen Wesens werden will. Diese Klippen sind aus zwei Täuschungen aufgebaut, aus zwei Felsen, durch die der Mensch im Erkenntnisleben nicht vorwärts kommen kann, wenn er sie nicht in ihrer wahren Wesenheit erkennt. Diese beiden Klippen sind die Naturerkenntnis und die Mystik. Beide Erkenntnisarten ergeben sich naturgemäß auf dem menschlichen Lebenswege. Mit beiden muss der Mensch seine innere Erfahrung machen, wenn sie ihn fördern sollen. Dass er die Kraft entfaltet, bei jeder dieser beiden Erkenntnisarten wohl anzukommen, aber bei keiner von ihnen stehen zu bleiben, davon hängt es ab, ob er Menschheit-Erkenntnis gewinnen kann oder nicht. Er muss, bei beiden angelangt, Unbefangenheit genug bewahrt haben, um sich zu sagen: Keine von ihnen kann ihn dahin bringen, wohin seine Seele verlangt; aber er muss, um diese Einsicht zu gewinnen, erst beide innerlich in ihrem Erkenntniswert erlebt haben. Er darf nicht davor zurückscheuen, ihre Wesenheit wirklich zu erleben, um an dem Erlebnis zu erkennen, dass über beide hinausgegangen werden muss, um sie erst wertvoll zu machen. Man muss zu den beiden Erkenntnisarten den Zu-gang suchen; denn erst, wenn man sie recht gefunden, ergibt sich der Ausweg aus ihnen.
Wer das Naturerkennen durchschaut, der findet – bei innerer Unbefangenheit —, dass es eine Täuschung ist, wenn man glaubt, man ergreife in demselben die wahre Wirklichkeit. In gesundem Erfühlen der eigenen menschlichen Wirklichkeit stellt sich ein ganz bestimmtes Erlebnis ein. Dies tritt um so mehr auf, je mehr man die Naturerkenntnis auf das Begreifen der Menschenwesenheit ausdehnen will. Der Mensch als Naturwesen stellt sich für diese Erkenntnis als ein Zusammenfluss der Naturwirkungen dar. Den Aufbau der Menschenwesenheit nach Maßgabe dessen zu durchschauen, was man im Felde der Naturreiche als Wirkungsarten erfasst hat, kann ein Erkenntnis-Ideal werden. Dieses Ideal ist für die echte Naturerkenntnis berechtigt. Mag man sich auch sagen, es liege in unermesslicher Ferne die Zeit, in der man erkennen werde, wie der Wunderbau des menschlichen Organismus naturgesetzlich sich gestaltet: als Ideal der Naturerkenntnis muss ein dahingehendes Streben gelten. Aber unerlässlich ist auch, dass man gegenüber diesem berechtigten Ideal zu einer Einsicht vordringt, die einem gesunden Wirklichkeitsgefühl entspringt. Man muss es erleben, wie fremd und immer fremder der innerlich erlebten Wirklichkeit dasjenige wird, was die Naturerkenntnis vor den Menschen hinstellt. Je vollkommener sie wird, desto mehr wird sie ein dem Innenleben Fremdes vor das menschliche Erkennntnisbedürfnis stellen. Stoffliches, materielles Geschehen muss sie ihrem berechtigten Ideale gemäß hinstellen. Das unbefangene Erleben muss sich zuletzt an der Klippe stoßen, die Du Bois-Reymond empfunden hat, als er glaubte, in seinem berühmten Vortrage «Über die Grenzen des Naturerkennens» sagen zu müssen: niemals werde das menschliche Erkennen das in der Welt erfassen, was als Materie im Räume spukt. –
Gesund ist ein inneres Erleben, das Naturerkenntnis zwar mit allen dazu geeigneten Kräften anstrebt, aber in demselben zugleich empfindet: es nähere sich mit demselben nicht der wahren Wirklichkeit, sondern es entferne sich mit ihm von derselben. Man muss dieses an den Ergebnissen der Naturerkenntnis erleben. Man muss es diesem ansehen, dass sie sich keinem Begreifen, keinem Erfühlen ergeben. Und man wird dann dazu gelangen, sich zu sagen: es ist gar nicht in Wahrheit so, dass der Mensch Naturerkenntnis anstrebt, um der Wirklichkeit nahe zu kommen; er glaubt dies zunächst in seinem Bewusstsein, doch der unbewusste Urquell dieses Strebens muss eine ganz andere Bedeutung haben. Er wird gewiss für das Menschenleben eine Bedeutung haben. Sie muss gesucht werden. Erkenntnis der wahren Wirklichkeit aber kann nicht Naturerkenntnis sein. Ein Wendepunkt des Seelenlebens kann diese Einsicht werden. Man erkennt durch innere Erfahrung, dass man habe der Naturerkenntnis nachgehen müssen; dass aber diese nicht geben kann, was man sich im eifrigen Suchen nach ihr von ihr versprochen hat. Wahre, erlebte Einsicht in das Naturgeschehen bringt zuletzt dem Menschen diese Erkenntnis. Er hört dann auf, zu glauben, dass ihm jemals Erkenntnis des Menschenwesens durch einen, wenn auch noch so vollkommenen Ausbau der Naturwissenschaft werden kann. Wer zu dieser Einsicht nicht gelangt ist, wer noch hoffen kann, das Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis könne den Menschen über sein eigenes Wesen aufklären, der ist eben noch nicht weit genug vorgedrungen in den Erlebnissen, die man mit der Naturerkenntnis haben kann.
Dies ist die eine Klippe, auf die das Streben nach Erkenntnis des Menschheitswesens aufstößt. Mancher Denker hat den Stoß empfunden und sich nach der anderen Seite gewandt, nach derjenigen der mystischen Versenkung in das eigene Selbst. Man kann auch nach dieser Richtung eine Zeitlang vorwärts dringen in dem Glauben, im Innern die wahre Wirklichkeit unmittelbar zu erleben. Man kann etwas wie eine Vereinigung mit dem Urquell alles Seins zu erfahren glauben. Geht man aber mit diesem Erleben weit genug, zerstört man die Kräfte der Täuschung, so wird man gewahr, wie das innere Erleben, wenn man sich auch noch so tief in dasselbe zu versenken sucht, doch machtlos bleibt gegenüber der Wirklichkeit. Wie stark man auch, durch diesen oder jenen Umstand verführt, gemeint hat, das Sein zu ergreifen: zuletzt erweist sich das innere Erleben als eine irgendwie geartete Wirkung eines unbekannten Seins, nicht aber als etwas, das im Stande wäre, die wahre Wirklichkeit zu erfassen und festzuhalten. Der auf einem solchen Wege wandelnde Mystiker macht die Erfahrung, dass er mit seinem inneren Erleben die wahre Wirklichkeit, die er sucht, verlassen hat, und dass er nicht wieder an sie herankommen kann. –
Der Natur-Erkenner gelangt zu einer Außenwelt, die sich mit dem Innern nicht ergreifen lässt; der Mystiker kommt zu einem Innenleben, das ins Leere fasst, indem es eine Außenwelt greifen will, nach der es verlangt.
Die Erfahrungen, welche der Mensch mit der Naturerkenntnis einerseits, mit der Mystik andererseits macht, erweisen sich nicht als eine Erfüllung seines Strebens, die Wirklichkeit zu finden, sondern als Ausgangspunkt des Weges zu ihr. Denn diese Erfahrung zeigt einen Abgrund zwischen dem materiellen Geschehen und dem seelischen Erleben; sie führt dazu, diesen Abgrund zu sehen, und zu der Einsicht zu gelangen, dass er weder durch Naturerkenntnis, noch durch bloße Mystik für das wahrhaftige Erkennen ausgefüllt werden kann. Das Gewahrwerden dieses Abgrundes führt dazu, die Einsicht in die wahre Wirklichkeit in seiner Ausfüllung mit Erkenntniserlebnissen zu suchen, die im gewöhnlichen menschlichen Bewusstsein noch gar nicht vorhanden sind, sondern aus diesem erst entwickelt werden müssen. Wer mit der Naturerkenntnis und der Mystik die rechten Erfahrungen gemacht hat, der sagt sich: zu diesen beiden hinzu muss eine andere Erkenntnis gesucht werden, welche die materielle Außenwelt näher heranrückt an das menschliche Innenleben, als dies durch die Naturerkenntnis geschieht, und die zugleich das Innenleben in die wirkliche Welt tiefer hineinversenkt, als es durch bloße Mystik geschehen kann.
Eine solche Erkenntnisart kann eine anthroposophische genannt werden und das durch sie erlangte Wissen von der Wirklichkeit Anthroposophie. Denn sie muss davon ausgehen, dass sich der wahrhaft wirkliche Mensch (Anthropos) hinter demjenigen verbirgt, den die Naturerkenntnis offenbart und den das Innenleben im gewöhnlichen Bewusstsein in sich findet. Im dunklen Gefühl, im unbewussten Seelenleben kündigt sich dieser wahrhaft wirkliche Mensch an; durch die anthroposophische Forschung soll er in das Bewusstsein erhoben werden. Anthroposophie will den Menschen nicht von der Wirklichkeit weg- und zu einer unwirklichen, ersonnenen Welt hinführen, sie will vielmehr eine Erkenntnisart suchen, der sich die wirkliche Welt erst erschließt. Sie muss, nach ihren Erfahrungen mit der Naturerkenntnis und der von dem gewöhnlichen Bewusstsein erlebten Mystik, zu der Anschauung sich durchringen, dass aus diesem gewöhnlichen Bewusstsein heraus ein anderes zu entwickeln ist, etwa so, wie aus dem dumpfen Traumbewusstsein das wache Tagesbewußtsein. Für die Anthroposophie würde dadurch der Erkenntnisvorgang ein innerlich wirkliches Geschehen, das hinausführt aus dem gewöhnlichen Bewusstsein, während Naturerkenntnis nur ein logisches Urteilen und Schließen dieses gewöhnlichen Bewusstseins auf Grund der von außen gegebenen materiellen Wirklichkeit, und Mystik nur ein vertiefteres Innenleben, aber doch ein solches ist, das innerhalb des gewöhnlichen Bewusstseins stehen bleibt.
Weist man in der Gegenwart darauf hin, dass es einen solchen innerlich wirklichen Erkenntnisvorgang, eine anthroposophische Erkenntnis gibt, so stößt man auf Denkgewohnheiten, die einerseits durch die zu wundervoller Größe herangewachsene Naturerkenntnis, andererseits durch Einleben in gewisse mystische Vorurteile erzeugt sind. Und die hier gemeinte Anthroposophie wird von der einen Seite abgewiesen, weil sie angeblich der Naturerkenntnis nicht gerecht wird, von der ändern Seite, weil sie den mystischen Neigungen, die glauben, durch sich selbst in der wahren Wirklichkeit stehen zu können, als etwas Überflüssiges erscheint. Von denjenigen Persönlichkeiten aber, die «echte» Erkenntnis freihalten möchten von allem, was über das gewöhnliche Bewusstsein hinausgeht, wird geglaubt, solche Anthroposophie verleugne den wahrhaft wissenschaftlichen Charakter, den zum Beispiel die philosophische Welterkenntnis sich aneignen müsse und verfalle in Dilettantismus.
In den folgenden Ausführungen soll nun gezeigt werden, wie wenig berechtigt dieser Vorwurf des Dilettantischen gegenüber anthroposophischem Streben gerade von Seite der Philosophie ist. Es soll in kurzen Zügen an dem Entwicklungsgang der Philosophie dargetan werden, wie oft diese sich von der echten Wirklichkeit dadurch entfernt, dass sie die beiden hier angedeuteten Erkenntnisklippen nicht sieht und wie unbewusst doch dem philosophischen Streben ein Trieb zu Grunde liegt, der zwischen diesen Klippen hindurch auf eine Anthroposophie loszielt. (Ausführlich hat der Verfasser dieses Aufsatzes dieses Loszielen aller Philosophie auf eine Anthroposophie in seinem Buche «Die Rätsel der Philosophie» dargestellt.)
Philosophie wird zumeist von denjenigen, die sie treiben, als etwas Unbedingtes angesehen, nicht als etwas, das im Laufe der Menschheitsentwickelung aus gewissen Voraussetzungen heraus hat entstehen und sich wandeln müssen. Über den eigentlichen Charakter der Philosophie ist mancher im Irrtum. Gerade ihr gegenüber ist man imstande, auch aus äußerlichen historischen Dokumenten, nicht bloß aus inneren Erkenntniserlebnissen, anzugeben, wann sie als solche ihren Ursprung innerhalb der Menschheitsentwickelung genommen hat und nehmen musste. Das haben auch die meisten, namentlich älteren Darsteller der Philosophie-Geschichte ziemlich gut getroffen. In allen diesen Darstellungen wird man finden, dass mit dem Thales begonnen wird und dass von ihm dann fortgeschritten wird bis in unsere Zeit herein.
Allerdings haben einige neuere Philosophie-Geschichtsschreiber, die ganz besonders vollständig und ganz besonders gescheit sein wollten, den Anfang der Philosophie in noch frühere Zeiten verlegt und allerlei aus früheren Weisheitslehren hereingezogen. Aber das ist doch nur entsprungen aus einer ganz bestimmten Form des Dilettantismus, der nicht weiß, dass alles, was in Indien, Ägypten und Chaldäa an Weisheitslehren dargestellt worden ist, auch methodisch einen ganz anderen Ursprung hat, als das rein philosophische, dem Spekulativen zuneigende Denken. Dieses hat sich erst in der griechischen Welt entwickelt, und der erste, welcher da in Betracht kommt, ist wirklich erst Thales. Man braucht aber gar nicht erst eine Charakteristik der verschiedenen griechischen Philosophen von Thales ab, nicht von Anaxagoras, Heraklit, Ana Ximenes, auch nicht von Sokrates und Plato; man kann gleich anknüpfen an diejenige Persönlichkeit, die eigentlich zu allererst als der Philosoph im engsten Sinne dasteht, und das ist Aristoteles.
Alle anderen Philosophien sind im Grunde genommen noch durch Mysterienweisheit angeregte Abstraktionen; für Thales und Heraklit ließe sich das zum Beispiel leicht nachweisen*. (* Mit Mysterienweisheit ist hier eine von der späteren Erkenntnisart verschiedene gemeint, die in ältere Zeiten der Geistesentwickelung der Menschheit fällt. Diese Weisheit hatte zur Quelle ein innerliches Erleben der Seele, in dem die Geheimnisse des Weltgeschehens zur Offenbarung kamen. Mit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert ungefähr ging diese Art des Erkennens über in diejenige, welche die Aufschlüsse über das Weltgeschehen weniger in innerem Erleben als vielmehr in der von dem Verstande orientierten Beobachtung der sinnlichen und seelischen Wahrnehmungen sucht. In der älteren Art des Erkennens war ein inneres Schauen durchsetzt von einer instinktiven Logik. Diese Seelenverfassung macht derjenigen Platz, für welche das logische Denken immer bewusster wurde. Die alte Fähigkeit eines intuitiven Schauens verlor sich in der Menschenseele. An die Stelle der Mysterienweisheit trat die philosophische Betrachtung. Doch war es in den ersten Zeiten der philosophischen Entwickelung so, dass die Philosophen entweder durch ihnen noch mögliches inneres Schauen, oder durch Überlieferung der alten Mysterien-Erkenntnis von dieser noch wussten und sie mit der in der Menschheitsentwickelung auftretenden Verstandesfähigkeit durchsetzten. Wie dieser Übergang sich gestaltete, darüber findet man Angaben in den vom Verfasser des vorliegenden Aufsatzes veröffentlichten «Rätseln der Philosophie».)
Aber Philosophen im eigentlichen Sinne des Wortes sind auch noch nicht einmal Plato oder Pythagoras, die beide ihre Quellen im Sehertum haben. Denn nicht darauf kommt es an, wenn wir die Philosophie als solche charakterisieren, dass irgend jemand sich in Begriffen ausdrückt; sondern wo seine Quellen sind, darauf kommt es an. Pythagoras hat als Quellen die Mysterienweisheit und hat diese in Begriffe umgewandelt; er ist Hellseher, nur hat er das, was er als Seher erfahren, in philosophische Form gebracht, und dasselbe ist auch bei Plato der Fall.
Was aber den Philosophen ausmacht, und was gerade erst bei Aristoteles auftritt, ist, dass er aus der reinen Begriffstechnik heraus arbeitet, und dass er andere Quellen notwendig ablehnen muss oder sie ihm unzugänglich sind. Und weil das erst bei Aristoteles der Fall ist, deshalb ist es auch nicht ohne welthistorischen Grund, dass eben er es ist, der die Logik, die Wissenschaft der Denktechnik, begründet hat. Alles andere ist nur Vorläufertum gewesen. Die Art und Weise, wie man Begriffe bildet, Urteile formt, Schlüsse zieht, das alles hat erst Aristoteles als eine Art Naturgeschichte des subjektiven menschlichen Denkens gefunden, und alles, was uns bei ihm entgegentritt, ist mit dieser Grundlegung der Denktechnik eng verknüpft. Da wir noch auf einiges zurückkommen werden, was bei ihm fundamental wichtig ist für alle späteren Betrachtungen, so bedarf es jetzt nur dieser historischen Andeutung, um den Ausgangspunkt kurz zu charakterisieren.
Aristoteles bleibt auch für die spätere Zeit der tonangebende Philosoph. Seine Leistungen flössen nicht nur ein in die nacharistotelische Zeit des Altertums bis zur Begründung des Christentums, sondern gerade in der ersten christlichen Zeit bis hinein in das Mittelalter war er derjenige Denker, nach dem man sich bei der Ausarbeitung aller Weltanschauungsbestrebungen richtete. Damit soll nicht gesagt werden, dass man etwa, namentlich im Mittelalter, wo man nicht die Urtexte hatte, die Philosophie des Aristoteles als System, als eine Summe von Dogmen vor sich gehabt habe; aber man hatte sich eingelebt in die Art, wie man an der Leiter der reinen Begriffstechnik zu einem Wissen bis hinauf zum Denken über die Grundrätsel des Lebens kommt. Und so kam es, dass Aristoteles immer mehr und mehr der logische Lehrer wurde. Man sagte sich im Mittelalter etwa so: Möge die positive Tatsachenerkenntnis der Welt wo immer herkommen, möge sie davon kommen, dass der Mensch mit seinen Sinnen die äußere Wirklichkeit untersucht, oder dass eine Offenbarung durch göttliche Gnade stattfindet wie durch den Christus Jesus – so sind das Dinge, die einfach hinzunehmen sind, auf der einen Seite als Aussagen der Sinne, auf der anderen als Offenbarung. Will man aber etwas in dieser oder jener Art Gegebenes durch reine Begriffe begründen, dann muss man es mit jener Denktechnik tun, die Aristoteles aufgedeckt hat.
Und in der Tat, die Begründung der Denktechnik ist von Aristoteles so bedeutsam geleistet worden, dass Kant, und zwar mit Recht, gesagt hat, dass seit Aristoteles die Logik eigentlich um keinen einzigen Satz fortgeschritten sei*. (*Was gegen diese Anschauung Kants von verschiedenen Seiten vorgebracht worden ist, hat doch nur die allereingeschränkteste Geltung.) Und im Grunde genommen gilt das im wesentlichen auch noch für heute; auch heute ist der Grundstock logischer, denktechnischer Lehren ziemlich unverändert geblieben gegenüber dem, was Aristoteles gegeben hat. Das, was man heute hinzufügen will, entspringt aus einem ziemlich missverständlichen Verhalten gegenüber dem Begriffe der Logik, auch in philosophischen Kreisen.
Nun wurde nicht bloß etwa das Studium des Aristoteles, sondern vor allen Dingen das Sichhineinfinden in seine Denktechnik tonangebend für die mittlere Zeit des Mittelalters, für die frühscholastische Zeit, wie man sie auch nennen könnte, wo die Scholastik in der Blüte stand. Diese Zeit fand ja in bezug auf diese ihre Blüte ihren Abschluss durch Thomas von Aquino im 13. Jahrhundert. Wenn man von dieser frühscholastischen Zeit spricht, muss man sich klar darüber sein, dass man heute nur dann philosophisch darüber urteilen kann, wenn man frei von aller Autorität und allem Dogmenglauben ist. Es ist ja gegenwärtig fast schwerer, rein objektiv, als abfällig über diese Dinge zu sprechen. Wenn man abfällig über die Scholastik spricht, kommt man nicht in die Gefahr, von den sogenannten freien Geistern verketzert zu werden; spricht man aber objektiv darüber, so liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, missverstanden zu werden, und zwar deshalb, weil man sich heute innerhalb der positiven und gerade der intolerantesten Kirchenbewegung vielfach ganz missverständlich auf die Thomistik beruft. Was heute als orthodox-katholische Philosophie gilt, das alles soll hier nicht besprochen werden, aber ebensowenig darf uns abschrecken, dass uns der Vorwurf gemacht werden könnte, wir pflegten dasselbe, was von dogmatischer Seite getrieben und festgesetzt wird. Wir wollen vielmehr, unbekümmert um alles, was von rechts und links sich geltend machen kann, einmal charakterisieren, welche Empfindung die Blütezeit der Scholastik in bezug auf die Wissenschaft, die Denktechnik und die übernatürliche Offenbarung hatte.
Die Frühscholastik ist nicht das, als was man sie gewöhnlich heute mit einem Schlagwort charakterisieren möchte; sie ist im Gegenteil Monismus, Einheitslehre – nicht im entferntesten ist sie dualistischer Natur in dem Sinne, wie sich das jetzt viele vorstellen. Der Urgrund der Welt ist für sie ein durchaus einheitlicher; nur hat der Scholastiker in bezug auf das Erschauen dieses Urgrundes eine bestimmte Empfindung. Er sagt: es gibt ein gewisses übersinnliches Wahrheitsgut, ein Weisheitsgut, das zunächst der Menschheit offenbart worden ist; das menschliche Denken mit all seiner Technik kommt nicht so weit, um aus sich selbst in die Regionen zu dringen, deren Wesenheit der Inhalt der höchsten geoffenbarten Weisheit ist. Daher besteht für den Frühscholastiker ein gewisses Weisheitsgut, das zunächst der Denktechnik nicht völlig zugänglich ist. –
Nur insofern ist es ihr zugänglich, als der Gedanke imstande ist, das, was geoffenbart wurde, zu verdeutlichen.
Für diesen Teil des Weisheitsgutes obliegt also dem Denker, es als geoffenbartes hinzunehmen, und die Denktechnik nur zu seiner Verdeutlichung zu verwenden. Was der Mensch aus sich selbst finden kann, bewegt sich nur in gewissen untergeordneten Regionen der Wirklichkeit. Für diese wendet der Scholastiker die Denktätigkeit auf die eigene Forschung des Menschen an. Er dringt da bis zu einer gewissen Grenze, an der ihm die geoffenbarte Weisheit begegnet. So schließen sich die Inhalte der eigenen Forschung und der Offenbarung zu einer objektiv einheitlichen, monistischen Weltanschauung zusammen. Dass dabei eine Art von Dualismus, durch die menschliche Eigentümlichkeit geboten, in die Sache hineinkommt, ist nur sekundär. Es handelt sich um einen Dualismus der Erkenntnis, nicht um einen solchen des Weltzusammenhanges.
Der Scholastiker erklärt also die Denktechnik für geeignet, dasjenige, was in der empirischen Wissenschaft, in der Sinnesbeobachtung gewonnen wird, rationell zu bearbeiten, ferner auch ein Stück hinaufzudringen bis zur spirituellen Wahrheit. Und dann stellt der Scholastiker in Bescheidenheit ein Stück der Weisheit als Offenbarung hin, die er nicht selbst finden kann, die er nur hinzunehmen hat.
Was nun aber der Scholastiker als diese besondere Denktechnik anwendet, das ist durchaus aus dem Boden aristotelischer Logik entsprungen. Es gab für die Frühscholastik, die etwa mit dem 13. Jahrhundert sich ihrem Abschluss nähert, eine zweifache Notwendigkeit, sich mit Aristoteles zu befassen. Die eine Notwendigkeit war in der geschichtlichen Entwickelung gegeben: der Aristotelismus hatte sich eben eingelebt. Die andere Notwendigkeit war die Folge davon, dass dem überlieferten christlichen Lehrgut nach und nach von einer anderen Seite ein Gegner erstanden war.
Aristoteles hatte nämlich nicht nur im Abendlande seine Verbreitung gefunden, sondern auch im Morgenlande; und alles, was durch die Araber über Spanien nach Europa gebracht worden war, war in bezug auf die Denktechnik durchtränkt von Aristotelismus. Namentlich war es eine gewisse Form der Philosophie, der Naturwissenschaft, bis in die Medizin hineinreichend, was da herübergebracht worden war und was im eminentesten Sinne von aristotelischer Denktechnik durchdrungen war. Nun hatte sich von dorther die Meinung gebildet, dass gar nichts anderes als Konsequenz aus dem Aristotelismus folgen könne, als eine Art von Pantheismus, der namentlich in der Philosophie aus einer sehr verschwommenen Mystik entsprungen war. Man hatte also außer dem einen Grunde, dass nämlich Aristoteles in der Denktechnik fortgelebt hatte, noch einen ändern, sich mit ihm zu befassen: in der Auslegung der Araber erschien die im Sinne des Aristoteles gehaltene Denkart als Gegner, als Feind des Christentums.
Man musste sich sagen: wenn das, was die Araber als Interpretation des Aristotelismus herübergebracht haben, wahr ist, dann wäre dieser eine wissenschaftliche Grundlage, die dazu geeignet wäre, das Christentum zu widerlegen. Nun stellen wir uns vor, was mussten demgegenüber die Scholastiker empfinden? Auf der einen Seite hielten sie fest an der Wahrheit des Christentums, auf der anderen aber konnten sie nach aller Tradition nicht anders, als eingestehen, dass die Logik, die Denktechnik des Aristoteles, die wahre, die richtige sei. Aus diesem Zwiespalt heraus ergab sich für die Scholastiker die Aufgabe: zu beweisen, dass man die Logik des Aristoteles anwenden könne, seine Philosophie treiben könne, und dass man gerade durch ihn das Instrument habe, das Christentum wirklich zu begreifen und zu verstehen. Es war eine Aufgabe, die durch die Zeitentwickelung gestellt war. Es musste der Aristotelismus so behandelt werden, dass ersichtlich wurde: was als Lehre des Aristoteles von den Arabern gebracht worden war, ist nur eine missverständliche Auffassung derselben. Dass man den Aristotelismus nur richtig deuten müsse, um in ihm das Fundament für das Begreifen des Christentums zu haben: das zu zeigen, war die Aufgabe, die sich die Scholastik stellte und der ein großer Teil des Schrifttums des Thomas von Aquino gewidmet ist.
Nun aber geschieht etwas anderes. Im Laufe der Entwickelung tritt nach der Blütezeit der Scholastiker in der ganzen logisch-philosophischen Denkentwickelung der Menschheit ein völliger Bruch ein. Das Natürliche wäre gewesen (aber das soll keine Kritik sein, nicht einmal soll damit gesagt sein, dass es hätte anders geschehen können; der tatsächliche Verlauf war eben notwendig — nur hypothetisch soll das Folgende hingestellt werden), das Natürliche wäre gewesen, dass man die Denktechnik immer mehr ausgedehnt hätte, dass man immer höhere und höhere Teile der übersinnlichen Welt durch das Denken ergriffen hätte. So war aber die Entwickelung zunächst nicht. Der Grundgedanke, der zum Beispiel für Thomas von Aquino zunächst für die höchsten Gebiete galt, und welcher hätte durchaus sich so entwickeln können, dass die Grenze der menschlichen Forschung sich immer mehr nach oben in das übersinnliche Gebiet hätte erweitern lassen, wurde in seiner Tragkraft gehemmt und lebte nun weiter in der Überzeugung: die höchsten spirituellen Wahrheiten entziehen sich ganz und gar der rein menschlichen Denktätigkeit, der Ausarbeitung in Begriffen, zu denen es der Mensch aus sich selbst bringen kann. Dadurch ist ein Riss im menschlichen Geistesleben eingetreten. Man stellte die übersinnliche Erkenntnis als etwas hin, das sich jeder menschlichen Denkarbeit absolut entziehe, das nicht durch subjektive Akte der Erkenntnis zu erreichen sei, das nur einem Glauben entspringen müsse. Veranlagt war das schon früher, zum Extrem getrieben wurde es gegen das Ende des Mittelalters. Es wurde immer mehr herausgearbeitet die Scheidung zwischen dem Glauben, der durch eine subjektive Gefühlsüberzeugung erreicht werden muss, und dem, was als Grundlage eines sicheren Urteils durch logische Tätigkeit erarbeitet werden kann.
Und es war nur natürlich, dass, nachdem dieser Abgrund sich einmal aufgetan hatte, Wissen und Glauben immer mehr auseinandergedrängt wurden. Und natürlich war es auch, dass man Aristoteles und seine Denktechnik hineinzog in diesen Riss, der sich durch die historische Entwickelung aufgetan hatte. Insbesondere wurde er im Beginne der Neuzeit hineingezogen. Da sagte man auf der Seite der Wissenschaftler – und vieles von dem, was diese sagten, können wir als begründet ansehen –: mit dem bloßen Fortspinnen des schon bei Aristoteles Gegebenen kann man doch keine Fortschritte in der empirischen Wahrheitsforschung machen. Außerdem gestaltete sich die geschichtliche Entwickelung so, dass es misslich wurde, mit den Aristotelikern eine Vereinigung zu haben, ja, als die Zeit des Kepler und Galilei heraufkam, da war der missverstandene Aristotelismus eine wahre Erkenntnisplage geworden.
Es kommt ja immer wieder vor, dass die Nachfolger, die Bekenner einer Weltanschauung ungemein viel von dem verderben, was die Begründer durchaus richtig hingestellt haben. Statt in die Natur selbst hineinzuschauen, statt zu beobachten, fand man es am Ende des Mittelalters bequem, die alten Bücher des Aristoteles zu nehmen und bei allen akademischen Vorlesungen das Geschriebene des Aristoteles zugrunde zu legen. Charakteristisch dafür ist, dass ein orthodoxer Aristoteliker aufgefordert wurde, sich an einer Leiche zu überzeugen, dass nicht, wie er missverständlich aus Aristoteles herausgelesen hatte, die Nerven vom Herzen ausgehen, sondern dass das Nervensystem sein Zentrum im Gehirn habe. Da sagte der Aristoteliker: Die Beobachtung zeigt mir, dass sich das wirklich so verhält, aber in Aristoteles’ Werken steht das Gegenteil, und dem glaube ich mehr. So waren die Aristoteliker in der Tat eine Erkenntnisplage geworden. Und darum musste die empirische Wissenschaft aufräumen mit diesem falschen Aristotelismus und sich auf die reine Erfahrung berufen, wie wir das besonders stark als Impuls gegeben sehen bei dem großen Galilei.
Auf der anderen Seite entwickelte sich etwas anderes. Bei den Persönlichkeiten, die sozusagen den Glauben vor einem Einbruch des nun auf sich selbst gestellten Denkens schützen wollten, entwickelte sich eine Abneigung gegen die Denktechnik. Sie waren der Meinung, dass diese Denktechnik ohnmächtig sei gegenüber dem geoffenbarten Weisheitsgut. Wenn die weltlichen Empiriker sich auf das Buch des Aristoteles beriefen, so beriefen sich die ändern auf etwas, was sie – freilich in missverständlicher Weise – einem anderen Buche, der Bibel, entnommen hatten. Das sehen wir am stärksten im Beginn der Neuzeit zum Ausdruck gebracht, wenn wir die harten Worte Luthers hören: «die Vernunft ist die stockblinde, taube Närrin», die nichts zu schaffen haben soll mit den spirituellen Wahrheiten; und wenn Luther weiter behauptet, dass die reine Glaubensüberzeugung niemals in richtiger Weise aufdämmern kann durch das vernünftige Denken, das sich auf Aristoteles’ Vorstellungsart stützt. Diesen nennt er «einen Heuchler, einen Sykophanten, einen stinkenden Bock». Das sind, wie gesagt, harte Worte, aber vom Standpunkte der neuen Zeit erscheinen sie uns begreiflich; es hatte sich eben eine tiefe Kluft aufgetan zwischen der Vernunft und ihrer Denktechnik einerseits und der übersinnlichen Wahrheit andererseits.
Einen letzten Ausdruck hat diese Kluft durch einen Philosophen gefunden, unter dessen Einfluss sich das 19. Jahrhundert in einem Netz gefangen hat, aus dem es schwer wieder herauskommen kann: durch Kant. Er ist im Grunde genommen der letzte Ausläufer jener durch den mittelalterlichen Riss hervorgebrachten Spaltung. Er trennt streng den Glauben und dasjenige, was der Mensch durch das Wissen erreichen kann. Schon äußerlich steht die «Kritik der reinen Vernunft» neben der «Kritik der praktischen Vernunft», und die praktische Vernunft versucht, einen wenn auch rationalistischen Glaubensstandpunkt zu gewinnen gegenüber dem, was man Wissen nennen kann. Dagegen wird in der Kantschen theoretischen Vernunft in der extremsten Weise behauptet, dass diese Vernunft unfähig sei, das Wirkliche, das Ding an sieh, zu begreifen. Das Ding an sich mache zwar Eindrücke auf den Menschen, aber dieser könne nur in seinen Vorstellungen, in seinen eigenen Begriffen leben. Nun müssten wir eigentlich tief in die Geschichte der Kantschen Philosophie hineingehen, wenn wir den verwüstenden Fundamental-Irrtum Kants charakterisieren wollten; aber das würde uns zu weit von unserer Aufgabe entfernen. -Man findet übrigens das zu sagen Nötige darüber in meiner «Wahrheit und Wissenschaft».
Für heute interessiert uns vielmehr etwas anderes, nämlich das Netz, in dem sich das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts gefangen hat. Wir wollen einmal untersuchen, wie das zustande gekommen ist. Kant hatte vor allen Dingen das Bedürfnis, zu zeigen, inwiefern in dem Denken etwas Absolutes vorliege, etwas, in dem es keine Unsicherheit geben könne. Alles aber, was aus der Erfahrung stammt, sagte er, das ist kein Sicheres. Die Sicherheit kann unserem Urteil nur dadurch gegeben werden, dass ein Teil der Erkenntnis nicht von den Dingen, sondern von uns selbst stammt. Wir sehen nun im Kantschen Sinne in unserer Erkenntnis die Dinge wie durch ein gefärbtes Glas an; wir fangen in unserer Erkenntnis die Dinge in die gesetzmäßigen Zusammenhänge ein, die von unserer eigenen Wesenheit herrühren. Unsere Erkenntnis hat gewisse Formen, die Raumform, die Zeitform, die Form der Kategorie von Ursache und Wirkung und so weiter. – Diese Formen haben für das Ding an sich keine Bedeutung, wenigstens kann der Mensch nichts davon wissen, ob das Ding an sich in Raum, Zeit oder Kausalität existiert. Das sind Formen, die nur aus dem Subjekt des Menschen entspringen, und die der Mensch in dem Augenblicke über das «Ding an sich» spinnt, in dem dies letztere an ihn herantritt, so dass ihm das Ding an sich unbekannt bleibt. Wo also der Mensch diesem Ding an sich gegenübertritt, da umspinnt er es mit der Form des Raumes, der Zeit, fasst es in einen Zusammenhang, der als Ursache und Wirkung erscheint; und so legt der Mensch sein ganzes Netz von Begriffen und Formen über das Ding an sich hinüber. Deshalb gibt es ja für den Menschen eine gewisse Sicherheit der Erkenntnis, weil – so lange er ist, wie er ist – Zeit, Raum und Kausalität für ihn gelten. Was der Mensch selbst in die Dinge hineinschaut, das muss er wieder aus ihnen herausdröseln. Aber was das Ding an sich ist, kann der Mensch nicht wissen, denn er bleibt ewig in den Formen seiner Vorstellung befangen. Das hat Schopenhauer zum klassischen Ausdruck gebracht in dem Satze: «Die Welt ist meine Vorstellung.»
Diese ganze Schlussfolgerung ist übergegangen fast in das gesamte Denken des 19. Jahrhunderts; nicht bloß in die Erkenntnistheorie, sondern auch zum Beispiel in die theoretischen Grundlagen der Physiologie. Es kamen zu den philosophischen Erwägungen gewisse Erfahrungen hinzu. Wenn man zum Beispiel auf die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien blickt, so scheint in ihr eine Bestätigung der Kantschen Meinung zu liegen. Wenigstens hat man die Sache so im Laufe des 19. Jahrhunderts angesehen. Man sagt so: das Auge nimmt Licht wahr. Wenn man aber das Auge auf andere Weise affiziert, zum Beispiel durch Druck, durch elektrischen Impuls und so weiter, so zeigt es auch Lichtwahrnehmung. Daher sagt man: Der Inhalt der Lichtwahrnehmung ist aus der spezifischen Energie des Auges heraus erzeugt und ist übergezogen über das Ding an sich. Insbesondere Helmholtz hat das in krasser Weise als physiologisch-philosophische Lehre zum Ausdruck gebracht, indem er sagt: Alles, was wir wahrnehmen, ist nicht einmal bildhaft ähnlich zu denken mit den Dingen, die außer uns sich befinden. Das Bild hat Ähnlichkeit mit dem, was es darstellt; aber das, was wir Sinnesempfindung nennen, das kann nicht einmal solche Ähnlichkeit mit dem Original haben, wie es das Bild mit seinem Original hat. Man kann daher, sagt er weiter, das, was der Mensch in sich erlebt, nicht anders ansprechen, denn als ein «Zeichen» des Dinges an sich. Ein Zeichen braucht ja nichts Ähnliches zu haben mit dem, was es ausdrückt.
Was sich so lange vorbereitet hat, von dem ist das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts und bis zur Gegenwart ganz durchsetzt worden. Man konnte über das Verhältnis des menschlichen Erkennens zur Wirklichkeit nur im Sinne der hier angedeuteten Vorstellungen denken. Ich muss oft mich erinnern an ein Gespräch, das ich vor längerer Zeit mit einem von mir sehr geschätzten philosophischen Denker des 19. Jahrhunderts führen durfte, mit dessen erkenntnistheoretischen Anschauungen ich aber durchaus nicht übereinstimmen konnte. Ich wollte geltend machen, dass die Anschauung von der subjektiven Wesenheit der menschlichen Vorstellung doch eine erkenntnismäßige Feststellung sei und nicht von vornherein behauptet werden dürfe. Er erwiderte, man brauche sich doch nur an die Wortdefinition «Vorstellung» zu halten; diese sage aus, dass «Vorstellung» nur in der Seele sei; da aber alles Wirkliche nur durch die Vorstellungen gegeben sei, so habe man eben im Erkenntnisvorgang nicht eine Wirklichkeit, sondern nur die Vorstellungen von einer solchen. –
Eine vorgefasste Meinung hatte sich bei dem wahrlich scharfsinnigen Denker zu einer Definition verdichtet, so dass für ihn völlig einwandfrei feststand: Das, was ich im Vorstellen ergreife, geht immer nur bis an die Grenze des Dinges an sich, es ist also nur subjektiv. Diese Denkgewohnheit hat sich im Laufe der Zeit so fest eingelebt, dass alle diejenigen Erkenntnistheoretiker, die sich etwas darauf zugute tun, Kant zu verstehen, einen jeden für einen beschränkten Menschen halten, der nicht zugeben kann, dass ihre Definition von der Vorstellung und von der subjektiven Natur des Beobachteten richtig sei. Das alles ist durch den vorhin geschilderten Riss in der menschlichen Geistesentwickelung herbeigeführt worden.
Wer nun aber wirklich den Aristoteles richtig begreift, der wird finden, dass in einer geraden, also gewissermaßen nicht umgebogenen Entwickelung von Aristoteles aus ganz anderes als Erkenntnis-Prinzip und -Theorie hätte kommen können. Aristoteles hat bereits Dinge eingesehen auf erkenntnistheoretischem Gebiet, zu denen sich der Mensch heute durch all das denkerische Wesen, das unter dem Einflüsse Kants entstanden ist, erst wieder langsam und allmählich wird aufschwingen können. Er muss vor allen Dingen begreifen lernen, dass Aristoteles schon die Möglichkeit hatte, durch die Denktechnik Begriffe sich zu erarbeiten, die richtig gefasst sind, und die unmittelbar dahin führen, die durch die gekennzeichnete Vorstellungsart von dem Menschen selbst gezogenen Erkenntnisgrenzen zu überschreiten. Wir brauchen uns nur mit einigen Fundamental-Begriffen des Aristoteles zu befassen, um das einzusehen. Es ist durchaus in seinem Sinne zu sagen: Wenn wir die Dinge um uns herum gewahr werden, finden wir zunächst das, was uns eine Erkenntnis dieser Dinge verschafft, dadurch, dass wir mit dem Sinn wahrnehmen; der Sinn liefert uns das einzelne Ding. Wenn wir aber anfangen zu denken, da gruppieren sich uns die Dinge, wir fassen verschiedene Dinge in einer Denkeinheit zusammen. Und Aristoteles findet die richtige Beziehung zwischen dieser Gedankeneinheit und einem objektiv Wirklichen, jenem Objektiven, das zu dem Ding an sich führt – indem er zeigt, dass wir bei konsequentem Denken die Erfahrungswelt um uns herum zusammengesetzt denken müssen aus Materie und aus dem, was er die Form nennt. Materie und Form fasst Aristoteles in zwei Begriffen, die er in dem einzig richtigen Sinne, wie sie geschieden werden müssen, wirklich scheidet. Man könnte stundenlang reden, wenn man diese beiden Begriffe und alles, was damit zusammenhängt, erschöpfen wollte. Aber einiges Elementare wollen wir wenigstens herbeitragen, um zu verstehen, was Aristoteles als Form und Materie unterscheidet. Er ist sich klar darüber, dass es in bezug auf alle Dinge, die unsere Erfahrungswelt bilden, für das Erkennen darauf ankommt, dass wir die Form ergreifen, denn die Form gibt den Dingen das Wesentliche, nicht die Materie.
Es gibt auch in unserer Zeit noch Persönlichkeiten, die ein richtiges Verständnis haben für Aristoteles. Vincenz Knauer, der in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in Wien Universitätsdozent war, hat seinen Hörern den Unterschied zwischen Materie und Form gewöhnlich durch eine Illustration klar gemacht, über die man vielleicht spotten mag, die aber doch treffend ist. Er sagte, man solle sich einmal denken, wie ein Wolf, der einige Zeit seines Lebens lauter Lämmer gefressen habe, wie der sich dann eigentlich aus der Materie der Lämmer zusammensetzt -und doch wird dieser Wolf niemals ein Lamm! Das gibt, wenn man es nur richtig verfolgt, den Unterschied zwischen Materie und Form. Ist der Wolf ein Wolf durch Materie? Nein! Seine Wesenheit hat er durch die Form – wir finden die «Wolfform» nicht nur bei diesem Wolf, sondern bei allen Wölfen. So finden wir die Form, indem wir einen Begriff bilden, der ein Universelles zum Ausdruck bringt, im Gegensatz zu dem, was die Sinne erfassen, und das immer ein Besonderes, ein einzelnes Ding ist. Man bewegt sich mit dem Denken durchaus innerhalb der Vorstellungsart des Aristoteles, wenn man, wie die Scholastiker, das Wesenhafte der Form durch eine Gliederung des Universellen in drei Arten erkennend zu durchschauen strebt. Die Scholastiker setzen das Universelle als Sein der Form vor allem Wirken und Leben dieser Form in dem einzelnen Dinge voraus; dann dachten sie es sich als diese einzelnen Dinge durchwirkend und durchlebend; und drittens fanden sie, dass die menschliche Seele die universelle Form durch die Beobachtung der Dinge in sich auf diejenige Art aufleben lässt, die ihr möglich ist. Danach unterschieden diese Philosophen das in den Dingen Universell-Lebende und im menschlichen Erkennen zum Ausdruck Kommende in folgender Art: Erstens Universalia ante rem, das Wesenhafte der Form, bevor es in den Einzelheiten der Dinge lebt; zweitens Universalia in re, die wesenhaften Formen in den Dingen; drittens Universalia post rem, diese wesenhaften Formen, von den Dingen abgezogen und als innere Seelenerlebnisse im Erkennen durch das Wechselverhältnis der Seele mit den Dingen auftretend.
Bevor man nicht auf diese Dreigliederung eingeht, kann man auf diesem Grunde zu keiner richtigen Einsicht in bezug auf dasjenige kommen, was hier wichtig ist. Denn man bedenke, um was es sich handelt! Es handelt sich um die Einsicht, dass der Mensch, insofern er in den Universalia post rem drinnen lebt, ein Subjektives hat. Aber es wird zugleich auf etwas Wesentliches hingewiesen, nämlich darauf, dass der Begriff in der Seele eine «Repräsentation» dessen ist, was als reale Formen (Entelechien) universalen Bestand hat. Und diese – die Universalia in re – sind wiederum nur in die Dinge hineingeflossen, weil sie schon vor den Dingen existiert haben als Universalia ante rem.
In dem Universell-Wesenhaften, wie es vor seiner Verwirklichung in den Einzeldingen besteht, muss eine rein geistige Daseinsstufe gedacht werden. Es ist selbstverständlich, dass in der Annahme eines solchen Wesenhaften (Universalia ante rem) derjenige das Ergebnis eines abstrakten Gedankengespinstes sehen muss, der nur das sinnlich Gegebene als Wirkliches gelten lassen will. Aber es kommt gerade darauf an, das innere Seelenerlebnis zu haben, das zu einer solchen Annahme nötigt. Es ist das Seelenerlebnis, welches in dem Allgemein-Begriff «Wolf» nicht bloß ein Gebilde des die verschiedenen Einzel-Wölfe zusammenfassenden Verstandes, sondern eine über diese Einzelwesen hinausliegende geistige Wirklichkeit «Wolf» schaut. Diese geistige Wirklichkeit gibt dann die Möglichkeit, den Unterschied zwischen Tier und Mensch in einem geistgemäßen Sinne zu sehen. Das Gattungsmäßige «Wolf» kommt nicht im Einzelwolfe, sondern in der Gesamtheit dieser Einzel-Wölfe zur Verwirklichung. Im Menschen aber lebt das Geistig-Seelische, das im Tiere durch die Gattung (oder Art) in der Summe der Individuen zur Offenbarung kommt, auf individuelle Art. Oder aristotelisch gesprochen: Im menschlichen Individuum lebt die «Form» sich in der sinnlichen Wesenheit unmittelbar aus; im tierischen Reich bleibt diese «Form» als solche im Übersinnlichen und gestaltet sich in dem ganzen Entwickelungsleben erst aus, das alle Individuen derselben «Form» umfasst. Es gestattet der Aristotelismus bei den Tieren von Gruppenseelen (Art-, Gattungsseelen) zu sprechen, beim Menschen von Individualseelen. Gelingt es, ein solches inneres Seelenleben herzustellen, für das eine derartige Unterscheidung einer angeschauten Wirklichkeit entspricht, so ist dieses Seelenleben ein weiterer Fortschritt auf einer Erkenntnisbahn, die der Aristotelismus und die Scholastik nur bis zur Begriffstechnik beschritten haben.
Dass solches gelingen kann, sucht die anthroposophische Geisteswissenschaft zu beweisen. Für sie sind die «Formen» nicht bloß Ergebnisse begrifflicher Unterscheidung, sondern der übersinnlichen Anschauung. Sie schaut in den Gattungsseelen der Tiere und in den Individualseelen der Menschen Wesen ähnlicher Art. Und sie schaut in diese Verhältnisse hinein, wie in die physisch-sinnliche Wirklichkeit die Sinne hineinschauen. Wie das innerhalb der anthroposophischen Geisteswissenschaft angestrebt wird, soll in dem weiteren Fortgang dieser Abhandlung angedeutet werden; hier sollte gezeigt werden, wie in der aristotelischen Vorstellungsart die Möglichkeit liegt, Begriffe zu finden, durch die man Anthroposophie stützen kann. Nur gehört zu all dem, was uns bei Aristoteles entgegentritt, noch etwas, das in der Neuzeit immer unbeliebter geworden ist. Es ist nötig, dass man sich dazu bequeme, in scharfen, fein ziselierten Begriffen zu denken, in Begriffen, die man sich erst zubereitet; es gehört dazu, dass man die Geduld hat, von Begriff zu Begriff vorzuschreiten, dass man vor allen Dingen Neigung zu begrifflicher Reinheit und Sauberkeit habe, dass man weiß, wovon man redet, wenn man einen Begriff anschlägt. Wenn man im scholastischen Sinne zum Beispiel von der Beziehung des Begriffs zu dem, was er repräsentiert, spricht, so muss man erst lange Definitionen in den scholastischen Schriften durcharbeiten. Man muss wissen, was es heißt, wenn man sagt, der Begriff ist formaliter begründet im Subjekt und fundamentaliter im Objekt; was der Begriff als seine eigene Gestalt hat, kommt vom Subjekt, was er als Inhalt hat, vom Objekt her. –
Das ist nur eine kleine Probe. Wirklich nur eine kleine. Wenn Sie scholastische Werke durchnehmen, müssen Sie sich durch dicke Bände von Definitionen durchwinden, und das ist dem heutigen Wissenschaftler sehr unangenehm; daher betrachtet er die Scholastiker als Schulfüchse und tut sie damit ab. Er weiß gar nicht, dass wahre Scholastik nichts anderes ist, als die gründliche Ausarbeitung der Gedankenkunst, so dass diese ein Fundament für das wirkliche Begreifen der Wirklichkeit bilden kann. Indem ich dies spreche, werden Sie empfinden, dass es eine große Wohltat ist, wenn gerade innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft Bestrebungen auftauchen, die in allerbestem (erkenntnistheoretischem) Sinne auf eine Ausarbeitung der erkenntnistheoretischen Prinzipien hinzielen. Und wenn wir gerade hier in Stuttgart einen Arbeiter auf diesem Gebiete von außerordentlicher Bedeutung haben (Dr. Unger), so ist das als eine wohltätige Strömung innerhalb unserer Bewegung zu betrachten. Denn diese Bewegung wird in ihren tiefsten Teilen nicht durch diejenigen ihre Geltung in der Welt erlangen, die nur die Tatsachen der höheren Welt hören wollen, sondern durch solche, welche die Geduld besitzen, in eine Gedankentechnik einzudringen, die einen realen Grund für ein wirklich gediegenes Arbeiten schafft, die ein Skelett schafft für das Arbeiten in der höheren Welt. So wird vielleicht gerade innerhalb der anthroposophischen Bewegung und aus der Anthroposophie selbst heraus erst wiederum verstanden werden, was die von Anhängern und Gegnern zum Zerrbild gemachte Scholastik eigentlich wollte. Es ist natürlich bequemer, mit ein paar mitgebrachten Begriffen alles, was uns als höhere Wirklichkeit entgegentritt, begreifen zu wollen, als eine gediegene Fundamentierung in der Begriffstechnik zu schaffen; aber was sind die Folgen davon? Es gibt oft einen misslichen Eindruck, wenn man heute philosophische Bücher in die Hand nimmt. Die Menschen verstehen einander gar nicht mehr, wenn sie über höhere Dinge sprechen; sie sind sich nicht klar darüber, wie sie die Begriffe gebrauchen. Das hätte in der scholastischen Zeit nicht vorkommen können, denn damals musste man sich klar über die Konturen eines Begriffs sein.
Sie sehen, es hat in der Tat einen Weg gegeben, um in die Tiefen der Denktechnik einzudringen. Und wäre dieser Weg weiter beschritten worden, hätte man sich nicht einfangen lassen in das Kantsche Gespinst vom «Ding an sich» und der Vorstellung, die subjektiv sein soll, dann hätte man zweierlei erreicht: erstens wäre man zu einer in sich selbst sicheren Erkenntnistheorie gelangt, und zweitens – und das ist von großer Bedeutung – hätte man nicht in den maßgebenden Kreisen diejenigen großen Philosophen so gänzlich missverstehen können, die nach Kant gearbeitet haben. Es folgt zum Beispiel das Trifolium Fichte, Schelling, Hegel. Was sind sie dem heutigen Menschen? Man hält sie für Philosophen, die aus rein abstrakten Begriffen eine Welt haben herausspinnen wollen. Das ist ihnen niemals eingefallen*. (*Es ist dem Verfasser dieser Abhandlung durchaus nicht unbekannt, dass es neuere philosophische Betrachtungen gibt, die auf Fichte, Schelling und Hegel zurückgehend, sich an den Anschauungen dieser Denker orientieren möchten. Allein er muss finden, dass in diesen Bestrebungen gerade das nicht lebt, was für jene Denker das Bedeutsame ist: deren Stellung zu einer geistigen Wirklichkeit, die im Seelenleben erfahren werden muss. In dem Zurückgehen auf dasjenige, was im abstrakt-logischen Elemente bei diesen Denkern sich ausgelebt hat, wird man, was in ihren Anschauungen wirkte, nicht erreichen.)
Aber man war eingezwängt in Kantsche Begriffe und deshalb konnte man den größten Philosophen der Welt weder philosophisch noch sachlich begreifen. Sie wissen, es ist derjenige, der im Hause vis-a-vis, wie aus der Gedenktafel hervorgeht, die Sie sehen können, wenn Sie hier die Straße betreten, seine Jugendzeit verbracht hat: Hegel. Erst allmählich wird man dazu heranreifen, das zu verstehen, was er der Welt gegeben hat; erst dann wird man ihn begreifen können, wenn man wieder herauskommt aus dem theoretisch gesponnenen, beengenden Erkenntnisgespinst. Und das wäre so einfach! Man brauchte sich nur zu einem natürlichen, unbefangenen Denken zu bequemen und sich frei zu machen von dem, was in der philosophischen Literatur unter dem Einfluss der getrübten Strömungen des Kantianismus sich zu Denkgewohnheiten entwickelt hat. Man muss sich klar sein über die Frage: Verhält es sich denn wirklich so, dass der Mensch vom Subjekt ausgeht, sich im Subjekt seine Vorstellung baut und diese Vorstellung dann hinüberspinnt über das Objekt? Ist das wirklich so? Ja, es ist so. –
Aber folgt daraus notwendigerweise, dass der Mensch niemals in das Ding an sich eindringen kann? Ich will einen einfachen Vergleich machen. Denken Sie sich, Sie haben ein Petschaft, darauf stehe der Name Müller. Nun drücken Sie das Petschaft in ein Siegellack und nehmen es fort. Nicht wahr, darüber sind Sie sich doch klar, dass wenn dies Petschaft, sagen wir, aus Messing besteht, dass nichts von dem Messing in das Siegellack übergehen wird. Wenn nun dies Siegellack erkennend im Kantschen Sinne wäre, so würde es sagen: «Ich bin ganz Lack, nichts kommt vom Messing in mich herein, also gibt es keine Beziehung, durch die ich über die Natur dessen, was mir da entgegentritt, etwas wissen könnte.» Dabei ist ganz vergessen, dass das, worauf es ankommt, nämlich der Name Müller, ganz objektiv als Abdruck im Siegellack drinnen ist, ohne dass vom Messing etwas hinübergegangen ist. So lange man materialistisch denkt und glaubt, dass, um Beziehungen herzustellen, Materie von dem einen zum anderen hinüberfließen müsse, so lange wird man auch theoretisch sagen: «Ich bin Siegellack, und das andere ist Messing an sich, und da von dem ‹Messing an sich› nichts hereinkommen kann in mich, kann auch der Name Müller nichts anderes sein als ein Zeichen. Das Ding an sich aber, das im Petschaft drinnen war, das sich mir abgedrückt hat, so dass ich es lesen kann: das bleibt mir ewig unbekannt.»
Da sehen Sie die Schlussformel, der man sich bedient. Spinnt man in dem Vergleiche weiter, so ergibt sich: «der Mensch ist ganz Siegellack (Vorstellung), das Ding an sich ist ganz Petschaft (das außerhalb der Vorstellung Befindliche). Weil ich nun als Lack (Vorstellender) nur an die Grenze des Petschafts (das Ding an sich) herankommen kann, so bleibe ich in mir selbst, es kommt nichts vom Ding an sich in mich herüber.» Solange man den Materialismus auf die Erkenntnistheorie ausdehnen wird, solange wird man nicht herausfinden, worauf es ankommt. (Man sieht daraus, dass man den Begriff Materialismus viel weiter fassen muss, als man dies gewöhnlich tut. Wer durch seine Vorstellungsart dazu gezwungen ist, zu denken, von dem wirklichen «Ding an sich» könne nichts in seiner Seele aufleben, weil dessen Materie nicht in diese herüberwandern kann, der ist Materialist, auch wenn er glaubt, Idealist zu sein, weil er die Seele gelten lässt. Und Kant war zu seinen Vorstellungen durch seinen versteckten Materialismus verführt. Sieht man diese Dinge im rechten Lichte, so wird allerdings auch die Nichtigkeit der in der Gegenwart immer wieder auftretenden Versicherung durchschaut: Die Wissenschaft sei heute über den Materialismus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinausgekommen. Sie ist in ihn deshalb tiefer hineingekommen, weil sie ihre materialistische Vorstellungsart nicht mehr als solche erkennt.)
Der Vordersatz gilt: wir kommen nicht über unsere Vorstellung hinaus, aber was herüberkommt vom Wirklichen zu uns, ist als Geistiges zu bezeichnen; das hat nicht nötig, dass materielle Atome herüberfließen. Nichts von einem Materiellen kommt in das Subjekt herein – trotzdem aber kommt das Geistige herüber in das Subjekt, so wahr wie der Name Müller in das Siegellack. Davon muss eine gesunde, erkenntnistheoretische Forschung ausgehen können, dann wird man sehen, wie sehr sich der neuzeitliche Materialismus unvermerkt selbst in die erkenntnistheoretischen Begriffe eingebürgert hat. Es folgt nichts anderes aus einem unbefangenen Betrachten der Sachlage, als dass Kant sich ein «Ding an sich» nur materiell vorstellen konnte, so grotesk eine solche Behauptung sich auch für den ersten Blick ausnehmen mag.
Nun müssen wir allerdings, wenn wir die Sache vollständig betrachten wollen, noch etwas anderes skizzieren. Wir haben gesagt, dass Aristoteles darauf hingewiesen hat, dass bei allem, was in unseren Erfahrungskreis tritt, notwendig unterschieden werden müsse zwischen dem, was Form und was Materie ist. Nun kann man sagen: wir kommen im Erkenntnisprozess bis zur Form heran in dem Sinne, wie eben dargestellt worden ist. Gibt es aber nun auch eine Möglichkeit, bis zum Materiellen heranzukommen? Wohl gemerkt: Aristoteles versteht unter dem Materiellen nicht nur Stoffliches, sondern die Substanz, dasjenige, was auch als Geistiges der Wirklichkeit zugrunde liegt. Gibt es eine Möglichkeit, nicht nur das, was vom Ding zu uns herüberfließt, zu begreifen, sondern auch in die Dinge hineinzutauchen, sich mit der Materie zu identifizieren? Diese Frage ist auch für die Erkenntnistheorie wichtig. Sie kann nur von demjenigen beantwortet werden, der sich in die Natur des Denkens, des reinen Denkens, vertieft hat. Zu diesem Begriff des reinen Denkens muss man sich zuerst aufschwingen. Das reine Denken können wir nach Aristoteles als Aktualität bezeichnen. Es ist reine Form; es ist zunächst, so wie es auftritt, ohne Inhalt in bezug auf die unmittelbaren, einzelnen Dinge in der sinnlichen Wirklichkeit draußen. Warum? Machen wir uns einmal klar, wie der reine Begriff im Gegensatz zur Wahrnehmung entsteht.
Man stelle sich vor, dass man sich den Begriff des Kreises bilden will. Das kann man, wenn man zum Beispiel hinausfährt aufs Meer, bis man rings um sich herum nur Wasser sieht; dann hat man sich durch die Wahrnehmung die Vorstellung eines Kreises gebildet. Es gibt aber eine andere Art, zum Begriff des Kreises zu kommen, indem man nämlich, ohne an die Sinne zu appellieren, sich folgendes sagt: Ich konstruiere mir im Geiste die Summe aller Orte, welche von einem Punkt gleich weit entfernt sind. Um diese ganz im Innern des Gedankenlebens verlaufende Konstruktion zu bilden, braucht man nicht an Äußerliches zu appellieren; das ist durchaus reines Denken im Sinne des Aristoteles, reine Aktualität.
Nun aber tritt etwas Besonderes hinzu. Diejenigen reinen Gedanken, die so gebildet werden, passen zur Erfahrung. Ohne sie kann man sogar die Erfahrung gar nicht begreifen. Man denke einmal, dass Kepler sich durch reine Begriffskonstruktion ein System ausarbeitet, das zum Beispiel elliptische Bahnen zeigt für die Planeten, wobei die Sonne sich in einem Brennpunkt befindet, und dass dann hinterher durch das Fernrohr konstatiert wird, die Beobachtung stimme überein mit dem vor der Erfahrung gefassten reinen Gedankenbilde! Da zeigt es sich für jedes unbefangene Denken, dass das, was als reines Denken entsteht, für die Realität nicht bedeutungslos ist; – denn es stimmt ja mit der Realität überein. Ein Forscher wie Kepler illustriert durch sein Verfahren, was der Aristotelismus erkenntnistheoretisch begründet hat. Er erfasst das, was zu den Universalien post rem gehört und findet, wenn er an die Dinge herangeht, dass diese Universalia post rem vorher als Universalia ante rem in sie hineingelegt worden sind.
Werden nun nicht im Sinne einer verkehrten Erkenntnistheorie die Universalien zu bloßen subjektiven Vorstellungen gemacht, sondern zeigt es sich, dass man sie objektiv in den Dingen findet, so müssen sie erst in die Form hineingelegt sein, von der Aristoteles annimmt, dass sie der Welt zugrunde liegt.
So findet man, dass das, was zuerst das Subjektivste ist, was unabhängig von der Erfahrung festgestellt ist, dass gerade das am allerobjektivsten in die Wirklichkeit hineinführt. Was ist denn der Grund, warum das Subjektive der Vorstellung zuerst nicht in die Welt hinauskommen kann? Der Grund ist, dass es sich an einem «Ding an sich» stößt. Wenn der Mensch einen Kreis konstruiert, da stößt er an kein Ding an sich, da lebt er in der Sache selbst, wenn auch zunächst nur formal.
Nun ist die nächste Frage: kommen wir überhaupt aus einem solchen subjektiven Denken zu irgendeiner Realität, zu einem Bleibenden? Und nun handelt es sich darum, dass ja, wie wir charakterisiert haben, das Subjektive zunächst gerade im Denken konstruiert, formal ist, dass es zunächst für das Objektive wie etwas Hinzugebrachtes aussieht. Gewiss, wir können sagen: im Grunde genommen ist es einem in der Welt befindlichen Kreis oder einer Kugel ganz gleichgültig, ob ich sie denke oder nicht. Mein Gedanke, der zur Wirklichkeit hinzu kommt, ist für die um mich liegende Erfahrungswelt ganz gleichgültig. Diese besteht in sich, unabhängig von meinem Denken. Es kann also sein, dass das Denken zwar für den Menschen eine Objektivität ist, dass es aber die Dinge nichts angehe. Wie kommen wir über diesen scheinbaren Widerspruch hinaus? Wo ist der andere Pol, den wir jetzt ergreifen müssen? Wo gibt es innerhalb des reinen Denkens einen Weg, nicht nur die Form zu erzeugen, sondern mit der Form zugleich die Materie? Sobald wir irgend etwas haben, was mit der Form zugleich die Materie erzeugt, dann können wir an einen festen Punkt erkenntnistheoretisch anknüpfen. Wir sind ja überall, zum Beispiel wenn wir einen Kreis konstruieren, in dem besonderen Fall, dass wir sagen müssen: was ich von diesem Kreis behaupte, ist objektiv richtig; – ob es anwendbar ist auf die Dinge, das hängt davon ab, dass, wenn ich den Dingen begegne, sie mir zeigen, ob sie die Gesetze in sich tragen, die ich konstruiert habe. Wenn die Summe aller Formen sich auflöst im reinen Denken, so muss ein Rest bleiben, den Aristoteles Materie nennt, wenn es nicht möglich ist, aus dem reinen Denken selbst zu einer Wirklichkeit zu kommen.
Aristoteles kann hier durch Fichte ergänzt werden. Im Sinne des Aristoteles kann man zunächst zu der Formel kommen: Alles, was um uns herum ist, auch das, was unsichtbaren Welten angehört, macht es notwendig, dass wir dem Formalen der Wirklichkeit ein Materielles entgegensetzen. Für Aristoteles ist nun der Gottesbegriff eine reine Aktualität, ein reiner Akt, das heißt, ein solcher Akt, bei dem die Aktualität, also die Formgebung, zugleich die Kraft hat, ihre eigene Wirklichkeit hervorzubringen, nicht etwas zu sein, dem die Materie entgegensteht, sondern etwas, das in ihrer reinen Tätigkeit zugleich selbst die volle Wirklichkeit ist.
Das Abbild dieser reinen Aktualität findet sich nun im Menschen selbst, wenn er aus dem reinen Denken heraus zu dem Begriff des «Ich» kommt. Da ist er im Ich bei etwas, was Fichte als Tathandlung bezeichnet. Er kommt in seinem Innern zu etwas, das, indem es in Aktualität lebt, zugleich mit dieser Aktualität seine Materie mit hervorbringt. Wenn wir das Ich im reinen Gedanken fassen, dann sind wir in einem Zentrum, wo das reine Denken zugleich essentiell sein materielles Wesen hervorbringt. Wenn Sie das Ich im Denken fassen, so ist ein dreifaches Ich vorhanden: ein reines Ich, das zu den Universalien «ante rem» gehört, ein Ich, in dem Sie drinnen sind, das zu den Universalien «in re» gehört, und ein Ich, das Sie begreifen, das zu den Universalien «post rem» gehört. Aber noch etwas ganz Besonderes ist hier: für das Ich verhält es sich so, dass, wenn man sich zum wirklichen Erfassen des Ich aufschwingt, diese drei «Ichs» zusammenfallen. Das Ich lebt in sich, indem es seinen reinen Begriff hervorbringt und im Begriff als Realität leben kann. Für das Ich ist es nicht gleichgültig, was das reine Denken tut, denn das reine Denken ist der Schöpfer des Ich. Hier fällt der Begriff des Schöpferischen mit dem Materiellen zusammen, und man braucht nur einzusehen, dass wir in allen anderen Erkenntnisprozessen zunächst an eine Grenze stoßen, nur beim Ich nicht: dieses umfassen wir in seinem innersten Wesen, indem wir es im reinen Denken ergreifen.
So lässt sich erkenntnistheoretisch der Satz fundamentieren, «dass auch im reinen Denken ein Punkt erreichbar ist, in dem Realität und Subjektivität sich völlig berühren, wo der Mensch die Realität erlebt». Setzt er da ein und befruchtet er sein Denken so, dass dieses Denken von da aus wiederum aus sich herauskommt, dann ergreift er die Dinge von innen. Es ist also in dem durch einen reinen Denkakt erfassten und damit zugleich geschaffenen Ich etwas vorhanden, durch das wir die Grenze durchdringen, die für alles andere zwischen Form und Materie gesetzt werden muss.
Damit wird eine solche Erkenntnistheorie, die gründlich vorgeht, zu etwas, das auch im reinen Denken den Weg zeigt, in die Realität hinein zu gelangen. Geht man diesen Weg, so wird man schon finden, dass man von da aus in die Anthroposophie hineinkommen muss. Die wenigsten Philosophen haben ein Verständnis für diesen Weg. Sie haben sich in ein selbstgemachtes Begriffsnetz eingesponnen; sie können auch, weil sie den Begriff nur als etwas Abstraktes kennen, niemals den einzigen Punkt erfassen, wo er archetypisch schöpferisch ist; sie können dadurch auch nichts finden, durch das sie mit einem «Ding an sich» sich verbinden können.
Um das «Ich» als dasjenige zu erkennen, vermittelst dessen das Untertauchen der menschlichen Seele in die volle Wirklichkeit durchschaut werden kann, muss man sich sorgfältig davor bewahren, in dem gewöhnlichen Bewusstsein, das man von diesem «Ich» hat, das wirkliche Ich zu sehen. Wenn man, durch eine solche Verwechslung verführt, wie der Philosoph Descartes sagen wollte: «Ich denke, also bin ich», so würde man von der Wirklichkeit jedes Mal dann widerlegt, wenn man schläft. Denn dann ist man, ohne dass man denkt. Das Denken verbürgt nicht die Wirklichkeit des «Ich». Aber ebenso gewiss ist, dass durch nichts anderes das wahre Ich erlebt werden kann als allein durch das reine Denken. Es ragt eben in das reine Denken, und für das gewöhnliche menschliche Bewusstsein nur in dieses, das wirkliche Ich herein. Wer bloß denkt, der kommt nur bis zu dem Gedanken des «Ich»; wer erlebt, was im reinen Denken erlebt werden kann, der macht, indem er das «Ich» durch das Denken erlebt, ein Wirkliches, das Form und Materie zugleich ist, zum Inhalte seines Bewusstseins. Aber außer diesem «Ich» gibt es zunächst für das gewöhnliche Bewusstsein nichts, was in das Denken Form und Materie zugleich hereinsenkt. Alle anderen Gedanken sind zunächst nicht Bilder einer vollen Wirklichkeit. Doch indem man im reinen Denken das wahre Ich als Erlebnis erfährt, lernt man kennen, was volle Wirklichkeit ist. Und man kann von diesem Erlebnis weiter vordringen zu anderen Gebieten der wahren Wirklichkeit.
Dies versucht die Anthroposophie. Sie bleibt nicht bei den Erlebnissen des gewöhnlichen Bewusstseins stehen. Sie strebt nach einer Wirklichkeitsforschung, die mit einem verwandelten Bewusstsein arbeitet. Das gewöhnliche Bewusstsein schaltet sie mit Ausnahme des im reinen Denken erlebten Ich für die Zwecke ihrer Forschung aus. Und sie setzt an dessen Stelle ein solches Bewusstsein, das sich in seinem vollen Umfange so betätigt, wie das gewöhnliche Bewusstsein dies nur dann zustande bringt, wenn es das Ich im reinen Denken erlebt. Um das so Angestrebte zu erreichen, muss die Seele die Kraft erwerben, sich von aller äußeren Wahrnehmung und von allen Vorstellungen zurückzuziehen, die im gewöhnlichen Leben der menschlichen Innenwelt so anvertraut werden, dass sie in der Erinnerung wieder aufleben können. Die meisten Menschen, welche eine Erkenntnis der wahren Wirklichkeit anstreben, stellen in Abrede, dass von der Menschenseele das hier Gekennzeichnete erreicht werden könne. Ungeprüft stellen sie es in Abrede. Denn die Prüfung kann nur dadurch geschehen, dass man innerhalb des Seelenlebens diejenigen inneren Verrichtungen vornimmt, die zu der angegebenen Umwandlung des Bewusstseins führen. (Ich habe ausführlich von diesen inneren Seelenverrichtungen in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und in anderen meiner Bücher gesprochen.) Wer sich dagegen ablehnend verhält, kann nie in die wahre Wirklichkeit eindringen. – Hier kann nur von dem Prinzipiellen dieser Seelenverrichtungen gesprochen werden. (Genaues findet man in dem genannten und anderen meiner Bücher.) Die Seelenkräfte, die im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft in das Wahrnehmen und in ein Vorstellen einfließen, das in der Erinnerung wieder aufleben kann, sie können auch auf das Erleben einer übersinnlichen, geistigen Welt gerichtet werden. Man erlebt auf diese Art zunächst seine eigene, übersinnliche Wesenheit. Man durchschaut, warum man im gewöhnlichen Bewusstsein diese übersinnliche Wesenheit nie erreichen kann. (Immer ausgenommen in dem einen Punkt des wahren Ich, das man aber in seiner Isoliertheit nicht unmittelbar erkennen kann.) Dieses gewöhnliche Bewusstsein kommt eben dadurch zustande, dass das Leiblich-Körperhafte des Menschen dessen übersinnliche Wesenheit gewissermaßen aufsaugt und an deren Stelle wirkt. Die gewöhnliche Wahrnehmung der sinnlichen Welt ist diejenige Tätigkeit des Menschenorganismus, die durch Umwandlung der übersinnlichen Menschenwesenheit in Sinnliches sich vollzieht. Das gewöhnliche Vorstellen entsteht auf eben dieselbe Art. Nur dass die Wahrnehmung im Wechselverhältnis des Menschenorganismus mit der Außenwelt sich vollzieht, das Vorstellen im Innern dieses Organismus selbst abläuft. –
Auf der Einsicht in diese Tatsachen beruht alle wahre Wirklichkeits-Erkenntnis. Diese Einsicht zu erwerben, muss für den Erkenntnis Suchenden innere Seelenarbeit werden. Die Denkgewohnheiten unserer Zeit verwechseln diese innere Seelenarbeit mit allen möglichen Arten nebelhaft mystischer Dilettantismen. Sie ist in Wahrheit das gerade Gegenteil davon. Sie lebt in der vollsten, inneren Seelenklarheit. Das streng logische Denken ist ihr Vorbild und Ausgangspunkt. Was nicht in solch reiner, innerer Klarheit erlebt wird wie dieses, schließt sie von sich aus. Aber dieses bloße logische Denken verhält sich zu ihr selbst wie das Schattenbild zu dem schattenwerfenden Gegenstand. Durch sie erkraftet sich das menschliche Erkenntnisstreben so, dass es nicht allein abstrakte Gedanken erlebt, sondern von geistiger Wirklichkeit durchtränkten Inhalt. Eine Erkenntnis lebt in der Seele auf, von der ein nicht umgewandeltes Bewusstsein sich keine Vorstellung machen kann. Mit irgendeiner Form der visionären oder sonstigen krankhaften Art des Seelenlebens hat diese Steigerung des Bewusstseins nichts zu tun. Denn diese Formen beruhen auf einer Herabstimmung des Seelenlebens unter die Sphäre, in welcher das logisch klare Denken wirkt; die anthroposophische Forschung führt aber über diese Sphäre in das Geistige hinauf. Bei jenen Formen wirkt stets der körperlich-leibliche Organismus mit; die anthroposophische Forschung erkraftet das Seelenleben so, dass dieses ohne den Organismus im Bereich des Übersinnlichen sich betätigen kann. – Um solche Erkraftung des Seelenlebens zu erreichen, ist zunächst notwendig, sich zu üben in bildhaftem Denken. Man stellt in das Bewusstsein herein so lebendig-anschauliche Vorstellungen, wie sie sonst nur unter dem Einfluss der äußeren Sinneswahrnehmung entstehen. Dadurch lebt man mit dem Bewusstsein in einer solch regen Tätigkeit, die sonst nur von äußerem Ton oder äußerer Farbe oder einer anderen Sinneswahrnehmung hervorgerufen wird, die jetzt aber durch Aufrufung rein innerer Kraftanstrengung vollbracht wird. Diese Tätigkeit ist zugleich ein Denken, aber ein solches, das nicht in abstrakten Begriffen die sinnliche Anschauung begleitet, sondern das selbst sich steigert bis zur Anschaulichkeit, die im gewöhnlichen Leben nur in Sinnesbildern lebt. –
Nicht darauf kommt es an, was man so denkt, sondern darauf, dass man sich einer solchen, von dem gewöhnlichen Bewusstsein nie geübten Tätigkeit bewusst wird. Denn dadurch lernt man sich in dem übersinnlichen Wesen seines Ich erleben, das sich im gewöhnlichen Seelenleben hinter den Offenbarungen des körperlich-leiblichen Organismus verbirgt. Mit dem, was man auf diese Art als ein umgewandeltes Selbstbewusstsein erworben hat, lässt sich erst die übersinnliche Wirklichkeit wahrnehmen. Um dies zu können, sind noch andere Seelenverrichtungen notwendig, die sich auf Wollen und Fühlen beziehen, während die bisher gemeinten es mit umgewandelten Wahrnehmungs- und Vorstellungskräften zu tun haben. Wollen und Fühlen beziehen sich im gewöhnlichen Seelenleben auf Wesen oder Vorgänge, die außerhalb des eigenen Seelenlebens liegen. Um die übersinnliche Wirklichkeit in den Erkenntnisbereich zu ziehen, muss die Seele dieselben Betätigungen entfalten, die sonst im Fühlen und Wollen auf Äußeres gehen; diese Betätigungen müssen aber lediglich das eigene, innere Leben ergreifen. Der Mensch muss, um im Übersinnlichen zu forschen, für die Dauer dieser Forschung Wollen und Fühlen ganz von der Außenwelt ablenken und von ihnen nur das ergreifen lassen, was nach den umgewandelten Wahrnehmungs- und Vorstellungskräften im Innern der Seele lebt. Man fühlt nur und durchsetzt nur mit Willensimpulsen, was man als umgewandeltes Selbstbewusstsein durch das zu innerer Anschaulichkeit gesteigerte Denken erlebt. (Das Genauere über diese Umwandlung von Fühlen und Wollen findet man in den oben bezeichneten Büchern.) Dadurch aber geht mit dem Seelenleben eine völlige Umwandlung vor sich. Es erlebt sich als geistige Eigenwesenheit in einer wirklichen übersinnlich-geistigen Umwelt, wie sich für das gewöhnliche Bewusstsein der Mensch durch seine Sinne und das an diese gebundene Vorstellungsvermögen in einer sinnlich-physischen Umwelt erlebt.
Der Mensch strebt eine Erkenntnis der wahrhaftigen Wirklichkeit an. Der erste Schritt für eine ihm mögliche Befriedigung dieses Strebens ist die Einsicht, dass ihm solche Erkenntnis nicht durch Naturbetrachtung und auch nicht durch gewöhnliches, mystisches Innenleben werden kann. Denn zwischen beiden klafft ein Abgrund – wie im Beginne dieser Auseinandersetzungen gezeigt worden ist –, der erst ausgefüllt werden muss. Durch die hier skizzenhaft geschilderte Umwandlung des Bewusstseins wird dieser Abgrund ausgefüllt. Niemand kann zu der angestrebten Erkenntnis der wahrhaften Wirklichkeit gelangen, der nicht erkannt hat, dass zu dieser Erkenntnis die gewöhnlichen Erkenntnismittel nicht ausreichen und dass die zu ihr notwendigen Erkenntnismittel erst ausgebildet werden müssen. Der Mensch fühlt, dass mehr in ihm schlummert, als im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft sein Bewusstsein umfasst. Er verlangt instinktiv nach einer Erkenntnis, welche für dieses Bewusstsein nicht erreichbar ist. Er darf nicht davor zurückschrecken, zur Erlangung dieser Erkenntnis die Kräfte, welche im gewöhnlichen Bewusstsein auf die sinnliche Welt gerichtet sind, so umzuwandeln, dass sie eine übersinnliche Welt ergreifen können. Bevor man die wahre Wirklichkeit ergreifen kann, muss man erst den Seelenzustand herstellen, der auf die übersinnliche Welt Bezug haben kann. Was für das gewöhn-liehe Bewusstsein erreichbar ist, hängt von der Menschheitsorganisation ab, die im Tode zerfällt. Deshalb ist es begreiflich, dass die Erkenntnis dieses Bewusstseins von dem Übersinnlichen, dem Ewigen in der Menschennatur nichts wissen kann. Erst das verwandelte Bewusstsein schaut in diejenige Welt, in welcher der Mensch als übersinnliches Wesen lebt, als ein Wesen, das von dem Zerfall des sinnlichen Organismus nicht berührt wird.
Das Bekennen zu dem verwandlungsfähigen Bewusstsein und damit zu einer wahren Wirklichkeitsforschung liegt den Denkgewohnheiten der Gegenwart noch fern. Vielleicht ferner, als zu Kopernikus’ Zeit den Menschen das physische Weltsystem dieses Denkers gelegen hat. Aber so wie dieses den Zugang zu den Menschenseelen durch alle Hemmnisse hindurch gefunden hat, so wird ihn auch die anthroposophische Geisteswissenschaft finden. Sie zu verstehen, wird auch der Philosophie der Gegenwart schwer, weil diese ihren Ursprung aus einer Vorstellungsart herleitet, welche die fruchtbaren Keime einer vorurteilslosen Begriffstechnik, die schon im Aristotelismus liegen, nicht zur Entfaltung bringen konnte. Aus diesem Mangel aber entsprang, wie hier gezeigt worden ist, der andere, dass man sich durch künstliche Begriffsgespinste von der wahren Wirklichkeit, die man zu einem unnahbaren «Ding an sich» machte, abschloss. Durch diese ihre Grundrichtung muss die Philosophie der Gegenwart die Anthroposophie ablehnen.
Denn für ihre Begriffe von Wissenschaftlichkeit kann diese Anthroposophie als nichts anderes denn als Dilettantismus erscheinen. Wer die in Betracht kommenden Dinge durchschaut, dem wird nicht unbegreiflich, sondern eigentlich selbstverständlich dieser Vorwurf des Dilettantismus erscheinen. Hier sollte der Quell dieses Vorwurfes dargelegt werden.
Man kann aus dieser Darlegung vielleicht ersehen, was notwendig geschehen muss, bevor die Philosophen dazu kommen werden, einzusehen, dass Anthroposophie nicht Dilettantismus ist. Es ist notwendig, dass die Philosophie mit ihrem Begriffssystem sich zu einem vorurteilslosen Erkennen ihrer eigenen Grundlagen hindurcharbeite. Es verhält sich, was hier in Betracht kommt, nicht so, dass Anthroposophie einer gesunden Philosophie widerspräche, sondern so, dass eine für Wissenschaft geltende neuere Erkenntnistheorie den tieferen Grundlagen einer wahren Philosophie selbst widerspricht. Diese Erkenntnistheorie wandelt in Irrgängen und muss erst aus diesen herauskommen, wenn sie Verständnis für anthroposophisches Weltbegreifen entwickeln will.
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