»Die Stufen der höheren Erkenntnis« sind aus einer Reihe von vier Aufsätzen entstanden, die im Anschluss an die Aufsatzfolge »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten« in der Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« zwischen Oktober 1905 und Mai 1908 erschienen sind. Sie erschienen 1909 gesammelt als Sonderdruck und 1931 erstmals in Buchform. Die vier Aufsätze behandeln die vier Erkenntnisformen, von denen bereits die Aufsätze »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« sprechen: das gewöhnliche Alltagsbewusstsein des Menschen, das an die Sinne und das Nervensystem gebunden ist, das imaginative, das inspirative und das intuitive Bewusstsein. Steiner behandelt diese Bewusstseins- oder Erkenntnisformen hier unter einem neuen Gesichtspunkt: wie lassen sich die höheren Erkenntnisformen mit Hilfe der Elemente charakterisieren, die im gewöhnlichen Bewusstsein zusammenwirken? Gegenstand, Bild, Begriff und Ich sind diese vier Elemente. In der Imagination fällt der sinnliche Gegenstand fort, in der Inspiration das »Bild« der Imagination, in der intuitiven Erkenntnis der »Begriff« der Inspiration. Insgesamt stellen die Aufsätze den Umriss einer »Erkenntnislehre der Geisteswissenschaft« dar.
Inhalt
1. Die Stufen der höheren Erkenntnis
Bis zu der Begegnung mit den beiden «Hütern der Schwelle» ist in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» der Weg zur höheren Erkenntnis verfolgt worden. Nun sollen auch noch die Verhältnisse geschildert werden, in denen die Seele zu den verschiedenen Welten steht, wenn sie durch die aufeinanderfolgenden Erkenntnis stufen hindurchschreitet. Damit wird das gegeben, was man die «Erkenntnislehre der Geheimwissenschaft» nennen kann.
Bevor der Mensch den Pfad höherer Erkenntnis betritt, kennt er nur die erste von vier Erkenntnisstufen. Es ist diejenige, welche ihm im gewöhnlichen Leben innerhalb der Sinnenwelt eigen ist.
Auch in dem, was zunächst «Wissenschaft» genannt wird, hat man es nur mit dieser ersten Erkenntnisstufe zu tun. Denn diese Wissenschaft arbeitet ja nur das gewöhnliche Erkennen feiner aus, macht es disziplinierter. Sie bewaffnet die Sinne durch Instrumente – Mikroskop, Fernrohr usw. -, um genauer zu sehen, was die unbewaffneten Sinne nicht sehen. Aber die Erkenntnisstufe bleibt doch dieselbe, ob man normal große Dinge mit dem gewöhnlichen Auge sieht, oder ob man sehr kleine Gegenstände und Vorgänge mit dem Vergrößerungsglase verfolgt. Auch in der Anwendung des Denkens auf die Dinge und Tatsachen bleibt diese Wissenschaft bei dem stehen, was schon im alltäglichen Leben getrieben wird. Man ordnet die Gegenstände, beschreibt und vergleicht sie, man sucht sich ein Bild von ihren Veränderungen zu machen usw. Der strengste Naturforscher tut im Grunde in dieser Beziehung nichts anderes, als dass er das Beobachtungsverfahren des alltäglichen Lebens in einer kunstgemäßen Art ausbildet. Seine Erkenntnis wird umfangreicher, komplizierter, logischer; aber er schreitet nicht zu einer anderen Erkenntnisart vor.
Man nennt diese erste Erkenntnis stufe in der Geheimwissenschaft die «materielle Erkenntnisart».
Dazu kommen dann zunächst drei höhere. An sie schließen sich dann noch weitere an. Sie sollen hier beschrieben werden, bevor in der Schilderung des «Erkenntnispfades» weitergegangen wird. Nimmt man das gewöhnliche – und sinnlich-wissenschaftliche – Erkennen als die erste Stufe an, so hat man zunächst folgende vier Stufen zu unterscheiden:
1. Die materielle Erkenntnis
2. Die imaginative Erkenntnis
3. Die inspirierte Erkenntnis, die man auch die «willensartige» nennen kann
4. Die intuitive Erkenntnis.
Diese Stufen sollen im weiteren zur Sprache kommen. Man muss sich zunächst klarmachen, womit man es bei diesen verschiedenen Erkenntnisarten zu tun hat. – Beim gewöhnlichen sinnlichen Erkennen kommen vier Elemente in Betracht:
1. Der Gegenstand, welcher auf die Sinne einen Eindruck macht. 2. Das Bild, das sich der Mensch von diesem Gegenstande macht. 3. Der Begriff, durch den der Mensch zu einer geistigen Erfassung einer Sache oder eines Vorganges kommt. 4. Das «Ich», welches sich auf Grund des Eindruckes vom Gegenstande Bild und Begriff bildet.
Bevor sich der Mensch ein Bild – eine «Vorstellung» macht, ist ein Gegenstand da, welcher ihn dazu veranlasst. Diesen bildet er nicht selbst, er nimmt ihn wahr. Und auf Grund dieses Gegenstandes entsteht das Bild. Solange man ein Ding anblickt, hat man es mit diesem selbst zu tun. In dem Augenblicke, wo man von dem Dinge hinwegtritt, besitzt man nur noch das Bild. Den Gegenstand verlässt man, das Bild bleibt in der Erinnerung «haften». Aber man kann nicht dabei stehenbleiben, sich bloß «Bilder» zu machen. Man muss zu «Begriffen» kommen. Die Unterscheidung von «Bild» und «Begriff» ist unbedingt notwendig, wenn man sich hier ganz klarwerden will. Man stelle sich einmal vor, man sehe einen Gegenstand, welcher kreisförmig ist. Dann drehe man sich um, und man behalte das Bild des Kreises im Gedächtnisse. Da hat man noch nicht den «Begriff» des Kreises. Dieser ergibt sich erst, wenn man sich sagt: «Ein Kreis ist eine Figur, bei der alle Punkte von einem Mittelpunkte gleich weit entfernt sind.» Erst wenn man sich von einer Sache einen «Begriff» gemacht hat, ist man zum Verständnisse derselben gekommen. Es gibt viele Kreise: kleine, große, rote, blaue usw.; aber es gibt nur einen Begriff «Kreis».
Auf alles dieses soll im weiteren noch näher eingegangen werden; vorläufig soll nur skizziert werden, was zur Charakteristik der vier ersten Erkenntnisstufen notwendig ist.
Das vierte Element, das bei der materiellen Erkenntnis in Betracht kommt, ist das «Ich». In demselben kommt eine Einheit der Bilder und Begriffe zustande. Dieses «Ich» bewahrt in seinem Gedächtnisse die Bilder. Wäre das nicht der Fall, so entstände kein fortlaufendes inneres Leben. Die Bilder der Dinge blieben nur so lange vorhanden, als diese Dinge selbst auf die Seele wirken. Das innere Leben aber hängt davon ab, dass Wahrnehmung an Wahrnehmung gereiht wird. Das «Ich» orientiert sich «heute» in der Welt, weil ihm bei gewissen Gegenständen die Bilder der gleichen Gegenstände von «gestern» auftauchen. Man vergegenwärtige sich nur, wie unmöglich das Seelenleben wäre, wenn man nur so lange ein Bild eines Dinges hätte, als dieses selbst vor einem steht. – Auch bezüglich der Begriffe bildet das «Ich» die Einheit. Es verbindet seine Begriffe und verschafft sich auf diese Art einen Überblick, das heißt ein Verständnis der Welt. Diese Verbindung der Begriffe geschieht im «Urteilen». Ein Wesen, das nur lose Begriffe hätte, könnte sich in der Welt nicht zurechtfinden. Alle Tätigkeit des Menschen beruht auf seiner Fähigkeit, Begriffe zu verbinden, das heißt auf seinem «Urteilen».
Das «materielle Erkennen» beruht darauf, dass der Mensch durch seine Sinne einen Eindruck von Dingen und Vorstellungen der Außenwelt erhält. Er hat die Fähigkeit des Empfindens oder die Sensibilität.
Der «von außen» empfangene Eindruck wird auch Sensation genannt. Daher kommen bei der «materiellen Erkenntnis» die vier Elemente in Betracht: Sensation, Bild, Begriff, Ich. – Bei der nächsthöheren Stufe des Erkennens fällt nun der Eindruck auf die äußeren Sinne, die «Sensation», weg. Ein äußerer Sinnesgegenstand ist nicht mehr vorhanden. Es bleiben also von den Elementen, an welche der Mensch von der gewöhnlichen Erkenntnis her gewöhnt ist, nur die drei: Bild, Begriff und Ich.
Das gewöhnliche Erkennen bildet bei einem gesunden Menschen kein Bild und keinen Begriff, wenn ein äußerer Sinnesgegenstand nicht vorhanden ist. Das «Ich» bleibt dann untätig. Wer sich Bilder formt, denen Sinnesgegenstände entsprechen sollen, wo in Wahrheit keine sind, lebt in Phantastik.
Nun aber erwirbt sich der Geheimschüler eben die Fähigkeit, Bilder zu formen, auch wo keine Sinnesgegenstände vorhanden sind. Es muss dann bei ihm an die Stelle des «äußeren Gegenstandes» ein anderer treten. Er muss Bilder haben können, auch wenn kein Gegenstand seine Sinne berührt. An die Stelle der «Sensation» muss etwas anderes treten. Dies ist die Imagination. Bei dem Geheimschüler auf dieser Stufe treten Bilder auf genau so, wie wenn ein Sinnesgegenstand auf ihn einen Eindruck machen würde; sie sind so lebhaft und wahr wie die Sinnesbilder, nur kommen sie nicht vom «Materiellen», sondern vom «Seelischen» und «Geistigen». Die Sinne bleiben dabei vollständig untätig.
Es ist einleuchtend, dass sich der Mensch diese Fähigkeit, inhaltvolle Bilder zu haben ohne Sinneseindrücke, erst erwerben muss. Es geschieht dies durch die Meditation, durch die Übungen, welche in den Darstellungen des Buches «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben worden sind. Der auf die Sinnenwelt beschränkte Mensch lebt nur in dem Umkreis einer Bilderwelt, welche erst durch die Sinne in ihn Einlas gefunden haben. Der imaginative Mensch hat eine solche Bilderwelt, die von einer höheren Welt ihren Zufluss erhält. Es gehört eine sehr sorgfältige Schulung dazu, innerhalb dieser höheren Bilderwelt Täuschung von Wirklichkeit zu unterscheiden. Nur zu leicht sagt sich der Mensch, wenn solche Bilder zunächst vor seine Seele hintreten: «Ach, das sind ja nur Einbildungen, bloße Ausflüsse meines Vorstellungslebens.» Das ist nur zu begreiflich. Denn der Mensch ist zunächst ja daran gewöhnt, nur dasjenige «wirklich» zu nennen, was, ohne sein Zutun, ihm durch die feste Grundlage seiner Sinneswahrnehmung gegeben ist. Und er muss sich erst hineinfinden, Dinge für «wirkliche» zu nehmen, die von ganz anderer Seite veranlasst werden. Und er kann auch darinnen nicht vorsichtig genug sein, wenn er nicht zum Phantasten werden will. Die Entscheidung darüber, was auf höherem Gebiete «wirklich» ist, was nur «Illusion», die kann nur von der Erfahrung kommen. Und man muss sich diese Erfahrung in einem stillen, geduldigen Innenleben aneignen. Zunächst muss man durchaus darauf gefasst sein, dass einem die «Illusion» böse Streiche spielt. Überall lauern die Möglichkeiten, dass Bilder auftauchen, die nur auf Täuschungen der äußeren Sinne, des abnormen Lebens beruhen. Alle solche Möglichkeiten müssen zuerst hinweggeräumt werden. Man muss zuerst die Quellen der Phantastik ganz verstopfen, dann kann man erst zu der Imagination kommen. Ist man so weit, dann wird man allerdings sich klar darüber, dass die Welt, in die man in solcher Art eintritt, nicht nur so wirklich ist wie die sinnliche, sondern dass sie eine gewöhnlich viel wirklichere ist.
Bei der dritten Stufe der Erkenntnis bleiben nun auch die Bilder weg. Der Mensch hat es nur noch mit «Begriff» und «Ich» zu tun. Hat er auf der zweiten Stufe noch eine Bilderwelt um sich, die erinnert an die Augenblicke, wo das lebhafte Gedächtnis sich die Eindrücke der Außenwelt vor die Seele zaubert, ohne selbst solche Eindrücke zu haben: auf der dritten Stufe sind auch solche Bilder nicht mehr vorhanden. Der Mensch lebt ganz in einer rein geistigen Welt. Wer nur gewöhnt ist, sich an die Sinne zu halten, wird versucht sein, zu glauben, dass diese Welt eine blasse, gespenstige sei. Das ist sie aber ganz und gar nicht.
Auch die Bilderwelt der zweiten Stufe hat nichts Blasses, Schattenhaftes. So sind ja allerdings die Bilder zumeist, die im Gedächtnisse haften bleiben, wenn die äußeren Dinge weg sind. Aber die Bilder der Imagination sind von einer Lebhaftigkeit und Inhaltsfülle, mit der sich nicht nur die schattenhaften Erinnerungsbilder der Sinnenwelt nicht vergleichen lassen, sondern sogar nicht einmal die ganze bunte, wechselreiche Sinnenwelt selbst. Auch diese ist gegen das Reich der Imagination nur ein Schatten.
Und nun gar die Welt der dritten Erkenntnisstufe! Von ihrem Reichtum und ihrer Fülle gibt nichts in der Sinnenwelt eine Vorstellung. Was für die erste Stufe die Sensation, für die zweite die Imagination, das ist für sie die Inspiration. Die Inspiration gibt die Eindrücke, und das «Ich» formt die Begriffe. Will man durchaus mit dieser Welt etwas Sinnliches vergleichen, so kann nur die Tonwelt des Hörens zu einem solchen Vergleiche herangezogen werden. Aber nicht mit Tönen wie in der sinnlichen Musik hat man es zu tun, sondern mit einem rein «geistigen Tönen». Man beginnt zu «hören», was im Innern der Dinge vorgeht.
Der Stein, die Pflanze usw. werden zu «geistigen Worten». Die Welt beginnt der Seele gegenüber ihr Wesen wirklich selbst auszusprechen. Es klingt grotesk; aber es ist wörtlich wahr: auf dieser Stufe des Erkennens «hört man geistig das Gras wachsen». Man vernimmt die Form des Kristalles als Klang; die sich öffnende Blüte «spricht» da zum Menschen. Der Inspirierte vermag das innere Wesen der Dinge zu künden; alle Dinge werden in neuer Art vor seiner Seele auferstehen. Er spricht eine Sprache, die aus einer anderen Welt stammt, und welche doch erst die alltägliche Welt begreiflich macht.
Auf der vierten Erkenntnisstufe endlich hört auch die Inspiration auf. Von den Elementen, die man vom alltäglichen Erkennen her gewohnt ist, zu betrachten, ist nur noch das «Ich» dasjenige, welches in Betracht kommt. Der Geheimschüler merkt an einer ganz bestimmten inneren Erfahrung, dass er bis zu dieser Stufe aufgestiegen ist. Diese Erfahrung drückt sich darin aus, dass er das Gefühl hat: er stehe jetzt nicht mehr außer den Dingen und Vorgängen, welche er erkennt, sondern innerhalb derselben. Bilder sind nicht der Gegenstand; sie drücken ihn bloß aus. Auch was die Inspiration gibt, ist nicht der Gegenstand. Sie spricht ihn nur aus. Das aber, was jetzt in der Seele lebt, ist wirklich der Gegenstand selbst. Das Ich hat sich ergossen über alle Wesen; es ist mit ihnen zusammengeflossen. Das Leben der Dinge in der Seele ist nun die Intuition. Es ist eben ganz wörtlich zu nehmen, wenn man von der Intuition sagt: man kriecht durch sie in alle Dinge hinein.
Im gewöhnlichen Leben hat der Mensch nur eine Intuition, das ist diejenige des «Ich» selber. Denn das «Ich» kann auf keine Weise von außen wahrgenommen werden, es kann nur im Innern erlebt werden. Eine einfache Erwägung kann das klarmachen. Es ist dies eine Erwägung, die allerdings von den Psychologen nicht mit der wünschenswerten Schärfe gemacht wird. So unscheinbar sie aber ist: für den, der sie ganz versteht, ist sie von der allerweittragendsten Bedeutung. Sie ist die folgende: Ein jedes Ding der Außenwelt kann von allen Menschen mit demselben Namen genannt werden. Der Tisch kann von allen mit «Tisch», die Tulpe von allen mit «Tulpe», der Herr Müller von allen mit «Herr Müller» angesprochen werden. Aber es gibt ein Wort, das jeder nur zu sich selbst sprechen kann. Dies ist das Wort «Ich». Kein anderer kann zu mir «Ich» sagen, für jeden anderen bin ich ein «Du». Ebenso ist jeder andere für mich ein «Du». Nur er selbst kann zu sich «Ich» sagen. Das rührt davon her, dass man nicht außer, sondern in dem «Ich» lebt. Und so lebt man durch die intuitive Erkenntnis in allen Dingen. Die Wahrnehmung des eigenen «Ich» ist das Vorbild für alle intuitive Erkenntnis. Um so in die Dinge hineinzukommen, muss man allerdings erst aus sich selbst heraustreten. Man muss «selbstlos» werden, um mit dem «Selbst», dem «Ich», einer anderen Wesenheit zu verschmelzen.
Meditation und Konzentration sind die sicheren Mittel, um zu dieser Stufe, ebenso wie zu den früheren, hinanzusteigen. Allerdings müssen sie in stiller, geduldiger Art geübt werden. Wer da glaubt, dass er tumultuarisch, mit Gewaltmitteln zu den höheren Welten steigen kann, der irrt sich. Und einem solchen Glauben würde sich derjenige hingeben, welcher erwartete, dass ihm die Wirklichkeit auf höheren Gebieten in ebensolcher Art entgegentritt wie in der Sinnenwelt. So lebhaft und reich auch die Welten sind, zu denen man hinansteigt, sie sind fein und subtil, während die Sinnenwelt grob und derb ist. Das Wichtigste, was man lernen muss, ist gerade die Gewöhnung daran, etwas ganz anderes «wirklich» zu nennen, als was man im Bereich der Sinne so bezeichnet. Und dies ist nicht ganz leicht. Deshalb wird so mancher, der den Geheimpfad so gerne gehen möchte, schon bei den ersten Schritten zurückgeschreckt.
Er hat erwartet, dass ihm Dinge entgegentreten, welche sind wie Tische und Stühle, und er findet «Geister». Weil aber «Geister» nicht dicht sind wie Stühle und Tische, so kommen sie ihm als «Einbildungen» vor. Daran ist nichts anderes schuld als die Ungewohntheit. Man muss sich erst die rechte Empfindung für die geistige Welt erwerben, dann wird man das Geistige nicht bloß schauen, sondern auch anerkennen. Und ein großer Teil der Geheimschulung bezieht sich auf diese richtige Anerkennung und Einschätzung des Geistigen. Man muss zunächst den Schlafzustand betrachten, wenn man Aufschluss erlangen will über die imaginative Erkenntnis. Solange der Mensch keine höhere Erkenntnisstufe erlangt hat als die materielle, lebt die Seele zwar während des Schlafes, aber sie kann in der Welt, in welcher sie schlafend lebt, nichts wahrnehmen. Sie ist in dieser Welt wie ein Blinder in der materiellen. Ein solcher lebt in der Welt des Lichtes und der Farben; aber er nimmt sie nicht wahr.
Von den äußeren Sinnesorganen, dem Auge, dem Ohr, der gewöhnlichen Gehirntätigkeit usw. hat sich die Seele im Schlafe zurückgezogen.
Sie erhält durch die Sinne keine Eindrücke. Was tut sie nun während des Schlafes? Klar muss man sich darüber sein, dass die Seele während des Wachens in einer fortwährenden Tätigkeit ist. Sie empfängt die äußeren Sinneseindrücke und verarbeitet sie: das ist ihre Tätigkeit. Diese stellt sie während des Schlafes ein. Aber sie ist keineswegs untätig. Sie arbeitet schlafend an dem einen Leibe. Dieser wird ja während der wachen Tagesarbeit abgenützt. Das drückt sich in der Ermüdung aus. Und während des Schlafes beschäftigt sich die Seele mit dem eigenen Leib, um ihn für weitere wache Tagesarbeit wieder geeignet zu machen. Man sieht daraus, wie wesentlich der richtige Schlaf dem Gedeihen des Leibes ist. Ein Mensch, der nicht entsprechend schläft, lässt seine Seele an dem Leibe nicht die notwendige Verbesserungsarbeit tun.
Und die Folge davon muss sein, dass der Leib herunterkommt.
Die Kräfte, mit denen die Seele während des Schlafes am Leibe arbeitet, sind dieselben, durch welche sie auch im Wachzustande tätig ist.
Nur werden sie in dem letzteren dazu verwendet, die Eindrücke der äußeren Sinne aufzunehmen und sie zu verarbeiten. Tritt nun die imaginative Erkenntnis beim Menschen ein, so muss ein Teil der im Schlafe auf den Leib gewendeten Kräfte in einer anderen Art verbraucht werden. Durch diese Kräfte werden nunmehr die geistigen Sinnesorgane gebildet, die es ermöglichen, dass die Seele in einer höheren Welt nicht bloß lebt, sondern auch wahrnimmt. So arbeitet die Seele schlafend an sich, nicht mehr bloß an ihrem Leibe. Bewirkt wird diese Arbeit durch die Meditation und Konzentration sowie durch andere Übungen. Es ist schon öfters in diesen Aufsätzen über höhere Erkenntnis gesagt worden, dass die besonderen Anweisungen über solche Übungen nur von Mensch zu Mensch gegeben werden. Niemand sollte auf eigene Hand diese Übungen unternehmen, denn nur wer Erfahrung auf diesem Gebiete hat, kann ermessen, welche Wirkung bei dem einen oder dem anderen Menschen sich einstellen muss, wenn er es unternimmt, seine Seelenarbeit von dem Leibe abzuziehen und in einer höheren Art anzuwenden.
Meditation, Konzentration und andere Übungen bewirken, dass die Seele sich für eine Weile zurückzieht von ihrer Verbindung mit den Sinnesorganen. Sie ist dann in sich selbst versenkt. Ihre Tätigkeit ist nach innen gewendet. Im Anfange dieser Versenkung unterscheidet sich zwar diese ihre innere Tätigkeit nicht erheblich von der alltäglichen. Sie muss dieselben Vorstellungen, Gefühle und Empfindungen verwenden während der Innenarbeit, welche sie auch im gewöhnlichen Leben hat. Je mehr sie sich aber daran gewöhnt, gewissermaßen «blind und taub» gegenüber der sinnlichen Umgebung zu sein, je mehr sie in sich lebt, desto fähiger macht sie sich zu innerer Leistung. Und was sie bei der Versenkung in das Innere geleistet hat, das trägt seine Früchte zunächst im Zustande des Schlafes. Ist die Seele des Nachts vom Leibe befreit, so wirkt das in ihr fort, was durch die Übungen am Tage angeregt worden ist. Es bilden sich in ihr Organe, durch welche sie mit einer höheren Umgebung gerade so in Verbindung kommt wie vorher durch die äußeren Sinnesorgane mit der körperlichen Umwelt. Aus dem Dunkel der nächtlichen Umgebung treten die Lichterscheinungen der höheren Welt heraus. Zart und intim ist dieser Verkehr zunächst. Und der Mensch muss durchaus damit rechnen, dass für eine lange Zeit beim Aufwachen das Licht des Tages sofort wieder einen dichten Vorhang zieht vor die Erlebnisse der Nacht. Die Erinnerung, dass man in der Nacht wahrgenommen hat, tritt nur ganz langsam und allmählich ein. Denn der Schüler lernt nicht leicht auf die zarten Gebilde seiner Seele achten, die sich im Laufe seiner Entwicklung hineinmischen in die groben Erlebnisse des alltäglichen Sinneslebens. Anfangs erscheinen ihm solche Gebilde wie das, was man zufällige Eindrücke der Seele nennt. Alles kommt darauf an, dass er unterscheiden lernt, was er der gewöhnlichen Welt verdankt von dem, was durch seine eigene Wesenheit als Kundgebung höherer Welten sich darstellt. In einem stillen, in sich gekehrten Gemütsleben muss er sich diese Unterscheidung aneignen. Es ist notwendig, dass er sich erst ein Gefühl davon erwerbe, welches der Wert und die Bedeutung der intimen Seelengebilde ist, die wie «zufällige Einfälle» sich in das Tagesleben einmischen und welche doch Erinnerungen an den nächtlichen Verkehr in einer höheren Welt sind. Sobald man diese Dinge irgendwie grob anfasst und sie mit dem Maßstab des Sinneslebens misst, zerstieben sie. Es ist aus obigem ersichtlich, dass durch die Arbeit in einer höheren Welt die Seele dem Leibe etwas von ihrer sonst fürsorglichen Tätigkeit entziehen muss. Sie überlässt denselben in einer gewissen Beziehung sich selbst. Er braucht einen Ersatz für das, was sie ihm vorher geleistet hat. Erhält er einen solchen Ersatz nicht, so kommt er in die Gefahr, verderblichen Kräften zu verfallen. Man muss sich nämlich darüber klar sein, dass der Mensch fortwährend den Einflüssen seiner Umgebung ausgesetzt ist.
Er lebt ja nur durch die Einwirkungen dieser Umgebung. Zunächst kommen innerhalb der Umgebung die Reiche der sichtbaren Natur in Betracht. Der Mensch gehört dieser sichtbaren Natur an. Gäbe es um ihn herum nicht das Mineral-, Pflanzen-, Tierreich und dasjenige der anderen Menschen: er könnte nicht leben. Man denke sich den Menschen von der Erde hinweggehoben in den Weltenraum hinaus, er müsste als physischer Mensch sogleich zugrunde gehen, wie die Hand verdorrt, wenn man sie vom Leibe trennt.
So stark die Illusion wäre, deren sich die menschliche Hand schuldig machte, wenn sie glaubte, sie könne ohne den Leib leben, so stark wäre auch die Täuschung, in welche der Mensch verfiele, wenn er behauptete, er könne ohne das Mineral-, Tier-, Pflanzenreich und ohne die anderen Menschen als physisches Wesen existieren.
Nun gibt es aber außer den genannten Reichen noch drei andere, die sich für gewöhnlich der menschlichen Aufmerksamkeit entziehen. Es sind die drei Elementarreiche. Sie stehen in einer gewissen Beziehung unter dem Mineralreiche. Es gibt Wesen, die es nicht bis zur mineralischen Verdichtung bringen, die aber deshalb nicht weniger da sind und ihre Wirkung auf den Menschen haben.
(Man vergleiche über diese Elementarreiche, was über sie in den Aufsätzen «Aus der Akasha-Chronik» gesagt ist, sowie die Bemerkungen darüber in meiner «Theosophie».) Der Mensch ist somit Einflüssen aus Naturreichen ausgesetzt, die in einer gewissen Richtung unsichtbare genannt werden müssen. Wenn nun die Seele am Leibe arbeitet, so besteht ein wesentlicher Teil ihrer Tätigkeit darinnen, die Einflüsse der Elementarreiche so zu regeln, dass sie für den Menschen gedeihliche sind.
In dem Augenblicke nun, in dem die Seele ihre Tätigkeit zum Teil dem Leibe entzieht, können sich seiner verderbliche Kräfte aus den Elementarreichen bemächtigen. Darin besteht eine Gefahr der höheren Entwicklung. Es muss daher dafür gesorgt werden, dass, sobald sich die Seele vom Körper zurückzieht, er durch sich selbst nur guten Einflüssen von Seiten der elementaren Welt zugänglich ist.
Wird darauf nicht geachtet, so verkommt der gewöhnliche Mensch in einer gewissen Beziehung physisch und auch moralisch, trotzdem er den Zugang zu höheren Welten gewinnt. Während die Seele in höheren Gebieten lebt, nisten sich im dichten physischen Leib und im Ätherleib schädliche Kräfte ein. Dies ist der Grund, warum gewisse schlechte Eigenschaften, die vor der höheren Entwicklung durch die ausgleichende Wirkung der Seele niedergehalten worden sind, bei Mangel an Vorsicht zum Ausdruck kommen können. Menschen, welche vorher gute, moralische Naturen waren, können unter solchen Umständen dann, wenn sie an höhere Welten herantreten, allerlei niedrige Neigungen, erhöhte Selbstsucht, Unwahrhaftigkeit, Rachsucht, Zorn usw. usw. hervorkehren. – Niemand darf von dieser Tatsache sich zurückschrecken lassen, in die höheren Welten aufzusteigen; aber vorgesorgt muss werden, dass solche Dinge nicht eintreten. Die niedere Natur des Menschen muss gefestet und unzugänglich gemacht werden gefährlichen elementarischen Einflüssen. Das eben geschieht durch die bewusste Ausbildung gewisser Tugenden. Diese Tugenden werden in den Schriften, welche von geistiger Entwicklung handeln, angegeben. Hier aber hat man den Grund, warum auf sie Sorgfalt gelegt werden muss. Es sind die folgenden.
Zuerst muss der Mensch in ganz bewusster Weise bei allen Dingen fortwährend darauf bedacht sein, das Bleibende, Unvergängliche von dem Vergänglichen abzusondern, und auf das erstere seine Aufmerksamkeit richten. In jedem Dinge und Wesen kann der Mensch ein Etwas vermuten oder erkennen, das bleibt, wenn die vergängliche Erscheinung entschwindet. Sehe ich eine Pflanze, dann kann ich sie zunächst betrachten, wie sie sich den Sinnen darbietet. Das soll man gewiss nicht versäumen. Und niemand wird das Ewige in den Dingen entdecken, der sich nicht zuerst mit dem Vergänglichen gründlich bekannt gemacht hat. Diejenigen, welche sich immer besorgt zeigen, dass dem Menschen, der den Blick auf das Geistig-Unvergängliche richtet, die «Frische und Natürlichkeit des Lebens» verlorengehe: sie wissen eben noch nicht, um was es sich dabei eigentlich handelt. Aber, wenn ich so die Pflanze anschaue, kann mir klarwerden, dass in ihr ein bleibender Lebenstrieb ist, der in einer neuen zum Vorschein kommen werde, wenn die gegenwärtige Pflanze längst zerstoben sein wird. Solche Art, sich zu den Dingen zu stellen, muss man in die ganze Verfassung seines Gemütes aufnehmen.
Dann muss man sein Herz auf das Wertvolle, Gediegene heften und dieses höher schätzen lernen als das Vorübergehende, Bedeutungslose. Man soll sich bei allen seinen Empfindungen und Handlungen den Wert vor Augen halten, den etwas im Zusammenhange eines Ganzen hat.
Zum dritten soll man sechs Eigenschaften in sich ausbilden: Kontrolle der Gedankenwelt, Kontrolle der Handlungen, Ertragsamkeit, Unbefangenheit, Vertrauen in die Umwelt und inneres Gleichgewicht. Kontrolle der Gedankenwelt erreicht man, wenn man sich bemüht, dem Irrlichtelieren der Gedanken und Empfindungen, die beim gewöhnlichen Menschen immer auf- und abwogen, entgegenzuarbeiten. Im alltäglichen Leben ist der Mensch nicht der Führer seiner Gedanken; sondern er wird von ihnen getrieben. Das kann natürlich auch gar nicht anders sein.
Denn das Leben treibt den Menschen. Und er muss als ein Wirkender sich diesem Treiben des Lebens überlassen. Während des gewöhnlichen Lebens wird das gar nicht anders sein können. Will man aber in eine höhere Welt aufsteigen, so muss man sich wenigstens ganz kurze Zeiten aussondern, in denen man sich zum Herrn seiner Gedanken- und Empfindungswelt macht. Man stellt da einen Gedanken aus völliger innerer Freiheit in den Mittelpunkt seiner Seele, während sich sonst die Vorstellungen von außen aufdrängen. Dann versucht man alle aufsteigenden Gedanken und Gefühle fernzuhalten und nur das mit dem ersten Gedanken zu verbinden, von dem man selbst will, dass es dazu gehöre. Eine solche Übung wirkt wohltätig auf die Seele und dadurch auch auf den Leib. Sie bringt den letzteren in eine solche harmonische Verfassung, dass er sich schädlichen Einflüssen entzieht, wenn die Seele auch nicht unmittelbar auf ihn wirkt.
Kontrolle der Handlungen besteht in einer ähnlichen Regelung derselben durch innere Freiheit. Man beginnt gut damit, dass man sich anschickt, irgend etwas regelmäßig zu tun, wozu man durch das gewöhnliche Leben nicht gekommen wäre. In dem letzteren wird ja der Mensch von außen zu seinen Handlungen getrieben. Die kleinste Tat aber, die man aus der ureigensten Initiative heraus unternimmt, wirkt in der angegebenen Richtung mehr als alles, wozu man vom äußeren Leben gedrängt wird.
Ertragsamkeit ist das Entfernthalten von jener Stimmung, die man bezeichnen kann mit dem Wechsel zwischen «Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt». Der Mensch wird hin- und hergetrieben zwischen allen möglichen Stimmungen. Die Lust macht ihn froh, der Schmerz drückt ihn herab. Das hat seine Berechtigung. Wer aber den Weg sucht zu höherer Erkenntnis, der muss sich in der Lust und auch im Schmerze mäßigen können. Er muss «ertragsam» werden. Maßvoll muss er sich den lusterregenden Eindrücken hingeben können und auch den schmerzlichen Erlebnissen: immer durch beides mit Würde hindurchschreiten. Von nichts sich übermannen, außer Fassung bringen lassen. Das begründet nicht Gefühllosigkeit, sondern macht den Menschen zum festen Mittelpunkt innerhalb der Lebenswellen, die rings um ihn auf- und niedersteigen. Er hat sich stets in der Hand.
Eine ganz besonders wichtige Eigenschaft ist der «Sinn für die Bejahung». Es kann ihn derjenige bei sich entwickeln, welcher das Augenmerk in allen Dingen auf die guten, schönen und zweckvollen Eigenheiten richtet und nicht in erster Linie auf das Tadelnswerte, Hässliche und Widerspruchsvolle. Es gibt eine schöne, in der persischen Dichtung vorhandene Legende von Christus, die zur Anschauung bringt, was mit dieser Eigenschaft gemeint ist: Ein toter Hund liegt an einem Wege. Unter den an ihm Vorübergehenden ist auch Christus. Alle anderen wenden sich ab von dem hässlichen Anblick, den das Tier bietet; nur Christus spricht bewundernd von den schönen Zähnen des Tieres. So kann man den Dingen gegenüber empfinden; in allem, auch dem Widrigsten, mag sich für den, welcher ernstlich sucht, etwas Anerkennenswertes finden. Und das Fruchtbare an den Dingen ist ja nicht, was ihnen fehlt, sondern dasjenige, was sie haben.
Weiter ist bedeutsam, die Eigenschaft der «Unbefangenheit» zu entwickeln. Ein jeder Mensch hat ja seine Erfahrungen gemacht und sich dadurch eine bestimmte Menge von Meinungen gebildet, die ihm dann im Leben zur Richtschnur werden. So selbstverständlich es auf der einen Seite ist, sich nach seinen Erfahrungen zu richten, so wichtig ist es für den, welcher eine geistige Entwicklung zur höheren Erkenntnis hin durchmachen will, dass er sich stets den Blick frei erhält für alles Neue, ihm noch Unbekannte, das ihm entgegentritt. Er wird so vorsichtig wie irgend möglich sein mit dem Urteil: «das ist unmöglich», «das kann ja gar nicht sein». Mag ihm seine Meinung nach den bisherigen Erfahrungen was immer sagen: er ist in jedem Augenblick bereit, sich von etwas Neuem, das ihm entgegenkommt, zu einer anderen Meinung bringen zu lassen. Jede Eigenliebe der Meinung gegenüber muss schwinden.
Wenn die bisher genannten fünf Eigenschaften von der Seele erworben sind, dann stellt sich eine sechste ganz von selbst ein: das innere Gleichgewicht, die Harmonie der geistigen Kräfte. Der Mensch muss etwas in sich finden wie einen geistigen Schwerpunkt, der ihm Festigkeit und Sicherheit gibt gegenüber allem, was im Leben da- oder dorthin zieht. Man muss nicht etwa vermeiden, mit allem mitzuleben, alles auf sich wirken zu lassen. Nicht die Flucht vor den hin- und widerziehenden Tatsachen des Lebens ist das Richtige, sondern im Gegenteil: das volle Hingeben an das Leben und trotzdem die sichere, feste Bewahrung von innerem Gleichgewicht und Harmonie.
Endlich kommt für den Suchenden der «Wille zur Freiheit» in Betracht. Es hat ihn jemand, der zu allem, was er vollbringt, die Stütze und Grundlage in sich selbst findet. Er ist deshalb so schwer zu erringen, weil taktvoll der Ausgleich notwendig ist zwischen dem Öffnen des Sinnes gegenüber allem Großen und Guten und der gleichzeitigen Ablehnung eines jeglichen Zwanges. Man sagt so leicht: Einwirkung von außen und Freiheit vertragen sich nicht. Dass sie sich in der Seele vertragen: darauf kommt es aber gerade an. Wenn mir jemand etwas mitteilt, und ich nehme es unter dem Zwange seiner Autorität an: dann bin ich unfrei. Aber ich bin nicht minder unfrei, wenn ich mich verschließe vor dem Guten, das ich auf diese Art empfangen kann. Denn dann übt in der eigenen Seele das Schlechtere, das ich habe, auf mich einen Zwang aus. Und bei der Freiheit kommt es nicht allein darauf an, dass ich nicht unter dem Zwange einer äußeren Autorität stehe, sondern vor allen Dingen auch nicht unter derjenigen eigener Vorurteile, Meinungen, Empfindungen und Gefühle. Nicht blinde Unterwerfung unter das Empfangene ist das Richtige, sondern sich von ihm anregen lassen, es ganz unbefangen aufnehmen, um sich «frei» dazu zu bekennen. Eine fremde Autorität soll nicht anders als so wirken, dass man sich sagt: Ich mache mich gerade dadurch frei, dass ich ihrem Guten folge, das heißt, es zu dem meinigen mache. Und eine auf der Geheimwissenschaft fußende Autorität will auch gar nicht anders als in dieser Art wirken. Sie gibt, was sie zu geben hat, nicht um selbst Macht über den Beschenkten zu gewinnen, sondern allein darum, dass der Beschenkte durch die Gabe reicher und freier werde.
Es ist auf die Bedeutung der angeführten Eigenschaften schon früher bei Besprechung der «Lotusblumen» hingewiesen worden. Dort wurde gezeigt, welche Beziehung sie zu der Entwicklung der zwölfblätterigen Lotusblume in der Herzgegend und der daran sich schließenden Strömungen des Ätherkörpers haben. Aus dem jetzt Gesagten ist ersichtlich, dass sie im wesentlichen die Aufgabe haben, dem physischen Körper des Suchenden jene Kräfte entbehrlich zu machen, die ihm sonst während des Schlafzustandes zugute kommen und die ihm wegen der Ausbildung entzogen werden müssen. Unter solchen Einwirkungen entwickelt sich die imaginative Erkenntnis.
2. Die Imagination
Es ist ganz unmöglich, wirkliche Fortschritte in bezug auf das Vordringen in höhere Welten zu machen, ohne durch die Stufen der imaginativen Erkenntnis hindurchzugehen. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass bei der Geheimschulung der Mensch eine gewisse Zeit hindurch auf dieser Stufe der Imagination unbedingt stehenbleiben müsse, so dass diese so etwas wie eine Schulklasse bilden müsse, die man abzusitzen hat. Es kann dies in gewissen Fällen notwendig sein, muss es aber durchaus nicht.
Das hängt ganz davon ab, was der Geheimschüler erlebt hat, bevor er in die Geheimschulung eintritt. Es wird sich im weiteren Verlaufe dieser Auseinandersetzungen zeigen, dass in bezug darauf die geistige Umgebung des Geheimschülers von Bedeutung ist und dass sich auf das Verhältnis zur geistigen Umgebung sogar ganz verschiedene Methoden des «Erkenntnispfades» begründen.
Es kann von außerordentlicher Wichtigkeit sein, das Folgende zu wissen, wenn man sich auf den Weg der Geheimschulung begibt. Nicht nur als eine interessante Theorie kommt es in Betracht, sondern als etwas, dem man die mannigfaltigsten praktischen Gesichtspunkte wird entnehmen können, wenn man auf dem «Wege zur höheren Erkenntnis» wirklich bestehen will.
Man hört ja von solchen, welche eine höhere Entwicklung anstreben, oft sagen: Ich möchte mich geistig vervollkommnen, ich möchte «den höheren Menschen» in mir ausbilden, aber nach den Erscheinungen der «astralen Welt» trage ich kein Verlangen. Dies ist begreiflich, wenn man in Betracht zieht, welche Schilderung von dieser «astralen Welt» sich in Büchern findet, die von diesen Dingen Handeln. Da wird ja von Erscheinungen und Wesenheiten gesprochen, welche dem Menschen alle möglichen Gefahren bringen. Da wird gesagt, dass unter dem Einflusse solcher Wesenheiten der Mensch nur gar zu leicht an seiner moralischen Gesinnung und intellektuellen Gesundheit Schaden nehmen könne. Es wird dem Leser nahegebracht, dass auf diesem Gebiete die Scheidewand zwischen «dem guten und dem bösen Pfade» einem «Spinnewebchen» an Dicke gleichkomme und der Fall in unermessliche Abgründe, der Absturz in völlige Verworfenheit nur allzu naheliege.
Es ist ganz gewiss unmöglich, solchen Behauptungen einfach zu widersprechen. Und doch ist der Standpunkt, den man in vielen Fällen dem Betreten des Geheimpfades gegenüber einnimmt, keineswegs ein richtiger. Der einzig mögliche Gesichtspunkt ist vielmehr lediglich derjenige, welcher sagt: wegen der Gefahren darf niemand abgehalten werden, den Weg zur höheren Erkenntnis zu gehen, aber es muss in jedem Falle streng dafür gesorgt werden, dass diese Gefahren bestanden werden können. Das wird in manchen Fällen allerdings dazu führen, dass einem Menschen, der von einem Geheimlehrer Anweisungen zur Schulung erbittet, zunächst der Rat gegeben wird, mit dieser eigentlichen Schulung noch zu warten und erst gewisse Erfahrungen des gewöhnlichen Lebens durchzumachen oder Dinge zu lernen, welche in der physischen Welt gelernt werden können. Es wird dann die Aufgabe des Geheimlehrers sein, dem suchenden Menschen die rechte Anleitung zu geben, um solche Erfahrungen zu sammeln und solche Dinge zu lernen.
In weitaus den meisten Fällen wird man es erleben, dass der Geheimlehrer zunächst so verfährt. Wenn dann der Schüler nur genügend aufmerksam ist auf das, was ihm nun zustößt, nachdem er mit dem Geheimlehrer in Verbindung getreten ist, dann wird er das Mannigfaltigste bemerken können. Er wird finden, dass er nunmehr wie durch «Zufall» Erlebnisse hat und Dinge beobachten kann, denen er ganz gewiss ohne die Verbindung mit dem Geheimlehrer nicht ausgesetzt gewesen wäre. Wenn die Schüler das oft nicht bemerken und ungeduldig werden, dann liegt das nur darin, dass sie eben nicht die nötige Aufmerksamkeit ihren Erlebnissen zuwenden. Man muss auch durchaus nicht glauben, dass sich die Wirkung des Geheimlehrers auf den Schüler in deutlich wahrnehmbaren «Zauberkunststückchen» abspielt.
Diese Wirkung ist vielmehr eine ganz intime Sache, und wer nach ihrer Natur und Wesenheit forschen will, ohne selbst schon eine gewisse Stufe der Geheimschulung erreicht zu haben, der wird ganz gewiss in die Irre gehen. Der Schüler fügt sich selbst in jedem Falle ein Unrecht zu, wenn er ungeduldig darüber wird, dass er auf «Wartezeit» gesetzt ist. Er wird dadurch in bezug auf die Schnelligkeit seines Weges durchaus nicht aufgehalten. Im Gegenteil, sein Vorwärtskommen würde gerade dadurch verlangsamt, wenn er zu früh mit der oft von ihm ungeduldig erwarteten Schulung beginnen würde.
Läßt der Schüler die «Wartezeit» oder die sonstigen Ratschläge und Winke des Geheimlehrers in der richtigen Art auf sich wirken, so bereitet er sich tatsächlich dazu vor, gewissen Prüfungen und Gefahren standzuhalten, die an ihn herankommen, wenn er der für ihn unvermeidlichen Stufe der Imagination entgegentritt.
Unvermeidlich ist diese Stufe aus dem Grunde, weil jeder, der eine Verbindung mit der höheren Welt ohne ihr Durchschreiten sucht, dies nur unbewusst tun kann und dazu verurteilt ist, im Dunkeln zu tappen. Man kann sich ein dunkles Gefühl von dieser höheren Welt ohne die Imagination erwerben, man kann ohne sie gewiss zur Empfindung kommen, dass man mit «seinem Gotte» oder mit «seinem höheren Selbst» vereinigt sei, aber zu einer wirklichen Erkenntnis mit vollem Bewusstsein in heller, lichter Klarheit kann man so nicht kommen. Deshalb ist auch alles Reden davon, dass man die Auseinandersetzungen mit den «niederen Welten» (der astralen und der devachanischen) nicht brauche, dass es sich nur darum handeln könne, dass der Mensch «den Gott in sich erwecke», nichts weiter als eine Illusion.
Wer damit zufrieden ist, dem soll in sein Streben nicht hineingeredet werden, und der Okkultist wird einem solchen auch nicht hineinreden. Aber der wahre Okkultismus hat mit solchem Streben gar nichts zu tun. Dieser fordert ja niemanden zur Schülerschaft unmittelbar auf. Wer aber seine Schulung sucht, dem will er nicht bloß eine dunkle Empfindung von seiner «Gottähnlichkeit» erwecken, sondern er sucht ihm die geistigen Augen zu öffnen für das, was in höheren Welten wirklich vorhanden ist.
Gewiss ist ja in jedem Menschen das «göttliche Selbst» enthalten. Aber das ist ja doch in jedem Wesen der Fall. Im Stein, in der Pflanze, im Tier ist auch das «göttliche Selbst» enthalten und wirksam.
Aber nicht darauf kann es ankommen, dies so ganz im allgemeinen zu fühlen und zu wissen, sondern darauf, wirklich in Verbindung zu treten mit den Offenbarungen dieses «göttlichen Selbstes» So wie derjenige nichts von der physischen Welt weiß, der sich nur immer wieder sagen kann: diese Welt enthält in sich verhüllt das «göttliche Selbst», so weiß auch derjenige nichts von höheren Welten, welcher das «göttliche Geisterreich» nur in verschwommener, unbestimmter Allgemeinheit sucht. Man soll seine Augen öffnen und die Offenbarung der Gottheit in den Dingen der physischen Welt, im Stein, in der Pflanze anschauen, nicht davon träumen, dass dies jedoch alles nur «Erscheinungen» seien und dass Gottes wahre Gestalt dahinter «verborgen» sei. Nein, Gott offenbart sich in seinen Schöpfungen, und wer Gott erkennen will, muss das Wesen dieser Schöpfungen erkennen lernen. Deshalb muss man auch das wirklich anschauen lernen, was in höheren Welten vorgeht und lebt, wenn man das «Göttliche» erkennen will. Das Bewusstsein, dass der «Gottmensch» in einem lebt, kann höchstens den Anfang bilden. Aber dieser Anfang wird, wenn er in rechter Weise erlebt wird, zum Antrieb, wirklich aufzusteigen in die höheren Welten. Das kann man aber nur, wenn man die geistigen «Sinne» dazu in sich ausbildet. Alles andere stellt sich ja doch nur auf den Standpunkt: Ich will bleiben, wie ich bin, und nur erreichen, was mir so zu erreichen möglich ist. Der Standpunkt des Okkultismus ist aber, ein anderer Mensch zu werden, damit man anderes als das Gewöhnliche schauen und erleben kann.
Und dazu ist eben der Durchgang durch die imaginative Erkenntnis notwendig. Es ist gesagt worden, dass diese Stufe der Imagination nicht aufgefasst zu werden braucht wie eine Schulklasse, die man durchaus «absitzen» müsse. Das ist so zu verstehen, dass es namentlich in unsrem gegenwärtigen Leben Personen gibt, welche solche Vorbedingungen mitbringen, dass der Geheimlehrer bei ihnen gleichzeitig oder wenigstens fast gleichzeitig mit der imaginativen Erkenntnis die inspirierte und die intuitive hervorrufen kann. Aber es darf durchaus nicht so verstanden werden, als ob es irgend jemand geben könnte, dem der Durchgang durch die Imagination zu ersparen wäre.
Auf den Grund der Gefahr innerhalb der imaginativen Erkenntnis ist ja in meiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» bereits hingedeutet worden. Dieser Grund liegt darin, dass der Mensch beim Eintritte in diese Welt gewissermaßen den Boden unter den Füßen verliert. Wodurch er in der physischen Welt Festigkeit hat, das geht ihm zunächst scheinbar ganz verloren. Nimmt man in dieser physischen Welt etwas wahr, so fragt man sich: Woher kommt diese Wahrnehmung? Man tut das ja zumeist unbewusst. Aber man ist sich eben «unbewusst» darüber klar, dass die Ursachen der Wahrnehmungen die Gegenstände «draußen im Raume» sind. Die Farben, die Töne, die Gerüche gehen von diesen Gegenständen aus. Man sieht nicht freischwebende Farben, man hört nicht Töne, ohne dass man sich bewusst werden könnte, an welchen Gegenständen diese Farben als Eigenschaften «haften», von welchen Gegenständen die Töne herrühren. Dieses Bewusstsein, dass die Gegenstände und Wesenheiten sie verursachen, gibt den physischen Wahrnehmungen und damit dem Menschen selbst Festigkeit und einen sicheren Halt. Hat jemand Wahrnehmungen ohne äußere Ursache, so spricht man von abnormen, krankhaften Zuständen. Man nennt solche ursachlose Wahrnehmungen Illusionen, Halluzinationen, Visionen.
Nun zunächst ganz äußerlich betrachtet besteht die ganze imaginative Welt aus solchen Halluzinationen, Visionen und Illusionen. Es ist gezeigt worden in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», wie durch die Geheimschulung künstlich solche Visionen usw. erzeugt werden.
Durch das Hinlenken des Bewusstseins auf ein Samenkorn oder auf eine absterbende Pflanze werden gewisse Gestalten vor die Seele gezaubert, die nichts weiter zunächst sind als Halluzinationen. Die «Flammenbildung», von der dort gesagt wurde, dass sie in der Seele auftreten kann durch die Betrachtung einer Pflanze oder dergleichen und die sich nach einer Zeit ganz loslöst von der Pflanze, ist, äußerlich betrachtet, einer Halluzination gleich zu achten. Und so geht es noch weiter in der Geheimschulung, wenn man in die imaginative Welt eintritt. Das, wovon man gewöhnt war, dass es von den Dingen «draußen im Raum» ausgeht oder ihnen als Eigenschaft «anhaftet», die Farben, Töne, Gerüche usw., erfüllen nun freischwebend den Raum. Die Wahrnehmungen lösen sich los von allen äußeren Dingen und schweben frei im Raume oder fliegen darinnen herum. Und man weiß dabei doch ganz genau, dass die Dinge, die man da vor sich hat, diese Wahrnehmungen nicht hervorgebracht haben, dass man sie vielmehr «selbst» verursacht hat. So kommt es, dass man meinen muss, man habe den «Boden unter den Füßen verloren».
Im gewöhnlichen Leben in der physischen Welt muss man sich ja gerade davor hüten, Vorstellungen zu haben, die nicht von den Dingen herrühren, die sozusagen «ohne Grund und Boden» sind. Zur Hervorrufung der imaginativen Erkenntnis aber kommt es gerade darauf an, zunächst Farben, Töne, Gerüche usw. zu haben, die ganz losgelöst von allen Dingen «frei im Raume schweben».
Nun muss die nächste Stufe der imaginativen Erkenntnis darin bestehen, einen neuen «Grund und Boden» für die herrenlos gewordenen Vorstellungen zu finden. Das muss eben in der anderen Welt geschehen, die sich jetzt offenbaren soll. Es bemächtigen sich neue Dinge und Wesenheiten dieser Vorstellungen. In der physischen Welt «haftet» zum Beispiel die blaue Farbe an einer Kornblume. In der imaginativen Welt darf sie nun auch nicht «freischwebend» bleiben. Sie strömt gleichsam zu einer Wesenheit hin, und während sie noch vorher herrenlos war, wird sie jetzt der Ausdruck einer Wesenheit. Es spricht etwas durch sie zu dem Beobachter, was dieser eben nur innerhalb der imaginativen Welt wahrnehmen kann. Und so sammeln sich die «freischwebenden» Vorstellungen um bestimmte Mittelpunkte. Und man wird gewahr, dass Wesen durch sie zu uns sprechen. Und wie es in der physischen Welt körperliche Dinge und Wesenheiten sind, an denen Farben, Gerüche und Töne usw. «haften» oder von denen sie herstammen, so sprechen sich jetzt «geistige Wesenheiten» durch sie aus. Diese «geistigen Wesenheiten» sind ja tatsächlich immer da; sie umschwirren den Menschen beständig. Aber sie können sich diesem nicht offenbaren, wenn er nicht die Gelegenheit dazu gibt. Und diese Gelegenheit gibt er nur dadurch, dass er in sich die Fähigkeit hervorruft, Töne, Farben usw. auch dann vor seiner Seele entstehen zu lassen, wenn diese durch keinen physischen Gegenstand veranlasst werden.
Ganz anders sind die «geistigen Tatsachen und Wesenheiten» als die Dinge und Wesen der physischen Welt. Es ist nicht ganz leicht, in der gewöhnlichen Sprache einen Ausdruck zu finden, welcher die Verschiedenheit auch nur annähernd charakterisiert. Vielleicht kommt man der Sache am nächsten, wenn man sagt: in der imaginativen Welt spricht alles so zum Menschen, wie wenn es unmittelbar intelligent wäre, während in der physischen Welt auch die Intelligenz nur auf dem Umwege durch die physische Körperlichkeit sich offenbaren kann. Das macht eben die Beweglichkeit und Freiheit der imaginativen Welt aus, dass das Zwischenglied der äußeren Dinge fehlt, dass das Geistige ganz unmittelbar in den freischwebenden Tönen, Farben usw. sich auslebt.
Nun liegt der Grund zu einer Gefahr, welche dem Menschen von dieser Welt droht, darin, dass er die Äußerungen der «geistigen Wesen» wahrnimmt, aber nicht diese Wesen selbst. Es ist das nämlich so lange der Fall, als er nur in der imaginativen Welt bleibt und zu keiner höheren aufsteigt. Erst die Inspiration und die Intuition führen ihn allmählich zu diesen Wesen selbst hin. – Wollte aber der Geheimlehrer diese letzteren vorschnell erwecken, ohne den Schüler gründlich in das imaginative Gebiet einzuführen, dann würde die höhere Welt nur ein schatten- und schemenhaftes Dasein erhalten. Die ganze herrliche Fülle der Bilder ginge verloren, in denen sie sich offenbaren muss, wenn man wirklich in sie eintreten soll. – In dieser Tatsache liegt der Grund, warum der Geheimschüler einen «Führer» oder einen «Guru» braucht, wie man in der Geheimwissenschaft eben diesen Führer nennt.
Für den Schüler ist nämlich die imaginative Welt anfangs wirklich eine bloße «Bilderwelt», von der er vielfach nicht weiß, was sie ausdrückt. Der Geheimlehrer aber weiß, auf welche Dinge und Wesenheiten sich diese Bilder in einer noch höheren Welt beziehen. Hat der Schüler zu ihm Vertrauen, so kann er wissen, dass sich ihm später Zusammenhänge offenbaren werden, welche er vorläufig noch nicht durchschaut. In der physischen Welt waren die Gegenstände im Raume selbst die Führer. Er war imstande, die Richtigkeit seiner Vorstellungen zu prüfen. Die körperliche Wirklichkeit ist der «Fels», an dem alle Halluzinationen und Illusionen zerschellen müssen. Dieser Fels verschwindet in einen Abgrund, wenn man in die imaginative Welt eintritt. Und deshalb muss als ein anderer solcher «Fels» der «Führer» eintreten. An dem, was er dem Schüler zu bieten vermag, muss dieser die Wirklichkeit der neuen Welt empfinden. Man kann daraus ermessen, wie groß das Vertrauen in den Führer sein muss in jeder Geheimschulung, welche dieses Namens wirklich wert ist. Sobald man an den Führer nicht mehr glauben kann, ist es ja in dieser höheren Welt so, wie wenn einem in der physischen plötzlich alles genommen würde, worauf man den Glauben an die Wirklichkeit seiner Wahrnehmungen gebaut hat.
Außer dieser einen Tatsache gibt es nun noch eine andere, durch welche der Mensch in Verwirrung gesetzt werden könnte, wenn er sich ohne Führung in die imaginative Welt begeben wollte. Es lernt nämlich der Geheimschüler von allen geistigen Wesenheiten in erster Linie sich selbst kennen. In dem physischen Leben hat der Mensch Gefühle, Begierden, Wünsche, Leidenschaften, Vorstellungen usw.
Zwar werden diese alle von den Dingen und Wesenheiten der äußeren Welt veranlasst, aber der Mensch weiß ganz genau, dass sie seine innere Welt bilden, und er unterscheidet sie als das, was in seiner Seele vorgeht, von den Gegenständen der Außenwelt. Sobald aber der imaginative Sinn erweckt ist, hört diese Leichtigkeit des Unterscheidens ganz auf. Seine eigenen Gefühle, Vorstellungen, Leidenschaften usw.
treten buchstäblich aus ihm heraus, nehmen Gestalt, Farbe und Ton an. Er steht ihnen jetzt so gegenüber wie in der physischen Welt ganz fremden Gegenständen und Wesenheiten. Und dass die Verwirrung eine vollständige werden kann, wird man begreifen, wenn man sich an das erinnert, was in dem Kapitel «Über einige Wirkungen der Einweihung» in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gesagt worden ist. Dort ist ja nichts anderes geschildert als die Art, wie die imaginative Welt für den Beobachter auftritt. Es erscheint nämlich in ihr alles umgekehrt, wie im Spiegelbilde. Was vom Menschen ausströmt, erscheint so, als wenn es von außen an ihn herankommen wollte. Ein Wunsch, den er hegt, verwandelt sich in eine Gestalt, beispielsweise in die Form eines phantastisch aussehenden Tieres, oder auch wohl eines menschenähnlichen Wesens. Dieses scheint ihn zu bestürmen, einen Angriff auf ihn auszuführen oder ihn auch zu veranlassen, dieses oder jenes zu tun. So kann es kommen, dass der Mensch sich vorkommt als umgeben und umflattert von einer ganz phantastischen, oft reizvollen und verführerischen, oft auch grausigen Welt. In Wahrheit stellt diese nichts anderes vor als seine eigenen Gedanken, Wünsche und Leidenschaften, welche in Bilder verwandelt sind.
Man würde sich einem großen Irrtum hingeben, wenn man glauben wollte, dass die Unterscheidung dieses in Bildern verwandelten Selbstes von der wirklichen geistigen Welt leicht sei. Zunächst ist es für den Schüler geradezu unmöglich, diese Unterscheidung wirklich zu vollziehen. Denn es kann genau dasselbe Bild ebensogut von einem geistigen Wesen herrühren, welches zu den Menschen spricht, wie von irgend etwas im Innern der Seele. Und übereilt der Mensch gerade dabei etwas, so setzt er sich der Gefahr aus, dass er die beiden Dinge nie ordentlich voneinander zu trennen lernt. Die größte Vorsicht ist dabei geboten.
Nur noch größer wird die Verwirrung dadurch, dass die eigenen Wünsche und Begierden der Seele sich in Bilder kleiden, die genau den entgegengesetzten Charakter von dem tragen, was sie wirklich sind. Man nehme zum Beispiel an, die Eitelkeit kleide sich auf diese Art in ein Bild. Sie kann auftreten als eine liebreizende Gestalt, welche die wunderbarsten Dinge verspricht, wenn man ausführt, was sie angibt. Diese ihre Angaben scheinen etwas durchaus Gutes, Erstrebenswertes in Aussicht zu stellen; folgt man ihnen, so stürzt man sich in sein moralisches oder sonstiges Verderben. Umgekehrt kann sich eine gute Eigenschaft der Seele in ein unsympathisches Kleid hüllen. Nur dem wirklichen Kenner ist es möglich, da zu unterscheiden, und nur eine Persönlichkeit, die gar nicht wankend gemacht werden kann in bezug auf ein richtiges Ziel, ist sicher gegenüber den Verführungskünsten der eigenen Seelenbilder.
Man wird in Anbetracht von alledem zugeben, wie notwendig die Führung eines Lehrers ist, der mit sicherem Sinn den Schüler aufmerksam macht, was auf diesem Gebiet Trugbild und was Wahrheit ist. Nicht zu glauben aber braucht man, dass dieser Lehrer immer hinter dem Schüler stehen muss. Das räumliche Beisammensein mit dem Lehrer ist es durchaus nicht, worauf es beim Geheimschüler immer ankommt. Gewiss gibt es Augenblicke, wo ein solches räumliches Beisammensein wünschenswert, und auch solche, wo es durchaus notwendig ist. Aber anderseits findet der Geheimlehrer auch die Mittel, um mit dem Schüler in Verbindung zu bleiben, auch bei räumlicher Entfernung. Und zudem kommt in Betracht, dass manches, was zwischen Lehrer und Schüler auf diesem Gebiete bei einem Beisammensein vorgeht, oftmals monate-, vielleicht jahrelang nachwirken kann. Eines aber gibt es, was sicher den notwendigen Zusammenhang zwischen Lehrer und Schüler zerreißen muss. Das tritt dann ein, wenn der letztere das Vertrauen zu dem ersteren verliert.
Und besonders schlimm ist es, wenn dieses Vertrauensband sich löst, ehe der Schüler unterscheiden gelernt hat die Vorspiegelungen der eigenen Seele von der wahren Wirklichkeit.
Nun könnte man vielleicht sagen: ja, wenn auf diese Art ein solches Gebundensein an den Lehrer eintritt, so verliert ja der Geheimschüler alle Freiheit und Selbständigkeit. Er gibt sich sozusagen dem Lehrer ganz in die Hand. Doch gerade dies ist in Wahrheit gar nicht der Fall. Allerdings gibt es Unterschiede in bezug auf die Abhängigkeit vom Lehrer in den verschiedenen Methoden der okkulten Schulung. Diese Abhängigkeit kann eine größere oder geringere sein müssen. Sie ist die verhältnismäßig größte bei derjenigen Methode, welche von den Okkultisten des Orients befolgt wurde und von diesen auch heute noch als die ihrige gelehrt wird. In viel geringerem Maße ist diese Abhängigkeit von einem Menschen schon bei der sogenannten christlichen Einweihung vorhanden. Und eigentlich völlig in Wegfall kommt sie bei demjenigen Erkenntnispfade, der seit dem vierzehnten Jahrhunderte von den sogenannten Geheimschulen der Rosenkreuzer angegeben wird. Bei diesem kann zwar nicht der Lehrer wegfallen, denn das ist unmöglich. Aber es hört wahrhaft jede Abhängigkeit von ihm auf. Wie das möglich ist, wird aus der Fortsetzung dieser Darstellung zu ersehen sein. Darinnen wird nämlich genau geschildert werden, wodurch sich diese drei «Erkenntnispfade» unterscheiden: der orientalische, der christliche und der rosenkreuzerische. Bei dem letzteren kommt nämlich gar nichts in Betracht, was einen modernen Menschen irgendwie in seinem Freiheitsgefühl stören könnte. Auch wird in dieser Fortsetzung geschildert werden, wie die eine oder die andere Person als Geheimschüler dazu kommen kann, auch gegenwärtig, im modernen Europa, nicht den rosenkreuzerischen Weg zu gehen, sondern den orientalischen oder den älteren christlichen, obgleich der rosenkreuzerische gegenwärtig der natürlichste ist. Dieser ist, wie man im weiteren Verlaufe sehen wird. nicht etwa unchristlich. Es kann ihn ein Mensch gehen, ohne sein Christentum zu gefährden, und es kann ihn auch ein Mensch gehen, der auf der vollen Höhe moderner wissenschaftlicher Weltanschauung zu stehen vermeint.
Ein anderes könnte aber vielleicht noch der Erklärung bedürfen. Man könnte sich versucht fühlen zu fragen, ob denn nicht dem Geheimschüler erspart bleiben könnte, durch die Vorspiegelungen seiner eigenen Seele hindurchzugehen. Geschähe das, so würde er eben nie zu der für ihn so wünschenswerten selbständigen Unterscheidung kommen. Denn durch nichts kann die ganz eigenartige Natur der imaginativen Welt anschaulicher werden als durch die Betrachtung der eigenen Seele. Der Mensch kennt ja das Innenleben seiner Seele zunächst von der einen Seite. Er steckt eben darinnen. Und das muss ja der Geheimschüler gerade lernen: die Dinge nicht nur von außen anzuschauen, sondern sie so zu beobachten, als ob er in ihnen allen darinnensteckte. Tritt ihm nun seine eigene Gedankenwelt so wie etwas Fremdes entgegen, dann lernt er eben dadurch ein Ding, das er schon von einer Seite her kennt, auch noch von der anderen Seite kennen. Er muss gewissermaßen sich selbst das erste Beispiel einer solchen Erkenntnis werden. Von der physischen Welt her ist er ja an etwas ganz anderes gewöhnt. Da erblickt er alle anderen Dinge immer nur von außen, sich selbst aber erlebt er nur vom Innern. Er kann, solange er in der physischen Welt verbleibt, nie hinter die Oberfläche der Dinge hineinsehen. Und er kann niemals aus sich herausgehen, gleichsam «aus seiner eigenen Haut fahren», um sich von außen zu beobachten. Das letztere obliegt ihm buchstäblich bei der Geheimschulung zuerst, und mit Hilfe dessen lernt er dann, auch äußeren Tatsachen und Wesenheiten hinter die Oberfläche zu schauen.
3. Die Inspiration
Aus der Schilderung der Imagination ist ersichtlich geworden, wie durch sie der Geheimschüler den Boden der äußeren sinnlichen Erlebnisse verlässt. In einem noch viel höheren Grade ist dieses der Fall in der Inspiration. Bei ihr liegt dem Vorstellen noch viel weniger von dem zugrunde, was man als eine äußere Anregung bezeichnen kann. Der Mensch muss da in sich selbst die Kraft finden, welche es ihm möglich macht, über etwas sich Vorstellungen zu bilden. Er muss in einem viel höheren Grade innerlich tätig sein, als dies bei der äußeren Erkenntnis der Fall ist. Bei dieser gibt er sich eben den äußeren Eindrücken hin, und sie verursachen ihm die Vorstellungen. Diese Hingabe fällt bei der Inspiration weg. Es liefern nunmehr keine Augen Farben, keine Ohren Töne usw. Aller Inhalt des Vorstellens muss gewissermaßen durch eigene Tätigkeit, also durch rein geistigseelische Vorgänge geschaffen werden. Und in dasjenige, was so der Mensch durch die Tätigkeit seines Innern schafft, muss sich die Offenbarung der höheren wirklichen Welt hineinprägen. Ein eigenartiger Widerspruch scheint in einer solchen Beschreibung der höheren Erkenntniswelt aufzutreten. Der Mensch soll in einer gewissen Art der Schöpfer seiner Vorstellungen sein; und doch dürfen diese Vorstellungen selbstverständlich nicht seine Geschöpfe sein; sondern durch sie müssen sich die Vorgänge der höheren Welt ebenso zum Ausdrucke bringen, wie sich in den Wahrnehmungen der Augen, Ohren usw. die Vorgänge der niederen Welt zum Ausdrucke bringen. Es ist das aber ein Widerspruch, der sich in der Schilderung dieser Erkenntnisart finden muss. Denn das ist es gerade, was sich der Geheimschüler auf dem Wege zur Inspiration aneignen muss, dass er auf dem Wege seiner inneren Tätigkeit etwas zustande bringt, wozu er in dem gewöhnlichen Leben von außen gezwungen wird.
Warum verlaufen im gewöhnlichen Leben die Vorstellungen nicht willkürlich? Weil der Mensch sich bei seinem Vorstellen nach den äußeren Gegenständen richten muss. Alle Willkür des «Ich» fällt weg, weil die Gegenstände sagen: so oder so sind wir. Da sprechen die Gegenstände, wie sie vorgestellt werden sollen, das «Ich» hat nichts darüber zu bestimmen. Wer sich den Gegenständen nicht fügen will, der stellt sich eben Unrichtiges vor; und er würde bald gewahr werden, wie wenig er damit in der Welt zurechtkäme. Man kann dieses notwendige Verhalten des Menschen zu den Dingen der Außenwelt in der Erkenntnis mit dem Ausdruck «selbstlos» bezeichnen. Der Mensch muss sich «selbstlos» zu den Dingen verhalten. Und die Außenwelt ist sein Lehrmeister in dieser Selbstlosigkeit. Sie benimmt ihm alle Illusionen, alle Phantastereien, alle unlogischen Urteile, alles Unsachliche, indem sie ihm einfach ihr richtiges Bild vor die Sinne stellt.
Will der Mensch sich für die Inspiration vorbereiten, so muss er sein Inneres so weit bringen, dass ihm diese Selbstlosigkeit eigen ist, auch wenn nichts von außen dazu zwingt. Er muss innerlich schaffen lernen, jedoch so, dass sein «Ich» bei diesem Schaffen nicht im geringsten eine eigenmächtige Rolle spielt.
Die Schwierigkeiten, welche in Betracht kommen, um eine solche Selbstlosigkeit zu erringen, werden um so deutlicher sichtbar, je besser man berücksichtigt, welche Seelenkräfte für die Inspiration besonders in Betracht kommen.
Man unterscheidet die drei Grundkräfte des seelischen Lebens: Vorstellen, Fühlen und Wollen. Bei dem gewöhnlichen Sinneserkennen sind die Vorstellungen durch die äußeren Gegenstände angeregt. Und durch diese von außen angeregten Vorstellungen bekommen auch das Fühlen und das Wollen ihre bestimmten Richtungen. Der Mensch sieht zum Beispiel einen Gegenstand; dieser bereitet ihm Lust, infolgedessen begehrt er die betreffende Sache. Die Lust sitzt im Gefühle; durch dieses wird der Wille erregt, wie es selbst sein Gepräge von dem Vorstellen erhalten hat. Der letzte Grund aber von Vorstellen, Fühlen und Wollen ist der äußere Gegenstand.
– Ein anderer Fall wäre dieser. Ein Mensch erlebt ein Ereignis. Dieses bereitet ihm Angst. Er läuft von dem Schauplatze des Ereignisses hinweg. Auch hier sind die äußeren Vorgänge der erste Grund; sie kommen durch die Sinne zur Wahrnehmung, werden Vorstellungen, das Gefühl der Angst stellt sich ein; und der Wille – der sich im Davonlaufen verwirklicht – ist die Folge. Bei der Inspiration fällt ein äußerer Gegenstand in dieser Form weg. Die Sinne kommen für eine Wahrnehmung nicht in Betracht. Sie also können auch nicht die Anreger von Vorstellungen sein. Von dieser Seite aus wird auf Fühlen und Wollen kein Einfluss ausgeübt.
Nun sind es aber gerade diese beiden, aus denen, wie aus einem Mutterboden, bei der Inspiration innerlich die Vorstellungen aufsteigen, gleichsam herauswachsen. Und es werden wahre Vorstellungen erwachsen, wenn der Mutterboden ein gesunder ist, Irrtümer und Wahngebilde, wenn er ein ungesunder ist.
So gewiss als die Inspirationen, welche aus einem gesunden Fühlen und Wollen entspringen, Offenbarungen einer höheren Welt sein können, so gewiss entspringen aus einem wüsten Fühlen und Wollen die Irrtümer, Täuschungen und Phantastereien über eine höhere Welt.
Die Geheimschulung stellt sich deshalb die Aufgabe, dem Menschen die Mittel zu zeigen, welche ihn befähigen, seine Gefühle und seine Willensimpulse zu gesund-fruchtbaren für die Inspiration zu machen. Wie in allen Dingen der Geheimschulung hat man es auch hier mit einer intimen Regelung und Gestaltung des Seelenlebens zu tun. Man muss sich zunächst gewisse Gefühle aneignen, die man im gewöhnlichen Leben nur in einem geringen Grade kennt. Es sollen hier einige von diesen Gefühlen angedeutet werden. Zu den wichtigsten gehört eine höhere Empfindlichkeit gegenüber von «wahr» und «unwahr», von «richtig» und «unrichtig». Gewiss hat ja auch der gewöhnliche Mensch ähnliche Gefühle. Sie müssen aber eben bei dem Geheimschüler in einem viel höheren Maße ausgebildet werden. Man nehme an, jemand begehe einen logischen Fehler: ein anderer sieht diesen Fehler ein, und er stellt die Sache richtig. Man mache sich klar, wie groß der Anteil des Urteiles, des Verstandes bei einem solchen Richtigstellen ist und wie gering das Gefühl der Lust beim Richtigen, der Unlust beim Unrichtigen.
Wohlgemerkt, es soll durchaus nicht behauptet werden, dass die Lust und entsprechend die Unlust gar nicht vorhanden seien. Aber der Grad, in dem sie im gewöhnlichen Leben vorhanden sind, muss sich in der Geheimschulung ins Unbegrenzte steigern. Ganz systematisch muss der Geheimschüler die Aufmerksamkeit auf sein Seelenleben lenken: und er muss es dahin bringen, dass ihm das logisch Unrichtige eine Quelle des Schmerzes wird, der durchaus nicht hinter einem physischen Schmerze zurückbleibt; und in umgekehrter Art muss ihm das «Richtige» wirkliche Freude oder Lust bereiten. Wo also ein anderer nur seinen Verstand, seine Urteilskraft in Bewegung bringt, muss der Geheimschüler lernen, die ganze Stufenfolge von Gefühlen, vom Schmerz bis zum Enthusiasmus, von der wehevollen Spannung bis zur entzückenden Lösung im Besitz der Wahrheit zu durchleben. Ja, er muss etwas wie Hass empfinden lernen gegen dasjenige, was beim «normalen» Menschen nur als ein nüchternkaltes «Unrichtiges» erlebt wird; er muss eine Liebe zur Wahrheit in sich entwickeln, welche einen ganz persönlichen Charakter trägt; so persönlich, so warm wie der Liebende der Geliebten gegenüber empfindet.
Man wird ja gewiss auch in den Kreisen unserer «Gebildeten» vielfach von der «Liebe zur Wahrheit» reden; doch ist das, was man da meint, eben gar nicht zu vergleichen mit dem, was der Geheimschüler in stiller, innerer Seelenarbeit nach dieser Richtung durchmachen muss. Er muss sich geduldig immer wieder probeweise dieses oder jenes «Wahre», dieses oder jenes «Falsche» vorlegen; und sich der Sache hingeben, um nicht bloß seine Urteilskraft zu schulen, die nüchtern unterscheidet zwischen «wahr» und «falsch»; sondern er muss zu dem allen ein ganz persönliches Verhältnis gewinnen.
Es ist durchaus richtig, dass der Mensch im Anfange einer solchen Schulung in das verfallen kann, was man «Überempfindlichkeit» nennen mag. Ein unrichtiges Urteil, das er in seiner Umgebung hört, eine Inkonsequenz usw. können ihm einen schier unerträglichen Schmerz bereiten.
Es muss deshalb bei der Schulung auf diese Sache Rücksicht genommen werden. Denn geschähe das nicht: dann könnten sich allerdings große Gefahren für das Seelengleichgewicht des Schülers ergeben. Wird darauf gesehen, dass der Charakter fest bleibt, dann können Stürme im Seelenleben sich abspielen, und der Mensch hat doch die Kraft, in harmonischer Miene und Gebärde mit der Außenwelt zu leben. Ein Fehler ist in jedem Falle gemacht, wo der Geheimschüler zu einem Gegensatze gegenüber der Außenwelt gebracht wird, so dass er diese unerträglich findet oder gar aus ihr fliehen will Die höhere Gefühlswelt darf sich nicht auf Kosten des gleichmäßigen Wirkens und Arbeitens in der Außenwelt entwickeln; deshalb muss der inneren Erhöhung des Gefühlslebens eine Stärkung der Widerstandskraft gegenüber den äußeren Eindrücken entsprechen. Die praktische Geheimschulung weist daher den Menschen an, niemals die obengenannten Übungen zur Schulung seiner Gefühlswelt zu unternehmen, ohne sich zugleich auch nach der Richtung zu entwickeln, dass er ein Verständnis dafür gewinnen könne, was das Leben an Toleranzempfindung von dem Menschen fordert. Er muss zugleich in sich den lebendigsten Schmerz empfinden können, wenn zum Beispiel ein Mensch ein unrichtiges Urteil abgibt, und vollkommen tolerant sein können gegen diesen Menschen, weil der Gedanke in der Seele ebenso lebhaft da ist: dieser Mensch muss so urteilen, und es ist mit seinem Urteile wie mit einer Tatsache zu rechnen.
Richtig ist allerdings, dass das Innere des Geheimwissenschafters sich immer mehr und mehr zu einem Doppelleben umgestalten wird. Immer reichere Vorgänge werden sich in seiner Seele abspielen bei seiner Pilgerschaft durch das Leben, immer selbständiger gegenüber dem, was die äußere Welt gibt, wird eine zweite Welt. Aber dieses Doppelleben wird gerade das Fruchtbare sein für die echte Lebenspraxis. Was sich dadurch einstellt, ist Schlagfertigkeit des Urteiles, Treffsicherheit in bezug auf die Entschlüsse. Wo derjenige, der einer solchen Schulung fernesteht, lange Gedankenketten durchmachen muss, zwischen Entschluss und Ratlosigkeit hin- und hergetrieben wird, da wird der Geheimwissenschafter rasch die Lagen des Lebens überschauen, dem gewöhnlichen Blicke verborgene Zusammenhänge schnell aufdecken usw. Es gehört für ihn dann oft sogar viel Geduld dazu, sich in die langsame Art hineinzubegeben, wie ein anderer etwas begreifen kann, während bei ihm doch dieses Begreifen pfeilschnell vor sich geht.
Nun ist bisher nur gesprochen von den Eigenschaften, welche das Gefühlsleben erhalten muss, damit die Inspiration in der richtigen Art eintreten könne. Die andere Frage ist die: Wie werden die Gefühle fruchtbar, so dass sie aus sich wirkliche, der Inspirationswelt angehörige Vorstellungen gebären? Will man das einsehen, was die Geheimwissenschaft als Antwort auf diese Frage zu geben hat, so muss man sich mit der Tatsache bekannt machen, dass des Menschen Seelenleben immer einen gewissen Schatz von Gefühlen hat, welche über das Maß dessen hinausgehen, was durch die sinnlichen Wahrnehmungen angeregt wird. Der Mensch fühlt gleichsam mehr, als das ist, wozu ihn die Dinge zwingen. Nur wird in dem gewöhnlichen Leben dieses Übermaß in einer solchen Richtung angewendet, welche durch die Geheimschulung in eine andere verwandelt werden muss. Man nehme zum Beispiel ein Angst- oder Furchtgefühl. Man wird sich leicht klarmachen können, dass in vielen Fällen die Furcht oder die Angst größer ist, als sie sein würde, wenn sie einem entsprechenden äußeren Vorgange ganz angemessen wäre.
Man stelle sich nun vor: der Geheimschüler arbeite energisch an sich, um in keinem ihm vorkommenden Falle größere Furcht oder Angst zu haben, als gegenüber den entsprechenden äußeren Vorgängen wirklich gerechtfertigt ist. Nun wird ein gewisses Maß von Furcht oder Angst immer aus der Aufwendung von Seelenkraft erzeugt. Diese Seelenkraft geht tatsächlich dadurch verloren, dass eben Furcht oder Angst erzeugt werden. Der Geheimschüler erspart diese Seelenkraft wirklich, wenn er sich die Furcht oder die Angst – und anderes – versagt. Und sie bleibt ihm für etwas anderes verfügbar. Wiederholt er solche Vorgänge oft, so wird aus den fortlaufend ersparten Seelenkräften ein innerer Schatz gebildet; und der Geheimschüler wird bald erleben, dass ihm aus solchen Gefühlsersparnissen die Keime zu Vorstellungen erwachsen, welche Offenbarungen des höheren Lebens zum Ausdrucke bringen.
Dergleichen kann man im gewöhnlichen Sinne nicht «beweisen»; man kann nur dem Geheimschüler die Anweisung geben: tue dies oder jenes – und er wird, wenn er die Sache ausführt, schon sehen, dass sich die untrüglichen Früchte einstellen.
Einer ungenauen Betrachtung des soeben Geschilderten könnte es leicht als ein Widerspruch erscheinen, dass auf der einen Seite eine Bereicherung der Gefühlswelt gefordert wird, indem durch das, was sonst nur das Verstandesurteil wachruft, Gefühle der Lust, des Schmerzes usw. erregt werden sollen – und auf der anderen Seite gerade von Ersparnissen an Gefühlen gesprochen wird. Dieser Widerspruch verschwindet sofort, wenn man bedenkt, dass die Ersparnisse bei denjenigen Gefühlen gemacht werden sollen, welche durch die äußeren Sinne angeregt werden. Eben das, was da erspart wird, erscheint als Bereicherung gegenüber den geistigen Erlebnissen. Und es ist durchaus richtig, dass auf diese Art an der sinnlichen Wahrnehmungswelt ersparte Gefühle nicht nur auf dem anderen Gebiete freiwerden, sondern dass sie sich auf diesem Gebiete als schöpferisch erweisen.
Sie schaffen das Material zu den Vorstellungen, in denen sich die geistige Welt offenbart.
Es wurde allerdings nicht besonders weit gehen, wenn man nur bei solchen Ersparnissen stehenbleiben wollte, wie sie oben angedeutet worden sind. Zu größeren Erfolgen ist noch mehr nötig.
Man muss der Seele einen noch weit größeren Schatz von Gefühlerzeugender Kraft zuführen, als auf diesem Wege möglich ist. Man muss zum Beispiel sich gewissen äußeren Eindrücken probeweise aussetzen und sich dann die Gefühle ganz versagen, die im sogenannten «normale» Zustande eintreten.
Man muss sich zum Beispiel einem Ereignisse gegenüberstellen, welches «normalerweise» die Seele erregt, und sich diese Erregung ganz und gar verbieten. Man kann das so machen, dass man sich tatsächlich einem solchen Ereignisse gegenüberstellt oder sich bloß mit der Vorstellung behilft. Das letztere ist sogar für die fruchtbare Geheimschulung das bessere. Da der Schüler ja in die Imagination eingeweiht wird, entweder vor seiner Vorbereitung zur Inspiration oder mit der letzteren gleichzeitig, so muss er eigentlich imstande sein, sich imaginativ ein Ereignis mit derselben Kraft vor die Seele zu stellen, wie wenn es wirklich da wäre.
Wenn nun in langer innerer Arbeit der Schüler sich immer wieder und wieder Dingen und Vorgängen aussetzt und es sich verbietet, entsprechende «normale» Gefühle zuhaben, so wird in seiner Seele der Mutterboden für die Inspiration geschaffen.
Nur als Zwischenbemerkung sei hier angeführt, dass derjenige, welcher eine solche Schulung zur Inspiration beschreibt, es voll würdigen kann, wenn vom Standpunkte unserer gegenwärtigen Zeitbildung aus manches gegen eine solche Beschreibung eingewendet wird. Und man kann da nicht nur das oder jenes einwenden, sogar kann man überlegen lächeln und sagen: «Inspiration kann doch nicht pedantisch anerzogen werden; sie ist eine Naturgabe des Genies.» Ja, gewiss, vom Standpunkte dieser Zeitbildung mag es recht komisch anmuten, wenn viel über die Heranbildung dessen geredet wird, bei dem diese Bildung von einer Erklärung nichts wissen will; aber diese Zeitbildung ist sich nicht bewusst, wie wenig sie ihre eigenen Gedankengänge zu Ende zu denken vermag. Wer es einem Bekenner dieser Zeitbildung zumuten wollte, dass er daran glauben solle, irgendein höher entwickeltes Tier habe sich nicht langsam entwickelt, sondern sei «plötzlich» da gewesen: der würde bald hören, dass der im modernen Sinne Gebildete an ein solches «Wunder» nicht glaube. So etwas sei «Aberglauben» Nun, auf dem Gebiete des Seelenlebens ist aber ein solcher modern Gebildeter, ganz im Stile seiner eigenen Ansichten, ein von krassem Aberglauben Befallener. Er will nämlich nicht daran denken, dass sich eine vollkommenere Seele auch entwickelt haben muss, dass sie nicht plötzlich als eine Naturgabe da sein könne. Äußerlich erscheint allerdings manches Genie wie «aus dem Nichts» geboren, auf unerklärliche Weise da; doch erscheint es eben so nur für den materialistischen Aberglauben; der Geisteswissenschafter weiß, dass eine genialische Veranlagung, die in einem Leben bei einem Menschen wie aus dem Nichts heraus geboren ist, einfach die Folge von dessen Erziehung zur Inspiration in einem früheren Erdenleben ist.
Auf theoretischem Gebiete ist der materialistische Aberglaube schlimm; bei weitem schlimmer aber ist er noch auf einem solchen praktischen Gebiete wie hier. Da er annimmt, dass die Genies in alle Zukunft «vom Himmel fallen» müssen, kümmert er sich nicht um derlei «okkultistischen Unfug» oder solch «phantastische Mystik», die von Vorbereitung zur Inspiration sprechen. Dadurch hält aber der Aberglaube der Materialisten den wahren Fortschritt der Menschheit auf. Er sorgt nicht dafür, dass die in den Menschen schlummernden Fähigkeiten entwickelt werden.
In Wirklichkeit sind nämlich oft diejenigen, welche sich Fortschrittler und Freidenker nennen, solche, welche die Feinde der wahren Fortentwicklung sind. Doch dies soll – wie gesagt – nur eine Zwischenbemerkung sein, die notwendig ist mit Rücksicht auf das Verhältnis der Geheimwissenschaft zur gegenwärtigen Zeitbildung.
Nun wurden die Seelenkräfte, welche durch das gekennzeichnete Sich-Versagen der «normalen» Gefühle als Schatz im Innern des Schülers sich aufspeichern, gewiss, auch ohne dass etwas anderes zu Hilfe käme, sich in Inspirationen umsetzen. Und der Geheimschüler wurde erleben, wie in seiner Seele wahre Vorstellungen aufsteigen, welche Erlebnisse in höheren Welten darstellen. Mit den einfachsten Erfahrungen übersinnlicher Vorgänge wurde die Sache beginnen, und langsam käme Komplizierteres und Höheres zum Vorschein, wenn der Schüler in der angedeuteten Richtung innerlich weiterlebte.
In Wirklichkeit wäre aber eine solche Geheimschulung heute ganz unpraktisch, und sie wird daher wohl nirgends durchgeführt, wo man ernsthaft zu Werke geht. Wollte nämlich der Schüler auf diese Art alles «aus sich selbst heraus» entwickeln, was die Inspiration geben kann: er würde ganz sicher dazu kommen, alles so aus sich «herauszuspinnen», was je zum Beispiel auch hier über das Wesen des Menschen, über des Menschen Leben nach dem Tode, über die Entwicklung des Menschengeschlechts und der Planeten usw. gesagt worden ist. Aber ein solcher Schüler würde eben unermesslich lange Zeiträume dazu brauchen. Es wäre so, wie wenn zum Beispiel jemand die ganze Geometrie aus sich selbst herausspinnen wollte, ohne Rücksicht darauf, was Menschen vor ihm auf diesem Gebiete schon gearbeitet haben. Gewiss, «in der Theorie» ist so etwas durchaus möglich. In der Praxis es auszuführen wäre Torheit. Auch in der Geheimwissenschaft verfährt man nicht so, sondern man lässt sich durch einen Lehrer diejenigen Dinge überliefern, welche durch inspirierte Vorgänger für die Menschheit errungen worden sind. Diese Überlieferung muss gegenwärtig die Grundlage abgeben für die eigene Inspiration. Dasjenige, was in der einschlägigen Literatur und in Vorträgen usw. heute aus dem Gebiet der Geheimwissenschaft geboten wird, das kann durchaus eine solche Inspirationsgrundlage abgeben. Es sind zum Beispiel die Lehren über die verschiedenen Grundteile des Menschen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib usw.), die Erkenntnisse über das Leben nach dem Tode bis zu einer neuen Verkörperung, dann zum Beispiel alles, was unter dem Titel «Aus der Akasha-Chronik» gedruckt wurde. Man muss nämlich gegenüber der Inspiration durchaus festhalten, dass man sie braucht zum Auffinden und Selbsterleben der höheren Wahrheiten, nicht aber zum Verstehen derselben. Man kann ohne Inspiration das nicht zuerst auffinden, was unter dem Titel «Aus der Akasha-Chronik» mitgeteilt ist. Empfängt man es aber durch Mitteilung, dann kann man es einsehen durch das ganz gewöhnliche logische Urteil. Niemand sollte behaupten: es würden da Dinge behauptet, die man ohne Inspiration nicht logisch begreifen könne. Man findet sie nicht deshalb unbegreiflich, weil man nicht inspiriert ist, sondern nur, weil man nicht genügend nachdenken will.
Erhält man also solche Wahrheiten mitgeteilt, dann erregen sie in der Seele durch ihre eigene Kraft die Inspiration. Man muss nur versuchen, wenn man solcher Inspiration teilhaftig werden will, diese Erkenntnisse nicht nüchtern und verstandesmäßig zu empfangen, sondern sich von dem Hochschwung der Ideen in alle nur möglichen Gefühlserlebnisse versetzen lassen. Und wie sollte man dies nicht können! Kann das Gefühl stumpf bleiben, wenn man die überwältigenden Vorgänge im Geiste vor sich vorüberziehen lässt, wie die Erde sich aus Mond, Sonne und Saturn entwickelt hat, oder wenn man die unendlichen Tiefen der Menschennatur durch eine Erkenntnis seines Äther-, Astralleibes usw. durchschaut? Man möchte fast sagen: schlimm genug für einen solchen, welcher in Nüchternheit solche Gedankengebäude erleben kann. Denn erlebte er sie nicht in Nüchternheit, sondern durchlebte er alle durch sie möglichen Gefühlsspannungen und Gefühlslösungen, alle Steigerungen und Krisen, alle Fortschritte und Rückschritte, alle Katastrophen und Verkündigungen: dann eben würde in ihm der Mutterboden zur Inspiration selbst zubereitet. Allerdings wird man das notwendige Leben in Gefühlen gegenüber solchen Mitteilungen aus einer höheren Welt nur wirklich entfalten können, wenn man Übungen solcher Art, wie sie oben angedeutet sind, macht. Wer alle seine Gefühlskräfte an die äußere sinnliche Wahrnehmungswelt wendet, dem werden die Erzählungen aus einer höheren Welt als «trockene Begriffe», als «graue Theorie» erscheinen. Er wird niemals begreifen können, warum es dem andern warm ums Herz wird, wenn er die Mitteilungen der Geheimwissenschaft vernimmt, während er doch «kühl bis ans Herz hinan» bleibt. Er wird sogar sagen: «Das ist doch alles nur für den Verstand, das ist intellektuell; ich möchte etwas für das Gemüt.» Er sagt sich aber nicht, dass es an ihm liegt, dass sein Herz kalt bleibt.
Viele unterschätzen noch immer die Gewalt dessen, was in diesen Mitteilungen aus einer höheren Welt allein schon verborgen liegt. Und im Zusammenhange damit überschätzen sie allerlei andere Übungen und Prozeduren. Ja, was nützt es mir, sagen sie, wenn mir andere erzählen, wie es in höheren Welten aussieht: ich möchte doch selbst da hineinschauen. Solchen fehlt nur zumeist die Geduld, sich immer wieder und wieder in solche Erzählungen aus höheren Welten zu vertiefen. Täten sie es, dann würden sie sehen, welche Zündekraft diese «bloßen Erzählungen» haben, und wie wirklich die eigene Inspiration angeregt wird, wenn man die Inspirationen anderer mitgeteilt erhält.
Gewiss, es müssen zum «Lernen» andere Übungen hinzukommen, wenn der Schüler rasche Fortschritte in dem Erleben der höheren Welten machen will; es sollte aber niemand die unbegrenzt große Bedeutung gerade des «Lernens» unterschätzen. Und jedenfalls kann niemandem Hoffnung gegeben werden, dass er durch irgendwelche Übungen rasche Eroberungen in den höheren Welten machen werde, der es nicht zugleich über sich bringt: unablässig sich in die Mitteilungen zu vertiefen, die, rein erzählend, von den Vorgängen und Wesen der höheren Welten von berufener Seite gemacht werden.
Dadurch, dass gegenwärtig solche Mitteilungen in der Literatur und in Vorträgen usw. gemacht werden, und dass auch die ersten Andeutungen gegeben werden über die Übungen, welche zur Erkenntnis höherer Welten führen (zum Beispiel sind eben die Darstellungen in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» solche erste Andeutungen), kann man jetzt einiges von dem erfahren, was ehedem nur in streng geschlossenen Geheimschulen mitgeteilt worden ist. Wie schon öfters erwähnt worden ist, rührt eine solche Veröffentlichung von den Verhältnissen in unserer Zeit her und muss geschehen. Es muss aber immer wieder auch das andere betont werden, dass dadurch zwar Erleichterungen in bezug auf das Aneignen des Geheimwissens geschaffen sind, dass aber die sichere Führung durch den erfahrenen Geheimlehrer doch noch nicht völlig zu ersetzen ist.
Die Erkenntnis durch Inspiration führt den Menschen zum Erleben der Vorgänge in den unsichtbaren Welten, also zum Beispiel der Entwicklung des Menschen, derjenigen der Erde und ihrer planetarischen Verkörperungen; kommen aber innerhalb dieser höheren Welten nicht bloß Vorgänge, sondern Wesen in Betracht, dann muss die Intuition als Erkenntnisart eintreten. Was durch solche Wesen geschieht, das erkennt man im Bilde durch die Imagination, den Gesetzen und Verhältnissen nach durch die Inspiration; will man den Wesen selbst gegenübertreten, dann braucht man die Intuition.
Wie sich die Inspiration hineingliedert in die Welt der Imaginationen, wie sie die letzteren durchdringt als eine «geistige Musik» und dadurch das Ausdrucksmittel der durch die Intuition zu erkennenden Wesen wird, davon soll noch gesprochen werden. Dann wird auch die Intuition selbst behandelt werden. Hier soll nur noch darauf hingewiesen werden, dass dasjenige, was man in der Geheimwissenschaft als «Intuition» bezeichnet, nichts zu tun hat mit dem, wofür man gegenwärtig oft im populären Sprachgebrauch das Wort «Intuition» anwendet. Man bezeichnet so einen mehr oder weniger unsicheren «Einfall» im Gegensatz zu einer klaren, folgerichtig gewonnenen Verstandes- oder Vernunfterkenntnis. In der Geheimwissenschaft ist die «Intuition» nichts Unklares und Unsicheres, sondern eine hohe Erkenntnisart, voll der lichtesten Klarheit und der unbezweifelbarsten Sicherheit.
4. Inspiration und Intuition
Wie man die Imagination ein geistiges Schauen nennen kann, so die Inspiration ein geistiges Hören. Man muss allerdings bei diesem Ausdrucke «Hören» sich darüber klar sein, dass damit ein Wahrnehmen gemeint ist, welches dem sinnlichen Hören in der physischen Welt noch viel ferner steht als das «Schauen» in der imaginativen (astralen) Welt dem Sehen mit den physischen Augen. Von den Licht- und Farbenerscheinungen der letzteren Welt kann man sagen: sie seien so, wie wenn die leuchtenden Oberflächen und die Farben der sinnlichen Gegenstände sich von diesen abhöben und von ihnen losgelöst frei im Raume schwebten. Dies gibt aber doch nur eine annähernde Vorstellung. Denn der Raum der imaginativen Welt ist keineswegs so wie derjenige der physischen. Wer sich also einbildete, dass er imaginative Farbenbilder vor sich habe, wenn er freischwebende Farbenflocken mit gewöhnlicher Raumausdehnung sieht, der ist im Irrtum. Dennoch ist aber die Bildung von solchen Farbenvorstellungen der Weg zum imaginativen Leben. Wer versucht, sich eine Blume vorzustellen, und dann in seiner Vorstellung alles beiseite lässt, was nicht Farbenvorstellung ist, so dass vor seiner Seele ein Bild schwebt wie die von der Blume abgezogene farbige Oberfläche, der kann durch solche Übungen allmählich zu einer Imagination gelangen. Dies Bild selbst ist noch keine solche Imagination, sondern ein mehr oder weniger vorbereitendes Phantasiegemälde. Imagination – das ist wirkliches astrales Erlebnis – wird es erst, wenn nicht nur die Farbe ganz abgehoben ist von dem Sinneseindrucke, sondern wenn auch die dreidimensionale Raumausdehnung sich völlig verloren hat. Dass dies letztere der Fall ist, kann nur durch ein gewisses Gefühl wahrgenommen werden. Zu beschreiben ist dieses Gefühl nur dadurch, dass man sagt, man fühlt sich nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb des Farbenbildes, und man hat das Bewusstsein, dass man an seiner Entstehung teilnimmt. Wenn dies Gefühl nicht da ist, wenn man sich also der Sache gegenüberstehend glaubt wie einem sinnlichen Farbenbild gegenüber, dann hat man es noch nicht mit einer wirklichen Imagination, sondern mit etwas Phantastischem zu tun. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass solche Phantasiegemälde ganz wertlos seien. Sie können nämlich ätherische Abbilder – gleichsam Schatten – wirklicher astraler Tatsachen sein. Und als solchen kommt ihnen für die geheimwissenschaftliche Schulung immerhin einiger Wert zu. Sie können eine Brücke bilden zu den wahren astralen (imaginativen) Erlebnissen.
Eine gewisse Gefahr schließt ihre Beobachtung nur in sich, wenn der Beobachter an diesem Grenzgebiet zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem seinen gesunden Menschenverstand nicht voll zur Anwendung bringt. Man soll nur nicht erwarten, dass irgend jemandem ein allgemeines Kennzeichen gegeben werden kann, wie er in diesem Grenzgebiete Illusion, Halluzination, Phantastik von Wirklichkeit unterscheiden könne. Bequem wäre ja eine solche allgemeine Regel. Aber Bequemlichkeit ist ein Wort, das der Geheimschüler in seinem Sprachschatze streichen sollte.
Man kann nur sagen, dass derjenige, welcher sich für dieses Gebiet Klarheit der Unterscheidung aneignen will, schon in dem gewöhnlichen Leben der physischen Welt darauf bedacht sein muss. Wer in diesem gewöhnlichen Leben keine Sorgfalt darauf verwendet, scharf und klar zu denken, der wird beim Aufsteigen in höhere Welten allen möglichen Illusionen zum Opfer fallen. Man bedenke nur, wie viele Fallen dieses gewöhnliche Leben dem gesunden Urteile bietet. Wie oft kommt es doch vor, dass die Menschen nicht das ungetrübt sehen, was ist, sondern was sie zu sehen begehren. In wie vielen Fällen glauben die Menschen etwas, nicht weil sie erkannt haben, sondern weil es ihnen angenehm ist, zu glauben. Oder welche Irrtümer ergeben sich, weil man einer Sache nicht auf den Grund geht, sondern sich vorschnell ein Urteil bildet. Alle diese Gründe von Täuschungen im gewöhnlichen Leben könnten durch andere schier ins Unendliche vermehrt werden. Was für Streiche spielen Parteinahme, Leidenschaft usw. usw. einem gesunden Urteile. Wenn derlei Urteilstäuschungen im gewöhnlichen Leben störend und oft verhängnisvoll sind: für die Gesundheit des übersinnlichen Erlebens sind sie die denkbar größte Gefahr. Nicht eine allgemeine Regel kann der Geheimschüler als Leitfaden mit in höhere Welten erhalten, sondern lediglich die Anweisung, für seine gesunde Unterscheidungskraft, für sein freies, unabhängiges Urteil alles mögliche zu tun.
Wenn der Beobachter höherer Welten einmal weiß, was wirklich Imagination ist, dann erhält er auch sehr bald die Empfindung, dass die bildet der astralen Welt nicht bloße Bilder, sondern die Kundgebungen geistiger Wesenheiten sind. Er lernt erkennen, dass er die imaginativen Bilder ebenso auf geistige oder seelische Wesenheiten zu beziehen hat wie die sinnlichen Farben auf sinnliche Dinge oder Wesenheiten. Im einzelnen wird er allerdings da noch viel zu lernen haben. Er wird unterscheiden müssen zwischen Farbengebilden, die wie undurchsichtig sind, und solchen, die ganz durchsichtig und wie in ihrem Innern ganz durchleuchtet sind. Ja, auch solche Gebilde wird er wahrnehmen, die ihr Farbenlicht gleichsam in ihrem Innern immer neu erzeugen, die also nicht nur ganz durchleuchtet und durchsichtig (transparent) sind, sondern die immerfort in sich selbst aufstrahlen. Und er wird die mehr undurchsichtigen Gebilde auf niedrige, die durchleuchteten auf mittlere Wesenheiten beziehen; die in sich aufstrahlenden Bilder werden ihm Kundgebungen höherer geistiger Wesenheiten sein.
Will man die Wahrheit der imaginativen Welt treffen, so darf man den Begriff des geistigen Schauens nicht zu eng fassen. Denn es finden sich in dieser Welt nicht etwa bloß Licht- und Farbenwahrnehmungen, die sich also den Gesichtserlebnissen der physischen Welt vergleichen lassen, sondern auch Eindrücke von Wärme und Kälte, von Geschmack und Geruch, ja noch andere Erlebnisse der imaginativen «Sinne», für die es etwas ähnliches in der physischen Welt nicht gibt. Die Eindrücke des Warmen und Kalten sind in der imaginativen (astralen) Welt die Offenbarungen des Willens und der Absichten seelischer und geistiger Wesen. Ob ein solches Wesen etwas Gutes oder Böses bezweckt, das kommt in einer bestimmten Wärme- oder Kältewirkung zum Vorschein. Auch «schmecken» und «riechen» kann man die astralen Wesenheiten.
Nur dasjenige, was in eigentlichem Sinne das Physische des Tones und Schalles ausmacht, fehlt fast ganz in der wirklich imaginativen Welt. In dieser Beziehung herrscht da lautlose Stille. Dafür aber bietet sich etwas ganz anderes dem in der geistigen Beobachtung Fortschreitenden dar, was sich mit dem Tönen und Klingen, mit Musik und Sprache der sinnlichen Welt vergleichen lässt. Und gerade dann tritt dieses Höhere auf, wenn alles Tönen und Klingen der äußeren physischen Welt völlig verstummt, ja wenn auch der geringste innere seelische Nachhall an dieses Gebiet der äußeren Welt zum Schweigen gekommen ist. Dann tritt für den Beobachter das ein, was man ein Verstehen der Bedeutung der imaginativen Erlebnisse nennen kann. Wollte man dasjenige, was hier erfahren wird, mit etwas in der physischen Welt vergleichen, so könnte man nur zur Verdeutlichung etwas heranziehen, was es in dieser Welt gar nicht gibt. Man versuche sich einmal vorzustellen, dass man wahrnehmen könnte die Gedanken und Gefühle eines Menschen, ohne seine Worte mit dem physischen Ohre zu hören, so wäre ein solches Wahrnehmen zu vergleichen mit jenem unmittelbaren Verstehen des Imaginativen, das man als «Hören» in geistigem Sinne bezeichnet. Das «Sprechende» sind die Farben- und Lichteindrücke. In dem Aufglänzen und Verlöschen, in der Farbenwandlung der Bilder offenbaren sich Harmonien und Disharmonien, welche die Gefühle, Vorstellungen und Gedanken seelischer und geistiger Wesenheiten enthüllen. Und wie sich der Ton beim physischen Menschen zum Worte steigert, wenn sich ihm der Gedanke einprägt, so steigern sich die Harmonien und Disharmonien der geistigen Welt zu Offenbarungen, welche wesenhafte Gedanken selbst sind. Dazu muss es allerdings «dunkel werden» in dieser Welt, wenn der Gedanke in seiner Unmittelbarkeit sich offenbaren soll. Das hier auftretende Erlebnis stellt sich so dar: Man sieht die hellen Farbentöne, das Rot, Gelb und Orange, ersterben und nimmt wahr, wie sich die höhere Welt durch Grün hindurch abdunkelt zum Blauen und Violetten; dabei erlebt man in sich selbst eine Steigerung der inneren Willensenergie. Man erlebt eine völlige Freiheit in bezug auf Ort und Zeit; man fühlt sich in Bewegung. Es sind gewisse Linienformen, Gestalten, die man erlebt. Doch nicht etwa so erlebt man sie, dass man sie vor sich in irgendeinem Raume gezeichnet sähe, sondern so, als ob man in fortwährender Bewegung mit seinem Ich jedem Linienschwung, jeder Gestaltung selbst folgte. Ja man fühlt das Ich als den Zeichner und zugleich als das Material, mit dem gezeichnet wird. Und jede Linienführung, jede Ortsänderung sind zugleich Erlebnis dieses Ich. Man lernt erkennen, dass man mit seinem bewegten Ich hineingeflochten ist in die schaffenden Weltenkräfte. Die Weltgesetze sind nun dem Ich nicht mehr etwas äußerlich Wahrgenommenes, sondern ein wirkliches Wundergewebe, an dem man spinnt. – Die Geheimwissenschaft entwirft allerlei sinnbildliche Zeichnungen und Bilder. Wenn diese den Tatsachen wirklich entsprechen und nicht bloße ausgedachte Figuren sind, so liegen ihnen Erlebnisse des Beobachters in höheren Welten zugrunde, die in der oben beschriebenen Art anzusehen sind.
So stellt sich die inspirierte Welt in die imaginierte hinein. Wenn die Imaginationen beginnen dem Beobachter in «stummer Sprache» ihre Bedeutungen zu enthüllen, dann geht innerhalb des Imaginativen die Welt der Inspiration auf.
Von derjenigen Welt, in welche der geistige Beobachter auf diese Art eindringt, ist die physische eine Offenbarung. Was von dieser physischen Welt den Sinnen und dem auf sie beschränkten Verstand zugänglich ist, das ist nur die Außenseite. Um nur ein Beispiel anzuführen: die Pflanze, wie sie mit den physischen Sinnen und dem physischen Verstande beobachtet wird, ist nicht das vollständige Pflanzenwesen. Wer nur diese physische Pflanze kennt, der hat etwas Ähnliches vorliegen, wie ein Wesen haben würde, das den Fingernagel eines Menschen wahrnehmen könnte, dem aber die Wahrnehmung des Menschen selbst unzugänglich wäre. Bau und Wesenheit des Fingernagels können aber nur verstanden werden, wenn man sie aus der ganzen menschlichen Wesenheit erklärt. So ist in Wahrheit die Pflanze nur verständlich, wenn man das kennt, was zu ihr gehört wie die ganze menschliche Wesenheit zum Fingernagel des Menschen. Dieses zur Pflanze Gehörige kann man aber nicht in der physischen Welt finden. Der Pflanze liegt zunächst etwas zugrunde, was sich nur durch die Imagination in der astralen Welt enthüllt, und ferner etwas, was nur durch die Inspiration in der geistigen Welt offenbar wird.
So ist also die Pflanze als physisches Wesen die Offenbarung einer Wesenheit, die durch Imagination und Inspiration zu begreifen ist.
Es eröffnet sich für den Beobachter der höheren Welten, wie aus Vorstehendem ersichtlich ist, ein Weg, der in der physischen Welt beginnt. Er kann nämlich zunächst von dieser physischen Welt ausgehen und von deren Offenbarungen aufsteigen zu den ihnen zugrunde liegenden höheren Wesenheiten. Wenn er vom Tierreiche ausgeht, so kann er aufsteigen zur imaginativen Welt; wenn er von der Pflanzenwelt seinen Ausgang nimmt, so führt ihn die geistige Beobachtung durch die Imagination zur Welt der Inspiration. Wenn man diesen Weg geht, dann findet man nämlich bald innerhalb der imaginativen und Inspirationswelt auch Wesenheiten und Tatsachen, welche sich gar nicht in der physischen Welt offenbaren. Man darf also nicht glauben, dass man auf diese Art nur diejenigen Wesenheiten der höheren Welten kennenlernt, welche ihre Offenbarungen in der physischen Welt haben. Wer einmal die imaginative Welt betreten hat, der lernt eine Fülle von Wesen und Ereignissen kennen, von denen sich der bloße physische Beobachter nichts träumen lässt.
Es gibt nun allerdings auch einen anderen Weg. Einen solchen, der nicht von der physischen Welt seinen Ausgang nimmt. Der den Menschen unmittelbar hellsichtig macht in den höheren Gebieten des Daseins. Für viele Menschen möchte dieser Weg mehr Anziehungskraft haben als der vorhin angedeutete.
Doch sollte für unsere Lebensverhältnisse nur der Aufstieg aus der physischen Welt gewählt werden. Er legt dem Beobachter die Entsagung auf, welche nötig ist, wenn er sich zunächst in der physischen Welt umschauen und da einige Erkenntnisse und namentlich Erfahrungen sammeln soll. Doch ist er auf alle Fälle für unsere Kulturverhältnisse der Gegenwart der angemessene. Der andere setzt die vorhergängige Aneignung von Seeleneigenschaften voraus, welche innerhalb der gegenwärtigen Lebensverhältnisse äußerst schwer zu erreichen sind. Wenn auch in einschlägigen Schriften mit aller Schärfe und Deutlichkeit solche Seeleneigenschaften immer wieder und wieder betont werden: von dem Grade, in dem man sich dergleichen (zum Beispiel Selbstlosigkeit, hingebungsvolle Liebe usw.) aneignen muss, wenn man zur Erreichung der höheren Welten nicht von dem festen Boden der physischen ausgehen wollte, machen sich doch die meisten Menschen gar keine auch nur einigermaßen hinreichende Vorstellung. Und wenn dann jemand in den höheren Welten erweckt wird ohne den erforderlichen Grad der entsprechenden Seeleneigenschaften, so müsste unsägliches Elend die Folge sein. Nun darf man nicht etwa glauben, dass man beim Ausgehen von der physischen Welt und ihren Erfahrungen der gekennzeichneten Seeleneigenschaften entraten könnte. Solches zu glauben, wäre auch ein folgenschwerer Irrtum. Aber solcher Ausgang gestattet, dass man sich diese Seelen-Eigenschaften in dem Maße und vor allem in der Form aneigne, in denen es in unseren gegenwärtigen Lebensverhältnissen möglich ist.
Und noch etwas kommt dabei in Betracht. Geht man in der angedeuteten Art von der physischen Welt aus, so bleibt man auch trotz seines Aufsteigens in die höheren Welten in einem lebendigen Zusammenhange mit dieser physischen Welt. Man wahrt sich das volle Verständnis für alles, was in ihr vorgeht, und die volle Tatkraft, in ihr zu wirken. Ja, dieses Verständnis und diese Tatkraft wachsen in der förderlichsten Art gerade durch die Erkenntnis der höheren Welten. In jedem Gebiete des Lebens, und wenn es auch noch so prosaisch-praktisch erscheint, wird der Kenner der höheren Welten förderlicher, besser wirken als der Nichtkenner, wenn sich der erstere nur den lebensvollen Zusammenhang mit der physischen Welt bewahrt hat.
Wer aber, ohne von der physischen Welt auszugehen, in den höheren Gebieten des Daseins erweckt wird, der wird allerdings nur zu leicht dem Leben entfremdet; er wird zum Einsiedler, der seiner Mitwelt ohne Verständnis und Anteil gegenübersteht. Ja, es tritt bei unvollständig in dieser Art Ausgebildeten – allerdings nicht bei vollkommen Entwickelten – sogar oft ein, dass sie mit einer gewissen Geringschätzung auf die Erlebnisse der physischen Welt herabsehen, dass sie sich zu vornehm für diese fühlen usw. Statt dass sich ihr Anteil an der Welt erhöhte, werden solche in sich verhärtete, im geistigen Sinne selbstsüchtige Naturen. Die Verführung zu alledem ist nämlich wahrlich nicht gering. Und diejenigen, welche den Aufstieg in die höheren Welten erstreben, sollten wohl gerade darauf achten.
Von der Inspiration kann der geistige Beobachter zur Intuition aufsteigen. In der Ausdrucksart der Geheimwissenschaft bedeutet dieses Wort in vieler Beziehung das genaue Gegenteil von dem, wofür man es im gewöhnlichen Leben oft anwendet. In letzterem spricht man von Intuition, wenn man einen dunkel als wahr gefühlten Einfall im Auge hat, dem an sich die klare, begriffliche Feststellung noch fehlt. Man sieht darinnen mehr eine Vorstufe der Erkenntnis denn eine solche selbst. Solch ein entsprechender «Einfall» mag – nach dieser Begriffsbestimmung – eine große Wahrheit wie in einem Blitzlicht erleuchten; als Erkenntnis kann er erst gelten, wenn er durch begriffliche Urteile begründet wird. Bisweilen bezeichnet man auch als Intuition etwas, was man als Wahrheit «fühlt», wovon man ganz überzeugt ist, was man aber durch Verstandesurteile nicht belasten will. Menschen, an welche die geheimwissenschaftlichen Erkenntnisse herankommen, sagen gar oft: Das war mir «intuitiv» schon immer klar. Von all dem muss ganz abgesehen werden, wenn man den Ausdruck «Intuition» in seiner hier gemeinten wahren Bedeutung ins Auge fassen will. Intuition ist, in dieser Anwendung, nicht eine Erkenntnis, die an Klarheit hinter der Verstandeserkenntis zurückbleibt, sondern welche diese weit überragt.
In der Inspiration sprechen die Erlebnisse der höheren Welten ihre Bedeutung aus. Der Beobachter lebt in den Eigenschaften und Taten der Wesen dieser höheren Welten. Wenn er, wie oben charakterisiert worden ist, mit seinem Ich einer Linienführung oder einer Gestaltform folgt, so weiß er doch, dass er nicht innerhalb des Wesens selbst ist, sondern innerhalb dessen Eigenschaften und Verrichtungen. Schon in der imaginativen Erkenntnis erlebt er es ja, dass er sich zum Beispiel nicht außerhalb, sondern innerhalb der Farbenbilder fühlt; aber er weiß auch ebenso genau, dass diese Farbenbilder nicht in sich selbständige Wesen, sondern Eigenschaften solcher Wesen sind. In der Inspiration wird er sich bewusst, dass er eins wird mit den Taten solcher Wesen, mit den Offenbarungen ihres Willens; erst in der Intuition verschmilzt er mit Wesen, die in sich geschlossen sind, selbst. Im richtigen Sinne kann das nur geschehen, wenn diese Verschmelzung nicht unter Auslöschung, sondern unter völliger Aufrechterhaltung seiner eigenen Wesenheit der Fall ist. Alles «Sich-Verlieren» an ein fremdes Wesen ist vom Übel. Daher kann nur ein Ich, das in sich bis zu einem hohen Grade gefestigt ist, in ein anderes Wesen ohne Schaden untertauchen.
Man hat erst dann etwas intuitiv erfasst, wenn man diesem «Etwas» gegenüber zu der Empfindung gekommen ist: es äußert sich in ihm ein Wesen, das von derselben Art und inneren Geschlossenheit wie das eigene Ich ist. Wer einen Stein mit den Sinnen betrachtet und ihn nach seinen Eigenheiten mit dem Verstande – und den gewöhnlichen wissenschaftlichen Hilfsmitteln – zu begreifen sucht, der lernt nur die Außenseite des Steines kennen. Als geistiger Beobachter schreitet er zu der imaginativen und inspirierten Erkenntnis vor. Lebt er innerhalb der letzteren, so kann er zu einer weiteren Empfindung kommen. Diese Empfindung möchte man durch einen Vergleich in der folgenden Art charakterisieren. Man stelle sich vor, man sehe einen Menschen auf der Straße. Er macht zunächst auf den Beobachter einen flüchtigen Eindruck. Später lernt man ihn näher kennen; und es kommt der Augenblick, in dem man mit ihm so befreundet wird, dass sich Seele der Seele aufschließt. Mit dem Erlebnis, das man durchmacht, wenn so die Hüllen der Seelen fallen und Ich dem Ich gegenübersteht, ist dasjenige zu vergleichen, wenn dem geistigen Beobachter der Stein nur wie eine äußere Offenbarung erscheint und er vorschreitet zu etwas, zu dem der Stein gehört, wie der Fingernagel zum menschlichen Leibe gehört, und das sich auslebt als ein «Ich», wie das eigene Ich eines ist.
Erst in der Intuition ist diejenige Erkenntnisart durch den Menschen erreicht, die ihn ins «Innere» der Wesen führt. Bei Besprechung der Inspiration ist einiges angegeben worden über die Umwandlung, welche die innere Seelenverfassung des geistigen Beobachters erfahren muss, wenn er zu dieser Erkenntnisform gelangen will. Es ist da gesagt worden, dass zum Beispiel ein unrichtiges Urteil nicht bloß zum Verstande sprechen darf, sondern zu der Empfindung, dass es Leid, Schmerz bereiten muss. Und der Beobachter muss solches inneres Erleben systematisch ausbilden. Solange allerdings dieser Schmerz entspringt aus den Sympathien und Antipathien des Ich, aus dessen Parteinahme, so lange kann nicht von einer dadurch zu erlangenden Vorbereitung für die Inspiration gesprochen werden. Solches Berührtwerden des Gemütes ist noch weit, sehr weit von dem inneren Anteil entfernt, den das Ich an der bloßen Wahrheit – als Wahrheit – nehmen muss, wenn es die genannten Ziele erreichen will. Es kann gar nicht scharf genug betont werden, dass eigentlich alle Formen des Interesses, die sich im gewöhnlichen Leben als Lust und Leid gegenüber von Wahrheit und Irrtum ausleben, erst schweigen müssen und dann eine ganz andere Interessenart, die ohne alle Selbstsucht ist, eintreten muss, wenn etwas für die Erkenntnis durch Inspiration geschehen soll. Diese eine Eigenschaft des inneren Seelenlebens ist aber eben nur eines unter den Mitteln zur Vorbereitung für die Inspiration. Es gibt eine unbegrenzte Anzahl anderer, die hinzukommen müssen zu der einen. Und je weiter sich der geistige Beobachter in bezug auf das verfeinert, was ihm schon für die Inspiration gedient hat, desto mehr vermag er sich der Intuition zu nähern. Von der gesetzmäßigen Anweisung, welche die Geheimwissenschaft für die Intuition gibt, wird in weiteren Aufsätzen noch die Rede sein.
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