Mathematik und Okkultismus
Rudolf Steiner. Autoreferat vom Vortrag beim Kongreß der Föderation europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft, Amsterdam, 21. Juni 1904. GA 35.
Bekannt ist, daß die Überschrift des platonischen Lehrsaals jeden von der Teilnahme an der Unterweisung des Meisters ausgeschlossen haben soll, der mit der Mathematik unbekannt war. Wie man auch über die historische Wahrheit dieser Überlieferung denken mag: es liegt ihr ein richtiges Gefühl zugrunde von der Stellung, die Plato der Mathematik innerhalb des Gebietes menschlicher Erkenntnis angewiesen hat. Durch die «Ideenlehre» wollte er seine Schüler anleiten, in der Welt der rein geistigen Urwesen sich durch ihr Erkennen zu bewegen. Er ging davon aus, daß der Mensch von der wahren Welt nichts wissen könne, solange sein Denken durchsetzt ist von dem, was die Sinne liefern. Sinnlichkeitfreies Denken forderte er. In der Ideenwelt bewegt sich der Mensch, wenn er denkt, nachdem er aus diesem seinem Denken alles ausgesondert hat, was die sinnliche Anschauung liefern kann. Es mußte für Plato vor allem die Frage entstehen: Wie befreit sich der Mensch von aller sinnlichen Anschauung?
Als eine bedeutsame Erziehungsfrage des geistigen Lebens stand ihm das vor Augen. Der Mensch kann sich ja nur schwer freimachen von der sinnlichen Anschauung. Selbstprüfung kann das lehren. Auch wenn der im Alltäglichen lebende Mensch sich zurückzieht in sich selbst und keine sinnlichen Eindrücke auf sich wirken läßt, so sind in ihm doch die Überreste des sinnlichen Anschauens vorhanden. Und der noch unentwickelte Mensch steht einfach dem Nichts, der völligen Leerheit des Bewußtseins gegenüber, wenn er von dem Inhalte absieht, der aus der Sinnenwelt in ihn eingeflossen ist. Deshalb behaupten gewisse Philosophen, es gäbe kein sinnlichkeitfreies Denken. Selbst wenn sich der Mensch noch so sehr zurückzöge in das Feld des reinen Denkens, so hätte er es doch nur mit feinen Schattenbildern der sinnlichen Anschauung zu tun. Aber diese Behauptung gilt nur für den unentwickelten Menschen. Sobald der Mensch die Fähigkeit erwirbt, in sich selbst geistige Wahrnehmungsorgane auszubilden, so wie die Natur ihm sinnliche angebildet hat, sobald bleibt sein Denken nicht leer, wenn es den sinnlichen Gehalt von sich aussondert.
Solches sinnlichkeitfreies und doch geistig gehaltvolles Denken forderte Plato von denen, welche seine Ideenlehre verstehen wollten. Und er hatte damit nur etwas gefordert, was zu allen Zeiten diejenigen von ihren Schülern verlangen mußten, welche diese Schüler zu wirklichen Eingeweihten des höheren Wissens machen wollten. Bevor der Mensch nicht in ganzem Umfange in sich das erlebt hat, was Plato fordert, kann er keinen Begriff davon haben, was wirkliche Weisheit ist.
Nun betrachtete Plato das mathematische Anschauen als ein Erziehungsmittel zum Leben in der sinnlichkeitfreien Ideenwelt. Denn die mathematischen Gebilde schweben an der Grenze zwischen der sinnlichen und der rein geistigen Welt. Man denke den «Kreis». Dabei denkt man nicht diesen oder jenen sinnlichen Kreis, den man vielleicht auf dem Papiere entworfen hat, sondern jeden beliebigen Kreis, den man nur je zeichnen oder den man in der Natur antreffen kann. Und so ist es mit allen mathematischen Gebilden. Sie beziehen sich auf das Sinnliche. Aber sie sind durch kein Sinnliches erschöpft. Sie schweben über unzähligen, mannigfaltigen sinnlichen Gebilden. Wenn ich mathematisch denke, denke ich über das Sinnliche, aber ich denke zugleich nicht im Sinnlichen. Nicht der sinnliche Kreis lehrt mich die Gesetze des Kreises, sondern der ideelle Kreis, der nur in meinem Geiste lebt und von dem der sinnliche nur ein Bild ist. Dasselbe könnte mich eben jedes andere sinnliche Bild des Kreises lehren. Das ist das Wesentliche der mathematischen Anschauung, daß mich ein einzelnes sinnliches Gebilde über sich selbst hinausführt, daß es mir nur Gleichnis sein kann für eine umfassende geistige Tatsache. Und dabei bleibt doch wieder die Möglichkeit bestehen, daß ich das Geistige auf diesem Gebiete zu sinnlicher Anschauung bringe. An dem mathematischen Gebilde kann ich auf sinnliche Art übersinnliche Tatsachen kennenlernen. Das war für Plato das Wichtige. Die Idee muß rein geistig angeschaut werden, soll sie in ihrer wahren Wesenheit erkannt werden. Dazu kann man sich erziehen, wenn man im Mathematischen die Vorstufe dazu übt, wenn man sich klarmacht, was man eigentlich an einem mathematischen Gebilde gewinnt.
Lerne an der Mathematik dich freizumachen von den Sinnen, dann kannst du hoffen, zur sinnenfreien Ideen-Erfassung aufzusteigen: das wollte Plato seinem Schüler einprägen.
Und ein Ähnliches verlangten zum Beispiel die Gnostiker. «Die Gnosis ist die Mathesis», sagten sie. Nicht meinten sie damit, daß durch eine mathematische Anschauung das Wesen der Welt zu ergründen sei, sondern nur, daß die in diesem Anschauen zu erzielende Übersinnlichkeit die erste Stufe sei in der geistigen Erziehung des Menschen. Wenn der Mensch dazu gelangt, so von der Sinnlichkeit frei über andere Eigenschaften der Welt zu denken, wie er durch die Mathesis über geometrische Formen und arithmetische Zahlenverhältnisse denken lernt, dann ist er auf dem Wege zur geistigen Erkenntnis. Nicht die Mathesis selbst, wohl aber ein nach dem Muster der Mathesis aufgebautes übersinnliches Wissen erstrebten sie. Und sie sahen in der Mathesis ein Muster oder Vorbild, weil die geometrischen Verhältnisse der Welt die elementarsten, die einfachsten sind, die sich daher der Mensch am leichtesten aneignen kann. Er soll lernen, an den elementaren mathematischen Wahrheiten sinnlichkeitfrei zu werden, damit er es später auch da werden kann, wo die höheren Fragen in Betracht kommen.
Für viele wird damit gewiß eine schwindelerregende Höhe des menschlichen Anschauens angedeutet. Diejenigen, die man als wahre Okkultisten bezeichnen darf, haben aber zu allen Zeiten von ihren Schülern den Mut gefordert, sich diese schwindelerregende Höhe zu ihrem Ziele zu machen. «Lerne über das Wesen der Natur und des geistigen Daseins so frei von jeder sinnlichen Anschauung denken, wie der Mathematiker über den Kreis und seine Gesetze denkt, dann magst du ein Geheimschüler werden.» Das sollte wie mit goldenen Lettern vor jedem stehen, der wirklich die Wahrheit sucht. «Du wirst nie einen Kreis in der Welt antreffen, der dir im Sinnlichen nicht bestätigte, was du im sinnlichkeitfreien mathematischen Anschauen über den Kreis gelernt hast; keine Erfahrung wird je deine übersinnliche Erkenntnis Lügen strafen können. Du erwirbst dir also ein unvergängliches, ein ewiges Wissen, wenn du frei von Sinnlichkeit erkennen lernst.» So ist als ein Erziehungsmittel von Plato, von den gnostischen und von allen Okkultisten die Mathematik gedacht.
Es sollte zu denken geben, was hervorragende Persönlichkeiten über die Beziehung von Mathematik und Naturwissenschaft gesagt haben. Es ist soviel wahre Wissenschaft in dem Naturerkennen, als Mathematik in ihm ist, – hat zum Beispiel Kant und haben gleich ihm viele gesagt. Nichts anderes ist damit angedeutet, als daß durch die mathematische Formulierung des Naturgeschehens über dasselbe ein Wissen gewonnen ist, das über die sinnliche Anschauung hinausreicht, das durch die sinnliche Anschauung zwar zum Ausdruck kommt, das aber im Geiste eingesehen wird. Ich habe die Wirkungsweise einer Maschine erst eingesehen, wenn ich diese Wirkungsweise in mathematischen Formeln zum Ausdruck gebracht habe. Die den Sinnen vorliegenden Prozesse durch solche Formeln auszudrücken, ist das Ideal der Mechanik, der Physik, wird immer mehr auch das Ideal der Chemie. Aber man kann so mathematisch nur ausdrücken, was in Raum und Zeit sich auslebt, was Ausdehnung in diesem Sinne hat. Sobald man in die höheren Welten heraufsteigt, bei denen es sich nicht um Ausdehnung in diesem Sinne handelt, versagt auch die Mathematik in dieser ihrer unmittelbaren Gestalt. Aber es darf nicht versagen die Art der Anschauung, welche der Mathematik zugrunde liegt. Wir müssen die Fähigkeit gewinnen, über das Lebendige, über das Seelische und so weiter so frei, so unabhängig von dem einzelnen beobachtbaren Gebilde zu sprechen, wie wir über den Kreis unabhängig von dem einzelnen auf dem Papiere gezeichneten Kreis sprechen.
So wahr es ist, daß in allem Naturerkennen nur so viel wahres Erkennen ist, als Mathematik in ihm lebt, so wahr ist es, daß auf allen höheren Gebieten nur dann Erkennen erworben werden kann, wenn dieses nach dem Muster des mathematischen Erkennens sich gestaltet.
Nun hat das mathematische Erkennen in der neueren Zeit bedeutsame Fortschritte gemacht. Es hat sich innerhalb desselben ein wichtiger Schritt ins Übersinnliche vollzogen.
Mit der Analyse des Unendlichen, die wir Newton und Leibniz verdanken, ist das geschehen. Dadurch haben wir zu der Mathematik, die man die Euklidische nennt, eine andere hinzu erhalten. Die Euklidische Mathematik bringt nur das in mathematische Formeln, was auf dem Felde des Endlichen darstellbar, konstruierbar ist. Was ich über einen Kreis, über ein Dreieck, was ich über Zahlenbeziehungen im Sinne der Euklidischen Mathematik aussage, ist im Endlichen, in sinnlich überschaubarer Weise zu konstruieren. Das ist nicht mehr möglich bei dem Differential, mit dem uns Newton und Leibniz zu rechnen lehrten.
Das Differential hat noch alle Eigenschaften, die es ermöglichen, mit ihm Rechnungen auszuführen, aber es ist als solches der sinnlichen Anschauung entrückt. Die sinnliche Anschauung wird im Differential erst zum Verschwinden gebracht; und dann haben wir die neue, die sinnlichkeitfreie Grundlage für unsere Rechnung. Das Sinnlich-Anschaubare wird errechnet aus dem, was nicht mehr sinnlich anschaubar ist. So ist das Differential ein Unendlich-Kleines gegenüber dem Endlich-Sinnlichen. Das Endliche ist mathematisch auf etwas von ihm ganz Verschiedenes, auf das wirkliche Unendlich-Kleine zurückgeführt.
Mit der Infinitesimalrechnung stehen wir an einer wichtigen Grenze. Wir werden mathematisch aus dem Sinnlich-Anschaulichen hinausgeführt, und wir bleiben dabei so sehr im Wirklichen, daß wir das Unanschauliche berechnen. Und haben wir gerechnet, dann erweist sich das Anschauliche als das Ergebnis unserer Rechnung aus dem Unanschaulichen heraus. Mit der Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die Naturvorgänge in Mechanik und Physik vollziehen wir in der Tat nichts anderes, als daß wir Sinnliches aus Übersinnlichem errechnen. Wir erfassen das erstere aus seinem übersinnlichen Anfange oder Ursprünge heraus. Für die sinnliche Anschauung ist das Differential ein Punkt oder die Null. Für die geistige Erfassung aber wird der Punkt lebendig, die Null wird zur Ursache. Der Raum selbst wird damit für die geistige Auffassung belebt. Fassen wir ihn sinnlich, so sind seine Punkte, seine unendlich kleinen Teile tot; fassen wir diese Punkte aber als Differentialgrößen, dann kommt innerliches Leben in das tote Nebeneinander. Die Ausdehnung selbst wird zum Erzeugnis des Ausdehnungslosen. So kam durch die Infinitesimalrechnung Leben in die Naturerkenntnis. Das Sinnliche ist bis zu dem Punkte des Übersinnlichen zurückgeführt.
Die Tragweite dessen, was hier gesagt ist, sieht man nicht durch die gebräuchlichen philosophischen Spekulationen über die Natur der Differentialgrößen, sondern vielmehr dadurch ein, daß man durch Selbsterkenntnis sich klarmacht, wie man sich verhält in seiner Geistesarbeit, wenn man vom Unendlich-Kleinen aus das Endliche durch die Infinitesimalrechnung erobert. Man steht da fortwährend vor dem Momente der Entstehung eines Sinnlichen aus einem nicht mehr Sinnlichen. Es ist daher nur erklärlich, daß dieses geistige Leben in übersinnlichen mathematischen Größenverhältnissen für die Mathematiker in neuerer Zeit ein kräftiges Erziehungsmittel geworden ist. Und dem verdanken wir, was Geister wie Gauß, Riemann und in der Gegenwart die deutschen Denker Oskar Simony, Kurt Geissler nebst vielen anderen auf dem Gebiete geleistet haben, das über die gewöhnliche Sinnesanschauung hinausliegt. Mag man im Einzelnen gegen diese Versuche was immer einwenden: daß solche Denker den Raumbegriff über die Dreidimensionalität hinaus erweitert haben, daß sie in Verhältnissen rechnen, die allgemeiner, umfassender sind als der Sinnenraum, das ist ein Ergebnis des durch die Infinitesimalrechnung von der Versinnlichung emanzipierten mathematischen Denkens.
Damit sind wichtige Fingerzeige für den Okkultismus geschaffen. Dem mathematischen Denken verbleibt nämlich auch da, wo es sich über das Sinnlich-Anschaubare hinauswagt, noch die Strenge, noch die Sicherheit echter Gedankenkontrolle. Mögen auch Verirrungen auf diesem Gebiete vorkommen, so verheerend werden sie nie wirken, als wenn die ungeordneten Gedanken des nicht mathematisch Geschulten ins Übersinnliche eindringen. So wenig Plato oder die Gnostiker in der Mathematik etwas anderes als ein Erziehungsmittel gesehen haben, so wenig soll hier von der Mathematik des Unendlich-Kleinen etwas anderes behauptet werden. Aber ein solches Erziehungsmittel für den Okkultisten ist sie. Sie lehrt ihn, strenge gedankliche Selbstzucht dahin mitbringen, wo nicht mehr sinnliche Anschaulichkeit ihm auf Schritt und Tritt verkehrte Gedankenverbindungen kontrolliert. Unabhängig werden von der Sinnlichkeit lehrt die Mathematik; aber sie lehrt dazu zugleich den sichern Pfad, weil ihre Wahrheiten zwar übersinnlich gewonnen sind, aber immer durch sinnliche Mittel bestätigt werden können. Selbst wenn wir mathematisch über einen vierdimensionalen Raum etwas aussagen, so muß die Aussage eine solche sein, daß, wenn wir die vierte Dimension fortlassen und das Ergebnis für drei Dimensionen spezialisieren, unsere Wahrheit der Spezialfall eines allgemeinen Satzes bleibt.
Niemand kann Okkultist werden, der nicht in sich den Übergang von Sinnlichkeit-erfülltem zu Sinnlichkeit-freiem Denken vollziehen kann. Denn dies ist der Übergang, an dem wir die Geburt des «höheren Manas» aus «Kama-Manas» heraus erleben. Dieses Erlebnis forderte Plato von denen, die seine Schüler werden wollten. Aber der Okkultist, der dieses erfahren hat, muß noch ein Höheres erfahren. Er muß auch den Übergang finden von dem Sinnlichkeit-freien Denken in der Form zu dem formlosen Denken. Der Gedanke eines Dreieckes, eines Kreises und so weiter hat noch immer Form, wenn diese Form auch keine unmittelbar sinnliche ist. Erst wenn wir von dem, was in endlicher Form lebt, übergehen zu dem, was noch nicht Form hat, sondern in sich die Möglichkeit der Formerzeugung, dann begreifen wir, was das Arupa-Reich im Gegensatz zu dem Rupa-Reich ist. Und auf dem untersten, elementarsten Felde haben wir in dem Differential vor uns ein Arupa-Wirkliches. Rechnen wir mit dem Differential, so stehen wir immer da, wo das Arupische das Rupische gebiert.
Wir können uns also an der Infinitesimalrechnung zum Begreifen dessen erziehen, was arupisch ist, und welches Verhältnis dieses zum Rupischen hat. Man muß nur mit vollem Bewußtsein einmal eine Differential-Gleichung integrieren, dann verspürt man etwas von der Quellkraft, die an der Grenze des Arupischen gegen das Rupische lebt. Man hat da allerdings zunächst nur ganz im Elementaren erfaßt, was der vorgeschrittene Okkultist für höhere Wesenheiten anzuschauen vermag. Aber man hat ein Mittel, wenigstens einmal eine Andeutung dessen zu sehen, wovon der Mensch, der am Sinnlichen haften bleibt, nicht einmal eine Ahnung gewinnen kann. Für den bloßen Sinnenmenschen müssen ja die Worte des Okkultisten zunächst allen Inhalts entbehren. Ein Wissen, das in Gebieten erworben wird, wo die Eindrücke der Sinnesanschauung fehlen, kann ja am einfachsten verständlich werden da, wo sich der Mensch am allerleichtesten von solcher Anschauung freimacht. Und das ist innerhalb der Mathematik der Fall. Sie ist deshalb die am leichtesten zu überwindende Vorschule für den Okkultisten, der in lichter, heller Klarheit, und nicht in dunkel-gefühlsmäßiger Ekstase, oder in einem träumerischen Ahnen sich zu den höheren Welten erheben will. Der Okkultist und Mystiker lebt im Übersinnlichen in solcher lichtvollen Klarheit wie der Elementar-Geometer innerhalb seiner Gesetze von Dreiecken und Kreisen. Denn wahre Mystik lebt im Lichte, nicht in der Finsternis. –
Leicht kann auch mißverstanden werden, wenn der aus einer Gesinnung, wie die platonische ist, heraus sprechende Okkultist eine Forschung im Sinne des Mathematischen verlangt. Man könnte meinen, er überschätze dieses Mathematische. Das ist nicht der Fall. An einer solchen Überschätzung leiden vielmehr diejenigen, welche nur so weit strenge Erkenntnis zugeben wollen, soweit die Mathematik selbst reicht. Es gibt Naturforscher in der Gegenwart, die jede Behauptung ablehnen als nicht in vollem Sinne wissenschaftlich, die nicht in Zahlen oder Figuren auszudrücken ist. Für sie beginnt da, wo die Mathematik aufhört, der vage Glaube; und alles Recht zu objektiven Erkenntnissen soll da aufhören. Gerade diejenigen, welche sich gegen diese Überschätzung der Mathematik selbst wenden, können erst wahre Schätzer der echten kristallklaren Forschung sein, die im Geiste der Mathematik auch da verfährt, wo Mathematik selbst aufhört. Denn die Mathematik in ihrer unmittelbaren Bedeutung hat es ja nur mit dem Quantitativen zu tun. Wo das Qualitative beginnt, da endet ihr Reich.
Es handelt sich aber darum, auch im Gebiete des Qualitativen in ihrem strengen Sinne zu forschen. Besonders scharf wandte sich in diesem Sinne Goethe gegen eine Überschätzung der Mathematik. Er wollte das Qualitative nicht gefesselt wissen durch eine rein mathematische Behandlungsart. Aber er wollte überall im Geiste des Mathematischen, nach dem Muster und Vorbild des Mathematischen denken.
So sagt er «… selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären. Denn eigentlich ist es die mathematische Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in seiner ganzen Folge dagewesen, in seinem ganzen Umfange übersehen und unter allen Bedingungen richtig und unumstößlich erfunden worden.» Das Qualitative in den Pflanzengestaltungen will Goethe in der Strenge und Klarheit mathematischer Denkweise umfassen.
Wie man mathematische Gleichungen aufstellt, in denen man nur besondere Werte einsetzt, um eine Mannigfaltigkeit von einzelnen Fällen unter eine allgemeine Formel zu fassen, so sucht Goethe nach der Urpflanze, die im Qualitativen und Geistig-Wirklichen ein Umfassendes ist, von dem er 1787 an Herder schreibt: «Ferner muß ich dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann … Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und den Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten.» Das heißt, Goethe sucht die noch ganz formlose Urpflanze und strebt danach, aus ihr die Pflanzenformen zu gewinnen, wie der Mathematiker aus einer Gleichung die besonderen Formen von Linien und Flächen gewinnt. — Und Goethes Denkweise strebte auf diesen Gebieten zum Okkultismus hin. Das weiß, wer ihn näher kennenlernt.
Es kommt darauf an, daß sich der Mensch durch die angedeutete Selbstzucht zum sinnlichkeitfreien Anschauen erhebt. Nur dadurch erschließen sich ihm die Pforten der Mystik und des Okkultismus. Durch die Schulung im Geiste des Mathematischen geht einer der Wege, die zur Läuterung von dem Leben in der Sinnlichkeit führen. Und wie der Mathematiker erst fest im Leben steht, wie er durch seine Schulung Brücken und Tunnels bauen kann, das heißt, die Wirklichkeit quantitativ meistern, so kann nur derjenige das Qualitative verstehen und beherrschen, der es in den Ätherhöhen der sinnlichkeitfreien Anschauung erfaßt hat. Das ist der Okkultist. Wie der Mathematiker die Eisenformen nach mathematischen Gesetzen zu Maschinen formt, so der Okkultist Leben und Seele in der Welt durch die im mathematischen Geiste erfaßten Gesetze dieser Gebiete. Der Mathematiker kehrt zum Leben zurück mit den mathematischen Gesetzen; der Okkultist nicht minder mit den seinen. Und so wenig der Nichtmathematiker verstehen kann, wie der Mathematiker an der Maschine arbeitet, so wenig kann der Nicht-Okkultist die Pläne verstehen, nach denen der Okkultist an den qualitativen Gebilden des Lebens und der Seele arbeitet.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Möchten Sie die freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Wissenschaft und Forschung erhalten?
Dann unterstützen Sie den anthroblog durch eine einmalige oder wiederkehrende Spende!
Oder durch eine Banküberweisung an: Lorenzo Ravagli, GLS Bank Bochum, IBAN: DE18 4306 0967 8212 0494 00 / BIC: GENODEM1GLS.