Hurqalya, die Erde der geistigen Schau

Zuletzt aktualisiert am 22. Juli 2024.

Hurqalya, die Erde der geistigen Schau Fortsetzung von Die achte Klimazone der Erde.

Von der Erde der geistigen Schau berichtet Suhrawardi laut Corbin in einer Traumerzählung. Eines Nachts sei ihm Aristoteles, der »Imam der Philosophen«, der »erste aller Lehrer« erschienen. Diese Begegnung habe in der mystischen Stadt Jabarsa stattgefunden. Das seelische Ereignis, von dem er berichtet, fand also in einer der sagenumwobenen smaragdenen Städte statt. Der erste Rat, den Aristoteles ihm erteilte, lautete: »Erwache zu Dir selbst.«

Dieser Satz bringt die gesamte innere Erfahrung des persischen Theosophen zum Ausdruck: die Erfahrung des aufgehenden Lichtes, des Lichtes in seinem Aufgang. Wenn die Seele zu sich selbst erwacht, dann wird sie selbst zur Morgendämmerung, zur Substanz des aufgehenden Lichtes. Die Erde, auf die sie ihr Licht wirft, ist keine äußerliche Ansammlung von Dingen mehr, die allein der »deskriptiven Wissenschaft« zugänglich ist. In dieser Erde schaut sich die Seele selbst an, ihre absolute Aktivität, die sie durch »unmittelbare Wissenschaft« erkennt, durch jene Erkenntnis des aufgehenden Lichtes, die man als »scientia matutina«, als »Erkenntnis im Morgenlicht«, bezeichnen kann. Der Begriff dieser Erkenntnisform existiert im Iran bis zum heutigen Tag.

Hermes ist der wahre Heros dieser »Erkenntnis im Morgenlicht«. Suhrawardi verweist auf Hermes, um von seiner eigenen Erfahrung zu berichten: »Eines Nachts, als die Sonne schien, betete Hermes im Tempel des Lichtes. Als die Säule der Dämmerung hervorbrach, sah er eine Erde, die mitsamt ihren Städten, auf die der göttliche Zorn gefallen war, verschlungen wurde und im Abgrund versank. Dann rief er aus: ›Du, der Du mein Vater bist, errette mich aus der Gefahr, zusammen mit jenen eingekerkert zu werden, die dem Untergang nahe sind!‹ Und er hörte eine Stimme, die ihm antwortete: ›Ergreif das Seil unserer Erleuchtung und steig empor zu den Schießscharten des Thrones‹. So stieg er empor und unter seinen Füßen, siehe! Erden und Himmel!«

Die Schilderung Suhrawardis beschreibt seinen Aufstieg in einen inneren Himmel, wie man ihn auch aus den Biographien Zarathustras oder Mohammeds kennt. Um solche Aufstiege zu erklären, wurde die Theorie des »Geistleibes« entwickelt.

In der Erzählung ist von unserer Erde die Rede und von den Sinnen, die sie wahrnehmen. Diese stürzen und schwinden in der Dämmerung des Morgens dahin, das heißt, beim ersten Aufdämmern der geistigen Schau. Danach ist von einer Erde und einem Himmel die Rede, die zu Füßen des Hermes liegen. Hermes hat die Erde von Hurqalya betreten, was bedeutet, dass er alle Himmel der sichtbaren Welt, den geographischen Westen der irdischen Welt, hinter sich gelassen hat. Dann ist von einem Zusammenfallen zweier Ereignisse die Rede: dem Anbruch der Dämmerung und dem Erwachen zum eigenen Selbst. Die Sonne, unter der Hermes nächtens betet, ist seine Seele, welche die Gegebenheiten der äußeren Sinne hinter sich lässt, und wenn diese Seele zu sich selbst erwacht, wird sie zur Sonne, die um Mitternacht scheint, zur »aurora borealis« des Geistes. Aber der Augenblick der Dämmerung ist ein Augenblick höchster Gefahr, daher ruft Hermes um Hilfe: er wendet sich dem himmlischen Ich zu, aus dem er stammt und zu dem er einst zurückkehrt. Dieses himmlische Ich ist die »vollendete Natur«, das archetypische Ich oder der Schutzengel des Philosophen (Fravarti), der Engel der Menschheit, die wirkende Intelligenz der Erde, der Erzengel Gabriel oder der Heilige Geist, aus dem die Menschenseelen hervorgehen. Die anbrechende Dämmerung, das Erwachen zu sich selbst, der Eintritt in die Erde von Hurqalya, die Begegnung mit dem himmlischen anderen Selbst, all dies bezeichnet ein und denselben Vorgang – die Wandlung der Seele, ihre Geburt in die mittlere Welt der Imagination.

Wie lässt sich diese Schilderung begrifflich oder bewusstseinstheoretisch interpretieren? Den persischen Theosophen war klar, dass die Formen und Gestalten der imaginativen Welt nicht wie die empirischen Realitäten der physischen Welt existieren, weil sie dann von jedermann hätten wahrgenommen werden können. Ihnen war ebenfalls klar, dass sie nicht der rein geistigen Welt angehörten, da sie Ausdehnung und eine Form von Stofflichkeit besaßen, die im Vergleich zur sinnlichen Welt zwar »unstofflich« war, aber nichtsdestotrotz stofflich und gestalthaft. Aus demselben Grund konnten die imaginativen Gestalten nicht allein aus der Substanz der menschlichen Gedanken bestehen. Schließlich gehörten sie nicht dem Irrealen, der Leere an, weil sie sonst nicht wahrnehmbar gewesen wären oder es überhaupt keine Kenntnis von ihnen gegeben hätte. Aus diesem Grund schien die Existenz einer mittleren Welt metaphysisch notwendig. Von ihrer Existenz hing vieles ab: die Gültigkeit visionärer Erzählungen, der Wert von Träumen, von Erscheinungen des Heiligen und symbolischen Ritualen, die Realität von Orten, die durch intensive Meditation geschaffen wurden, die Realität inspirierter imaginativer Visionen, kosmogonische und theogonische Berichte, die Authentizität der spirituellen Schriftdeutung, die imaginative Daten prophetischer Offenbarung einbezog und so fort – kurz alles, was die Ordnung der gewöhnlichen empirischen Erfahrung überstieg und in einer persönlichen Schau individualisiert wurde, die nicht durch Hinweis auf sinnliche Erfahrungen oder rationale Argumente bewiesen werden konnte.

So sahen sich die Theosophen genötigt, eine Form von Realität zu postulieren, die sie als »Sein im Schwebezustand« bezeichneten, eine Form des Seins, bei der ein Bild oder eine Form, die aus ihrem eigenen Stoff bestehen, unabhängig von einem Substrat existieren können. Man stelle sich die Form einer Statue ohne den Stoff vor, in dem sie erscheint. Es ist genau jene Existenzform, die den Bildern eignet, die in einem Spiegel erscheinen: auch sie sind Erscheinungen von etwas, das nicht der Substanz inhäriert, in der oder an der es erscheint. Diese Beobachtung wurde in einer Lehre von epiphanen Orten und Formen verallgemeinert, die eines der Merkmale der orientalischen Theosophie Suhrawardis ist. Die aktive Imagination ist der Spiegel schlechthin, der epiphane Ort der Bilder der archetypischen Welt. Daher sind ihre Wahrnehmungen ebenso real wie die Wahrnehmungen der körperlichen Sinne.

Ja, sie sind sogar realer als diese. Denn die Bilder der sinnlichen Dinge, die in der aktiven Imagination erscheinen, kündigen die spirituelle Transformation dieser Dinge an. Personen, Formen, Landschaften, Pflanzen und Tiere, die von der aktiven Imagination verwandelt werden, gehorchen nicht mehr den Gesetzen der Undurchdringlichkeit oder den Bedingungen der Wahrnehmung in der sinnlichen Welt. In Hurqalya war es Pythagoras möglich, die Harmonie der Sphären, die kosmische Musik, zu hören, denn er befand sich außerhalb seines Körpers und seiner leiblichen Sinnesorgane. Man muss daher annehmen, dass es Töne gibt, die durch die aktive Imagination wahrnehmbar sind, ohne dass sie der Schwingungen der Luft bedürften. Sie sind die Urbilder der Töne. Kurz, es gibt ein ganzes Universum von Korrespondenzen in dieser imaginativen Version der physischen Welt (mit Gestalt, Farbe, Ausdehnung, Duft, Klang), das nicht den Gesetzen der Physik unterliegt, oder das vielmehr die Integration der Physik in eine seelisch-geistige Aktivität voraussetzt, ihre Vereinigung in einer mittleren Welt, die jenseits des Dualismus von Geist und Materie, Sinneswahrnehmung und Denken liegt.

Wenn unser Sehen sich auf eine Ebene erhebt, auf der alles Physische in urbildlicher Gestalt erscheint, so, dass mit dieser Gestalt zugleich die seelische Aktivität erscheint, die es hervorbringt, dann bewegt sie sich auf der Erde von Hurqalya. Hurqalya ist die Erde der Seele, weil sie die Schau der Seele ist. Dinge in Hurqalya zu sehen heißt, sie als Ereignisse der Seele zu sehen, nicht als von dieser unabhängige, äußere Gegebenheiten, die losgelöst von ihr eine Bedeutung besäßen, wie der Positivismus uns glauben machen will. Die Dinge haben unabhängig von der Seele, der sie erscheinen, keinerlei Bedeutung. In Wahrheit existieren sie gar nicht ohne die Seele, der sie erscheinen.

Eine weitere Erläuterung zum Verständnis von Hurqalya liefert Scheich Sarkar Agha. Er meint, man müsse bereits auf dieser Erde ein Bewohner von Hurqalya werden. Diese Aufforderung hängt mit der Erwartung des zwölften Imam zusammen. Wie bereits erwähnt, ist das Erscheinen dieses Imam kein äußeres Ereignis in der geschichtlichen Zeit, zumindest nicht nach der mystischen Interpretation, sondern ein Ereignis, das sich hier und jetzt in den Seelen des Menschen abspielt. Die Epiphanie des Imam findet laut Sarkar Agha in jenem Augenblick statt, in dem die Seele ihre Augen öffnet. Von diesem Augenblick an ist der Imam in Hurqalya der Gegenstand ihrer Kontemplation. Das ist mit dem Aufgang der Sonne im Westen gemeint, bei dem die empirischen Evidenzen der materiellen Erde in sich zusammenbrechen. Nur wenn man Hurqalya gesehen »und diese sichtbare Erde überstiegen hat«, so der Scheich weiter, »wird man das Urbild des eigenen Imam sehen, dessen Licht die irdische Welt und alles erleuchtet, was sich zwischen Jabalqa und Jabarsa befindet«.

Diese eschatologische Deutung der Imam-Erwartung wirft ein Licht auf die Aussage, die ganze Geschichte werde in Hurqalya gesehen. Die Ereignisse dieser Geschichte verwandeln sich im Lichte Hurqalyas aus Fakten in Visionen. Andererseits erscheint alles, was wir als Tatsache der Geschichte betrachten, nicht in Hurqalya und ist deswegen ohne Bedeutung für die Religion. Die Hinorientierung der sinnlichen Erde auf die Erde von Hurqalya verleiht der irdischen Existenz eine polare Dimension, gibt ihr eine vertikale Ausrichtung auf den Aufstieg, nicht eine horizontale auf die Evolution. Die Vergangenheit liegt nicht hinter uns, sondern unter unseren Füßen. An diesem Ort beginnen unsere wissenschaftlichen ebenso wie unsere alltäglichen Überzeugungen im Treibsand zu versinken. Während diese Überzeugungen nach historischen Fakten verlangen, erhalten wir Visionen. Manche apokryphen Schriften werfen ein Licht auf dieses Problem. Man mag sie als doketisch bezeichnen, aber der Osten war immer in diesem Sinne doketisch, denn Doketismus ist laut Corbin nichts anderes, als eine »theosophische Kritik der Erkenntnis«, eine Phänomenologie der geistigen Formen.

Die oben angedeutete Form der Physik, die zugleich Ausdruck und Folge einer seelisch-geistigen Aktivität ist, macht auch eine Physik und Physiologie der Auferstehung möglich. Nicht aus den Elementen der physischen Erde, sondern aus den Elementen der Erde der smaragdenen Städte wird der Geistleib des Menschen aufgebaut.  Als Erde der geistigen Schau ist die Erde von Hurqalya die Erde der Auferstehung. Wie dies zu verstehen ist, lehrt Scheich Ahmad Ahsa’i.

Fortsetzung:

Hurqalya, die Erde der Auferstehung


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