Wissenschaft und Esoterik VI – Universalistischer Katholizismus

Zuletzt aktualisiert am 11. Dezember 2015.

7. Universalistischer Katholizismus: Agostino Steuco

Steuco veröffentlichte 1540 sein Buch »De perenni philosophia«, in dem er den Versuch unternahm, die Summe der alten Weisheit als katholische Wahrheit zu erweisen.

Sein ganzes Leben stand er im Dienst der Kirche. 1538 wurde er zum Bibliothekar des Vatikans ernannt. Er nahm am Konzil von Trient teil und starb 1548. In seiner Jugend scheint er den Diskurs über alte Weisheit abgelehnt zu haben, aber in seinem späten Hauptwerk entwickelte er eine Idee der »philosophia perennis«, die extrem inklusiv war und gleichzeitig orthodox in ihrer Ablehnung kabbalistischer und magisch-symbolischer Methoden der Interpretation. Seine Auffassung von »philosophia perennis« war denkbar konservativ.

Für ihn ging es nicht darum, eine alte Weisheit zu erneuern, die verloren gegangen war. Vielmehr war er der Überzeugung, sie sei immer zugänglich gewesen und die Kirche ihre rechtmäßige Besitzerin.

Steucos Idee der »philosophia perennis« ist merkwürdig unbestimmt. Ob die Menschheit in der Erleuchtung durch die ewige Wahrheit vorangeschritten ist, oder ob sie diese Erleuchtung besessen, dann verloren und in Christus wieder erlangt hat, ist seinen Äußerungen nicht zu entnehmen. Er interessiert sich nicht für Fragen der Priorität oder Sukzession, nicht für die Genealogie des Wissens, sondern nur dafür, zu zeigen, dass die Eine Wahrheit immer bestanden hat und jenen, die sie suchten, immer zugänglich war. Am vollkommensten aber wird sie aus seiner Sicht durch die katholische Kirche repräsentiert. Da die Lehre der katholischen Kirche, die auf den Evangelien und allein auf diesen fußt, die vollkommenste Erscheinungsform der »philosophia perennis« ist, muss alles an ihr gemessen werden. Von den Heiden kann man deshalb nichts lernen, vielmehr müssen sie durch die Kirche über die wahre Bedeutung ihrer eigenen Philosophie belehrt werden. Was Christen aus den heidnischen Quellen entnehmen können, sind keine neue Wahrheiten, sondern allein die Erkenntnis, dass der Logos zu allen Zeiten unter allen Völkern gewirkt hat. Ist erst einmal klar, dass der Katholizismus die etwaigen heidnischen Wahrheiten in ihrer vollendetsten Form bereits enthält, kann die Autorität der Kirche nicht mehr bezweifelt werden.

Die protestantischen antiapologetischen Autoren, die sich ab dem 17. Jahrhundert gegen das »platonisch-hermetische Christentum« wandten, drehten das Argument Steucos um: während er die katholische Wahrheit als geheimen Kern des Heidentums zu erweisen suchte, behaupteten sie, das Heidentum sei der geheime Kern des Katholizismus. Aus dieser Sicht waren die platonische und kabbalistische Philosophie Ficinos und Mirandolas nur eine besonders extreme Erscheinungsform jenes Heidentums, das sich im Katholizismus seit Justinus Martyr und den auf ihn folgenden Apologeten verbarg.

Was ist der Ertrag dieses ersten Kapitels von Hanegraaffs Untersuchung? Die Renaissance-Erzählung von der alten Weisheit formte die komplexe Grundlage für die abendländische Esoterik. Die abendländische Esoterik gründet also letztlich in einer geschichtlichen Idee, einer Idee der Geistes- oder Ideengeschichte. Damit formuliert Hanegraaff eine neue Definition von westlicher Esoterik, die sich von der anderer Autoren unterscheidet. Sie ist weder eine klar abgrenzbare philosophische oder religiöse Weltsicht (Goodrick-Clarke), noch ein spezifischer Erkenntnisweg (Stuckrad), noch eine Form des Denkens (Faivre). Dennoch spielten all diese Motive eine zentrale Rolle: Korrespondenzen, lebendige Natur, Imagination, Mediation, Transmutation – (Faivres Kategorien), Gnosis oder höhere Erkenntnis (Stuckrad, Versluis), ebenso Geheimhaltung und Verschleierung.

Aber entscheidend ist für Hanegraaff der geschichtliche (historiographische) Gedanke. Und gerade diese Interpretation hat weitreichende Konsequenzen. Denn auch wenn die Urintuition der westlichen Esoterik geschichtlich war, wurde sie doch – laut Hanegraaff – mit untauglichen Mitteln entfaltet, ohne historisch-kritisches Bewusstsein, vielmehr auf der Grundlage theologischer und metaphysischer Paradigmen. Daher gestaltete sich diese eigentlich historische Intuition auch nicht als eine Geschichte der Entwicklung menschlicher Meinungen aus, sondern als große Erzählung von der Geschichte der Wahrheit.

Aber ebendies war auch der fundamentale Widerspruch, an dem sie letztlich zugrunde ging. Denn absolute Wahrheit kann sich nicht ändern oder in der Zeit entwickeln und gleichzeitig absolut bleiben. Mit anderen Worten: die große Erzählung der Renaissance gründete in einem ahistorischen Zugang zu einem historischen Problem. Das lässt sich allerdings erst rückblickend erkennen, und entsprang nicht bewusster Absicht. Die Renaissance-Platoniker waren historische Enthusiasten mit großen philosophischen Ideen, aber schlechte Historiker. Sie waren Pioniere der Geschichte des menschlichen Denkens, die an ihren unausgereiften Methoden scheiterten. Erst später, ab dem 18. Jahrhundert, sollte die große Erzählung von der alten Weisheit zum Thema von Autoren mit einem ausdrücklich antihistorischen Programm werden.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde die Geschichte der Wahrheit von der »Wahrheit der Geschichte« eingeholt, als die Philologie ihre kritischen Methoden entwickelte, die alle Gründungsmythen der Renaissance-Esoterik zu Fall brachten: die »hermetische Tradition« durch den Nachweis, dass deren Grundtexte nicht von Hermes Trismegistos stammten, die platonische Tradition durch die Einsicht, dass Platos Philosophie nicht mit ihren neuplatonischen Interprationen identisch war.

Frances Yates hatte laut Hanegraaff Recht, wenn sie behauptete, dass die Philologie die Fundamente der großen Erzählung von der alten Weisheit zerstörte und sie intellektuell diskreditierte. Aber wissenschaftliche Argumente, so Hanegraaff, haben selten Konsequenzen für das reale Leben der Religionen. Denn, wie der Anthropologe Evans-Pritchard feststellt, richten sich Menschen in ihrem Leben nicht primär an wissenschaftlichen Argumenten, sondern an Gefühlen und Werten aus, die ihr Weltbild in einem weit größeren Maß bestimmen, als die wissenschaftliche Rationalität. Es sollte daher nicht überraschen, dass die große Erzählung von der alten Weisheit bis in die Gegenwart überlebt hat und nach wie vor eine große Faszination ausübt.

Aber Hanegraaff deutet noch auf eine zweite Konsequenz. Die Zerstörung der großen Erzählung von der alten Weisheit durch die Philologie stand in einem größeren (geistesgeschichtlichen) Kontext – sie war selbst Teil eines ganzen Komplexes religiöser Narrative, deren grundlegende »Gefühle und Werte« eine scharfe Zurückweisung des Heidentums und eine Kritik seiner historischen Verbindung mit dem Katholizismus verlangten. Diese religiösen Narrative der Kritik zu untersuchen, ist Aufgabe des zweiten Kapitels von Hanegraaffs Buch.

Fortsetzung: Gegen die Heiden

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