Die Wiedervereinigung der Christentümer und der Heilige Geist. Theosophie VIII

Zuletzt aktualisiert am 12. Dezember 2015.

Die Wiedervereinigung der getrennten Christentümer, die Wiedervereinigung der Religionen, hält Versluis weder für möglich, noch für wünschenswert. Wenn, dann kann sie sich nicht im Äußeren, sondern nur im Inneren, auf einer esoterischen Ebene, in jedem Einzelnen vollziehen. Der Theosophie geht es nicht um die äußere Wiedervereinigung, sondern um die innere Umwandlung und Erneuerung. Die Gesellschaft, die ihr vorschwebt, ist eine aus dem Inneren jedes einzelnen Menschen durch den Heiligen Geist erneuerte Gemeinschaft.

Auf diesem inneren Schauplatz allein eröffnet sich die Einsicht in die esoterische Einheit auch der christlichen Konfessionen. Theosophen aus unterschiedlichen Bekenntnissen haben sich in ihrem Ringen um eine Erneuerung des Christentums aus innerer Erfahrung zusammengefunden und sich gegenseitig befruchtet. Und sie haben auch Wahrheiten aus anderen, nicht-christlichen Weisheitsströmungen aufgenommen. Jakob Böhme etwa schöpfte alchemistische Elemente aus der paracelsischen Hermetik, die Hermetik entstand lange vor der christlichen Ära. Gerade die von Konfessionen unabhängige Natur der Hermetik ließ es zu, dass sie von den unterschiedlichsten religiösen Strömungen aufgegriffen wurde. Dies liegt daran, dass sie kosmologische Einsichten enthält, die die Religionen erweitern und nicht mit ihnen im Widerspruch stehen. So wurden laut Böhme die Menschen in Güte und Mitleid erschaffen, durch den Sündenfall entstand in ihnen der Widerstreit zwischen dem Reich des Zorns und dem Reich der Liebe. Wer in seinem Erdenleben vom Zorn beherrscht wird, lebt auch nach seinem Tode in diesem Reich – der Hölle – weiter. Böhme leugnet damit keineswegs die objektive Realität der Hölle, sondern schließt eine Offenbarungslehre mit Hilfe der menschlichen Imagination auf. Wer den Menschen als Mikrokosmos betrachtet, der im Inneren findet, was im Äußeren wirkt, reduziert dadurch nicht das Äußere auf das Innere.

Unter Mystikern unterschiedlichster Herkunft gibt es bemerkenswerte Übereinstimmungen, nicht, weil sie einander historisch beeinflußt hätten, sondern weil sie – so Versluis – aufgrund vergleichbarer Erfahrungen zu vergleichbaren Ansichten gelangten. Insofern kann man von universellen mystischen Wahrheiten sprechen. Eine dieser Wahrheiten betrifft den Menschen und sein Verhältnis zu Gott. Der Mensch ist von Gott geschaffen, um ihn zu erkennen. Dies tut er im Gebet und in der Andacht. Obwohl Gott in seinem tiefsten Grunde für den Menschen nicht ergründbar ist, da seine überwesentliche Wesensfülle mit Begriffen nicht ausgedrückt werden kann, sollte er sich ihm doch mit seinem ganzen Wesen – auch fühlend und wollend – zuwenden.

Der Mensch ist von allen Lebewesen das einzige, das imstande ist, zu beten und Erde und Himmel miteinander zu verbinden. (Genauer betrachtet, sind sie für alle anderen Kreaturen gar nicht getrennt). Dies ist auch der Sinn der Lehre von der Inkarnation, mit der die »Erlösung« – die Wiedervereinigung von Himmel und Erde – verbunden ist.

Sehr schön bringen dies Sätze des Heiligen Patrick zum Ausdruck: »Unser Gott ist der Gott aller Menschen, der Gott der Himmel und der Erde, des Meeres und der Flüsse, der Sonne, des Mondes und der Sterne, der erhabenen Berge und tiefen Täler, der Gott über den Himmeln, in den Himmeln und unter dem Himmel. Seine Wohnung ist überall, im Himmel und auf Erden, im Meer und allem was es belebt. Er erfüllt alles mit seinem Geist, belebt alles, beherrscht alles und erhält alles im Dasein.«

Die Menschheit ist geschaffen, um diese Wahrheit auf Erden zu erkennen und die Erkenntnis dieser Wahrheit ist die Erlösung, die spirituelle Befreiung der Natur, das Geheimnis der Inkarnation, der göttlichen, wie der menschlichen. Spirituelle Wahrheiten können nicht erklügelt werden. Als bloße Informationen sind sie wertlos. Man muss sie erfahren. Dies meint auch Meister Eckhart, wenn er sagt, dass die Seligkeit nicht darin bestehe, zu wissen, dass man Gott erkenne. Vielmehr trete der Zustand der Seligkeit ein, wenn sich die ganze Seele Gott zuwende, wenn sie ihr ganzes Sein und Leben aus dem göttlichen Ungrund empfange, wenn sie weder wisse, dass sie wisse, noch dass sie liebe oder sonst etwas tue.

Auch Jakob Böhme spricht von der Unfähigkeit der natürlichen Vernunft, das übernatürliche Wesen Gottes zu erfassen. Und Maximus der Bekenner schreibt aus der Sicht der östlichen Orthodoxie, erst wenn sich der Intellekt von allem befreit habe, was geschaffen sei und sich Gott als Opfer darbringe, dann vereinige sich der Mensch mit Gott, verschmelze durch den Heiligen Geist mit ihm und bekleide sich mit dem Bilde des Himmels. Immer wieder kommt das östliche Christentum darauf zurück, »dass Gott Mensch wurde, damit der Mensch vergöttlicht werde«. Diese Anschauung hält Versluis für zentral in allen christlichen Mystiken. Nicht um das niedere Selbst gehe es dabei, sondern um das höhere, oder eben, um die Umwandlung des niederen, mit Leidenschaften und Begierden behafteten, in das höhere Selbst, um das »Seelenfünklein«, den göttlichen Funken, den jedes menschliche Wesen in sich trage, möge er auch noch so tief vergraben sein unter den Wolken der Leidenschaften. Nicht indem er wie Luzifer sich selbst erhöht, vergöttlicht sich der Mensch, sondern indem er sich selbst verneint und der erleuchtenden und erwärmenden Gnade Einlaß in sein Herz und seinen Geist gewährt.

Diese Grundüberzeugung findet man in der christlichen Mystik, gleich welcher Konfession: der Einzelne soll sein Leben ordnen, nach innen gehen, und die vergöttlichende Gnade erfahren. Was für das Leben des Einzelnen gilt, gilt auch für die Gemeinschaft der Menschen, für ihre soziale Verbindung. So wie der Einzelne das königliche Element in sich zur Herrschaft bringen soll, soll es auch in der Gemeinschaft herrschen.

Daher kann das theosophische Ideal einer Gesellschaft auch nicht mit irgendeiner Form des Totalitarismus in Zusammenhang gebracht werden, denn im Totalitarismus setzt sich der Mensch an die Stelle Gottes.

Versluis unterscheidet im Sinne der Theosophie zwei Arten von Staaten: solche, in denen die Ordnung von innen kommt, und solche, in denen sie von außen kommt. Die erste ist theokratisch: die Quelle ihrer Dauer ist übermenschlich, geistig; die zweite ist totalitär, eine »Parodie« der Theokratie – sie wird durch unmenschliche Gewalt zusammen gehalten. Theokratien findet man am Anfang der Geschichte: sie selbst haben häufig Prophetien hervorgebracht, in denen vom Ende der Geschichte, vom Erscheinen des Antichristen, des Pervertierers der rechtmäßigen Ordnung die Rede ist. Versluis sieht in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts solche Perversionen.

Theokratien kommen in der heutigen Welt nur noch in herabgesunkener Form vor, wie in der islamischen Welt, wo sie mit Gewalt und Unterdrückung verbunden sind, oder sie werden von anderen Regimen zerstört, wie Tibet. Zu früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte gab es vollkommenere Formen der Theokratie. So wie der spirituelle Mensch ist auch der spirituelle Staat an einer zentralen religiösen Achse ausgerichtet, deren Licht alle Erscheinungen seines Lebens durchdringt. Diese Achse manifestiert sich im Priestertum und im Königtum. Die geistige Autorität strahlt vom Priestertum aus, das die Verbindung zur göttlichen Welt pflegt, das Königtum empfängt seine Autorität über die weltlichen Dinge aus dieser Quelle. Das Königtum hat die spirituelle Praxis der Priesterschaft zu sichern, ohne die es keine Existenzberechtigung hätte. Ein theokratisches Königreich dient, so Versluis, allein dem Zweck, Heilige zu erschaffen.

In der Moderne tendiert jedoch die theokratische Ordnung zur Despotie und die Religion zum Fanatismus. Die Moderne hat die Mittel hervorgebracht, um eine Massengesellschaft mit einer säkularen Staatsreligion zu schaffen, die mit Hilfe der Technologie manipuliert und beherrscht wird. In einer solchen Despotie ginge es vermutlich den Anhängern traditioneller Religionen am schlechtesten. Am mittelalterlichen Europa oder Byzanz läßt sich ablesen, wie eine authentische christliche Gesellschaft funktionierte. Zwar sehen wir in ihnen heute auch destruktive Elemente wirken, wie die Inquisition oder die Korruption des Papsttums, dennoch besaßen diese Gesellschaften eine Art von Stabilität, die unseren modernen Gesellschaften fremd ist. Beherrscht vom Interesse am geistigen Wohlergehen förderten sie das religiöse Leben und waren sowohl gegenüber der Natur als auch gegenüber dem Menschen weniger destruktiv als die meisten modernen Gesellschaften.

Die Vorstellungen der Theosophen waren allerdings weitaus radikaler, als die mancher Konservativer, die sich ins Mittelalter zurücksehnen. Denn sie waren der Auffassung, das Reich Gottes sei auf Erden vorhanden, die Menschen sähen es nur nicht. Jeder müsse Christus nachleben und dies sei der einzige Weg, um des Himmels auf Erden gewahr zu werden. Dazu reicht ein Appell an das Gewissen, wie ihn der Protestantismus bevorzugt, nicht aus. Die theosophische Botschaft ist die des Heiligen Geistes. Und dieser Heilige Geist will auf mystischem Wege erfahren werden. Nur indem er die Einzelnen vergöttlicht, vergöttlicht sich durch ihr Zusammenwirken die Gemeinschaft. Daher sollten sich die spirituellen Menschen laut Böhme auch nicht um die Laster der anderen sorgen, sondern um ihr eigenes spirituelles Leben. Denn nicht darauf komme es an, ob wir andere von unseren Ansichten überzeugen können, sondern darauf, wie sehr es uns gelinge, selbst ein spirituelles Leben zu führen. Je mehr der Einzelne zu einem Werkzeug der Liebe und Gnade wird, um so mehr vermag er im Sinne von Liebe und Gnade zu wirken. So versteht die orthodoxe Kirche Ritual und spirituelle Praxis: sie strahlen auf das Land und die Menschen aus, die es bewohnen. So sieht auch die griechische Mythologie die Bedeutung des hymnischen Gesangs, der in der Sage von Orpheus die Steine und die Götter erweicht. Die Theosophen glaubten an die geistige Kraft der Einzelnen und daran, dass der Himmel wiegt und nicht zählt.

Versluis ist der Überzeugung, dass die »relative Harmonie« alter Zivilisationen mit der Präsenz und dem Wirken von Menschen zusammenhing, die dem Göttlichen zugewandt waren und ihr Leben in dessen Dienst stellten. Und möglicherweise hängt die Tatsache, dass unsere Welt bis heute existiert, mit der Existenz solcher Menschen zusammen.

Die Theosophie jedenfalls glaubt an die Existenz solcher Gerechten und strebt an, die vollkommene Gemeinschaft auf Erden zu realisieren, deren Voraussetzung die Verwirklichung von Christi Vorbild durch jeden einzelnen Menschen ist. Nach dessen Vorbild zu leben, bedeute, dem Materialismus zu entsagen und sich der himmlischen Welt zuzuwenden. So verstand sich auch die Gemeinschaft der Philadelphier – nach der Gemeinde in der Offenbarung Johannis – als wahre Gemeinde Christi, die sich der freien Gnadengabe Gottes in einer Zeit der Finsternis zuwandte. Dies zeichnet Theosophen aus: sie sind überzeugt davon, dass die Welt durch den Heiligen Geist bereits verwandelt ist, dass die Menschen aber versäumt haben, dies zu erkennen.

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