Wissenschaft und Esoterik XXII – Magnetische Geschichte

Zuletzt aktualisiert am 23. Juli 2024.

Wissenschaft und Esoterik XXII – Magnetische Geschichte

Philipp Otto Runge: Der Morgen

Seit der Renaissance hat Europa gewaltige Umwälzungen erlebt. All diese Umwälzungen wurden durch Menschen herbeigeführt, die sich von ihren Traditionen abwandten und den Mut hatten, von Grund auf neue Unternehmungen in Angriff zu nehmen. Diese Beobachtung gibt Hanegraaff Gelegenheit, sich über das Verhältnis von Tradition und Innovation in der Esoterik auszulassen. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil, diese sei statisch und resistent gegen Veränderungen, haben die verschiedenen esoterischen Disziplinen im Lauf der Geschichte eine Fülle von Entwicklungen und Innovationen erlebt, was ja auch die bisherige Untersuchung gezeigt hat. Dennoch: die Vertreter des platonischen Paradigmas sahen sich nicht als Erfinder von etwas Neuem, sondern wollten zur alten Weisheit zurück, zu einer universellen Tradition, den vergessenen Geheimnissen und der verlorenen Einheit. Und auch die mehr prozessorientierten Alchemisten verstanden alle Prozesse als organisches Wachstum, als Aufgehen von Keimen, nicht als Eintritt eines unvorhersehbar Neuen.

Das gilt jedoch laut Hanegraaff für unsere moderne Kultur. Die heutigen säkularisierten demokratischen Massengesellschaften können nicht als Erneuerung von etwas Altem, ja nicht einmal als Weiterentwicklung gedacht werden. Sie stellen einen Bruch mit allem bisher Dagewesenen dar. Entsprechend ist auch unsere Vorstellung der Geschichte nicht zyklisch, sondern linear, in die Zukunft gerichtet, und wir verstehen sie als irreversiblen Prozess mit offenem Ende (in Wahrheit, so müssen wir Hanegraaff hier berichtigen, müsste sie nach dieser Deutung der Moderne diskontinuierlich, sprunghaft sein). Auch wenn wir der Entwicklung der Moderne kritisch gegenüberstehen, so Hanegraaff, zweifeln wir doch nicht daran, dass die Kultur und Gesellschaft vorangeschritten ist zu etwas, was vorher nie existierte und dass sie weiter in eine ungewisse, unvorhersagbare Zukunft voranschreiten wird.

Eine solche Weltsicht kann wegen der Freiheit, die sie impliziert, inspirieren. Sie kann aber auch beunruhigen und Angst hervorrufen. Wenn wir nicht wissen woher wir kommen und wohin wir gehen, ja ob wir überhaupt irgendwohin gehen, scheint die Geschichte sinn- und bedeutungslos, sie beginnt und endet im Nirgendwo und der Mensch ist darin ebenso bedeutunglos. Viele Denker haben laut Hanegraaff versucht, diesen nihilistischen Konsequenzen zu entkommen. Zu ihnen gehören auch die Wissenschaftler und Akademiker, mit denen sich der vierte Teil seines Buches auseinandersetzt, die sich von esoterischen Traditionen inspirieren ließen, um der nihilistischen Tendenz der Moderne ein alternatives Bild der Welt und der Geschichte entgegenzusetzen. Ihre Entwürfe sind für die Entstehung der wissenschaftlichen Esoterikforschung von großer Bedeutung.

Die neuen Sichtweisen, welche die betreffenden Denker entwickelten, waren bestechend, manchmal von beflügelnder Kreativität, aber sie sind als Grundlage für die wissenschaftliche Erforschung der Esoterik nach Hanegraaffs Auffassung leider völlig ungeeignet. Um diese Behauptung zu begründen, wirft er den Blick noch einmal ins 19. Jahrhundert zurück.

Magnetische Geschichte: Romantischer Mesmerismus und Evolutionismus

Die Vorgeschichte der Antinihilisten beginnt mit Franz Anton Mesmer und dem »animalischen Magnetismus«. Dieser ging von der Existenz einer den Kosmos und alle Lebewesen durchdringenden Lebenskraft aus. Krankheiten waren Blockaden im Fluss dieser Lebenskraft und konnten durch bestimmte Techniken wie Handauflegen beseitigt werden. Bei Mesmer durchliefen die Patienten eine dramatische Krise während des Heilungsprozesses, aber sein Schüler, der Marquis de Puységur, entwickelte eine Methode, die die Patienten in Trance versetzte: die Hypnose, die zunächst unter dem Namen künstlicher Somnambulismus bekannt wurde. Die von Mesmer und seinen Nachfolgern entwickelten Techniken und Weltdeutungen stießen eine ganze Reihe von Bewegungen an, die im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden: vom Spiritismus und Okkultismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum amerikanischen »New Thought«. Auch die Entdeckung des Unbewussten steht mit ihnen im Zusammenhang und damit die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie.

Der Mesmerismus ging auf anthropologische Theorien zurück, die Anfang des 19. Jahrhunderts von deutschen Medizinern entwickelt wurden (J.Ch. Reil, C.A.F. Kluge). Sie unterschieden zwischen dem Zerebral- und dem Ganglien-Nervensystem. Ersteres war das Organ des Bewusstseins, letzteres Organ der unbewussten Seele. Eine große Zahl von Naturwissenschaftlern und Philosophen übernahm diese Unterscheidung: unter anderen Schubert, Hegel, Ennemoser, Passavant, Kieser, Windischmann und Kerner. Durch das Gangliensystem, so die Auffassung, hatte der Mensch Zugang zur Nachtseite der Natur. Das Zerebralsystem beherrscht das Wachbewusstsein mit seinem rationalen Denken und der diskursiven Sprache, aber das Gangliensystem übernimmt das Nachtleben der Seele im Schlaf, wenn sie ihre hieroglyphische Sprache der Bilder und Träume zu sprechen beginnt. Aber nur in Trance offenbarte das Gangliensystem bzw. das Unbewusste sein volles Potential: die Somnambulen zeigten erstaunliche »psychische« Fähigkeiten, sie übten Fernwirkungen aus, waren hypersensitiv, entwickelten einen sechsten Sinn, konnten in die Zukunft oder hellsehen, nahmen Geister und Engel wahr, sprachen archaische, unbekannte Sprachen und hatten mystische Visionen. Am bekanntesten wurde Friederike Hauffe, die Seherin von Prevorst, durch die Berichte ihres Arztes Justinus Kerner 1829. Zu ihr pilgerten Franz von Baader, Schelling, Görres, Schleiermacher und viele andere.

Die Romantik entwickelte die Theorie der beiden Nervensysteme zu einer umfassenden Gegenerzählung zum Rationalismus der Aufklärung. Kerner sprach vom »harten Glasschädel« des rationalistischen »Tagesbewusstseins«, der es von den Intuitionen einer höheren Welt trenne. Dieser stand die bedeutungsvolle nächtliche Welt der Somnambulen gegenüber, die aus unmittelbarer Erfahrung wussten, dass hinter der brutalen Welt der materiellen Existenz eine andere Welt voller Bedeutung und Empathie stand.

Zwei komplementäre Welten mit spezifischen Erfahrungsformen standen sich gegenüber: die Aufklärung reduzierte alles auf eine kalte Logik und diskursive Prosa, das Nachtbewusstsein drückte sich durch tiefsinnige Symbole und eine poetische Sprache aus. In der Trance erwacht die Seele nach Auffassung der Romantiker in jene umfassendere Welt, aus der sie stammt und die ihre eigentliche Heimat ist. Der Rationalist befindet sich dagegen in einem spirituellen Tiefschlaf. Er lebt in einer künstlichen Trennung von seiner eigenen Seele und ist unfähig die Sprache der Bilder und Poesie zu verstehen. Er glaubt, sein Gehirn und seine Sinne bildeten die ganze Welt ab, und begreift nicht, dass sie ihn in Wahrheit daran hindern, die tieferen Geheimnisse der Natur zu entdecken. Blind für ihre spirituelle Dimension, verwirft er die okkulten Mächte und die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Seele als Aberglauben. Aber diese außergewöhnlichen Fähigkeiten sind nichts Wunderbares, sondern durch und durch natürlich, jeder kann sie erwerben. Der erste Schritt besteht darin, den beschränkten Aberglauben des Reduktionismus zu überwinden, der Wissenschaft und Vernunft usurpiert hat.

Die deutschen Romantiker, so Hanegraaff, verteidigten unter Berufung auf neuere wissenschaftliche Theorien und Entdeckungen die wissenschaftliche Überlegenheit einer verzauberten Weltsicht auf paracelsischer und christlich-theosophischer Grundlage. Das Zentrum des Gangliensystems befand sich im »Hypochondrium«, dem Solarplexus, der im 19. Jahrhundert auch als »Herzgrube« bezeichnet wurde. Für Paracelsus und Johann Baptist van Helmont war sie der Sitz des »Archaeus« oder Lebensgeistes. Für Mesmeristen war diese Herzgrube der Sitz der inneren Sinne, durch die von den äußeren Sinnen unabhängige Wahrnehmungen möglich waren. Gegen die kalte rationale Erkenntnis, die sich auf das Gehirn stützte, brachten die Romantiker eine höhere spirituelle »Erkenntnis des Herzens« in Stellung, die mit dem Gangliensystem zusammenhing. Sie erstreckte sich nicht nur auf hellseherische Wahrnehmung, sondern umfasste auch höhere Bereiche der geistigen Welt. Nach dem Vorbild von Paracelsus und Swedenborg wurde das Herz als Abbild der Sonne gedacht, die im Zentrum der Planeten steht, wie das Herz im Zentrum des Organismus und dieses Zentrum des Herzens korrespondierte mit dem unergründlichen göttlichen Licht im Herzen der Schöpfung. Das somnambule Wissen des Herzens war eine Gnosis der göttlichen Welt und diese war der rationalen Erkenntnis des Gehirns und der äußeren Sinne unendlich überlegen.

Indem sie die Rationalität des Tagesbewusstseins als begrenzt und unfähig zu tieferer Erkenntnis interpretierten, hatten die Romantiker eine Argumentationsfigur entwickelt, die alle Prinzipien der Aufklärungsphilosophie und ihres Wissenschaftsbegriffs auf den Kopf stellte. Später sollte C.G. Jung, den Hanegraaff als bedeutendsten Nachfolger der Romantiker im 20. Jahrhundert sieht, ihren Grundgedanken wie folgt formulieren: »Meine Seele kann nicht das Objekt meines Urteilens und Erkennens sein – vielmehr sind mein Urteilen und Erkennen Objekte meiner Seele.« Die damit umrissene Epistemologie hatte zur Folge, dass eine ganze Reihe von Dualismen, die für den Rationalismus der Aufklärung konstitutiv waren, umgedacht werden musste. Ebenso bedeutsam waren die Konsequenzen für die Geschichtsauffassung: alles, was die Aufklärung auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen hatte – Magie, Weissagung, Hellsehen, Symbole, das Okkulte – wurde zu einer Manifestation der Tiefenkräfte der Seele und zentral für die Entwicklung der Menschheit. Aber da alles, was diesem tieferen Reich der Seele angehörte, universell und zeitlos war, verloren Zeit und Geschichte gegenüber zeitlosen Wahrheiten und äußere Ereignisse gegenüber dem inneren Wesen an Bedeutung.

Die »magnetische Geschichtsschreibung« kam im Werk Joseph Ennemosers über die Geschichte des Magnetismus (1819), das 1844 unter dem Titel »Geschichte der Magie« in revidierter zweiter Auflage erschien, vollumfänglich zur Erscheinung. Er trug eine vollständige Gegenerzählung zur antiapologetischen und aufklärerischen Interpretation der Geschichte der Esoterik vor, eine als hermetisch-platonische Antwort auf Brucker und Colberg.

Die magnetischen Phänomene und somnambulen Zustände waren für Ennemoser zentral für die Bewusstseinsgeschichte der Menschheit. Die Frage nach dem Fortleben des Heidentums im Christentum spielte für ihn keine Rolle mehr, statt dessen standen Naturphilosophie und Wissenschaft im Zentrum. In scharfem Kontrast zum Naturalismus und Positivismus der Aufklärung sah er die Natur als lebendiges Ganzes, das von unsichtbaren »geheimnisvollen und unberechenbaren Mächten« erfüllt ist. Diese Mächte sind weder übernatürlich oder dämonisch (wie die Anti-Apologeten behaupteten) noch illusionär (wie die Aufklärer unterstellten), sondern Erscheinungsformen der inneren Seite der Natur, die sich nur offenbart, wenn das Tagesbewusstsein wenigstens vorübergehend unterdrückt wird. Diese These befand sich im Einklang mit der pietistischen Auffassung von »göttlichen Entzückungen«. Nimmt man das paracelsische und theosophische Fundament des Werkes von Ennemoser hinzu, kann man zu Recht behaupten, es sei die hermetisch-platonische Antwort auf die protestantische Anti-Apologetik.

Ennemoser versteht Magie im Sinne der Renaissance als »magia naturalis«, als »prisca magia«. Sie ist die alte Weisheit, die Summe alles geheimen Wissens, und unterscheidet sich als »wahre göttliche Magie« von der abergläubischen Form der »goetia«, der Zauberei. Das Neue bei Ennemoser ist, dass er diese wahre Magie als eine Äußerung der geheimsten und innersten Kräfte des menschlichen Geistes interpretiert. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Magie begann nach Ennemosers Auffassung erst mit Mesmer, daher bezieht sich seine Geschichte auf die Zeit vor Mesmer. Die wichtigsten Erscheinungsformen dieser Kräfte des Geistes sind Visionen, Träume und das Wahrsagen. Magie ist für ihn vor allem eine Erkenntnisform, eine Form der »höheren Erkenntnis«.

Geschichte denkt Ennemoser nach dem Vorbild Herders als Stufengang von Völkern. Sie durchläuft drei Epochen: die alte Welt des Orients, der Ägypter und Israeliten, die Zeit der Griechen und Römer und die germanische Epoche, die mit den alten Germanen und nordischen Völkern beginnt und durch Mittelalter und Renaissance bis in die Neuzeit andauert. Der visionären Gesamtschau erscheint diese Geschichte keineswegs als zufällig, sondern als organische Entwicklung. Sie offenbart ein bedeutungsvolles Drama, sie zeigt, wie die Menschheit ihre eingeborenen Entwicklungsmöglichkeiten allmählich entfaltet: die Bewusstseinsgeschichte verläuft nach einem göttlichen Plan. Wie in Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« ist bei Ennemoser die Menschheitsgeschichte eine Analogie der Individualentwicklung: sie verläuft durch Kindheit und Jugend ins Erwachsenenalter. Eine andere Metapher ist die des Baumes, der aus einem Samen emporwächst und sich immer mehr in seinen Ästen verzweigt. Schließlich spricht er auch von einer Bühne, auf der zu gegebener Zeit ein neues Volk auftritt, das die ihm von der Vorsehung bestimmte Rolle spielt. Ereignisse, die äußerlich kausal wirken, kennt Ennemoser nicht, im Gegenteil: Jedes äußere Ereignis ist Ausdruck einer inneren Notwendigkeit, Individuen sind letztlich wie bei Hegel Werkzeuge, durch die der Weltgeist seine universellen Zwecke verfolgt.

Die ältesten Völker befanden sich im Kindheitszustand, die Menschheit hing noch an der Nabelschnur der Natur, sie lebte in einem kaum bewussten Traumzustand voller Unschuld. Magische Bewusstseinszustände waren alltäglich, weil der innere Sinn des Menschen durch die Reflexion noch nicht beeinträchtigt wurde, das Leben verlief in friedlicher Harmonie mit dem Unendlichen. Das Göttliche war überall in der Natur gegenwärtig und wurde erlebt, die Menschheit stand unter der Leitung einer wohlwollenden Priesterschaft. Gott, die Seher und Poeten drückten sich in der Ursprache der Bilder aus. Zwar gab es auch Aberglauben und Götzenverehrung, aber Glaube, Liebe und Gehorsam standen im Vordergrund.

Da die Magie für Ennemoser eine menschliche Grundfähigkeit ist, muss er sie nicht auf einen bestimmten geschichtlichen Moment zurückführen, aber er entdeckt überall im Orient, in Indien und China ihre Spuren. Er berichtet über ekstatische, visionäre Zustände und über Heilkunst, die von erleuchteten Priestern in Tempeln ausgeübt wurde. Diese Heilkunst fußte auf einer Form von Naturwissenschaft, die laut Ennemoser auch dem Mesmerismus zugrunde lag. Die Geheimlehren über diese Heilkunst befanden sich im Besitz der Priesterschaft, die sie durch Mysterieninitiationen und mythische Erzählungen weitergaben. Ägypten stellte den Höhepunkt der Entwicklung der Magie im ersten Stadium der Menschheitsgeschichte dar und von hier empfingen viele griechische Philosophen ihre Weisheit. Aber die alten orientalischen Kulturen hatten keine Zukunft, weil sie weder Geschichte noch Entwicklung kannten, sie glichen einer Mumie, deren Leib weder wächst noch zerfällt. Doch es gab eine Ausnahme: das israelitische Volk sollte zum Stamm werden, aus dem die Menschheit durch die Jugend ins Erwachsenenalter eintrat. »Das Judentum«, so Ennemoser, »ist der wahre Lebensbaum, durch den der innere Strom der Entwicklung fließt. Alle anderen heidnischen Völker sind Zweige, die vom großen Baum des Lebens abgerissen wurden, – auch wenn sie weiterleben, können sie sich nicht entwickeln. Das Judentum ist das wahre Mysterium, das im Christentum seinen Idealzustand der Heiligkeit und Vereinigung mit Gott erreichte.«

Die Juden entwickelten eine neue Form der Magie, die sich demütig auf die göttliche Gnade verließ und nicht auf den Größenwahn der menschlichen Autonomie. Das Judentum entwickelte sich von innen heraus und nicht unter ägyptischem Einfluss.

Das zentrale Ereignis der Bewusstseinsgeschichte ist für Ennemoser das Erscheinen Christi, durch den das Judentum seine historische Bestimmung erfüllt, die »absolute Religion« hervorzubringen, die nicht mehr auf ein Volk begrenzt ist, sondern die Menschheit in einem umfassenden Bewusstsein zusammenführt. Durch Alexander den Großen, ein weiteres Instrument der Vorsehung, waren die Bedingungen für diese Vereinigung bereits vorbereitet und Alexandria wurde zum Knotenpunkt für die weitere Entwicklung der Magie.

In der Geschichte der Griechen steht der Mythos im Vordergrund, nicht die Philosophie, ihre Kultur ist ihrem Wesen nach poetisch, was gleichbedeutend mit magisch ist. Der Mythos benutzt die Poesie der Natur um über Naturkräfte zu sprechen, Symbole sind urbildliche Repräsentationen des sich selbst offenbarenden Geistes und wahrer als jede Erkenntnis, die aus der Reflexion entspringt. Die wahre Quelle der Poesie ist die Natur, weil sie selbst poetisch ist. In ihren Schöpfungen drückt sich in realen Bildern der Geist Gottes aus. Dieser Stimme Gottes sollte der Mensch Gehör schenken. Allein der treue Beobachter und Verehrer der Natur vermag ihre geheimen Gesetze zu erkennen, während der Rest der Welt sich dem Göttlichen immer mehr entfremdet und in Illusion und Aberglauben versinkt. Daher waren alle großen Naturwissenschaftler laut Ennemoser fromme Menschen, daher verfällt auch der Hellseher, der in seine Trance erwacht, in ekstatische Bewunderung der Natur, so wie in den Anfängen der Geschichte, als Naturweisheit, Poesie und Religion noch eins waren.

In Alexandria nahm das Christentum durch den Neuplatonismus alle magischen Traditionen der »niedergehenden heidnischen Völker« in sich auf. Ennemoser, der diesen Vorgang der Übernahme positiv sieht, integriert die Erzählung der »philosophia perennis« in das neue Rahmenwerk einer von der Vorsehung geleiteten Evolution.

Die Aufgabe der Christenheit bestand darin, die Welt zu »entzaubern« und die wahre Magie wieder herzustellen: aber nicht die Webersche »Entzauberung« ist gemeint, sondern die Befreiung vom bösen Zauber der schlechten Magie. Der wahren Magie ist seine restliche Untersuchung gewidmet: der Geschichte des animalischen Magnetismus in der Epoche der Germanen. Eine große Rolle spielt dennoch ihr Gegenbild: die vielen Formen des mittelalterlichen Aberglaubens, die schließlich in den Hexenverfolgungen gipfeln. In diesen Auseinandersetzungen wird deutlich, dass Ennemoser letztlich eine »wissenschaftliche Agenda« verfolgte. Der Glaube an Hexerei war ein tragischer Massenwahn und in vielen anderen Erscheinungen drückte sich derselbe Wahn aus: in Geisterbeschwörungen, Goldmacherei, in der »Mystagogie« der Rosenkreuzer und Spiegelpropheten. Auch die christlichen Theosophen, die nach ekstatischen Erfahrungen suchten (von John Pordage über Jane Lead bis zu Swedenborg), betrachtet Ennemoser mit gemischten Gefühlen: zwar gehört vieles, was sie taten, der guten Magie an, aber die Gefahren der mystischen Suche sind groß. Die Geschichte der guten Magie in der Neuzeit beginnt mit Paracelsus und van Helmont, verläuft über Agrippa, Fludd, Campanella und endet mit Cagliostro und Swedenborg im 18. Jahrhundert. Aber der Erzmagus, der tiefere Einsichten als alle anderen in das Leben und den Geist der Menschheit erlangt hat, ist für Ennemoser Jakob Böhme. Nun, da Böhme (in der Romantik) wiederentdeckt wurde und Mesmer die Magie auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hat, wird der Rationalismus der Aufklärung bald vorüber sein. Der alte Orient und das Griechentum sind vergangen, aber »dem deutschen Geist steht noch eine unendliche Zukunft bevor«. Die bisherige Geschichte der Menschheit hat ihn mit allem Nötigen ausgestattet, um eine endlose spirituelle Aktivität zu entfalten. Mit dem deutschen Geist steht die Menschheit am Beginn ihres Erwachsenenalters, er wird die Völker und Zeiten führen und lehren. Und er wird dereinst auch den in Stagnation versunkenen Orient wieder zu neuem Leben erwecken.

Drei Innovationen Ennemosers sind für den weiteren Verlauf der Geschichte der Esoterik (und für die Argumentation Hanegraaffs) von herausragender Bedeutung: 1. dass er den Mesmerismus bzw. Somnabulismus als Schlüssel für die Geschichte der Magie benutzt, 2. dass er eine von der Vorsehung geleitete Evolution postuliert, und 3. dass er eine Form des Religionismus vertritt.

1. Durch das erste unterscheidet er sich von früheren Historikern der Esoterik, die sich auf philosophische und religiöse Ideen konzentrierten und sich mit den Konflikten zwischen »wahrer Religion« und »heidnischen Irrlehren« befassten. Für Ennemoser gibt es keine solchen Konflikte und die Ideen stehen auch nicht im Vordergrund. Ihm geht es darum, zu zeigen, dass es in der ganzen Geschichte der Menschheit immer Magnetismus und Somnambulismus gegeben hat. Durch diese These wurde er zum Pionier einer neuen Form der Esoterikgeschichte. Bereits zehn Jahre nach dem Erscheinen wurde sein Werk ins Englische übersetzt und in der »Entschleierten Isis« Blavatskys ist Ennemoser der am zweithäufigsten plagiierte Autor. Aber er fand auch schon frühere Nachahmer in der englischsprachigen Welt. Zum Beispiel verfasste der Schotte Colquhoun 1851 eine »Geschichte der Magie«, die eine ähnliche Erzählung bietet wie Ennemoser.

Auch in Deutschland wurden Ennemosers Ansätze weiter verfolgt. Ende des Jahrhunderts erschienen die Bücher von Carl Kiesewetter, 1891 die »Geschichte des neueren Occultismus«, 1895 »Die Geheimwissenschaften« und 1896 »Der Occultismus des Altertums«. Kiesewetter wurde, ähnlich wie A.E. Waite in England, mangels Konkurrenz zur Autorität in Sachen Okkultismus. Seine Werke sind voller Gelehrsamkeit und bieten eine Fülle übersetzter Quellen. Er versteht die westliche Esoterik, ebenso wie Ennemoser, nicht mehr als Synkretismus aus Heidentum und Christentum, sondern als Summe historischer Beweise für die geheimnisvollen Kräfte der Natur und des Menschengeistes, die von der Aufklärung vorschnell verworfen worden sind.

2. Ennemosers Werk ist auch als Typus einer neuen Geschichtsschreibung der Esoterik bedeutsam. Es ist weder eine Niedergangserzählung oder eine Erzählung von der zeitlosen alten Weisheit, noch ein Beispiel für Ideengeschichte, das davon ausgeht, man müsse Autoren aus dem Kontext ihrer Zeit und aus den Einflüssen verstehen, die sie bestimmten, wie die Geschichten Bruckers und Colbergs. Im Unterschied zu diesen stellt Ennemoser die Geschichte als teleologischen geistigen Fortschritt durch Evolution dar und lädt den geschichtlichen Wandel mit spiritueller Bedeutung auf. Aber er macht den Fortschritt auch nicht von äußeren Einflüssen abhängig, sondern sieht in ihm das Wirken der göttlichen Vorsehung. Erst mit dem Niedergang der Romantik und des deutschen Idealismus verlor diese Art von Geschichtserzählung ihre Plausibilität, lebte aber im Okkultismus und im New Age bis heute weiter.

3. Was den Religionismus anbetrifft, so fußte dieser auf der Überzeugung, es gebe eine authentische, spirituelle Erfahrung. Wie Gottfried Arnold kritisierte Ennemoser die endlosen, dogmatischen Streitigkeiten der Schulgelehrten mit ihrem Gehirndenken. In der Geschichte kam es nach beiden Autoren nicht auf den toten Buchstaben, sondern auf den lebendigen Geist an, nicht auf die äußeren Lehren, sondern die innere Erfahrung, nicht auf den Verstand, sondern auf das Herz. Arnolds Geschichtserzählung fußte auf der Dualität von Athen (Verstand) und Jerusalem (Glaube) und ihrer Inkompatibilität, diejenige Ennemosers auf einer vergleichbaren Inkompatibilität zwischen dem diskursiven Tagesbewusstsein, das sich auf das Gehirn stützt und dem bildhaften Traumbewusstsein der Seele. So wie Arnold der Überzeugung war, dass der Glaube nichts mit dem Verstand gemein habe, sah auch Ennemoser keine Möglichkeit, die Wahrheiten der Seele in der Sprache des Gehirns auszudrücken.

Daher zogen weder Arnold noch Ennemoser soziale Kontexte, äußere Einflüsse oder andere kontingente Faktoren bei ihrer Geschichtserzählung in Betracht. Aber dennoch behaupteten beide, Geschichte zu schreiben. Mit einem Wort: Ennemoser ist für Hanegraaff ein Beispiel für das Paradigma des Religionismus, aber mit einem bedeutsamen Unterschied: dem Einbezug der Evolution. Für Arnold gab es keine Entwicklung im Christentum, da die absolute Wahrheit keine Geschichte hat. Ennemoser akzeptierte Entwicklung. Zwar waren die Wahrheiten der Natur und der Seele ewig, aber was sich entwickelte, war die Fähigkeit des Menschen, sie zu verstehen. Daher war für Ennemoser Geschichte auch Bewusstseinsgeschichte.

Fortsetzung:

Wissenschaft und Esoterik XXIII – C.G. Jung und das Unbewusste des Westens


Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Möchten Sie die freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Wissenschaft und Forschung erhalten?

Dannn unterstützen Sie den anthroblog durch eine einmalige oder wiederkehrende Spende!



Oder durch eine Banküberweisung an: Lorenzo Ravagli, GLS Bank Bochum, IBAN: DE18 4306 0967 8212 0494 00 / BIC: GENODEM1GLS.


Ich will zwei- bis dreimal im Jahr durch den Newsletter über neue Beiträge im anthroblog informiert werden!

Kommentare sind geschlossen.

Kommentare sind geschlossen