Wissenschaft und Esoterik XXIII – C.G. Jung und das Unbewusste des Westens

Zuletzt aktualisiert am 23. Juli 2024.

Der Archetyp von Eranos: Carl Gustav Jung und das Unbewusste des Westens

Wissenschaft und Esoterik XXIII – C.G. Jung und das Unbewusste des Westens

Seite aus C.G. Jungs rotem Buch

Das folgende Kapitel in Hanegraaffs Buch setzt mit dem Jahr 1930 ein, als in Ascona auf Einladung von Olga Fröbe-Kapteyn jene sommerlichen Zusammenkünfte begannen, die später unter dem Namen »Eranos« in die Geschichte eingehen sollten.

An dieser Stelle muss auf eine bemerkenswerte Lücke in Hanegraaffs Geschichtserzählung aufmerksam gemacht werden. Sie betrifft genau jene Zeit, als sich in Deutschland zwischen 1900 und 1925 unter dem Namen »Anthroposophie« eine Form von Esoterik zu entfalten begann, die den Anspruch erhob, eine wissenschaftliche Erkenntnisform zu sein. Das vorangehende Kapitel endete mit dem Niedergang des Diskurses über Esoterik und seinem Verschwinden in der Trivialliteratur Ende des 19. Jahrhunderts. Danach wurde der Faden der Geschichte von Hanegraaff in der Romantik wieder aufgegriffen, um die nun folgenden Unterkapitel über Eranos und den Beginn der neuen Esoterikforschung vorzubereiten. An die Erzählung vom Niedergang der Esoterik in der Trivialliteratur schließt sich eine Art Aufstiegserzählung an, die das Wiederauftauchen der Esoterik als »Wahrheit der Geschichte« durch die wissenschaftliche Esoterikforschung beinhaltet. Aber diese ganze Konstruktion wird fragwürdig, wenn man das Vakuum, das in Hanegraaffs Untersuchung zwischen 1900 und 1930 klafft, mit der in wissenschaftlicher Form auferstandenen Esoterik füllt, die im Werk Rudolf Steiners zutage getreten ist, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer breiten sozialen und kulturellen Bewegung entwickelt hat, die weit über das New Age hinausgeht.

Hier erhebt sich eine Frage von großer Tragweite: warum ignoriert Hanegraaff die Anthroposophie? Man könnte argumentieren, sie sei für eine Geschichte der Diskurse über Esoterik im Abendland irrelevant, da sie reale Esoterik sein wollte und nicht nur Gerede über sie. Aber das trifft auf den Mesmerismus und Ennemoser ebenfalls zu. Durch die vollständige Ausblendung des geschichtlichen Phänomens Anthroposophie wird die »Wahrheit der Geschichte«, der dieses letzte Kapitel gewidmet ist, eher verschleiert als enthüllt. Aber offenbar hätte eine Auseinandersetzung mit ihr die gesamte Konstruktionslogik der vorliegenden Monografie gesprengt. Denn der Wiederaufstieg der Esoterik als Wissenschaft oder durch die Wissenschaft hätte als Geschichte der Anthroposophie erzählt werden müssen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Hanegraaff mit Ennemosers »Geschichte der Magie« zugleich einen nicht unbeträchtlichen Teil der Geschichtsinterpretation Steiners referiert und dass er im anschließenden Kapitel über C.G. Jung diesen als Figur porträtiert, deren mythifizierte Gestalt nicht geringe Ähnlichkeiten mit dem mythisierten Steinerbild aufweist. Aber die einzigartige Synthese aus Aufklärung und Esoterik, die das Lebenswerk Steiners darstellt, ist ein historischer Gegenstand, den die akademische Esoterikforschung unmöglich schweigend übergehen kann. Ließe sie sich auf die aufgeklärte Esoterik der Anthroposophie ein, wäre allerdings die Frage, welche Rolle ihr dann als »Wissenschaft der Esoterik« überhaupt noch zukäme.

Doch sehen wir zu, wie Hanegraaffs Geschichte des esoterischen Diskurses im 20. Jahrhundert weitergeht!

Die Eranoskonferenzen fanden von 1933 bis 1988 statt, als Jan Ritsema, der Nachfolger der 1962 verstorbenen Gründerin, sie beendete. Die Beiträge der Konferenzen erschienen in den »Eranos«-Jahrbüchern. Die Geschichte von Eranos lässt sich in zwei Phasen gliedern, die Zeit bis zum II. Weltkrieg und die Zeit danach. In der ersten Phase war C.G. Jung unbestritten die führende Gestalt. Neben ihm wirkten mit: Heinrich Zimmer, Friedrich Heiler, Jakob Wilhelm Hauer, Martin Buber, Louis Massignon, Walter F. Otto und Karl Kerényi. In der zweiten Phase traten bedeutende Naturwissenschaftler wie Adolf Portmann und Erwin Schrödinger dazu. Ihren Höhepunkt erlebten die Konferenzen in den 1950er und 1960er Jahren unter der Mitwirkung herausragender Religionswissenschaftler: Gershom Scholem, Henry Corbin, Mircea Eliade, D.T. Suzuki, Gilles Quispel, Erich Neumann, Gerardus von der Leeuw, Raffaelo Pettazoni, Ernst Benz, Paul Tillich, Gilbert Durand, James Hillmann und Antoine Faivre.

Was Eranos kennzeichnete, war die Bereitschaft, »Mythen und Symbole Ernst zu nehmen, und deren Bedeutung für die Geschichte und die moderne Kultur zu untersuchen«. Sie standen in Zusammenhang mit einer Reihe weiterer Gegenstände, die eines gemeinsam hatten: sie alle gehörten jener Kategorie von Themen an, die von der Aufklärung ausgegrenzt und auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen worden waren. Durch diese Verengung des Weltbildes war es nahezu unmöglich geworden, über Mythen oder Symbole zu sprechen, ohne Themen zu berühren, die mit Mystik, Esoterik, Magie oder dem Okkulten zusammenhingen. Die nachaufklärerische Neigung, alles, was Wissenschaft und Rationalität angeblich entgegengesetzt war, in einen Topf zu werfen, hatte allerdings eine paradoxe Folge: der gesamte Bereich ließ sich begrifflich kaum mehr fassen, da seine Bestandteile viel zu disparat waren. Eranos beschäftigte sich mit einem Gegenstandsgebiet, zu dem alles gehörte, was sich durch seine Widerständigkeit gegen die aufklärerische Rationalität und das moderne Wissenschaftsverständnis auszeichnete.

Die führenden Mitwirkenden schienen von Empfindungen der Dringlichkeit und intellektuellen Verantwortung bewegt, was manchmal zu missionarischen Beschwörungen der »Krise der modernen Welt« führte. Worin bestand diese Krise? Die Aufklärung und der Positivismus, so die Eranos-Auffassung, waren einem gravierenden Fehlurteil erlegen, als sie glaubten, Mythen, Magie und das Irrationale würden verschwinden, wenn sie diese auf den Kehrichthaufen der Geschichte würfen. Der naive Glaube an die Rationalität, die Zivilisation und den Fortschritt waren jedoch durch die Katastrophe der beiden Weltkriege zertrümmert worden. Dieses Trauma hatte viele Gelehrte zu einem neuen Nachdenken über Modernisierung, Zivilisation und Fortschritt bewegt. Zu ihnen gehörte auch C.G. Jung.

Jung war der Ansicht, das »Andere« der westlichen Rationalität werde niemals verschwinden, weil seine Quelle das »Unbewusste« sei. Die primitiven oder wilden Energien des persönlichen und kollektiven Unbewussten konnten eine gewisse Zeit unter die Schwelle des Bewusstseins gedrängt werden, aber die unterdrückten Energien konnten jederzeit wieder ausbrechen und alles in Trümmer schlagen. Manche Zeitgenossen Jungs, wie Klages, Schuler oder George, sehnten diesen Moment geradezu herbei, weil sie den Rationalismus und die bürgerliche Gesellschaft verabscheuten. Ihre Gegner im linken Spektrum wie Horkheimer und Adorno identifizierten den Mythos und das Irrationale mit gefährlicher Regression und Barbarei, kamen aber am Ende zur Einsicht, dass diese Mächte nicht zerstört werden könnten, weil sie zur Dialektik der Aufklärung gehörten. Zwischen diesen beiden Extremen gab es Denker, die den Mythos als zutiefst ambivalent betrachteten, wie zum Beispiel Thomas Mann, der in ihm die Quelle des Lebens und der Kreativität sah, zugleich aber auch eine dämonische Macht des Todes und der Zerstörung, wenn er auf Kosten der »Humanität« zur Entfaltung gebracht werde.

All diesen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit war gemeinsam, dass sie die Existenz von etwas anerkannten, das die Aufklärung übersehen, ignoriert oder unterschätzt hatte: dass weder der Einzelne noch das Kollektiv vom Verstand allein leben können. Wenn das zutraf, welche Rolle sollte dann dem Mythos, dem Symbol und dem Irrationalen im modernen Leben zugewiesen werden?

Das war laut Hanegraaff die Grundfrage von Eranos. Die Antworten waren sehr unterschiedlich. Während Jung eine Integration der bewussten und unbewussten Schichten der Seele befürwortete, erklärte Corbin der Moderne den Krieg. Hanegraaff interessiert die Frage, welchen Einfluss die Eranosgemeinde auf die Art hatte, wie das Gebiet des Esoterischen nach dem II. Weltkrieg begrifflich Gestalt annahm. Jung als dominierender Figur der ersten Phase in der Eranosgeschichte gilt daher zunächst seine Aufmerksamkeit.

Jung wurde als »spätgeborener Romantiker« bezeichnet, Hanegraaff sieht ihn als Nachfolger des Mesmerismus, des Paracelsismus und der christlichen Theosophie. Dies werde schon deutlich, wenn man das erste Kapitel seines Buches »Wandlungen und Symbole der Libido« (1912) lese. Hier charakterisiert Jung zwei Arten des Denkens, so, wie die Romantiker die Tagseite und die Nachtseite des Bewusstseins beschrieben hatten. Die Nachtseite wird von Jung nicht als etwas beschrieben, was vollkommen jenseits der rationalen Tagseite liegt, sondern als eine andere Art von Rationalität. Das träumerische und assoziative Denken herrschte im Altertum vor und führte zur Mythologie, nicht zur Wissenschaft. Dieselbe Art des Denkens praktizieren auch Kinder und Primitive. Jung zieht eine Parallele zwischen Ontogenese und Phylogenese. Der einzelne Mensch rekapituliert in seiner Bewusstseinsentwicklung die Entwicklungsphasen der Menschheit: daher sind die Träume ein Königsweg nicht nur zum Verständnis des Unbewussten, sondern auch unserer kulturellen Vergangenheit. Gewöhnlich wird diese Theorie der Rekapitulation mit Haeckel in Verbindung gebracht, aber bereits Ennemoser vertrat genau diese Auffassung, sie war Bestandteil der Romantik. Die Ansicht, der Mythos sei »der Traum der Völker« und »der Traum der Mythos des Einzelnen«, war eine naheliegende Folgerung.

Wenn also die Traumdeutung der Schlüssel zur Heilung des Individuums ist, dann ist die Mythendeutung ein Weg zur Heilung des Kollektivs. Wenn Gesundung bedeutet, die »Materialien des Unbewussten« Erst zu nehmen und ins Bewusstsein zu integrieren, dann ist es für die europäischen Volker überlebenswichtig, ihr kollektives Unbewusstes nicht zu unterdrücken, sondern zu integrieren. Wer diese Integration unterlässt, entwickelt unweigerlich Pathologien. Die Bilder und Erzählungen unserer Träume beruhen auf denselben grundlegenden Strukturen wie die Mythen und Symbole der Menschheit im allgemeinen: den Archetypen. Die Parallele zum Entwicklungsdenken Ennemosers ist nicht zu übersehen. Das Bewusstsein der Menschheit entwickelt sich von früheren zu späteren Kulturstufen, die europäische Bewusstseinsform ist die derzeit höchste, reifste. Das heißt aber aus der Sicht Jungs nicht, und das ist das neuartige an seiner Deutung, dass sie auch die gesündeste ist. Denn im Verlauf der Reifung werden die früheren Formen des Bewusstseins vom rationalen Bewusstsein abgespalten und das letztere vereinseitigt sich. Die Folge ist eine neurotische Kultur, die jederzeit von Eruptionen der unterdrückten libidinösen Energie bedroht ist.

Jung war mit der Literatur des romantischen Mesmerismus zutiefst vertraut, im Gegensatz zu seinen heutigen Interpreten, die von diesem Kontinent des Denkens so gut wie nichts wissen. Denn genau dieser Kontinent ist es, der laut Hanegraaff erst ein Verständnis der Jungschen Weltsicht ermöglicht, insbesondere erklärt er die bleibende Faszination, die das Okkulte auf Jung ausübte. Jung wusste, dass die hysterischen und somnambulen Patienten der französischen Psychiater dieselben Fähigkeiten und Symptome zeigten, wie sie bereits von Kerner und anderen Romantikern beschrieben worden waren. Ihm war auch klar, dass der moderne Spiritismus aus der Tradition des Mesmerismus hervorgegangen waren, dass er dieselben Techniken benutzte und zu denselben Trancezuständen führte, wie jener. Daher konnte ihm Freuds Forderung, er solle an seiner Sexualtheorie als »Bollwerk gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus« festhalten, nur grotesk erscheinen. Freud schien unter »Okkultismus« all das zu verstehen, was die Religion und Philosophie über die Psyche in den letzten hundert Jahren dank dem Mesmerismus gelernt hatten. Jungs Beschäftigung mit dem Okkultismus war zentral für sein Verständnis der Psychologie. Sein Ziel war es, die Psychologie als Grundwissenschaft für alle anderen Wissenschaften zu etablieren. Voraussetzung dieser Idee war die romantische Sicht auf die Seele als eines Reservoirs mysteriöser Kräfte.

Daraus erklärt sich das laut Hanegraaff »merkwürdige Paradox«, dass Jung, der in seiner Autobiografie wie ein Initiierter erscheint, immer darauf beharrte, empirischer Wissenschaftler zu sein. (Die unausgesprochene Parallele zu Steiner wird hier besonders offensichtlich). Die Mesmeristen betonten, sie erforschten Tatsachen des Bewusstseins, die der natürlichen Welt angehörten, und nichts mit Wundern oder dem Übernatürlichen zu tun hätten. Wenn sich jemand aus der Sicht der Romantiker der Sünde gegen den Empirismus schuldig gemacht hatte, dann die Ideologen der Aufklärung, die die Phänomene des Mesmerismus und Somnambulismus schlichtweg leugneten oder als Schwindel und Einbildung abtaten. Auch Jung verschrieb sich wie William James einem radikalen Empirismus, der keine apriorischen Annahmen darüber macht, was Tatsachen sind und was nicht. Daher interpretierte er auch seine ungewöhnlichsten Visionen empirisch, nicht als Kontaktaufnahme zu übernatürlichen Wesen, sondern als Beweis für die Tatsache, dass die Natur eine Nachtseite besitzt, die er als »das Unbewusste« bezeichnete. Diese Nachtseite sei, so Jung, von der Aufklärung als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu Unrecht verworfen worden.

Was bedeutete all dies für den Umgang von Eranos mit der Religion und für die Erforschung der Esoterik? Jung war überzeugt, die Psychologie werde zur Grundlage aller anderen Wissenschaften werden, auch zur Grundlage der Geschichtswissenschaft. Auch in dieser Beziehung gibt es eine bemerkenswerte Parallele zu Ennemoser. Dieser war überzeugt, der Mesmerismus sei die neue revolutionäre Wissenschaft, Jung wies der Psychologie diese Stellung zu. Die Nachtseite Mesmers wurde bei Jung zum Unbewussten. Beide untersuchten die Tatsachen des Bewusstseins bei gegenwärtigen Patienten und in der Geschichte, indem sie die Berichte der Vergangenheit nach Beweisen für vergleichbare Phänomene und Erfahrungen durchforsteten. Das Ergebnis war dasselbe: Alles, was von der Aufklärung auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen worden war, rückte wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Aber beide plädierten dafür, dieses Gebiet neu zu verstehen: als Äußerungen der Seele und ihrer geheimnisvollen Kräfte. Und als solchen sollte ihnen eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Kultur und Zivilisation zukommen, da diese Erzeugnisse ebendieser Kräfte waren.

Aber Hanegraaff sieht zwei Unterschiede zwischen Ennemoser und Jung. Ennemoser dachte in den Kategorien der christlichen Heilsgeschichte, für ihn gipfelte die Entwicklung der Menschheit im Erscheinen Christi und der »absoluten Religion«. Für Jung dagegen gab es eine verborgene Spannung zwischen den tieferen, heidnischen Schichten des Unbewussten und den höheren, die sich durch das »Judäochristentum« auf ihm abgelagert hatten. Die Probleme der Moderne konnten daher auch als unbewusste Auseinandersetzung zwischen dem christlichen Bewusstsein und dem heidnischen Unterbewusstsein interpretiert werden. Diese Verknüpfung des Unbewussten mit dem Heidentum und des Bewusstseins mit dem Christentum war neu. Dadurch kehrte das alte Motiv der Apologeten und Antiapologeten wieder in die Diskussion zurück.

Und der zweite Unterschied bestand darin, dass Jung die Lücke des »dunklen Mittelalters« in Ennemosers Geschichtsbild mit der Alchemie ausfüllte. Sie stellte für ihn die historische Verbindung zwischen der Gnosis und dem Neuplatonismus der Antike und der modernen Psychologie dar. Die Gnosis erschien ihm als Suche nach der Individuation, als Suche nach dem wahren Selbst, nach der »inneren Sonne«. Das Bild der inneren Sonne hat weniger mit der Gnosis zu tun, in der es nicht vorkommt, als mit der romantischen Vorstellung der Herzgrube und dem Herzen in Swedenborgs spiritueller Anthropologie. Die Gnosis repräsentierte für Jung die Nachtseite des Denkens, die sich den Rätseln des Daseins intuitiv und mit der Sprache der Bilder näherte, im Gegensatz zum Rationalismus, der sich der diskursiven Sprache bediente.

Daher konnte die Gnosis als das Unbewusste der christlichen Orthodoxie erscheinen, ihre reiche Mythologie und Symbolik war für Jung Ausdruck der unterdrückten Nachtseite der Religion. Und im Mittelalter hatte die Alchemie die Rolle der Gnosis übernommen.

Aus Hanegraaffs Sicht besteht das Grundproblem der Jungschen Weltdeutung nicht darin, dass er die gnostische oder alchymische Symbolik als Ausdruck unbewusster Prozesse auffasste, sondern darin, dass er sie und mit ihm viele, die ihm folgten, als Methode der Geschichtserkenntnis missverstand. Die Psychologie suche nach allgemeinen Gesetzen des seelischen Lebens und wenn sie behaupte, diese Gesetze auf die kollektive Psyche und ihre geschichtliche Entwicklung anwenden zu können, dann reduziere sie die einzigartigen geschichtlichen Ereignisse auf ebendiese Gesetze. Im Gegensatz dazu gehe es in der Geschichte aber gerade nicht um solche allgemeinen Gesetze, sondern um das, was aus den Quellen über singuläre Ereignisse empirisch eruierbar sei. Geschichte befasse sich mit Singularitäten, Psychologie, wenn sie nach allgemeinen Gesetzen strebe, mit Universalien. Daher ist Jungs Psychologie in den Augen Hanegraaffs geradezu eine »Antithese zur historischen Methode«. Zwar glaubte er im allgemeinen an eine Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, aber er interessierte sich nicht für die Erforschung konkreter geschichtlicher Ereignisse. Vielmehr fahndete er nach den psychischen Strukturen und Vorgängen, die all diesen Ereignissen zugrunde lagen. Hanegraaff, der sich als Historiker versteht, sieht darin eine Verdammung seiner Profession zu Sklavendiensten für den Psychologen, der die geschichtlichen Daten, die der Historiker sammle, lediglich dazu benutze, seine allgemeinen Theorien zu illustrieren. Dass die Geschichtswissenschaft fundamentaler als die Psychologie sein könnte, weil sie zu zeigen vermag, wie sich bestimmte Psychologen durch bestimmte kontingente historische Umstände und ihre individuelle Reformulierung der Geschichte gegenüber anderen durchsetzten, liegt laut Hanegraaff außerhalb der Denkmöglichkeiten der Jungschen Psychologie.

Die Inkompatibiltät der Jungschen Psychologie mit den Prinzipien der Geschichtsforschung ist laut Hanegraaff heute unbestritten. Dennoch haben nach dem II. Weltkrieg nicht wenige Historiker der Alchemie seine Deutungen übernommen. Jung schien nicht nur den Schlüssel für die Interpretation eines Forschungsgebietes gefunden zu haben, das von der herrschenden Geschichtswissenschaft verachtet wurde, er schien auch seine Bedeutung für den modernen Menschen erschlossen zu haben.

Die Jungsche Interpretation eröffnete nicht nur der Alchemieforschung neue Perspektiven, sondern auch der Esoterikforschung. Dabei spielte seine Theorie der Synchronizität eine zentrale Rolle. Sie bot eine Alternative zum Denken in Kausalitäten und stellte die grundlegenden Annahmen der cartesischen und newtonschen Weltsicht in Frage, indem sie diese durch eine psychologische Reinterpretation von Analogien und Korrespondenzen ersetzte. Damit machte sie den »magischen Aberglauben«, den die Aufklärung verworfen hatte, wieder salonfähig. Die Jungsche Psychologie stellte einen Generalangriff auf die Grundlagen des Positivismus des 19. Jahrhunderts dar. Die Theorie der Synchronizität liest sich wie eine Rehabilition der »magia naturalis« der Renaissance, die mit Hilfe der modernen Psychologie neu gedeutet und mit der Quantentheorie versöhnt wird. Die modernste Form der Physik und die Tiefenpsychologie taten sich zusammen, um den Positivismus als Aberglauben zu entlarven und die Wiederkehr der Magie als Wissenschaft zu verkündigen.

Aus der Sicht Hanegraaffs besteht die Bedeutung Jungs darin, dass er die romantische Idee einer Geschichte der magischen Nachtseite der Natur und ihrer experimentell erforschbaren Erscheinungsformen aufgriff, um diese in Begriffen der modernen Psychologie als Geschichte des von der westlichen Kultur unterdrückten Unbewussten zu reformulieren. Daraus resultierte eine höchste attraktive Erzählung mit einer eigenständigen Logik. Es ist die Erzählung einer esoterischen Gegentradition, die immer als der verborgene Schatten der herrschenden Kultur gegenwärtig war, von der Gnosis und den antiken Mysterienkulten, über die Alchemie und andere okkulte Wissenschaften bis zu Paracelsus, der romantischen Naturphilosophie und der modernen (Jungschen) Psychologie. Die Vertreter der offiziellen Lehre hatten immer versucht, diese Gegentradition zu unterdrücken, waren letztlich aber nie erfolgreich, weil diese Gegentradition, ebenso wie das Unbewusste, das versteckte Geheimnis ihrer eigenen Existenz und zugleich die Quelle war, aus der sich ihr Leben spies. Die positiven Religionen waren ein Produkt ihrer Zeit und der historischen Umstände, aber in ihrem Untergrund gab es immer ein Substrat, eine Art objektives Heidentum, das in Symbolen und Mythen zum Ausdruck kam und in der ewigen Suche des Menschen nach Selbsterkenntnis, nach Gnosis wurzelte.

Fortsetzung:

Wissenschaft und Esoterik XXIV – Religionismus und Aufklärung im 20. Jahrhundert – Eranos und Frankfurter Schule


Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Möchten Sie die freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Wissenschaft und Forschung erhalten?

Dannn unterstützen Sie den anthroblog durch eine einmalige oder wiederkehrende Spende!



Oder durch eine Banküberweisung an: Lorenzo Ravagli, GLS Bank Bochum, IBAN: DE18 4306 0967 8212 0494 00 / BIC: GENODEM1GLS.


Ich will zwei- bis dreimal im Jahr durch den Newsletter über neue Beiträge im anthroblog informiert werden!

Kommentare sind geschlossen.

Kommentare sind geschlossen