Alchemie, Paracelsus und die deutsche Naturphilosophie

Zuletzt aktualisiert am 19. Juli 2024.

Fortsetzung von »Magie der Engel und Planeten in der Renaissance«

Alchemie, Paracelsus und die deutsche Naturphilosophie

Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim

Die Alchemie spielt in der Esoterik der Renaissance eine bedeutende Rolle. Goodrick-Clarke widmet dieser Disziplin, die ebenso wie andere hellenistische Quellen der westlichen Esoterik in den letzten Jahrhunderten vor Christus in Ägypten ans Tageslicht trat und später durch griechische und arabische Vermittlung nach Westeuropa gelangte, ein weiteres Kapitel seiner Einführung.

Der Ausdruck »Alchemie« stammt aus dem arabischen »al kimia«, das vermutlich auf das griechische »chymia« (Metallguss) oder »chymos« (Flüssigkeit) zurückgeht. Obwohl schon im späten Mittelalter viele alchymische Texte zugänglich waren, erlebte Europa zwischen 1550 und 1650 eine wahre Flut alchymischer und medizinisch-chemischer Publikationen. Ihre rasche Verbreitung in dieser Zeit verdankt die Alchemie ihrer Verknüpfung mit neuplatonischen und hermetischen Deutungen der Natur, besonders aber mit der Kontroverse, die sich um Paracelsus (1493-1541), den Pionier der chemischen Medizin  entspann, dessen Denken und Praxis auf einer solchen Deutung fußten.

Islamische und mittelalterliche Alchemie

Jabir ibn Hayyan (ca. 720-800), der Pionier der arabischen Alchemie, bewegte sich im Rahmen der aristotelischen Naturauffassung. Die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer sind die Grundlage der aristotelischen Physik, die vier mit ihnen zusammenhängenden Säfte im menschlichen Organismus (Blut, gelbe und schwarze Galle und Schleim) die Grundlage der Medizin Galens. Durch die Vertauschung ihrer Eigenschaften (heiß, trocken, kalt, feucht) können die Elemente ineinander übergehen. Die Umwandlung der Stoffe ineinander ist also bereits bei Aristoteles angelegt. Jabir vertrat die Auffassung, alle Metalle seien – in unterschiedlichen Mengen und Reinheitsgraden – aus zwei elementaren Prinzipien, Sulphur und Merkur, zusammengesetzt. Diese Prinzipien hatten nichts mit unserem Begriff der chemischen Elemente zu tun. Sulphur wurde als Prinzip der Verbrennung und Färbung betrachtet. Dass er vorhanden war, bewies die Tatsache, dass die meisten Metalle durch Verbrennung eine erdartige Form annahmen. Merkur besaß die Eigenschaften der Brüchigkeit, Formbarkeit und des Glanzes.

Jabir stand auch unter dem Einfluss der hermetischen Tradition, der die Araber bei ihrer Eroberung Ägyptens nach 640 begegneten. Die arabische hermetische Literatur hat diese Begegnung in die Form einer Legende gegossen, die berichtet, im Grab des Hermes seien dessen Offenbarungen zur Theosophie, Astrologie und Alchemie gefunden worden – so wie später die Weisheit der Rosenkreuzer im Grab des Christian Rosenkreutz aufgefunden worden sein soll. Diese Offenbarungen des Hermes waren unter anderem in einem Text enthalten, der von den Arabern als Quelle alter Weisheit besonders verehrt wurde: der sogenannten »Smaragdenen Tafel«. Dabei handelt es sich um eines der ältesten erhaltenen alchymischen Dokumente überhaupt. Von der Esoterik der Renaissance wurde es, nachdem es im 14. Jahrhundert bekannt geworden war, in den Status eines »Gründungsdokumentes« erhoben. Das Motiv »Wie oben, so unten«, mit dem es eröffnet, kodifiziert die Korrespondenz zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, während der Begriff der »Abwandlung« oder »Umwandlung« (lateinisch »adaptio«), den der Text ebenfalls verwendet, sich auf die schrittweise Entfaltung des Universums bezieht. Beide Ideen sind für die westliche Esoterik zentral.

Der Text der »Smaragdenen Tafel« lautet wie folgt: »Es ist wahr, über allen Zweifel erhaben und gewiss: Was unten ist, ist wie das, was oben ist, und was oben ist, ist wie das, was unten ist, um die Wunderwerke des Einen zu vollbringen. Und da alle Dinge aus der Vermittlung dieses Einen kommen, werden alle Dinge durch Umwandlung aus diesem Einen geboren. Die Sonne ist der Vater und der Mond die Mutter. Der Wind trägt es in seinem Leib. Die Erde ist seine Amme. Es ist der Vater aller Wunder der Welt. Seine Macht ist vollkommen. Wenn es auf die Erde kommt, trennt es die Erde vom Feuer und das Grobe vom Feinen. Voller Weisheit steigt es von der Erde zum Himmel hinauf und wieder herab, so dass es die Kräfte der höheren und der niederen Dinge empfängt. So wirst du das Licht der ganzen Welt erlangen und alle Finsternis wird von dir weichen. Es ist die Macht aller Mächte, denn es durchdringt alles Himmlische und alles Irdische. Auf diese Weise wurde die Welt erschaffen. Aus ihm gehen wunderbare Umwandlungen hervor, und der Weg zu ihnen wird hier mitgeteilt. Deswegen werde ich Hermes Trismegistos genannt, da ich im Besitz der Weisheit der drei Welten bin.«

Jabirs Werke gliedern sich in vier Gruppen: »Die hundertundzwölf Bücher« leiten sich aus der »Smaragdenen Tafel« her; »Die siebzig Bücher« wurden im 12. Jahrhundert von Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt; »Die zehn Bücher der Berichtigung« beschreiben die angeblichen alchymischen Entdeckungen alter Weiser wie Pythagoras, Sokrates, Plato und Aristoteles; »Die Bücher des Gleichgewichts« enthalten Jabirs Interpretation der aristotelischen Theorie der vier Elemente. Eines der Bücher Jabirs bezieht sich auf eine Zusammenkunft antiker Philosophen, die über Alchemie diskutieren. Dabei handelt es sich möglicherweise um eine Anspielung auf ein berühmtes Werk, die »Turba Philosophorum« (»Zusammenkunft der Philosophen«), die in lateinischen Manuskripten im 13. Jahrhundert auftauchte. Das 1572 erstmals gedruckte Werk kombiniert arabische und griechische Quellen und stand unter den europäischen Alchemisten des Mittelalters in hohem Ansehen.

Ein weiterer bedeutender arabischer Alchemist war Abu Bakr ibn Zakariyya (825-925). Nach seinem Geburtsort Ray in der Nähe Teherans, dem antiken Rhagae, wurde er Razi (Rhazes), der »Mann aus Ray« genannt. Razi entfaltete als Arzt, Forscher und Autor internationale und langanhaltende Wirkungen. Manche seiner ins Lateinische übersetzten Bücher waren im 17. Jahrhundert an holländischen Universitäten immer noch Pflichtlektüre. Auch wenn Razi nicht der Theorie des Gleichgewichts von Jabir anhing, hielt er doch die Umwandlung der Metalle ineinander für möglich. Aus seiner Sicht war das Ziel der Alchemie die Umwandlung der Grundmetalle in Silber und Gold. Er hielt es auch für möglich, mit Hilfe von Elixieren gewöhnliche Quarzkristalle zu Diamanten, Rubinen und Saphiren zu veredeln. Razi vertrat die Sulphur-Merkur-Theorie Jabirs, die sich dank Paracelsus in der späteren alchymischen Literatur durchsetzte.

Das frühe mittelalterliche Europa kannte die Künste des Färbens, der Malerei, der Glaserzeugung, des Goldschmiedens und der Metallurgie, nicht aber die Alchemie, die erst seit dem 12. Jahrhundert aus der muslimischen Welt in das lateinische Abendland einwanderte. Sizilien und besonders Spanien – mit seinen Kollegien und Bibliotheken in Toledo, Barcelona und Segovia – wurden zu wichtigen Zentren der Verbreitung der arabischen Gelehrsamkeit. Die Sulphur-Merkur-Theorie vetraten so bedeutende mittelalterliche Alchemisten wie Roger Bacon (1214-1294), Arnold von Villanova (ca. 1235-1312) und Raimundus Lullus (ca. 1232-1316). Im frühen 14. Jahrhundert kam es in Europa durch bessere Öfen und Bekanntschaft mit der Destillation zu beachtlichen Entwicklungen in der Laboratoriumstechnik. In England widmete Sir George Ripley (ca.1415-1490), ein Kanoniker der Abtei Bridlington, 1470 sein Buch »The Compound of Alchemy«, König Edward IV., während sein Nachfolger, Thomas Norton (ca.1433-1513) sein berühmtes »Ordinall of Alchimy« ebenfalls mit einer Widmung an den König versah.

Trotz ihrer Betonung der Praxis besaß die mittelalterliche Alchemie zwei Seiten: eine äußere, exoterische und eine innere, esoterische. Äußere Techniken zielten in der Regel auf die Erzeugung des »Steines der Weisen«, einer wunderbaren Substanz, die imstande sein sollte, die Ausgangsmetalle Blei, Zinn, Kupfer, Eisen und Quecksilber in kostbares Silber und Gold umzuwandeln. Aber dem Stein schrieb man nicht nur diese Kraft der Umwandlung zu. Als Elixier sollte er auch das menschliche Leben unbegrenzt verlängern. Da man den Stein der Weisen oft unter Anrufung der göttlichen Gnade herzustellen versuchte, entwickelte sich die Alchemie esoterisch zu einer spirituellen Disziplin. In diesem Zusammenhang wurde die Umwandlung der Metalle zu einem Symbol für die Umwandlung des gefallenen, sündenbeladenen Menschen in ein reines, vollkommenes Werkzeug des göttlichen Willens. Die äußerlichen Tätigkeiten und Prozesse des Laboratoriums waren zugleich Übungen in religiöser Demut und schlossen Gebete sowie die Kommunikation mit Engeln oder anderen himmlischen Wesen ein.

Paracelsus

Paracelsus (1493-1541) war eine dominierende Gestalt in der Medizin und Alchemie des 16. Jahrhunderts. Heute wird er je nachdem als der erste moderne Theoretiker der Medizin betrachtet, als Begründer der Iatrochemie, der Antiseptik und der modernen Wundchirurgie, oder aber als Erfinder der Homöopathie. Paracelsus lehnte die scholastische Gelehrsamkeit der antiken und mittelalterlichen Medizin ab und suchte nach einer neuen Heilkunst, die auf Experimenten und Beobachtung und einer neuen Philosophie beruhen sollte. Die Natur und der Mensch waren seine Erkenntnisquellen. Seiner Auffassung nach übertrafen ein frommer christlicher Glaube, das Zeugnis der Sinne und ein System von Korrespondenzen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos das Buchwissen, das aus antiken Autoritäten wie Hippokrates, Galen und Avicenna geschöpft war. Seine radikale Zuwendung zur Medizin, sein populärer Stil und seine Verachtung für Experten und Inkompetenz trugen ihm überall die Feindschaft der Autoritäten ein und führten dazu, dass er als »Luther der Mediziner« bezeichnet wurde. Paracelsus reicherte die Alchemie mit hermetischen und neuplatonischen Ideen an und schuf ein gedankliches Modell, um die Einheit und gegenseitige Abhängigkeit von Natur, Mensch und Gesundheit zu erklären.

Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, »Paracelsus«, wurde 1493 in Einsiedeln in der Schweiz geboren. Seine Mutter starb, als er noch ein Kind war. 1502 zogen er und sein Vater infolge der Schwabenkriege (1499) nach Villach in Kärnten. Hier wirkte Wilhelm von Hohenheim für den Rest seines Lebens als Arzt und ermunterte seinen Sohn zu einem Studium der Naturgeschichte und der Medizin. Paracelsus besuchte vermutlich örtliche Klosterschulen in der Nähe von Klagenfurt. Die Bergbauschule der Fugger und ihre Minen in der Nähe von Villach boten Vater und Sohn ein reiches Feld für chemische und medizinische Beobachtungen und Spekulationen. Zu seinen späteren Lehrern gehörten vier Bischöfe und der berühmte Kabbalist Johannes Trithemius. Paracelsus bereitete sich vermutlich in Wien zwischen 1509 und 1512 auf das Baccalaureat vor. Danach studierte er an der Universität von Ferrara, wo er 1513 seinen Doktor erwarb.

Der junge Doktor unternahm eine Reihe ausgedehnter Reisen quer durch Europa. Zwischen 1517 und 1524 wanderte er durch Frankreich nach Spanien und Portugal, dann über Frankreich nach England, Deutschland, Skandinavien, Polen, Russland, Ungarn und Kroatien, schließlich durch Italien nach Rhodos, Konstantinopel und möglicherweise Ägypten. Während dieser Zeit diente er als Feldchirurg in den Kriegen Venedigs, Hollands, Dänemarks und der Tataren. Zu seinen Erfahrungen als Chirurg fügte er den Reichtum lokaler und traditioneller Volksheilkunde hinzu, den Kräuterkundler, Bademeister, Bauern, Zigeuner und Magier besaßen, denen er auf seinen Reisen begegnete.

Paracelsus wollte eine neue Medizin begründen, die das Beste aus dem akademischen Wissen und den Erfahrungen des Landvolkes zusammenbrachte. Dieses unkonventionelle Vorhaben wurde zu seiner Bestimmung. Im spätmittelalterlichen Europa waren die Ärzte Akademiker, die selten am Krankenbett standen, während Bader (Chirurgen) zwar eine Erfahrungsheilkunde betrieben, aber keinerlei Theorie besaßen. Apotheker lebten gut von den Kräuterrezepten Galens und Avicennas, die immer noch von den akademischen Ärzten verschrieben wurden. Die Reform der Medizin, die Paracelsus vorschwebte, stellte für alle Gruppen eine Bedrohung dar. Sein Leben wurde zu einer endlosen Reihe von Auseinandersetzungen, wo immer er versuchte, sich niederzulassen und zu praktizieren.

Im Dezember 1526 ging er nach Straßburg, befreundete sich mit den dortigen protestantischen Reformern und erwarb deren Anerkennung. Zu diesen Reformern gehörten Nicolaus Gerbelius, Kaspar Hedio, Wolfgang Capito und Johannes Oecolompadius. Capito führte Paracelsus in den Basler Humanistenkreis ein. Im Zentrum dieses Kreises stand der Verleger Froben (Frobenius), der Paracelsus mit Erasmus von Rotterdam und den Amerbach-Brüdern bekannt machte. Humanisten, reformierte Geistliche und das Publikum fanden seine Freundschaft mit führenden Reformatoren, seine medizinischen Fähigkeiten und seine Opposition gegen die scholastische Medizin gleichermaßen anziehend. Der protestantische Theologe Oecolompad war im Rat seiner Heimatstadt Basel äußerst einflussreich und erreichte im März 1527 die Ernennung seines Schützlings zum Stadtarzt.

Paracelsus brachte nur zehn Monate in Basel zu, aber diese Zeit stellt den Höhepunkt und die entscheidende Krise seines Lebens dar. Die Stelle als Stadtarzt gab ihm das Recht, an der Universität Vorlesungen zu halten. Aber Paracelsus forderte die Autoritäten der Universität heraus, indem er die praktische und theoretische Medizin lehrte, die er aus seinen Erfahrungen kannte, statt die Theorien des Hippokrates und des Galen. Außerdem hielt er seine Vorlesungen nicht in Latein für eine akademische Elite, sondern in Deutsch vor einem großen und begeisterten Publikum, zu dem sowohl Studenten als auch Bader gehörten. In diesen Vorlesungen stellte Paracelsus den Kern seiner Medizin dar. Doch die Feindschaft der Fakultät und andere Auseinandersetzungen zwangen in Anfang 1528 dazu, Basel zu verlassen.

Nun trat er in die fruchtbarste Phase seiner medizinischen Publizistik ein. Er schrieb das »Paragranum« (1529-1530), das die Medizin auf vier Säulen gründete: eine Philosophie der Natur, die Astronomie (die Beziehung zwischen Mensch und Himmel), die Alchemie (die Wissenschaft von der Herstellung chemischer Medizin) und auf die Tugend (die eingeborene Kraft des Kranken, des Arztes, des Heilkrauts oder Metalles). In St. Gallen vollendete er 1531 sein »Opus Paramirum« – das Werk »jenseits der Wunder«. Dieses Buch enthält seine ausgereiften medizinischen Theorien, eine Darstellung der drei Prinzipien (Sal, Sulfur, Merkur), ein chemisches System der Medizin, das an die Stelle der antiken Lehre der vier Elemente treten sollte, Darstellungen über Verdauung und Ernährung, über das Wesen der Frauen, die Gebärmutter (matrix), Sexualität und Fortpflanzung, Krankheiten, die durch Steine verursacht werden, sowie über psychische Phänomene und Krankheiten, die aus der Imagination entstehen.

In Augsburg veröffentlichte er sein Buch über Chirurgie, »Die große Wundarznei«, an dem er seit Jahren geschrieben hatte. Von Augsburg reiste er weiter nach Mährisch Kromau, um Johann von der Leipnik, einen Würdenträger des Königreichs Böhmen, als Arzt zu beraten. Der Schutzherr verfolgter protestantischer Sekten in Böhmen interessierte sich sehr für die philosophischen Ideen seines Arztes und lud ihn ein, als sein Gast in Kromau zu bleiben. Hier begann Paracelsus sein großes philosophisches Werk »Astronomia Magna oder die ganze Philosophia Sagax der großen und kleinen Welt« zu schreiben (1537-1538) das eine systematische Darstellung der vielfältigen Korrespondenzen zwischen Mikro- und Makrokosmos enthält. Weitere Reisen führten nach Breslau und Wien, wo König Ferdinand Paracelsus zweimal zu einer Audienz empfing. Am 24. September 1541 starb er in Salzburg an einem Schlaganfall.

Paracelsische Alchemie

Die Alchemie spielt im Denken des Paracelsus eine zentrale Rolle. Wie die mittelalterlichen Alchemisten sah er jedoch ihr höchstes Ziel nicht in der Erzeugung von Gold, sondern in der Vollendung dessen, was die Natur unvollendet gelassen hatte. Die paracelsische Alchemie beruht auf der Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos und den vielen Umwandlungen der drei Prinzipien, des flüssigen Merkur, des festen Salzes und des brennbaren Sulfur. Paracelsus berief sich auf Trithemius, der die sieben Metalle, die »Tinkturen« (die schaffenden Prinzipien) und den Stein der Weisen auf drei Substanzen zurückführte: auf Geist, Seele und Leib. Er behauptete, diese seien mit seinen eigenen Prinzipien Merkur (Geist), Sulfur (Seele) und Sal (Leib) identisch. Da Merkur den Geist repräsentierte, war dieses Metall ebenso wichtig wie Gold, das solare Metall. Aber die paracelsische Alchemie behandelte Sulfur, Sal und Merkur als Prinzipien, und nicht als Elemente, wie die mittelalterliche Alchemie dies getan hatte. Und Paracelsus benutzte chemische Reaktionen, um die Vorgänge der menschlichen Physiologie zu erklären; die mittelalterliche Alchemie hatte das Umgekehrte getan.

Paracelsus war von der neuplatonischen Vorstellung inspiriert, das Ganze der Schöpfung – der Himmel, die Erde und die Natur – sei ein Makrokosmos, der sich in einer Vielzahl von Mikrokosmen wiederspiegle, unter denen der Mensch als der vollkommenste hervorrage. Die Analogien zwischen Makro- und Mikrokosmos sind zentral für seine Kosmologie, Theologie, Naturphilosophie und Medizin. Logik und abstrakter Rationalität als Werkzeugen der Wissenschaft stand er höchst misstrauisch gegenüber. Da der Mensch die Spitze der Schöpfung darstellt und all ihre Bestandteile in sich trägt, vermag er – aufgrund der Sympathie zwischen der inneren Repräsentation eines bestimmten Gegenstandes und diesem Gegenstand in der äußeren Welt – die Natur unmittelbar zu erkennen. Für Paracelsus ist diese sympathetische Vereinigung mit dem Gegenstand das Mittel der Wahl, um zu einer tieferen Erkenntnis zu gelangen. Und nach seinem Verständnis hat Erkennen nicht nur mit dem Gehirn, sondern mit dem ganzen Menschen zu tun.

Wie im Neuplatonismus hat auch bei Paracelsus jedes Ding zwei Seiten: einen sichtbaren (materiellen) Teil und einen unsichtbaren (astralen) Teil. Der sichtbare besteht aus den vier Elementen, der unsichtbare aus einem »Überelement«, der fünften Essenz (»Quintessenz«). Der Mensch besitzt als Mikrokosmos einen fleischlichen, elementarischen Leib und einen astralischen Leib (corpus sidereum, Sternenleib), der imstande ist, mit dem astralen Teil des Makrokosmos, den ungeschaffenen Kräften oder direkten Emanationen Gottes in der Natur, zu kommunizieren. Die Erfahrung betrachtet Paracelsus als einen Prozess der Identifikation des Geistes oder Astralleibs mit dem inneren Wissen, das alle Wesen der Natur, die einem Ziel zustreben, in sich tragen. Der Forscher sollte versuchen, das Wissen der Sterne, der Kräuter oder Steine zu »belauschen«, um deren Kraft, Aktivität oder Funktion zu erkennen, und auf diese Weise den astralen Zusammenhang zwischen sich und dem Gegenstand oder Wesen ergründen. Diese Identifikation dringt tiefer in das Wesen eines Gegenstandes ein, als die bloße Sinneswahrnehmung. Die Wissenschaft von der Natur, die Paracelsus vorschwebt, geht in die Tiefe und ist holistisch. »Die Kräuter, Wurzeln, Samen, Bäum, Früchte usw. und alles Edelgestein, das auf Erden ist und in den vier Elementen, die sind nichts anderes als Buchstaben, die etwas in sich haben und vermögen; niemand aber weiß, was die selbigen Buchstaben in sich begreifen; nun können die Kräuter und Samen nicht mit uns reden, dass sie selbst sagten, das und das ist in mir, sondern sie stehen still da und reden und regen sich nicht. Wie soll man nun erfahren, was doch in ihnen sei? … Zu erforschen, was in den Kräutern sei, dazu gehört philosophia adepta [Einweihungswissen], die selbige weiß alle verborgene Dinge, alle Geheimnisse, alle arcana [Geheimnisse] der Natur, was in einem jeglichen Kraut, Samen, Wurzel usw. zu finden ist … Nun ist von nöten, dass wir wissen, was der philosophus adeptus [der Eingeweihte] sei, damit wir von ihm lernen. So wisset, er ist ungreiflich [übersinnlich], unsichtbar, unempfindsam und ist bei uns und wohnt bei uns in aller Gestalt, wie Christus spricht: ›ich bin bei euch bis zum Ende der Welt‹, aber niemand sieht ihn, niemand greift ihn, doch ist er bei uns, – so ist auch der philosophus adeptus bei uns … Der Mensch soll, was die philosophiam adeptam betrifft, nit mit dem Geist, der Fleisch und Blut ist, lernen, sondern er soll durch sein sidereum corpus lernen, alsdann werden ihm alle überelementischen Dinge offenbart. Und nichts ist so Verborgenes, das nicht dem selbigen sidereo corpori von dem philosopho adepto offenbart werde.« (»Philosophia sagax«, I, Kap. 8)

Paracelsus war davon überzeugt, dass Gesundheit und Krankheit mit astralen Einflüssen zusammenhängen und dass letztere beseitigt und die Gesundheit wiederhergestellt werden kann, indem man »arcana« oder Heilmittel benutzt, die bestimmte »Tugenden« oder Kräfte enthalten. »Denn der Arzt, der die Astronomie nicht versteht, der kann kein vollkommener Arzt genannt werden, weil mehr als die Hälfte der Krankheiten vom Firmament regiert wird.« (»Philosophia sagax«, Vorrede) Das Heilmittel stellt die himmlische Harmonie zwischen dem inneren, astralischen Leib des Menschen und dem himmlischen astrum (Stern) wieder her. Die Arznei ist zwar physisch, aber sie enthält ein himmlisches Arcanum (Geheimnis). Die Ärzte müssen daher in der Astrologie bewandert sein, damit sie die Ursachen der Krankheiten erkennen und in der Alchemie, damit sie das entsprechende arcanum zubereiten können. »Das Ziel der Alchemie« so Paracelsus,  »ist nicht … Gold oder Silber zu machen, sondern das arcanum herzustellen und es gegen die Krankheiten einzusetzen.«

Diese philosophischen Ideen führten ihn zu einer neuen Theorie des Stoffes. Nach seiner Auffassung war das Wesen und die Eigenart eines Gegenstandes durch eine ihm innewohnende, spezifische, seelenartige Kraft bestimmt, und nicht durch ihre chemischen Komponenten. Substanzen waren für ihn nur grobe Hüllen, die ein Gefüge spiritueller Kräfte einschlossen und dieses Gefüge spiritueller Kräfte, nicht die körperliche Hülle, war für die Zusammensetzung des Stoffes verantwortlich. Paracelsus spiritualisierte den Stoff, indem er diese geistigen Kräfte zu den wahren Elementen und Prinzipien erklärte, während die Elemente im gewöhnlichen Sinn und die chemischen Substanzen lediglich die kristallisierten Niederschläge dieser Kräfte waren. Die sichtbaren Elemente waren für ihn das Resultat einer Wechselwirkung zwischen den Qualitäten der Hitze, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit und einem ursprünglichen Stoff, der ersten Materie (arche oder usia), von der bereits die Stoiker gesprochen hatten.

Medizinische Reformen

Diese Ansichten des Paracelsus über die Beschaffenheit des Stoffes treten in seinen neuartigen medizinischen Anschauungen deutlich zu Tage. Er verwirft die antike Säftelehre und die mit ihr zusammenhängende Medizin. Seiner Ansicht nach vermögen die vier Säfte und die Temperamente nicht die große Zahl unterschiedlicher Krankheiten zu erklären. Er bestreitet die überragende Rolle der Konstitution, von der die antike Pathologie ausgeht. Seine Pathologie beruht auf der Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Dies führt zu zwei wichtigen Konsequenzen: Paracelsus betrachtet die Krankheit als etwas, das den Körper von außen befällt, und sein Verständnis der Beziehung zwischen dem Menschen und der äußeren Welt lässt ihn nach spezifischen Kuren und Heilmitteln für bestimmte Krankheiten und Funktionsstörungen suchen. Außerdem benutzt er chemische Heilmittel, die auf seinen Ansichten über Sulphur, Sal und Merkur beruhen, und seine Erfolge scheinen ihm gegen Galens Kräutermedizin recht zu geben. Aus diesem Grund wird er oft als Begründer der modernen Medizin und Iatrochemie bezeichnet.

Häufig wird er auch als Vater der Homöopathie betrachtet. Seine chemischen Heilmittel beruhen in der Tat auf den feinstofflichen Verwandtschaften zwischen den Krankheiten und den »Arcana«. Diese Verwandtschaften oder Sympathien treten an die Stelle des antiken Prinzips der Gegensätze, mit dem man die Wirkung der Heilmittel erklärte. Paracelsus verwirft die Vorstellung, ein »kaltes« Medikament könne eine »heiße« Krankheit heilen, die Heilkraft hängt mit anderen Eigenschaften des Medikaments zusammen. Der Krebs zum Beispiel entspricht dem Arsen im Makrokosmos und es heilt ihn, weil die Krankheit selbst arsenischer Natur ist. Ebenso lässt sich ein Stein (eine steinartige Verdichtung in den Nieren zum Beispiel) durch andere Steine heilen, etwa die Scheren einer Krabbe oder Lapislazuli. Das Gift des Skorpions vermag eine Vergiftung durch den Skorpion zu heilen. Paracelsus glaubt, die Besonderheit eines arcanums liege in seiner Anatomie oder Struktur. Da die Anatomie des Heilmittels mit jener der Krankheitsursache identisch ist, ist die Medizin für Paracelsus also iso- oder homöopathisch.

Sein Werk enthält sowohl protowissenschaftliche Ideen als auch moderne wissenschaftliche Theorien. Seine Beiträge zur Medizin sind beeindruckend. Er plädierte für eine humane Behandlung der Patienten, besonders der Geisteskranken, erkannte die Heilkraft der Natur, beschrieb antiseptische Prinzipien, vertrat fortschrittliche Ansichten über die Syphilis, deren Behandlung mit Guajacum und Quecksilber er ablehnte und wusste von der harntreibenden Wirkung des Quecksilbers und seiner Heilkraft bei Wassersucht. Er hat den Zusammenhang zwischen dem Kropf und bestimmten Mineralien erkannt und Untersuchungen von Heilwässern und Beobachtungen der verdauungsfördernden Wirkung bestimmter saurer Gewässer (Balneologie) vorgenommen. Er beschrieb die Krankheit der Bergleute als Berufskrankheit und erkannte, dass Metalle eine größere Vergiftungsgefahr in sich bergen, als Salze. Außerdem verfasste er eine Ätiologie dieser Krankheit mit ihren vielen Symptomen.

Hermetische Einflüsse

Naturphilosophie und Alchemie des Paracelsus begründen eine spezifisch deutsche Spielart des Neuplatonismus der Renaissance. Manche seiner Ansichten gehen mit Sicherheit auf Marsilio Ficino zurück, etwa die Theorie der zwei Welten und ihrer Korrespondenzen, oder die Auffassung, der Arzt sei ein Magier, der mit seiner geläuterten Seele in die spirituelle Hierarchie der Natur eingreift. Für die Annahme dieser Abhängigkeit gibt es in den Werken des Paracelsus eine Vielzahl von Belegen. In Ficinos Verteidigung der Astrologie und Medizin findet sich der Kern des paracelsischen, medizinischen Neuplatonismus.

Ficino setzte sich mit Einwänden gegen seine Ansichten auseinander. »Gewiss ist Ficino ein Priester«, werden die Leute sagen. »Was hat ein Priester mit Medizin zu tun?« »Und was mit Astrologie?« »Warum sollte er sich als Christ für Magie und Bildzeichen interessieren, und für die Lebenskräfte, die den ganzen Kosmos durchdringen?« Ficino entgegnete auf diese Einwände, die ältesten Priester – die Chaldäer, Perser und Ägypter – seien sowohl Ärzte als auch Astronomen gewesen und hätten dadurch der Frömmigkeit und Nächstenliebe gedient. Der größte Akt der Nächstenliebe besteht für ihn darin, einem anderen dabei zu helfen, einen gesunden Geist in einem gesunden Körper zu pflegen. Dieses Ziel erreicht man am besten, wenn man die Haltung eines Priesters mit der eines Arztes verbindet. Denn da die Medizin ohne die himmlische Gnade wirkungslos, ja sogar schädlich ist, muss der Arzt sich mit der Astronomie beschäftigen, die ihn zu jener priesterlichen Nächstenliebe führt, deren Ausdruck seine ärztliche Kunst ist.

Ficino sprach vom Magier auf die gleiche Art wie vom priesterlichen Arzt. Die Magie ist nicht jene profane Beschäftigung mit Dämonen, für die man sie hält, sie enthüllt die himmlischen Eigenschaften, die in den Dingen der Natur verborgen sind, und fördert durch sie die Gesundheit. Es handelt sich um »natürliche Magie«, die einen überlegenen Geist voraussetzt, der himmlische und irdische Elemente verbindet und zum Ausgleich bringt. Ein solcher Geist ermöglicht es dem Magier, die untere Welt nach himmlischen Konstellationen auszurichten und damit der Beförderung der Glückseligkeit des Menschen zu dienen – genauso wie der Bauer den Ackerboden pflegt, das Wetter und die Luft beobachtet, um das Gedeihen der Nahrung zu fördern. Weisheit und Priestertum, nicht düstere Praktiken und Gift, sind die Quelle der Aktivität und der Erfolge des Magiers.

Nach Walter Pagel stellt das gesamte Leben und Werk des Paracelsus einen Versuch dar, dieses Ideal des priesterlichen Arztes zu verwirklichen. Zwischen den Ideen Ficinos und jenen des Paracelsus gibt es viele Parallelen. Ficino war – neben Hippokrates – einer der wenigen Ärzte, die Paracelsus nicht verurteilte. Für ihn war Ficino »Italorum medicorum optimum« (der beste der italienischen Ärzte). Ficinos Werk »De triplici vita« (»Vom dreifachen Leben«, 1489) inspirierte sein eigenes Buch »De Vita Longa« (»Vom langen Leben«) und er zitierte darin zustimmend das Werk des »egregius medicus Marsilius Ficinus.«

Ficinos Einfluss zeigt sich in Paracelsus’ Deutung der Pest und seinen Vorschlägen zu ihrer Behandlung. Hier werden die chemischen Theorien Ficinos in einem spezifisch paracelsischen Kontext makrokosmischer und mikrokosmischer Kräfte ausgearbeitet, ohne gewisse Ansichten Galens gänzlich aufzugeben. In seinem Werk »Gegengift gegen Epidemien« verabschiedete Ficino die scholastischen »Qualitäten« und konzentrierte sich auf spezifische Giftstoffe: die Dämpfe, welche die Pest übertragen, sind laut Ficino ihrer ganzen Struktur nach dem Lebensgeist entgegengesetzt, der im Herzen wohnt. Das Pestgift zeigt den zersetzenden und entzündlichen Charakter von Kalzium und Arsen. Schädliche Konstellationen, zum Beispiel eine Konjunktion von Mars und Saturn, erzeugen, stärken und unterstützen die Wirkung des Giftes. Der Einfluss der Gestirne ist auch für die Ansteckung von Tieren verantwortlich. Die relative Widerstandsfähigkeit älterer Menschen wird von Saturn als Jahresherrscher zunichte gemacht, wie es bei der Pestepidemie 1479 in Florenz der Fall war, die jeden Tag 150 Todesopfer forderte.

Paracelsus übernahm diese chemischen Pesttheorien in seine Vorlesungen über die »tartarischen Krankheiten« im Winter 1527-28 und bezeichnete 1529-30 in seiner Nördlinger Abhandlung Mars und Sulphur als unmittelbare Krankheitsursachen. Nach hermetischen Prinzipien sah er in der Pest einen Blitz aus dem Himmel, der bestimmte Prozesse der Umwandlung von Stoffen in der Natur und die verwandten Prozesse im Menschen beeinträchtige. Aber an erster Stelle erzeugt der Mensch selbst die »semina« (Samen) der Krankheit, indem er ein ansteckendes »contagium« bildet. Dabei handelt es sich um einen physischen Stoff. Aber dieser wird durch etwas Nichtkörperliches erzeugt, nämlich die sündige Leidenschaft und Imagination des Menschen. Paracelsus spricht der (neuplatonischen) Imagination eine Rolle bei der Krankheitsentstehung zu, was die Einwirkung des Seelischen auf den Körper und umgekehrt voraussetzt und den Dualismus zwischen beiden überwindet. Der nichtkörperliche Geist wirkt auf den Stoff ein und umgekehrt: das ist ein Gedanke, der auch in Tommaso Campanellas »Sensus Rerum« begegnet und später in der Philosophie Van Helmonts und Leibnizens.

Paracelsische Naturphilosophie und deutsche Mystik

Den durch Ficino, Mirandola, Reuchlin und Agrippa vermittelten Höhepunkt der hermetischen Inspiration sieht man für gewöhnlich in einem Werk mit dem Titel »Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und kleinen Welt« (1537-38), das die philosophische Weltsicht des Paracelsus rund fünf Jahre vor seinem Tod zusammenfasst. Das Werk zeugt von seiner hermetischen Philosophie. Der Mensch ist aus dem Makrokosmos entstanden und lebt in diesem. Das »Licht der Natur« offenbart die allumfassende Wechselwirkung aller Lebewesen, der irdischen und der himmlischen. Der Magier kann die Erkenntnis der himmlischen und irdischen Welt erlangen, und Gutes in der Natur bewirken, so wie der Naturphilosoph oder Arzt auch. Auch die Seelenlehre des Paracelsus ist neuplatonisch: »So sind im Menschen zwei Leiber, einer aus den Elementen, der andere aus dem Gestirn, weshalb diese zwei Leiber sonderlich gut zu begreifen sind. Durch den Tod kommt der elementische Leib mit seinem Geist in die Grube, und die ätherischen werden in ihrem Firmament verzehrt, und der Geist des Bildnisses geht zu dem, dessen Bildnis er ist [zu Gott nämlich].« Die gesamte »Astronomia Magna« ist von einer dreigliedrigen Struktur durchzogen: alles ist irdisch, himmlisch und überhimmlisch-ewig, was dem Körper, der Seele und dem Geist entspricht. Der Geist ist göttlich und kehrt, wie in der neuplatonischen Philosophie Ficinos, zu Gott zurück. Bei Paracelsus, in den Werken Ficinos, Mirandolas und Agrippas, in der Theurgie John Dees und Robert Fludds wunderbaren Stichen, – überall begegnet man derselben dreifaltigen hierarchischen Welt der neuplatonischen Kosmologie.

Aber Paracelsus grenzt stets das Ewige und das Zeitliche von einander ab. Der Mensch, die Natur und die Sterne stellen die mikro-makrokosmische Welt des Lebendigen dar, in der alles miteinander verbunden und voller wunderbarer Korrespondenzen ist. Die Natur offenbart die göttlichen Siegel und Signaturen (die Emanationen aus Gott), die der Arzt lesen, verstehen und seinem Handeln zugrunde legen muss. Der Magier oder Priester-Arzt kann sie erkennen und anwenden, denn er verkörpert dieses geheimnisvolle Wissen in sich selbst, da er seinerseits ein Abbild der bedeutungsvollen, hermetischen Ordnung der Schöpfung ist. Aber all dies ist für Paracelsus doch nur zeitlich und vergänglich. Daneben gibt es eine ewige Weisheit, die »unmittelbar aus dem Hl. Geist hervorgeht« und der Mensch vermag beide Arten des Wissens zu unterscheiden, weil er selbst ein Bild Gottes ist, bzw. das Bild Gottes in sich trägt.

Die herausragende Rolle, die Christus als Vermittler zwischen Mensch und Gott spielt, zeugt vom Einfluss des fideistischen Christentums, das für die deutsche Reformation typisch ist, auf die paracelsische Kosmologie und Naturphilosophie. Selbst in seinem Spätwerk findet man diese Unterwerfung unter den Herrn des Glaubens: »Die Tiere empfangen ihre Natur von den Sternen, der Mensch sein sterbliches Wissen, seine Vernunft und seine Kunst – und alles, was aus dem Licht der Natur kommt, muss vom Licht der Natur gelernt werden, ausgenommen das Bild Gottes, das dem Geist untersteht, den Gott dem Menschen gegeben hat. Der Geist unterrichtet den Menschen in den übernatürlichen und ewigen Dingen und nach der Trennung des Geistes vom Stoff kehrt er zum Herrn zurück.«

Die Nachwirkungen des Paracelsus

Diese Ansicht ist ein weiteres Beispiel für die Art, wie Paracelsus hermetische Vorstellungen des Zerfalls und der Wiederherstellung mit der christlichen Idee der Erlösung verknüpft. Seine Auffassung, der gesamte Makrokosmos sei das Ergebnis eines Prozesses der Zergliederung, ist grundlegend für seine ganze Philosophie. Die Entstehung der Arten und Individuen zerbricht die ursprüngliche göttliche Einheit und Einfachheit. Die gesamte Natur unterliegt diesem Prozess der Vervielfältigung und Zersplitterung, der zugleich Niedergang und Sterben (putrefactio) impliziert. Die Summe dieser Zerfallsprozesse bezeichnete Paracelsus als »Cagastrum« (von»kakon astron«, schlechte Sterne): weil alle Kreaturen von ihnen betroffen sind, sind alle sterblich und kehren am Ende ins Nichts zurück. Aber der Christ ist erlöst. Die Erlösung verdankt der Mensch der Sühnetat Christi. In seiner Nachfolge wird der Christ, indem er den sakramentalen Leib des Erlösers in sich aufnimmt, zu Gott zurückkehren. Paracelsus hält – im Unterschied zu Caspar Schwenckfeldt und anderen – an der Menschwerdung fest, kündigt aber gleichzeitig die spätere spiritualistische Christologie des Protestantismus an, wie sie in Jakob Boehme oder Valentin Weigel erscheint.

Carlos Gilly sieht im umfangreichen, erst in jüngster Zeit veröffentlichten theologischen Werk des Paracelsus die Grundlagen einer religiösen Strömung Mitteleuropas, die sich im späten 16. und 17. Jahrhundert über den Streit der Konfessionen erhob. In seinem Buch »De septem puncti idolatriae christianae« (»Sieben Thesen über die christliche Götzenverehrung«, 1525) lehnte Paracelsus die »Mauerkirche« ab. Er wollte aber keine neue Sekte begründen, sondern kämpfte für eine »Geistkirche«, die allein Gott und der Natur verpflichtet war. Seine Religion der »beiden Lichter«, des »Lichtes der Gnade« und des »Lichtes der Natur«, wurde von Adam Haslmayr (ca. 1560-1630), dem ersten Kommentator der rosenkreuzerischen Manifeste, aufgegriffen, der sich auf das Vorbild des Paracelsus berief. Halsmayr bezeichnete die Offenbarung des Paracelsus als »Theophrastia Sancta« und dieser Begriff wurde unter den Anhängern Valentin Weigels zum Namen für ein neues Evangelium, für eine wirklich radikale Reformation.

In seinen Ansichten und Reformvorschlägen war Paracelsus kompromisslos. Mensch und Werk zeichnen sich durch eine epische Qualität aus, und so überrascht es nicht, wenn seine Ideen und seine Wirkung seine Lebenszeit lange überdauert haben. Während seines Lebens wurden nur wenige seiner Schriften veröffentlicht, erst ab den frühen 1550er Jahren wurden mehr und mehr Werke von ihm publiziert. Die Vielzahl an Veröffentlichungen bis in die 1570er Jahre geht auf das Engagement früher Paracelsisten zurück,  zu denen Adam von Bodenstein, Michael Toxites, Gerard Dorn und Theodor und Arnold Birckmann gehörten. Seine gesammelten Werke wurden erstmals von Johannes Huser aus Waldkirch (Baden) 1589-1591, dann 1603 und 1605 veröffentlicht. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts gab Paracelsus der Rosenkreuzerbewegung einen starken Auftrieb, inspirierte Michael Maier (1568-1622) und den berühmten christlichen Mystiker Jakob Boehme. Weitere Paracelsisten waren Oswald Croll, John Dee, Francis Anthony und Robert Fludd. Zu dieser Zeit übte er den größten Einfluss in Medizinerkreisen aus, wurde aber in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts vom rationalistischen Empirismus zurückgedrängt.

Goethe, Novalis, Schelling und andere Romantiker entdeckten Paracelsus Ende des 18. Jahrhunderts wieder und sahen in ihm einen Vertreter ihrer eigenen Naturphilosophie. Seine Werke wurden von Theosophen wie H.P. Blavatsky, Franz Hartmann und Rudolf Steiner popularisiert, die in ihm eine führende Gestalt der Renaissance des Neuplatonismus und einen Vertreter der Tradition der »Alten Weisheit« sahen. Der Schweizer Psychoanalytiker und Esoteriker C.G. Jung betrachtete die antike hellenistische Religion, insbesondere die Gnosis, als Schlüssel zum Unbewussten. In den späten 1920er Jahren befasste sich Jung mit der Alchemie als einer historischen Brücke zwischen der gnostischen Religion und seiner eigenen Psychologie. Zwei seiner frühen Werke waren »Die Symbolik der Träume im Individuationsprozess« (1935) und »Die Idee der Erlösung in der Alchemie« (1936). Jung zählte Paracelsus und dessen Schüler Gerard Dorn zu den bedeutendsten Alchemisten. Wie die Paracelsisten des 17. Jahrhunderts schätzte Jung Paracelsus wegen seiner Lehre von den beiden Erkenntnisquellen. Außerdem betrachtete er ihn als Pionier der Erforschung des Unbewussten. Indem er Paracelsus als »Vorläufer der modernen Psychologie des Unbewussten« darstellte, wies er ihm die Rolle eines »Pioniers der empirischen Psychologie und Psychotherapie« zu.

Die esoterischen Ideen des Paracelsus über das kosmische All-Leben, die Vergeistigung des Stoffes und die göttliche Natur von Kraft und Energie sind heute Bestandteile der neuen Wissenschaftsphilosophien des Vitalismus und Holismus und gehören zu den Archetypen der Jungschen Psychoanalyse. Auch im Aufblühen des Interesses an alternativer Medizin kann man die zeitlosen Ideen des Paracelsus wiederfinden. Er steht an der Grenze zwischen der Renaissancephilosophie und ihrer empirischen Anwendung in der Naturwissenschaft und Medizin und zeugt für die Brauchbarkeit der Schlüsselideen der Esoterik: der Idee der Korrespondenz, der lebendigen Natur, der Vermittlung und der Imagination. Und seine Ansichten über die Transmutation verbinden die medizinische Alchemie mit dem menschlichen Bedürfnis nach göttlicher Gnade.

Fortsetzung:

Jakob Boehme und die christliche Theosophie


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