Die Engel Avicennas – III

Zuletzt aktualisiert am 24. Juli 2024.

Kosmische Geistwesen: Himmlische Engel oder Seelen

Die Engel Avicennas – III

Der Prophet und die Engel

Ein Beispiel für die Modifikation des dreifältigen Rhythmus mit dem das Dasein der Himmelsseelen verbunden ist, begegnet in der Abhandlung, die den lateinischen Scholastikern unter dem Namen Philosophia Algazelis bekannt war. Hier gibt es nur zwei »Dimensionen« auf jeder Stufe der kosmischen Prozession. Die Erste Intelligenz ist – für sich betrachtet – bloß möglich, in bezug auf ihren Seinsgrund betrachtet, ist sie dagegen notwendig. Insofern sie bloß möglich ist, existiert sie virtuell, insofern sie notwendig ist, existiert sie tatsächlich. Nun erkennt sie ihr eigenes Sein und ihren Seinsgrund und diese doppelte Erkenntnis erzeugt zwei weitere Wesen: einen anderen Engel und einen Himmel. Es gibt also keine Seele mehr, um eine Triade zu bilden; diese Tatsache beseitigt die Beziehung der Seele zur Erzengel-Intelligenz, aus der sie hervorgeht, die Beziehung, die der Avicennismus als Urbild der Beziehung der Menschenseele zu ihrer aktiven Intelligenz betrachtete. Der gesamte Bau der Engellehre wird dadurch untergraben und mit ihm das Fundament, auf dem die von ihr abhängige Psychologie erbaut war.

Der Averroismus sollte den härtesten Schlag gegen die Engellehre Avicennas führen. Averroes kritisiert die kosmische Engellehre Avicennas wegen ihres triadischen Aufbaus, der die Sphärenseelen zwischen die reinen Intelligenzen und die Körper der Himmelssphären stellt. Der Beweger einer Sphäre ist ein Vermögen, eine begrenzte Kraft, die dennoch aufgrund ihrer Sehnsucht nach einem Wesen, das weder ein Körper noch eine Kraft ist, die einem Körper innewohnt, sondern eine reine Intelligenz, zu einer unbegrenzten Kraft wird. Indem er diese Intelligenz erkennt, sehnt sich der Beweger der Sphäre in unendlichem Verlangen nach ihr, und aus dieser unendlichen Sehnsucht entsteht die ewige Bewegung seines Himmels. Aber wenn man diese Kraft als Seele bezeichnet, dann handelt es sich lediglich um die Übertragung eines Wortes, das der Bezeichnung von Kräften dient, die in der sublunaren Welt die Körper beleben, auf etwas anderes. Die averroistische Engellehre kann die zwiefältige Engelshierarchie des Avicenna nicht akzeptieren, die nicht nur für die Kosmologie, sondern auch für die Anthropologie von zentraler Bedeutung ist. Im Gegenteil, wer die Idee der Himmelsseelen Avicennas akzeptiert, begeht laut Averroes einen »philosophischen Anfängerfehler«.

Die averroistische Kritik untergräbt auch die Ordnung des ewigen Hervorgangs des Pleromas der Engelwelt; sie behauptet, die Anwendung des berühmten Grundsatzes »aus dem Einen geht stets Eines hervor« sei ebenso unangebracht, wie die Annahme himmlischer Engel als Beweger der Sphären. Averroes will Peripatetiker im strengsten Sinn des Wortes sein. Daher erscheint ihm die Idee einer reinen Intelligenz, die der Seinsgrund der auf sie folgenden Intelligenz ist, ebenso wenig einsehbar, als die Idee einer schöpferischen Ursache. Trotzdem bedarf der Kosmos eines Prinzip der hierarchischen Unterordnung, die aber ganz anders zu denken ist. Nach der »Metaphysik« des Aristoteles wird jede Sphäre vom Wunsch bewegt, der Intelligenz gleich zu werden, zu der sie gehört; eine jede bildet mit ihrer Intelligenz eine Art geschlossenes System. Laut Averroes sehnt sich jeder einzelne Beweger einer Himmelssphäre in gleicher Weise nach der bewegenden Intelligenz der höchsten Sphäre. Dies eröffnet die Möglichkeit, die absteigende Ordnung der Prozession Avicennas umzukehren, nach der jede Intelligenz durch ihre Selbsterkenntnis die auf sie folgende Intelligenz und die Seele ihres eigenen Himmels hervorbringt. Nun vermag die reine Intelligenz der Seinsgrund einer himmlischen »Seele« zu sein, nicht weil sie diese Seele erkennt, sondern weil sie von dieser »Seele« erkannt wird; die reine Intelligenz ist nicht länger die hervorbringende Ursache, der Seinsgrund, sondern die Zielursache, das Strebensziel, oder besser – insofern und – weil sie die Zielursache ist, ist sie zugleich der Seinsgrund. So betrachtet kann die bewegende Intelligenz der höchsten Himmelssphäre als Gegenstand der Sehnsucht die Zielursache aller himmlischen Beweger sein. Daher muss der berühmte Grundsatz »aus Einem geht nur Eines hervor« aufgegeben werden, und mit ihm auch die Ordnung der Kausalität, die er bedingte. Wenn einmal zugegeben wird, dass das, »was erkannt wird, die Ursache des Erkennenden ist«, scheint es, als ob ein und dieselbe erkennende und erkennbare Substanz gleichzeitig der Seinsgrund vieler Wesen zu sein vermag, da diese unterschiedlichen Wesen alle ein und dieselbe Substanz nach Maßgabe ihrer jeweiligen Möglichkeiten erkennen. Der Beweger des Körpers des Ersten Himmels erkennt am Ersten Beweger etwas anderes, als der Beweger (die Form oder »Seele«) der Saturnsphäre usw.

Man muss nicht ausdrücklich betonen, welche grundstürzenden Auswirkungen diese Auffassung auf die Engellehre hat. Diese Konsequenzen auszuschöpfen ist hier nicht der Ort. So viel sei jedenfalls gesagt, dass in der averroistischen Weltsicht die reinen Akte oder Intelligenzen, die die Himmelskörper bewegen, deren Seinsgründe (hervorbringende Ursachen) sind, weil sie ihnen ihre Form geben und zugleich deren Zielursachen, weil sie ihnen ihre Bewegung geben. Aber die Intelligenzen sind genau deswegen die Ursache ihrer Bewegung, weil sie die Geber ihrer Formen sind, denn »ihre Formen sind nichts anderes als die Ideen, die die Himmelskörper von ihren Bewegern haben«. Nunmehr ist es die Erkenntnis der reinen Intelligenz, ihres Beweggrundes, die eine jede Sphäre dazu veranlasst, sich in ewiger Sehnsucht auf diese zuzubewegen und aufgrund dieser Sehnsucht ist die Intelligenz ihr Beweger. Aus der Sicht des Emanatismus Avicennas stellt die Himmelsseele die Selbsterkenntnis der Intelligenz dar, insofern sie ihr eigenes Wesen als notwendig durch ihren Seinsgrund bedingt erkennt. Und ihr Himmel, der Stoff ihrer Sphäre, stellt die Erkenntnis des Nichtseins dar, das in ihrem Sein enthalten ist, der bloßen Möglichkeit ihres Wesens, wenn dieses rein für sich betrachtet wird, unabhängig von ihrem notwendigen Hervorgehen aus ihrem Seinsgrund. Im Avicennismus drückt die ewige Bewegung, die der Sphäre durch die Seele gegeben wird, nicht ein intellektuelles Verlangen aus – d.h. den gedanklichen Akt, durch den sie ihr Gutes und ihre mögliche Vollendung erkennt, um dadurch die kosmische Ordnung zu erfüllen –, sondern einen Zustand der Unvollkommenheit, eine fehlende Erfüllung, eine Sehnsucht nach dem noch nicht Verwirklichten, eine Art »romantischer Sehnsucht«, wenn man so will.

Die Unterschiede zwischen diesen beiden Engellehren färben natürlich auch auf die Ansichten über die Beziehung der Menschenseele zur aktiven Intelligenz ab. Für Avicenna ist die Wesensverwandtschaft der Himmelsseelen und der Menschenseelen von zentraler Bedeutung. Wird die Eliminierung der Himmelsseele, des himmlischen Engels, der der Ordnung der Kerubim unterstellt ist, nicht notwendigerweise die Eliminierung der Menschenseele, des »irdischen Engels« nach sich ziehen? Das gesamte Schicksal der Seele steht zur Disposition – das Schicksal der Seele, deren ontologischer Status als Mittlerin oder Engel zweiter Ordnung zugunsten des reinen Intellektes verworfen wird.

Auch die Frage nach dem menschlichen Geist wird anders beantwortet werden. Wenn der menschlichen Seele aufgrund ihrer zwei geistigen Fähigkeiten – der betrachtenden und der tätigen, die die zwiefältige Engelshierachie repräsentiert – die Möglichkeit des Engelseins zuerkannt wird, dann erscheint sie wenigstens der Möglichkeit nach – aufgrund der Beschaffenheit ihres Wesens – als dazu berufen, zur reinen Form zu werden. Wird ihre Individualität aus dieser Perspektive immer noch allein aus der Materie, dem einzigen individuierenden Prinzip resultieren, das ausschließlich der Zahl nach unterschiedliche Individuen hervorbringt, die ein und derselben Spezies angehören? Oder muss man sich nicht eine Form der Individuation dieser Seele denken, die ihrer potentiellen Engelhaftigkeit entspricht, die nicht nur nach einer zahlenmäßigen Individuation innerhalb einer Spezies verlangt, sondern nach einer Individuation, bei der jedes Individuum eine eigene Spezies bildet? Diese Frage stellt sich natürlich nicht, wenn man nicht, wie hier, von der Existenz irdischer Engel ausgeht. Die letztere Auffassung der Menschenseele gründet auf der Beobachtung, dass sie über zwei Kräfte – zwei Antlitze – verfügt, die aus ihr eine virtuelle Syzygie nach dem Vorbild des Pleromas der Engel machen. Die Syzygie setzt voraus, dass die individuelle Seele ihren eigenen intellectus possibilis besitzt. Und genau davon geht der Avicennismus aus. Averroes dagegen gesteht dem Individuum lediglich einen intellectus passivus zu, eine bloße Veranlagung zur Aufnahme des Erkennbaren, die mit dem Körper zugrunde geht. Dies ist in der Tat das große Problem des Averroismus: wie steht es mit der individuellen Unsterblichkeit?

Das Problem hat das Abendland Jahrhunderte lang beschäftigt. Es in seinen Untiefen auszuloten, ist hier nicht möglich. Es ist aber nicht weiter schwierig die Differenzen hinsichtlich der Beziehung des individuellen Intellekts zur aktiven Intelligenz zu erkennen, auf der die Idee einer Pädagogik der Engel fußt, die es der Seele erlaubt, ihre Reise in den Orient anzutreten. Aus averroistischer Sicht ist die Empfänglichkeit des passiven Intellekts des irdischen Individuums für das Erkennbare nichts anderes als die aktive Intelligenz, »die sich in einer Seele vervielfältigt, wie das Licht in einem Körper«. Aber das Licht gehört nicht zu dem Körper. »Alles Ewige und Verewigbare im Individuum gehört vollständig der aktiven Intelligenz an und ist unsterblich allein aufgrund seiner Unsterblichkeit.« Auch hier müssen wir uns zu einer anderen Vorstellung von Individualität erheben, als jener, die sich aus der Annahme ergibt, die Materie sei das einzige Prinzip der Individuation. Aus Avicennas Sicht empfängt der intellectus possibilis, indem er von der aktiven Intelligenz erleuchtet wird, bereits eine Garantie seiner Unsterblichkeit. Er wird durch die aktive Intelligenz in Tätigkeit versetzt, sie ermöglicht in ihm geistige Erkenntnis, so wie die Sonne durch ihr Licht den Augen das Sehen verleiht. Die aktive Intelligenz ist mehr als Sehen und Gesehenes, sie ist das Licht, das das Sehen ermöglicht.

Dies ist deswegen der Fall, weil der menschliche Intellekt nicht nur eine bloße Veranlagung zu geistiger Erkenntnis in sich trägt; er ist der Gefährte des Engels, der »Wandergefährte«, der vom Engel geführt wird und den der Engel seinerseits benötigt, um seinen Gottesdienst zu vollbringen – der darin besteht, dass er geistige Formen ausstrahlt (offenbart) und das von ihnen Berührte zu seinem eigenen Seinsgrund erhebt. In einem gänzlich anderen Sinn als im Averroismus ist bei Avicenna die Beziehung des Menschen zum aktiven Intellekt die Garantie seiner Fortexistenz, und diese Garantie setzt den Begriff der Seele voraus, denn unsere Seele verhält sich zur aktiven Intelligenz, wie sich jede himmlische Seele (Nafs) zu ihrem Kerub (ʿAql) verhält. Daher ist es wichtig, einen Begriff davon zu entwickeln, was an sich die mittlere und vermittelnde Position dieser himmlischen Seelen notwendig macht, die Averroes für überflüssig hält. Diese Notwendigkeit für die Menschenseele wird später noch deutlicher werden, wenn wir die zwiefältige Pädagogik betrachten, die zeigt, wie sie »persönlich« in das Leben des Menschen eingreifen und sich selbst der Seele als Vorbild anbieten.

Aus jeder reinen Intelligenz geht ein Himmel hervor. Die Intelligenz ist es, die den Himmel bewegt, durch die Liebe und die Sehnsucht, deren Gegenstand sie ist; aber die unmittelbare Ursache der Bewegung dieser Himmelssphäre kann nicht eine rein geistige Kraft sein, die keiner Veränderung unterliegen darf und in keinem Fall Einzeldinge imaginiert. Die dreifältige Rhythmus der Emanation bringt es mit sich, dass aus jeder Intelligenz nicht nur eine andere Intelligenz und ein Himmel hervorgehen, sondern auch eine Seele, die zwischen dem Himmel und der Intelligenz steht und vermittelt. Die Seele bildet nicht die höhere »Ebene« der Intelligenz ab – d.h. ihre Erkenntnis des Seinsgrundes, aus dem sie stammt – sondern eine mittlere »Ebene« – d.h. die Erkenntnis der Intelligenz, von ihrem Seinsgrund notwendig bedingt zu sein. Als solche findet die Seele ihre Vollendung nicht im ersten Stadium, in dem sie ins Dasein tritt. »Daher wird sie immer von der Sehnsucht, von der Liebe getrieben, die sie dem entgegenträgt, das in ihr noch nicht verwirklicht ist, ihrem Prinzip der Vollendung nämlich. Um zu diesem Prinzip zu gelangen, wird sie ihren Körper, der von ihr abhängt, in Bewegung versetzen. Ihre Existenz in der Hierarchie der Wesen ist notwendig, um diese Bewegung zu erklären.«

Diese Disposition der Himmelsseele hat ihr Gegenstück in der Seele des Menschen in jener geistigen Kraft, die als intellectus practicus, als tätiges Denken, bezeichnet wird, die als jener der beiden »irdischen Engel« erscheint, der »auf der linken Seite steht«, dessen Aufgabe darin besteht, zu schreiben – d.h. umzusetzen und auszuführen – was vom anderen Engel, »der auf der rechten Seite steht«, diktiert wird. Himmlische Seelen und menschliche Seelen haben gemeinsam, dass sie zu Beginn ihrer Existenz nicht rein geistig sind; sie haben außerdem gemeinsam, dass sie physische Körper lenken und beherrschen. Um dies zu tun, müssen sie imaginieren. Die gesamte umfassende Welt des Imaginierbaren, das Universum der Symbole (ʿAlam al-mithāl) würde ohne die Seele nicht existieren. Aber die himmlischen Seelen sind in dieser Beziehung den Menschenseelen überlegen; schon zu Beginn ihres Seins empfangen sie von der Intelligenz, vom Erzengel, aus dem sie hervorgehen, alles, was sie für ihr Dasein und Wirken benötigen. Der Körper mit dem sie versehen werden, der das Denken desselben Erzengels »materialisiert«, besteht aus »himmlischer Stofflichkeit«, aus einer sublimen und unzerstörbaren »fünften Essenz« (quinta essentia, Äther). Aus diesem Grund, und weil sie – im Unterschied zu den menschlichen –, nicht von sinnlichen Wahrnehmungen abhängig sind, sind ihre Imaginationen stets wahr. Eine jede Seele »bewegt ihre Sphäre mit einer natürlichen, ewigen und kreisförmigen Bewegung, aber die bewegende Kraft ist der Wille der Seele und die liebende Sehnsucht, sich der vollkommen glückseligen Intelligenz anzugleichen, aus der sie hervorgeht.«

Anders als bei Averroes ist also die Seele als unmittelbare Ursache der Bewegung der Himmelssphäre notwendig. Die Intelligenz kann nicht dieser unmittelbare Beweger sein, sie kann nicht unmittelbar sein, was die Himmelssphäre sucht, denn nicht einmal ein himmlischer Körper kann das Wesen einer reinen Intelligenz in sich aufnehmen; die letztere vermag in ihr nicht zu existieren. Aber wonach die Seele zärtlich verlangt, ist genau dies: sich der Intelligenz anzugleichen, indem sie wird wie sie, so wie der Schüler wie der Meister wird, oder der Liebende wie das Geliebte; das Bild dieser Schönheit verstärkt die Glut seiner Liebe; diese Glut lässt die Seele aufblicken und ruft eine Bewegung hervor, durch die sie sich dem Gegenstand nähern kann, dem sie gleich zu werden wünscht. Die Imagination der Schönheit ruft die Glut der Liebe hervor, die Liebe entzündet das Verlangen und das Verlangen erzeugt Bewegung.

Avicennas spekulative Schau ist hier bereits vom Feuer der cognitio matutina, der Erkenntnis der aufgehenden Sonne gefärbt. Im Prolog der kurzen spirituellen Erzählung, der Suhrawardī den Titel »Geleiter der mystisch Liebenden« gab, tragen die drei Wesen, die aus der dreifältigen Selbsterkenntnis der Intelligenz hervorgehen, Namen, die weniger Abstraktionen, als Typisierungen sind, da sie mit drei Namen aus der biblisch-koranischen Hagiographie korrespondieren (Josef, Zulaykhā, Jakob). Diese drei Gestalten, die aus der Meditation des Ersten Erzengels hervorgehen, der über sein Wesen nachdenkt, sind Schönheit, Liebe und Schwermut. Die Schwermut korrespondiert dem Himmel, dessen ätherische Substanz den Gedanken des Nichtseins »materialisiert«, sie stellt die Zone des Schattens dar, die Distanz, die sich stets zwischen der Liebe und der Schönheit auftut, nach der erstere strebt – d.h. zwischen den himmlischen Engel und den Erzengel-Cherub. Gleichzeitig aber ist dieser Himmel, diese Schwermut das Werkzeug, das es der Seele ermöglicht, auf ihrer langen Pilgerfahrt diese Schönheit, das Ziel ihrer Sehnsucht zu erreichen, ebenso wie die Seele, indem sie ihren Himmel bewegt, dem Erzengel zustrebt, aus dem sie hervorgeht. Die Nostalgie, die dem Herzen des Mystikers vertraut ist, ist auch das Geheimnis der Himmelsphysik.

Diese Vision mit ihrer subtilen und zarten Symbolik ist vielleicht auch ein Zeugnis für die Unterstützung, die die Himmelsseele der menschlichen Seele angedeihen lässt – d.h., ein Zeugnis der Pädagogik, die sie durch direkte Einwirkung ausübt. Unterhalb des großen Orients der reinen cherubinischen Intelligenzen fügt die Philosophie der Erleuchtung einen mittleren Orient ein, die Welt der Symbole, das Gefilde der himmlischen Engel oder Seelen. Diese himmlischen Seelen sind es, die der Imagination, dem Organ der Metamorphosen, die symbolischen Visionen vermitteln, die sich den Propheten und theosophischen Weisen offenbaren. Die beiden Gruppen unterscheiden sich nicht sonderlich, denn auch wenn der Prophet seine Offenbarungen vom Erzengel Gabriel empfing, so ist es doch nicht weniger wahr, dass jeder mystische Weise, der sich mit der aktiven Intelligenz vereinigt (die mit dem Engel Heiliger Geist identisch ist), zum »Siegel der Prophetie« wird. Die persönliche Unterstützung, die die Himmelsseelen dem Menschen nach dem Tode zuteil werden lassen, ist lediglich die Fortsetzung dieses Beistandes auf Erden. Um sich nach dem Tod Stufe um Stufe in die Welt der reinen Intelligenzen erheben zu können, muss die Seele sich in den sublimen himmlischen Körper hüllen, der für sie durch die Imaginationen, die Symbole und Träume zubereitet wurde, die die himmlischen Seelen ihr zuteil werden ließen. Die Welt der Symbole und archetypischen Bilder ist auch die Welt der Erinnerung (ʿalam al-dhikr): die Himmelsseelen sind es, die die Spuren aller irdischen Dinge in sich bewahren. Nicht zufällig beruft sich Avicenna auf seine eigene »orientalische Weisheit«, wenn er in einer seiner Anmerkungen zur Theologie des Aristoteles auf diese schwierigen Fragen anspielt. Hier findet sich der Umriss der Themen, in denen die »orientalische« Theosophie Suhrawardīs später gipfelt.

Wenn die beiden Philosophen die aktive Intelligenz auf den Heiligen Geist oder den Erzengel Gabriel »zurückführen« oder wenn sie über die Beziehung der aktiven Intelligenz zur Menschenseele meditieren, dann dürfen wie den Gefühlston, ja sogar die Zärtlichkeit nicht übersehen, die bei beiden mit dieser Beziehung verbunden ist. Dann werden wir vielleicht auch jedes Gerede über einen Rationalismus oder Intellektualismus vermeiden können, der den Geist auf den Intellekt reduziert. »Die aktiven Intelligenzen schmücken und vollenden die Seele, die für sie wie ein Kind ist; denn die geistige Natur der Seele ist nicht mit ihrer Substanz mitgegeben, sondern wird erworben.« Diese Anmerkung steht am Rand einer Passage der Theologie des Aristoteles, in der die Seele des Menschen als Kind der aktiven Intelligenz beschrieben wird, die sich wie die Eltern auch um deren Erziehung kümmert. »Es ist die Intelligenz, die die Seele vervollkommnet, denn sie ist es, die sie geboren hat.«

Hier wird die Beziehung der Seele zur aktiven Intelligenz unzweideutig als Beziehung zwischen Kind und Eltern bezeichnet. Auch anderswo beschreibt die Theologie des Aristoteles die Vereinigung zwischen der aktiven Intelligenz des Engels und dem potentiellen Intellekt der Seele so, dass sie von einer unvergleichlichen Liebe und Freude begleitet ist. Diese Vereinigung krönt eine wechselseitige Sehnsucht, denn auch wenn die denkende Menschenseele ihre Existenz der aktiven Intelligenz verdankt und ohne diese Vereinigung nicht einmal leben kann, so bedarf doch andererseits diese aktive Intelligenz des Engels der denkenden Menschenseele als ihres empfangenden Gefäßes und herausragendsten Vermittlers, um ihre Kräfte – die Geschenke der geistigen Formen, die den stofflichen Dingen ihre Gestalt geben – auf diese Erde herabzusenden. Daher wird die Liebe zwischen der Intelligenz des Engels und der Seele nicht nur mit der Liebe zwischen Eltern und Kind, Meister und Schüler, sondern auch mit der wechselseitigen Liebe der Liebenden verglichen.

Aus der Sicht dieser Vereinigung bieten sich die himmlischen Seelen nicht mehr länger als unmittelbare Helfer an, sondern als Vorbilder, die nachgeahmt werden wollen. Die Menschenseele sollte auf das »Werde, was du bist hören« und ihm folgen. Die Seele eignet sich dadurch ihre geistige Natur (ʿaqlīya) an, während der Engel sein Kind vervollkommnet. Diese zwei komplementären Aspekte bestimmen die Reise in den Orient, oder wie es in der Erzählung von Hayy ibn Yaqzān heißt, die »Reise in Begleitung des Engels«. Wenn sie sich in dieser Begleitung befindet, steht die Seele in derselben Beziehung zur aktiven Intelligenz, wie eine jede Himmelsseele zu ihrem Erzengel-Cherub. Die Pädagogik der Engel zielt auf die Individuation der Menschenseele, auf ihre Vollendung durch die Engelwerdung ab.

Fortsetzung: Die Engel Avicennas IV


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