Zuletzt aktualisiert am 23. Juli 2024.
4. Weisheit aus dem Osten: Georgios Gemistos Plethon
Eine Schlüsselgestalt für das Wiederaufleben des orientalisierenden Platonismus im Westen ist Georgios Gemisthos Plethon, der den byzantinischen Kaiser Johannes VII. und den Patriarchen Josef II. 1438 zum Konzil in Ferrara und Florenz begleitete. Er war bereits achtzig Jahre alt und einige der Mitglieder der Delegation gehörten zu seinen ehemaligen Schülern (Bessarion, Eugenikos, Isidor von Kiew). Um sein Erscheinen in Florenz woben sich Legenden. Unter den versammelten Gelehrten »leuchtete er wie eine Sonne«. Man betrachtete ihn als »Lehrer der Menschheit« und bezeichnete ihn als Plato und Sokrates, denen er in Weisheit nicht nachstehe. Marsilio Ficino sollte 1492 in einer Widmung der plotinischen Enneaden an Cosimo di Medici dieses Bild aufrufen. Er schrieb, der junge Cosimo habe oft zu Füssen des greisen Lehrers gesessen und ihn »wie einen zweiten Plato über die platonischen Mysterien« sprechen hören. Damals sollten die Samen ausgesät worden sein, die zwei Jahrzehnte später in der platonischen Akademie von Florenz aufblühten. Auch wenn die historische Wahrheit dieser Legende heute angezweifelt wird, kommt dem Besuch Plethons in Florenz eine große historische und noch größere symbolische Bedeutung zu. In Plethon begegneten die Humanisten das erste Mal einer lebendigen Verkörperung des orientalisierenden Platonismus, einem Mann, der glaubte, die wahre Weisheit sei von Zoroaster, dem bedeutendsten der persischen Magier, ausgegangen. Der Besuch der Byzantiner konnte symbolisch rückbezogen werden auf den Besuch der Magier in Betlehem. So wie diese einst bezeugten, dass ihre alte Weisheit mit der in Christus verkörperten übereinstimmte und durch ihre Huldigung seine Superiorität anerkannten, so konnte auch der Besuch der byzantinischen Delegation in Rom gedeutet werden. Und in der Tat wurde am Johannitag 1439, bei den Festlichkeiten zur Beendigung des Konzils, ein Umzug inszeniert, in dem als Magier verkleidete Männer einem Stern folgten. Die Byzantiner, so der Subtext, mussten nach Rom pilgern, dem Oberhaupt der Christenheit huldigen und seine Überlegenheit anerkennen. In einem Fresko Benozzo Gozzolis, »Die Reise der Magier«, das Cosimo di Medici 1459 in Auftrag gab, spiegeln sich all diese Motive. Hier verbanden sich Cosimos Bewunderung der biblischen Magier mit seinen Erinnerungen an das Konzil und der Wiedergeburt Platos, die unter seinem Schirm in Florenz stattfand. Für all dies stand Plethon.
Marsilio sollte später im Hinblick auf das Konzil davon sprechen, der Geist Platos, der in seinen Schriften lebe, habe Byzanz verlassen und sich wie ein Vogel zu Cosimo in Florenz begeben. Und kein Zweifel bestand daran, dass die Magier, die das Kind in Betlehem anbeteten, die Schüler Zoroasters gewesen waren.
Gemistos, der sich später den Beinamen Plethon zulegte, war Lehrer der Philosophie in Byzanz. Kaiser Manuel II. entsandte ihn als seinen Beauftragten auf den Peloponnes. Hier, in Mistra, wirkte er in vielerlei auch öffentlichen Funktionen. Zwar verdächtigte ihn die Kirche der Häresie, aber die kaiserliche Familie schätzte ihn, was nicht zuletzt durch seine Mitgliedschaft in der byzantinischen Konzilsdelegation zum Ausdruck kam.
Für Plethon selbst war der Besuch in Florenz ein Wendepunkt seines Lebens. Hier nahm er den Autorennamen Plethon an (eine Anspielung auf Platon und »plethos«, »Fülle«) und nach seinem Besuch verfasste er seine bedeutendsten Werke. Er genoss die Bewunderung der italienischen Humanisten und dürfte von ihrer Unkenntnis der griechischen Philosophie schockiert gewesen sein. Plato wurde gerade erst von ihnen entdeckt und das Wissen über Aristoteles ließ sehr zu wünschen übrig, obwohl die Scholastiker sich unentwegt auf ihn beriefen, den sie meist aber nur aus zweiter und dritter Hand und oft genug verstümmelt kannten. Um Missverständnisse zu beseitigen, verfasste Plethon während seines Aufenthalts in Florenz die Abhandlung: »Worin Aristoteles mit Plato nicht übereinstimmt« (De differentiis). Überall, wo Aristoteles von Plato abwich, irrte er nach Ansicht Plethons und damit eröffnete er eine große Plato-Aristoteles Kontroverse, die bis in die frühen 1470er Jahre andauerte.
Bedeutender ist die Ausgabe der »Chaldäischen Orakel«, die Plethon mit einer Einleitung versah. Sie stellten einen der zentralen Texte des orientalisierenden Platonismus dar. Plethon war im Besitz einer Ausgabe aus dem elften Jahrhundert, ließ bei seiner Edition sechs Orakel weg und gab sie unter dem Titel: »Magische Worte der Magier, der Schüler Zoroasters« heraus. Aus »chaldäischen« Orakeln wurden also »magische« (persische) und als Verfasser wurde erstmals in der Geschichte Zoroaster bezeichnet. Dieser Schritt barg weitreichende ideenpolitische Implikationen.
Im Hintergrund steht die Geschichte einer Überlieferungskette des Wissens, in die das Heidentum und alle drei Schriftreligionen verwickelt sind, die erstmals von Henri Corbin postuliert wurde. Schlüsselfigur darin ist ein jüdischer Lehrer Plethons, der in Briefen des Scholarios erwähnt wird, in denen dieser Plethon der Ketzerei und des Götzendienstes bezichtigt. Dieser Jude namens Elissaeus soll eine bedeutende Figur am Hof der Türken in Adrianopel gewesen sein, der vom mosaischen Glauben zum Polytheismus übergegangen war. In seiner Philosophie hatte er den averroischen Aristoteles in lateinischer Lesart und die Lehren Avicennas in der Interpretation des Suhrawardi kombiniert. Die Philosophie der Illumination (Erleuchtung) des Suhrawardi wurzelte im orientalisierenden Platonismus. Seine Wissenschaft der Lichter (und der Erleuchtung) führte er auf »den inspirierten und erleuchteten Plato« zurück, den Führer und Meister der Philosophie, sowie auf jene, die ihm seit der Zeit des Hermes, des Vaters der Philosophen, vorangegangen seien. Suhrawardi war der Überzeugung, wer sich mit dieser Wissenschaft der Lichter eingehend beschäftige, werde das Licht sehen, »das im Königreich der Macht leuchtet und die himmlischen Wesenheiten und Lichter, die Plato und Hermes zugänglich waren.« Er werde »die geistigen Lichtwesen sehen, die Quelle des königlichen Glanzes und die Weisheit, von der Zoroaster sprach.«
Sollten die Informationen des Scholarios über Elissaeus zutreffen, könnten sie verständlich machen, warum Plethon sich berechtigt glaubte, die chaldäischen Orakel als die älteste Quelle der alten Weisheitstradition zu betrachten. Mit ihrem Symbolismus von Licht und Feuer, die das Göttliche repräsentieren, waren sie nicht nur Beispiele für Suhrawardis vorplatonische Wissenschaft der Lichter, sondern auch des Feuerkultes, der immer mit der Religion Zoroasters in Verbindung gebracht worden war. Suhrawardi unterscheidet zwischen der »wahren Lehre vom Licht«, in deren Besitz sich die persischen Magier befunden hatten und der »falschen Lehre der ungläubigen Magier«, der manichäischen Häresie. Außerdem hatte der Begriff »Magier« in den griechischen Quellen stets eine doppelte Bedeutung: einerseits meinte er einen Weisen, der den alten Kult der wahren Götter praktizierte, andererseits stand er aber für einen Zauberer, der schwarzmagische Künste beherrschte. Plethon scheint der Auffassung gewesen zu sein, dass Zoroaster und die alten persischen Magier für die alte wahre und universelle Religion standen, während die Chaldäer die Wahrheit korrumpiert hatten, was zum Dualismus und zur schwarzmagischen Praxis führte. Daher strich er die drei Orakel, die sich auf die Praxis der Magie bezogen, aus seiner Ausgabe und schrieb den Rest des Textes Zoroaster und den wahren Magiern zu.
Zurück in Mistra verfasste Plethon sein Hauptwerk, das er nach dem Vorbild Platons die »Gesetze« nannte. Scholarios, inzwischen Patriarch von Konstantinopel, sorgte in den 1460er Jahren dafür, dass dieses Werk verbrannt wurde, nicht ohne jene Passagen aufzubewahren, die ihm bei seinem Kampf gegen Plethon nützlich schienen. Aus diesen Passagen ist eine Genealogie von Gesetzgebern und Weisheitslehrern zu entnehmen, die laut Plethon auf Zoroaster folgten: Eumolpos, der Begründer der eleusinischen Mysterien, Minos, der Gesetzgeber Kretas, Lykurg, Gesetzgeber Spartas, Iphitos, Gründer der Olympischen Spiele und Numa, Begründer der römischen Religion. Unter den Heiden ragen die Brahmanen und die Magier hervor, unter den Griechen die Kureten, danach folgt eine weitere Liste inspirierter Männer, darunter die Priester von Dodona, Männer wie Polyides, Teiresias, Chiron und die Sieben Weisen, schließlich Pythagoras, Plato und andere Philosophen, insbesondere Parmenides, Timaios, Plutarch, Plotin, Porphyrios und Iamblichos.
An dieser Liste hält Hanegraaff drei Dinge für bemerkenswert: 1. Plethon stellt seine Gesetzgeber und Philosophen als Positivliste einer negativen Kategorie von »Dichtern und Sophisten« gegenüber, die sich als Code für die Gründer von Offenbarungsreligionen, insbesondere des Christentums, herausstellt. 2. Wie der Titel »Gesetze« betont, ging es Plethon nicht nur um eine religiöse, sondern auch um eine politische Reform, die er durch die Rückkehr zur alten Weisheit erreichen wollte. 3. Schließlich fehlen bestimmte Figuren auf seiner Liste: Orpheus bei den griechischen Weisen und Proklos unter den Neuplatonikern. Was aber am schwersten wiegt: Hermes und Moses kommen in ihr nicht vor. Diese Lücke führt ins Zentrum der Erzählung Plethons von der alten Weisheit, die das Verhältnis von Heidentum und Christentum betrifft.
Plethon stellt sich der gesamten apologetischen Tradition entgegen, die seit Justinus Martyr die Griechen von Moses abhängig sah. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Plethon implizit gegen Justinus schrieb. Sein Anliegen war nach dem Besuch des Konzils, den Vorrang der griechischen Tradition zu bekräftigen, aber die wahre Philosophie sollte nicht auf Moses, sondern auf Zoroaster zurückgeführt werden. Plethon versuchte in deutlicher Opposition gegen die gesamte apologetische Tradition die Religion, die im Gesetz des Moses verankert war, durch eine andere zu ersetzen, die auf die alte Philosophie des Feuers und des Lichtes zurückging, die Zoroaster begründet haben sollte. Mithin übernahm er die Strategie des Celsus, der Moses ebenfalls aus der Genealogie der Weisheit ausgeschlossen hatte. Hermes dürfte er entfernt haben, weil die Auffassung verbreitet war, er habe seine Weisheit vom (jüdischen) Ägypter Moses erhalten, was die Position Zoroasters wieder geschwächt hätte.
Dieser offene Bruch mit der patristischen Tradition lässt laut Hanegraaff nur einen Schluss zu: Plethon beabsichtigte tatsächlich eine Wiederbelebung des Heidentums in offener Opposition zum Christentum. In Form eines orientalisierenden Platonismus sollte es den exklusiven Monotheismus der mosaischen Religion durch einen toleranten, inklusiven Monotheismus im Stile des Celsus und Proklos ersetzen.
Nahezu alle Kenner dieses Sachgebiets stimmen darin überein, dass Plethon tatsächlich ein »neuheidnischer« Gegner des Christentums war. Entgegen einem weitverbreiteten Klischee über die Renaissance als »Wiedergeburt des Heidentums«, ist er aber auch der einzige, dem eine solche Intention nachgewiesen werden kann. Alle anderen führenden Exponenten des Renaissance-Platonismus waren überzeugte Christen.
Aber Plethon zeigt, dass die platonischen Texte in einer Zeit, die das dringende Bedürfnis nach religiöser Reform empfand, als Ausgangspunkt für eine Widergeburt des Heidentums dienen konnten. Seine wahre Bedeutung liegt jedoch nicht in seinem unmittelbaren Einfluss, der begrenzt war, sondern im Bereich der »kulturellen Mnemonik«, der Gedächtnisgeschichte, in seiner symbolischen Bedeutung als zweiter Plato aus dem Orient, dessen Erinnerungsgestalt je nach Perspektive dämonisiert oder romantisiert werden konnte. Plethon konnte als repräsentativer Platoniker wahlweise als Ausgangspunkt für eine Erneuerung der Kultur und des religiösen Lebens oder als Zentrum einer neuplatonischen Verschwörung zur Zerstörung des Christentums interpretiert werden. Unmittelbar neben dem Bild des weisen Philosophen und Boten der alten Weisheit steht also das Bild eines subversiven Heiden, eines Agenten dämonischer Mächte, die sich hinter einer Maske des Wohlwollens verbergen. Diese beiden Bilder sollten die weiteren Auseinandersetzungen über die Esoterik bis in die Gegenwart bestimmen.
Fortsetzung:
Wissenschaft und Esoterik IV – Platonische Theologie: Marsilio Ficino
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Zwischen 92 und 97, das Geburtsjahr ist umstritten.
@ ‘Für Plethon selbst war der Besuch in Florenz ein Wendepunkt seines Lebens. Hier nahm er den Autorennamen Plethon an (eine Anspielung auf Platon und »plethos«, »Fülle«) und nach seinem Besuch verfasste er seine bedeutendsten Werke.’
Wie alt ist Georgios Gemisthos Plethon denn geworden, wenn er erst achzigjährig in Florenz war?