Zuletzt aktualisiert am 22. Juli 2024.
Fortsetzung von »Gäasophia und die weiblichen Engel der Erde.«
Im zweiten Teil seiner Abhandlung wendet sich Corbin dem Weiterleben und der Umwandlung all dieser Motive des Avesta in der Theosophie Suhrawardis und im Sufismus zu.
Suhrawardi lebte im 12. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung in Persien in einer islamischen Welt. Aber er versuchte inmitten des Islam die Theosophie des alten Persien zu erneuern. Im Mittelpunkt seines Denkens steht das persische Xvarnah, das Licht des geistigen Wesensglanzes, und die persische Engellehre, mittels derer er die platonischen Ideen interpretiert.
Corbin behandelt in diesem zweiten Teil auch den Shiismus mit seiner Idee des verborgenen Imam und der Erwartung seiner Parousie. Die Lehre vom verborgenen Imam erinnert an die Lehre Persiens vom endzeitlichen Erlöser Saoshyant. Aber weder Suhrawardi noch die Schiiten waren Anhänger des Zoroastrismus. Sie waren Muslime, aber sie verstanden den Islam spirituell, was sie von der Masse der Gläubigen unterschied.
Diesen Mystikern und Theosophen stand eine Form des Wahrnehmens zur Verfügung, die dem heutigen, eindimensionalen historischen Bewusstsein nicht mehr zugänglich ist. Sie vermochten die Welt noch als geschichtete Wirklichkeit zu sehen. Eine dieser Schichten der Welt war Hurqalya, die Welt der Imaginationen, und diese Welt setzte das entsprechende Vermögen voraus, sie wahrzunehmen. Die Welt von Hurqalya wurde durch eine Technik erschlossen, die als »ta’wil« bezeichnet wurde, was bedeutet, Gegebenes auf seinen Ursprung, auf sein Urbild zurückzuführen. Die Dinge mussten auf der Ebene des Seins aufgesucht werden, aus der sie einst herabgestiegen waren, um Gestalt anzunehmen, wenn sie in ihrer ursprünglichen Bedeutung verstanden werden sollten. Wer die Erscheinungen zu ihrem Ursprung zurückverfolgte, erkannte, dass ihre Formen auf den unterschiedlichen Ebenen der Wirklichkeit einander symbolisierten.
Daher ist ta’wil die Deutung von Symbolen, eine Exegese, die den verborgenen spirituellen Sinn dieser Symbole enthüllt. Ohne diese Art der Exegese gäbe es die »orientalische Theosophie« Suhrawardis nicht, ebensowenig wie die schiitische Gnosis, durch die das Verständnis des Islam grundlegend verändert wurde. Und ohne die Welt von Hurqalya gäbe es wiederum keine symbolische Exegese, denn diese Exegese setzt eine Welt archetypischer Bilder voraus, auf die sich die imaginative Wahrnehmung bezieht und dank der sie imstande ist, die äußeren Daten der Geschichte in Symbole umzuwandeln, deren innere Bedeutung sie entschlüsselt. Es geht also um eine spirituelle Geschichte, die sich in Hurqalya abspielt.
Die symbolische Schriftdeutung war einst auch im Westen bekannt. Aber hier degenerierte sie laut Corbin zu einer äußerlichen Technik, weil sie von ihrem Ursprung, der Theosophie, getrennt und vom Dogmatismus missbraucht wurde. Im Islam wurde sie jedoch von der theosophischen Strömung bis heute weiter gepflegt. Wenn man ihre Quelle nicht ins Auge fasst, dann bleiben alle spirituellen Tatsachen, die mit ihr in Verbindung stehen, unverständlich. Die symbolische Exegese lässt sich mit dem Hören eines Tons auf verschiedenen Ebenen vergleichen. Wer das innere Ohr nicht besitzt, vermag nichts zu hören.
Suhrawardi starb mit 38 Jahren 1191 n.Chr. den Märtyrertod. Aufgrund seines Bestrebens, die alte iranische Weisheit zu erneuern, wurde er später mit dem Namen »Meister der orientalischen Theosophie« (Shaikh al-Ishraq) geehrt. Suhrawardi sah den Kosmos als gewaltiges Geistgebilde, in dem Schichten um Schichten auseinander emanieren. Aus dem Licht aller Lichter ging ein erster Erzengel hervor, das sieghafte Licht, aus dem wiederum eine unendliche Zahl von geistigen Lichtwesen quoll, die die Welt des »Jabarut«, die geistige Welt, bevölkerten.
Aus dieser entsprang eine weitere Welt geistiger Lichtwesen, von denen die einen die Aufsicht über stoffliche Arten übernahmen, worin ihr heiliges Werk, ihre Theurgie bestand, während die anderen die Rolle von Seelen annahmen, die für bestimmte Zeiträume Körper bewohnen. Die ersteren sind die Urbild-Engel oder Engel der Arten, zu denen Suhrawardi die Amahraspands des Zoroaster zählt. Die letzteren sind die Seelen der Planetensphären und der Menschen. Diese beiden Kategorien bilden zusammen die Welt von Malakut, die Seelenwelt, und die Erde von Malakut ist die himmlische Erde von Hurqalya.
Zu den Urbild-Engeln gehört auch der weibliche Erzengel der Erde, Spenta Armaiti, der nun im neueren Persisch den Namen »Isfandarmuz« trägt. Suhrawardi kennt aber auch die Bedeutung ihres alten Namens, der ihr die Aufgabe zuweist, »Gebieterin des Hauses« zu sein. Als Erzengel der Erde wacht sie über die Naturreiche, in denen das erdige Element vorherrscht, weil die Erde ihr heiliges Werk, ihre Theurgie, ist. Die Erde ist ein Organ der Empfängnis, das die Einflüsse der himmlischen Sphären aufnimmt, und verhält sich wie das Weibliche zum Männlichen. Wie Sadruddin Shirazi im 17. Jahrhundert kommentierte, verhält sich die sichtbare Erde zu ihrem Engel, wie sich dieser Engel der Erde zu den Engeln der höheren Himmelssphären verhält. Der Engel der Erde ist weiblich, insofern er die Einflüsse der Engel der Arten, höherer Geistwesen empfängt, die ihm dem ontologischen Rang nach übergeordnet sind. Ebenso empfangen die sichtbaren Dinge auf dieser Erde durch ihre Seelen die Einflüsse der Gestirnintelligenzen, gemäß einer zeitlichen und räumlichen Ordnung, die für die Sinne des Menschen wahrnehmbar ist. Auf diese Weise symbolisieren alle Vorgänge auf unserer sichtbaren Erde geistige Vorgänge, die sich zwischen dem Engel der Erde und den höheren Engeln der Urbilder abspielen.
Schon dieses Beispiel zeigt, dass die spekulative Theosophie des islamischen Iran Ideenmotive enthält, die mit dem Engel der Erde zusammenhängen und bereits im alten Iran bekannt waren. Die Gestalt dieses Engels hat ihre Identität bewahrt, trotzdem sie in einem völlig neuen Kontext erscheint. Die Kontinuität verdankt sich der Kunst des ta’wil, die alle Symbole auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurückführt. Der »Meister der orientalischen Theosophie« verleiht dadurch dem spirituellen Islam eine initiatische Funktion. Andererseits kommen aber auch neue Bedeutungsebenen hinzu. »Isfandarmuz« ist nicht einfach ein neues Beispiel des Archetyps, den einst Spenta Armaiti verkörperte. Vielmehr gibt es einen Archetyp des Archetyps, den weiblichen Erzengel einer überhimmlischen Erde, der die Gestalt der göttlichen Sophia annimmt, dem man in der Welt des »lahut« begegnet, dem ewigen Reich der bezaubernden Fatima, der Tochter des Propheten, wie sie von der schiitischen Gnosis in der Schule der Scheichs gedacht wurde.
Schiismus leitet sich von »Schia« her und bezeichnet ursprünglich die Adepten, die den Imamen folgten, die der Familie des Propheten angehörten. Heute wird die Geschichte des Schiismus allzu oberflächlich als Geschichte politischer Sukzessionsstreitigkeiten verstanden. Diese Deutung ignoriert eine breite Literatur, die von den Gesprächen der ersten Adepten mit den aufeinanderfolgenden Imamen handelt, die bis ins neunte Jahrhundert unserer Zeitrechnung hinaufreicht. Diese Gespräche zeugen davon, dass der Aufstieg des Schiismus in Wahrheit der Aufstieg – oder besser Wiederaufstieg – der Gnosis im Islam war. Die schiitische Gnosis ist die Esoterik des Islam und als sie im 16. Jahrhundert durch die Safawiden zur Staatsreligion erhoben wurde, zwang dieser Vorgang die iranischen Adepten dieser Gnosis erst recht und bis zum heutigen Tag dazu, sich in einen esoterischen Arkanraum zurückzuziehen.
Die Lehre vom Propheten ist ein zentraler Bestandteil des Islam, aber in der schiitischen Theosophie wird zwischen »Prophetologie« und »Imamologie« unterschieden. Die Aufgabe des Propheten ist es, die wörtliche Offenbarung zu vermitteln, diejenige der Imame, in die verborgene Bedeutung dieser Offenbarung einzuweihen. Nach dem Zyklus der Propheten, der mit Mohammed, dem »Siegel der Propheten« endete, begann der Zyklus der Initiation, der unter der geistigen Lenkung des zwölften Imam, des verborgenen Imam steht, der in den Herzen gegenwärtig, aber den Sinnen verborgen ist.
Die Schule der Scheichs, die Ende des 18. Jahrhunderts unter Scheich Ahmad Ahsa’i blühte, führte zu einer außerordentlichen Renaissance der ursprünglichen schiitischen Gnosis. Auch in dieser Schule spielte das Motiv der Erde von Hurqalya eine zentrale Rolle. Vor allem wurde aber die Lehre von den Imamen ausgebaut. Auf Mohammed und seine Tochter Fatima, von der ihre Linie ausging, folgten zwölf solche Imame. Zusammen mit den beiden ersteren bildeten die Imame ein Pleroma der »Vierzehn äußerst Reinen«, die nicht nur als historische Figuren betrachtet wurden, sondern als ewige Wesenheiten, die der Erschaffung der Welt vorausgingen. Die historischen Imame sind Theophanien: sie sind die Namen und Attribute Gottes, alles, was an Gott erkennbar ist, sie sind die Werkzeuge Gottes, durch die er in der Welt wirkt. Die Imamologie spielt in der schiitischen Theologie strukturell dieselbe Rolle wie die Christologie im Christentum. Durch sie unterscheidet sich der Schiismus fundamental von der Sunna.
Zusammen mit Mohammed und Fatima bilden die zwölf Imame das Pleroma der »Vierzehn äußerst Reinen«. Als ewige Wesen betrachtet, die bereits vor der Erschaffung der Welt existieren, entsprechen sie den Äonen der valentinianischen Gnosis. In den Anschauungen über die himmlische Erde übernahm Fatima eine zentrale Rolle. Bei Suhrawardi gehörte Isfandarmuz der Seelenwelt des Malakut, der Welt der Imaginationen an. Darüber lag Jabarut, die Welt des reinen Geistes, der cherubinischen Intelligenzen, die der Geisterkenntnis zugänglich ist. Und darunter die den Sinnen zugängliche Welt des Menschen. Drei Welten kannte also Suhrawardi.
In der schiitischen Theosophie der Scheichs wird zu den drei Welten eine weitere hinzugefügt: die Welt des »lahut«, die Sphäre der Gottheit, die über den drei Welten Suhrawardis liegt. Und diese Welt bildet das Pleroma der »Vierzehn äußerst Reinen«. Jede dieser Welten ist analog aufgebaut, in jeder finden sich dieselben Strukturen, aber auf jeweils höherer Ebene. In Fatima als Mitglied des höchsten Pleroma klingt die Idee einer überhimmlischen Erde an, eine Idee, die zur mazdäischen Sophiologie zurückführt, in welcher der Engel der Erde Träger ihres himmlischen Urbildes war. Nun aber erscheint diese Idee in Gestalt der Fatima auf einer weit höheren Ebene der Wirklichkeit. Scheich Kirmani verlieh diesen Anschauungen Ende des 18. Jahrhunderts Ausdruck. In seiner theosophischen Schau sind die vielen Welten ein universeller Zusammenhang symbolischer Verweise. Hier begegnen Himmel und Erde auf verschiedenen Ebenen, zuoberst in der Welt des lahut, der überkosmischen Realität Gottes. Der architektonische Aufbau dieser Welt entfaltet sich in Analogie zur irdischen Zeit, aber diese hat nur symbolische Bedeutung. In diesen Symbolen die geistige Struktur des Pleroma zu entdecken, ist Aufgabe der esoterischen Hermeneutik. Sie macht die spirituelle Geschichte sichtbar, die allen anderen Geschichten zugrunde liegt.
Für das westliche Abendland ist es schwierig, zu verstehen, dass der Ursprung des islamischen Glaubens nicht in einer historischen, sondern in einer metahistorischen Tatsache liegt: in dem vor aller Ewigkeit und Zeit liegenden Bund nämlich, der zwischen Gott und den Menschen geschlossen wurde, als dieser den himmlischen Adam, in dem alle Menschenseelen enthalten waren, fragte: »Bin ich nicht Dein Herr?« Schon der Mazdaismus fußte auf einer solchen metahistorischen Tatsache: hier fragte der Herr der Weisheit die Fravarti, ob sie bereit seien, zur Erde herabzusteigen, um die Scharen Ahrimans zu bekämpfen. Aber in der Theosophie Kirmanis ist dieses metahistorische Ereignis, das die spirituelle Geschichte der Adamiten begründet, lediglich die Wiederspiegelung eines Ereignisses, dessen Urszene sich im höchsten Pleroma abgespielt hat. Die Befragung kleidet das unergründliche Mysterium des Ursprungs aller Ursprünge in ein der Imagination fassbares Gewand. Ibn Arabi weist auf die wahre Bedeutung, wenn er sagt, dass Gott sowohl der Fragende als auch der Antwortende gewesen sei.
Diese Frage ist der Schlüssel zum Mysterium der ursprünglichen Theophanie, der Offenbarung des Gotteswesens, die für dieses selbst nur in einem anderen Selbst stattfinden kann, das entweder unfähig ist, sich selbst als ein anderes zu erkennen, oder dieses andere als sich selbst zu erkennen, es sei denn es wäre seinerseits der Gott dieses anderen.
Indem die Wesen des höchsten Pleroma in einer ontologischen Ordnung auftraten, die der Reihenfolge ihrer Antworten auf diese erste Frage entsprach, konnte die Imagination die geistige Struktur dieses Pleroma als Ort der ersten Theophanie schauen. So wie die sichtbaren Himmel durch die kontemplativen Akte cherubinischer Intelligenzen entstehen, die auseinander hervorgehen, so entstehen auch die Himmel des Pleroma im lahut durch Akte der Theophanie.
Diese Akte der Theophanie fallen mit der fortschreitenden Differenzierung der Tropfen des ursprünglichen Ozeans des Seins zusammen, die durch das göttliche »Es werde« zustande kommt. Die formende Kraft, die jedem dieser Tropfen innewohnt, erlaubt es ihm, auf die gestellte Frage zu antworten, und den vor Zeit und Ewigkeit zu schließenden Bund einzugehen. Die ontologische Aufeinanderfolge der Antworten bestimmt die innere Struktur des Pleroma im lahut, und die sich daraus ergebende Hierarchie der vierzehn höchsten geistigen Entitäten manifestiert sich auf der Erde und zwar zur Zeit des Zyklus der Prophetie des Mohammed, in der Aufeinanderfolge der Personen, die das Pleroma repräsentieren: als Mohammed, seine Tochter Fatima und die zwölf Imame.
Das erste Wesen, das Antwort gibt, ist das »unvollständige Wesen«, dessen sinnliche Manifestation auf Erden der Prophet Mohammed sein wird. Daher ist er der oberste Himmel des Pleroma, dessen Entsprechung in den astronomischen Himmeln die Sphäre der Sphären, das Empyreum der Throne ist. Als zweites antwortet jenes Wesen, das sich auf Erden als »Hazrat Amir«, als erster Imam manifestieren wird, das seine Entsprechung im astronomischen Himmel in der achten Sphäre findet, in den Festungen der Sternbilder, der Fixsterne, dem Firmament. Daher ist das Empyreum des Pleroma der Himmel der Prophetie, während sein Firmament der Himmel der Initiation ist. Das Firmament des Pleroma ist der Himmel der vollkommenen Initiation. Der erste Imam, seine Theophanie, bringt ihn in seiner ganzen Fülle auf Erden zur Erscheinung.
Aber der Himmel der Initiation besteht genauer betrachtet aus zwölf Personen oder ursprünglichen Hypostasen (deren astronomische Entsprechung die zwölf Tierkreiszeichen sind), das heißt, aus den geistigen Wesenheiten, die auf Erden als die zwölf Imame erscheinen werden. Jeder von ihnen besitzt im Tierkreis des Pleroma – in der Gesamtheit der Initiationen, die im Himmel des ersten Imam rekapituliert wird –, ein besonderes Zeichen. Aber jeder von ihnen bringt, entsprechend seinem ontologischen Rang, auch seinen eigenen Himmel hervor.
Nach den ersten beiden antworten zwei weitere auf die Frage Gottes, jene beiden, denen auf Erden die Brüder Hasan und Husain entsprechen, die Söhne Alis und Fatimas. Diese beiden erschaffen den Himmel der Sonne und des Mondes im Pleroma. Darauf folgt jener, dessen Epiphanie auf Erden der zwölfte, verborgene Imam sein wird, das heißt der Imam unserer Zeit, der für Mohammed dieselbe Funktion übernimmt, wie der letzte Saoshyant für Zarathustra. Später antworten nacheinander die restlichen acht Imame, in jener Ordnung, die astronomisch den übrigen Planetensphären entspricht.
Als letzte antwortet Hazrat Fatima, um das Pleroma des lahut zu vollenden und ihm seine Fülle und Fundierung zu geben. Daher ist sie die Erde des höchsten Pleroma und auf dieser ontologischen Ebene mehr als die himmlische Erde, nämlich eine überhimmlische Erde. Mit anderen Worten: Himmel und Erde des Pleroma im lahut entsprechen Himmel und Erde im Reich Hurqalya und diese wiederum der Anordnung von Himmel und Erde in der sichtbaren Welt. Die Fatima im Pleroma ist für die himmlische Erde von Hurqalya dasselbe, was Spenta Armaiti für die mazdäische Erde ist, die vom Licht des Xvarnah erleuchtet wird.
Kein menschliches Wesen vermag das höchste Pleroma zu sehen, es sei denn, es würde diese himmlischen Wesen einholen, was unmöglich ist, das sie in alle Ewigkeit allen Kreaturen vorausgehen. Ein einziges Atom der überhimmlischen Erde würde ausreichen, um Millionen geschaffener Welten weißglühend ineinander zu verschmelzen. Die Wesen des Pleroma werden nur in ihren Erscheinungsformen sichtbar, die ihre Theophanien in sich aufnehmen. Von herausragender Bedeutung ist jene Person des Pleroma, die die überhimmlische Erde repräsentiert, denn ohne Fatima könnte es keine Erscheinung des Imamats und keine Initiation durch Imame geben. Denn das Pleroma dieser Wesen ist Ort des göttlichen Geheimnisses. Ihr Licht ist das göttliche Licht, ihre Durchsichtigkeit lässt dieses Licht durch sie hindurchscheinen. Sie sind reine, flammende Edelsteine, die kein Auge zu erblicken vermag, weil die Sonne ihr Licht von diesen Edelsteinen empfängt. Die vierzehn »äußerst Reinen« sind nicht nur die Freunde und Geliebten Gottes, sie bilden die Substanz der Liebe vor aller Zeit und Ewigkeit, in ihnen fallen Liebe, Liebender und Geliebte in eins zusammen, in jene Einheit, nach der alle Sufis strebten, und die keinem erreichbar ist, der nicht in das Geheimnis der Imamologie eingeweiht wurde.
Von hier aus lässt sich die Sophiologie der Scheichs verstehen. Auf der Erde war Fatima, die Tochter des Propheten, mit dessen Cousin verheiratet. Ihre exemplarische Vereinigung ist die Offenbarung einer ewigen Syzygie, die ihren Ursprung im Pleroma hat. Der erste Imam und Fatima sind auf die gleiche Art miteinander verbunden, wie der Logos und die Sophia des Philo von Alexandria miteinander verbunden sind.
Das Paar Fatima-Ali ist die Manifestation des ewigen Paares Logos-Sophia auf Erden. Der Logos ist die verborgene Substanz in allen Dingen, er ist das übersinnliche Verlangen nach Sichtbarkeit, er ist wie der urbildliche Leib, die innere astrale Substanz der Sonne, im Gegensatz zu ihrer sichtbaren Form, die ihre Aura, ihr Glanz und ihr Leuchten ist. Der Rang Fatimas entspricht genau dieser sichtbaren Form der Sonne. Daher trägt Fatima auch einen Sonnennamen: »Fatima al-Zahira«, Fatima, »die Glänzende«. Die Gesamtheit der sichtbaren Universen besteht aus diesem Licht Fatimas, sie ist der Lichtglanz jeder Sonne, die jedes wahrnehmbare Universum erleuchtet.
Man kann also von einer kosmischen Sophianität sprechen, die ihre Quelle in der ewigen Person Fatima-Sophias hat. Als solcher kommt ihr ein dreifacher Rang und eine dreifache Funktion zu. Sie ist die offenbar gewordene Form, die Seele der Imame, sie ist die Schwelle, über die die Imame ihr Licht ergießen. Daher ist sie alle denkbare Realität, das Pleroma der Bedeutungen aller Universen, denn nichts, was existiert, vermag ohne eine spezifische Qualität und Bedeutung zu existieren. Daher ist das gesamte Universum der Seele, das Geheimnis ihrer Bedeutungen, das Geheimnis der Fatima. Sie ist Sophia, die göttliche Weisheit und Macht. Daher ist ihre ewige Person, das Geheimnis der Seelenwelt, auch ihre Manifestation, ohne die das Schöpfungsprinzip sich nicht manifestieren könnte und auf immer unerkannt bliebe.
Der ontologische Rang der Imame übersteigt jede Darstellbarkeit und Wahrnehmung durch geschaffene Wesen, weshalb der Rang Fatimas die Ebene ihres Erscheinens ist, denn ihr Seinsrang ist der Rang der Seele jedes Seienden. Daher rekapituliert der Seinsrang Fatima-Sophias alle Stufen des Wissens, der Erkenntnis, der Gnosis, so dass der jeweilige Rang der Propheten, der von ihrem Wissen von Gott abhängt, eine Folge ihres Wissens um die Geheimnisse Fatimas ist. Selbst die herausragendsten unter den 24.000 Nabi, die schon vor Mohammed ein himmlisches Buch offenbarten, reichten nicht an Fatima-Sophia heran, denn sie ist die Quelle all ihres Wissens, ihrer Offenbarungen und Wunderwerke, sie ist die »verborgene Tafel«, auf der alles Wissen eingeschrieben ist.
Nach der Tradition ist Gabriel der Engel der Offenbarung und Erkenntnis, der zu den Propheten gesandt wird. Aber selbst er empfängt die göttliche Offenbarung durch die Vermittlung dreier anderer Erzengel: durch Azrael, Seraphiel und Michael. Allein Michael empfängt direkt einen Teil des Wissens, das in der geheimen Tafel verborgen ist, was erneut den außerordentlichen Rang Fatima-Sophias als Herz der geistigen Welt deutlich macht.
Im Koran stehen Verse, deren Bedeutung nur durch eine spirituelle Hermeneutik entschlüsselt werden kann, zum Beispiel der Vers, in dem Gott erklärt: »Ja, ich schwöre es beim Mond, und bei der Nacht, wenn sie weicht, und bei der Dämmerung, wenn sie sich erhebt: dieses Zeichen ist eines der größeren Zeichen, eines jener Zeichen, die die Menschen warnen.« Dieses »Zeichen unter den größeren Zeichen« ist Hazrat Fatima inmitten der vierzehn überaus Reinen.
Nach all dem lässt sich sagen, dass Fatima-Sophia die Theophanie schlechthin ist. Sie ist das »Ewig-Weibliche« Goethes, das vor allen irdischen Frauen existiert, weil sie der Trennung der Geschlechter auf Erden vorausgeht, so wie die überhimmlische Erde allen himmlischen und irdischen Erden vorausgeht. Fatima-Sophia ist die Seele der Schöpfung, die Seele jeder Kreatur, das heißt, jener Teil des Menschenwesens, der dem imaginativen Bewusstsein in Gestalt einer Frau erscheint: die Anima. Sie ist das Ewig-Weibliche im Mann und daher ist sie der Archetyp der himmlischen Erde, sie ist das Paradies und die Initiation in das Paradies, denn sie ist es, die die göttlichen Namen und Eigenschaften in den ersten Theophanien der Imame, in der göttlichen Welt, offenbart.
In diesen Anschauungen verbirgt sich ein Motiv der ismailischen Gnosis, die Fatima als »Fatima Fatir«, als »Fatima, den Schöpfer« (männlich) bezeichnet. Noch heute nennen Schiiten Fatima die »Königin der Frauen«. Dieser Titel meint den Souverän der weiblichen Menschheit oder des Menschseins im Weiblichen. Das »Weibliche« bedeutet die Totalität alles Seienden im Universum der Möglichkeiten. Alle Wesen sind aus der Seele, aus der »Anima« der heiligen Imame geschaffen worden, sie gehen aus der »linken Seite« der letzteren hervor, so wie Eva, die Anima Adams, aus dessen linker Seite hervorging.
Da alle Wesen aus ihrer Seele geschaffen werden, ist das Universum der Kreaturen in Bezug auf die kosmogonische Macht der Imame weiblich. So verstanden, sind die Imame die »Männer Gottes«, von denen in manchen Versen des Koran die Rede ist. Aber zur gleichen Zeit wurden die Imame, die auf Erden den Zyklus der Initiation in Gang gesetzt haben, aus der Seele des letzten Propheten geschaffen, ja, sie sind die Seele des Propheten. Insofern sind die Imame die »Bräute« des Propheten. Und da die Initiation nichts anderes ist, als die spirituelle Geburt der Adepten, weist die Rede von der »Mutter der Gläubigen« auf eben diese Imame hin. Die spirituelle Geburt wird durch sie bewirkt, worauf auch das Wort des Propheten hindeutet: »Ich und Ali sind der Vater und die Mutter dieser Gemeinde«.
Daher sind die zwölf Imame als Instrumente und Ursachen der Schöpfung einerseits männlich. Aber andererseits, als Seele des Propheten, als dessen Anima, sind sie auch sein weiblicher Aspekt, durch den die Initiation, die spirituelle Schöpfung möglich wird. Die Imame sind männlich, insoweit sie in der Kosmogonie wirken, da die Schöpfung ihre Seele ist und als Urheber der spirituellen Schöpfung sind sie weiblich, weil sie die Seele sind und weil die Seele Fatima ist. Daher kann Fatima auch als die Theophanie des höchsten Pleroma bezeichnet werden und daher stellt die theophane und initiatische Funktion der Imame ihre »fatimische« Seinsform dar, ihre »Fatimität« oder »Sophianität«. Und aus diesem Grund wird Fatima als »Fatima der Schöpfer« bezeichnet.
Die einzelnen Erscheinungsformen dieser Fatima symbolisieren sich gegenseitig: im Pleroma des lahut ist sie die überhimmlische Erde und ihr Fundament, in der sichtbaren Welt ist sie die Tochter und Seele des Propheten, jenes Wesen, aus dem die Imame hervorgehen, die ihrerseits die Seele des Propheten repräsentieren. Sie ist die Theophanie und die Initiation, sie ist der Zusammenfluss der beiden Lichter, des Lichtes der Prophetie und des Lichtes der Initiation. Durch sie ist die Schöpfung von Beginn an sophianisch und durch sie werden die Imame mit jener Sophianität begabt, die sie an ihre Adepten weitergeben, weil sie die Seele der Initiation ist. In all diesen Ideen klingt die alte Anschauung des Mazdaismus wieder, nach der Spenta Armaiti, der weibliche Erzengel der Erde, den Gläubigen mit ihrer Sophianität erfüllte.
Der Zusammenhang zwischen der Erde des Mazdaismus, die durch das Licht der Glorie verklärt wird, und der himmlischen Erde, die in Fatima verklärt wird, kann durch Folgendes noch deutlicher werden. Scheich Kirmani spricht über eine der Ekstasen Zarathustras, in der ihm Ohrmazd die Schau eines Baumes mit sieben Zweigen schenkte, deren Schatten die ganze Erde bedeckte. Die sieben Zweige bestanden aus sieben Metallen: Gold, Silber, Kupfer, Bronze, Blei, Eisen und Zinn. Ohrmazd erklärt Zarathustra die Bedeutung der einzelnen Zweige: jeder symbolisiert ein großes Königreich. In der siebten Periode, die durch die Herrschaft der Abbasiden eingeleitet wurde, folgt eine Katastrophe der anderen, darunter der Sturm der Mongolen. Aber Ohmazd tröstet Zarathustra durch die bevorstehende Ankunft eines endzeitlichen Helden, der aus Zentralasien kommen soll und dessen Name Bahram Varjavand ist. Nach manchen soll er aus der »Stadt der Mägdelein« kommen, die in der Gegend Tibets liegt. »Bahram« ist der persische Name des Planeten Mars – Mars entspricht im Pleroma dem zwölften, verborgenen Imam – und Varjavand bedeutet einen Menschen, der sich im Besitz der Glorie des geistigen Wesensglanzes, des Xvarnah, befindet. Der zoroastrische Held der Endzeit steht in Beziehung zum verborgenen Imam.
Aber das ist noch nicht alles. Sowohl der zoroastrische Endzeitheld als auch der Imam, der die Wiederherstellung der Welt bringen soll, werden nicht nur von lebenden Kampfgefährten begleitet, sondern auch von jenen, die in einem mystischen Schlaf darauf warten, aufzustehen, wenn die Zeit gekommen ist und all jenen, die aus der Vergangenheit für die letzte Schlacht zurückkehren. Bei den Zoroastriern zum Beispiel ist dies Peshotun, ein Sohn des Königs Vishtaspa, der Zarathustra beschützte, und bei den Schiiten der erste Imam. Bei beiden handelt es sich um spirituelle Ritter, die in der Endzeit wiederkehren.
Aber die theosophischen Autoren denken nicht in Kategorien der linearen geschichtlichen Zeit, sondern in Zyklen, denen symbolisch aufeinander verweisende Universen und Epochen der spirituellen Geschichte zugrunde liegen. Daher müssen die unterschiedlichen Gestalten auch nicht in derselben Zeit in Erscheinung treten, vielmehr besitzt jede dieser Figuren ihre eigene Zeit. Und aus eben diesem Grund stellen sie auch Typen dar, die miteinander verglichen werden können und treten sie in jeder Epoche von Neuem auf. Wenn der Saoshyant mit dem verborgenen Imam gleichgesetzt wird, bedeutet dies nicht, dass der letztere ein literarisches Zitat des ersteren ist, sondern dass sich in beiden eine ewige Struktur der Metageschichte manifestiert, die zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedliche Bilder gekleidet wurde.
Daher gibt es vom Saoshyant des Mazdaismus zum verborgenen Imam des Shiismus auch keinen linearen Fortschritt, vielmehr stehen beide in einer zyklisch-symbolischen Beziehung zueinander. Auch darüber gibt Kirmani Aufschluss. Die spirituelle Geschichte der Menschheit seit Adam stellt für ihn den Zyklus der Prophetie dar, der auf den Zyklus der Kosmogonie folgte, aber obwohl der erstere dem letzteren folgt, ist er zugleich eine Art Umkehrung des ersteren, ein Wiederaufstieg in das Pleroma. Das klingt gnostisch, ist aber genau die Bedeutung des Ausdrucks »die Dinge in Hurqalya sehen«. Der Mensch und seine Welt müssen in Bezug auf die Vertikale betrachtet werden. Der »Orient« im Sinne eines »Ursprungs«, der zugleich die Richtung der Rückkehr und des Wiederaufstiegs bestimmt (der die »Orientierung« bestimmt), ist der Himmelspol, der kosmische Norden, der »smaragdene Fels« am Gipfel des kosmischen Berges Qaf, dort, wo die Welt Hurqalya beginnt. Er ist auf den alten Landkarten daher auch kein Ort im geographischen Osten. Der Sinn des Menschen und seiner Welt ergibt sich aus dieser polaren Ausrichtung und nicht aus einer eindimensionalen, horizontal verlaufenden Evolution, jenem berühmten »Sinn der Geschichte«, der heute allein anerkannt wird, auch wenn seine Existenz völlig hypothetisch ist.
Auch das Paradies Yimas, in dem die schönsten Dinge aufbewahrt werden, die die erneuerte Welt wieder bevölkern sollen, das Var, in dem die Samen der Auferstehungsleiber gehütet werden, liegt im Norden. Die Erde des Lichtes im Manichäismus und Mandäismus liegt ebenso im kosmischen Norden. Auch der Mystiker Abd al-Karim Jili spricht von der »Erde der Seelen«, die im fernen Norden liegt, der einzigen Region, die von den Folgen des adamitischen Falls nicht betroffen war. Er ist der Aufenthaltsort des unsichtbaren Menschen, der vom geheimnisvollen Propheten Khizr regiert wird. In diesem Land leuchtet die Sonne um Mitternacht, dort gibt es kein Abendgebet, da die Morgendämmerung beginnt, bevor die Sonne untergegangen ist. Nicht weit von dieser Symbolik entfernt liegen auch die nördlichen Paradiese, die Lichterde der Seele und die Gralsburg.
Nun ist diese Erde aus Licht auch die Erde der geistigen Schau, die Erde, durch die sich die Wiederauferstehung der Leiber ereignen wird, oder besser, das »Erscheinen der Geistleiber«. Deutlich wurde bereits, dass Fatima-Sophia die Seele dieser Welt ist. Zeigen wird sich auch, dass die Anima des Adepten, sein spiritueller Leib, die Erde seines Paradieses ist. Und in dieser Erde von Hurqalya lebt auch der verborgene Imam unserer Zeit.
Es gibt eine geheimnisvolle Beziehung zwischen dem schiitischen Adepten und Fatima-Sophia, der ersten Quelle des zwölften Imam, die den Adepten mit seiner Sophianität begabt. Die Parousie, die Erscheinung des zwölften Imam, ist kein äußeres Ereignis der geschichtlichen Zeit. Sein Erscheinen ist ein allmähliches Hervortreten aus dem Verborgenen, das stattfindet, wenn der Geistsucher sich zur Welt Hurqalya erhebt: der zwölfte Imam wird von diesem in seinem innersten Wesen zur Erscheinung gebracht. Die gesamte Spiritualität des Schiismus beruht laut Corbin auf diesem Gedanken.
Fortsetzung:
Die achte Klimazone der Erde
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