Leib, Seele und Geist

Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2015.

triskele

Triskele

Leib, Seele und Geist. Diese drei Begriffe enthalten das ganze Geheimnis der Anthroposophie – und der Waldorfpädagogik. Der Leib ist vergänglich, der Geist ewig, die Seele vermittelt zwischen ihnen und hat an beiden Anteil.

Am wenigsten strittig dürfte heutzutage die Existenz des Leibes sein. Man kann ihn sehen, betasten, wiegen und ein großer Teil der gegenwärtigen abendländischen Kultur beruht auf dieser Tatsache. Er ist Gegenstand bewegender politischer und rechtlicher Auseinandersetzungen, die um den Beginn, das Ende, aber auch die Mitte seiner Existenz geführt werden. Die Fortpflanzungstechnologie, die Transplantationsmedizin und die Geriatrie werfen die Frage nach seiner Vollkommenheit, Integrität und Verfügbarkeit auf. Ein nicht unerheblicher Teil unserer Freizeitgestaltung dient der Optimierung dieses Leibes, die darauf abzielt, ihn in eine vorzeigbare Form zu bringen. Regelmäßig weisen medizinische Autoritäten darauf hin, dass immer größere Teile der Bevölkerung vom Verlust seiner Idealform bedroht sind oder bereits unter ihr leiden, und diese Idealform wird zur Norm der Gesundheit erklärt. Der größte Teil der Populärkultur – Sport und Showbusiness – zelebriert einen Kult des gesunden, jugendlichen, leistungsfähigen Leibes.

Führt man sich all dies vor Augen, drängt sich die Einsicht auf, dass unser tägliches Leben sich aus etwas speist und um etwas kreist, was seinem Wesen nach vergänglich ist. Aber auch wenn niemand zu bestreiten vermag, dass die Existenz dieses Gravitationszentrums unserer Gesellschaften prekär und flüchtig ist, zweifelt erstaunlicherweise doch niemand an seiner Realität.

Ganz anders verhält es sich mit der Seele und dem Geist. Sie drängen sich keineswegs so auf wie der Leib, tatsächlich tun sie dies so wenig, dass heute viele sogar an deren Existenz zweifeln. Seele und Geist sind unsichtbar, unwägbar – und doch allgegenwärtig. Allein das Vorhandensein des Bewusstseins, der Erlebnisse von Lust und Schmerz, Freude oder Trauer, müsste uns darauf aufmerksam machen, dass der Leib zwar Voraussetzung und vielfach die Quelle dieser Erlebnisse ist, aber keineswegs mit ihnen identifiziert werden kann. Wenden wir die Beobachtung diesen Erlebnissen zu, kann uns auffallen, dass wir zwar ein Bewusstsein vom Leib haben können, dass dieses Bewusstsein aber nicht der Leib ist. Vielmehr erhebt es sich aus dem Leib und stellt sich ihm gegenüber. Und ein weiteres merkwürdiges Phänomen macht uns darauf aufmerksam, dass das Vorhandensein des Leibes keineswegs das Bewusstsein garantiert. Dieses Phänomen ist der Schlaf. Obwohl der Leib vorhanden ist, haben wir im Schlaf doch kein Bewusstsein von ihm. Das Bewusstsein erwacht und erlischt, es ist intermittierend. Es scheint also, obwohl es in der Regel nur im Zusammenhang mit dem Leib auftritt, von diesem unabhängig zu sein. Bei gründlicher Betrachtung können wir uns vor einer weiteren Einsicht nicht verschließen: durch das Bewusstsein geht eine zweite Welt neben oder in der ersten auf: wir leben in einem Kosmos von Repräsentanzen, deren bedeutendste die Erinnerung ist. Ein ganzer Ozean von inneren Erlebnissen und Erfahrungen stellt sich neben oder in die erste Welt, der ihr aber überhaupt nicht zugänglich ist. Wer hat denn je den Schmerz gesehen, die Hoffnung gewogen? Wer kann die metrischen Dimensionen des Bewusstseins benennen? Es vermag, unabhängig vom Körper, an Orten zu weilen, die weit in der Vergangenheit oder in der fernen Zukunft liegen. Seine Sehnsucht trägt es an karibische Traumstrände, an die Grenzen des Universums, ja sogar darüber hinaus. Es baut sich aus seinen inneren Erlebnissen eine Wirklichkeit auf, deren Vorhandensein abzustreiten auf Selbstverleugnung hinausliefe. Denn auch die Leugnung des Bewusstseins ist ein Akt des Bewusstseins. Der Schauplatz dieser inneren Realität, dieser zweiten Wirklichkeit, ist die Seele.

Wo aber leuchtet der Geist auf? Wie ist er unserer Beobachtung zugänglich? Genausowenig wie die Seele ist der Geist in der äußeren Welt fassbar. Aber wenn der auf den Schauplatz der Seele gerichtete Blick den Kosmos der inneren Erlebnisse intensiv genug erforscht, dann wird er irgendwann sich selbst erblicken. Wie eine innere Sonne geht dann im Auf und Ab der seelischen Erlebnisse, im Kreislauf von Lust und Schmerz, Begierde und Befriedigung, Erinnern und Vergessen, ein Licht auf, das all diese Erlebnisse zu beleuchten vermag und sich ihnen gegenüber wie ein Fixstern zu Wandelsternen verhält. In der Tat kündigt sich in diesem Blick, der sich selbst zu erblicken vermag, ontologisch gesprochen, eine neue Schicht der Realität an, die aber, so unbeachtet sie im Alltag auch sein mag, all unserem Erleben von Realität zugrunde liegt. Denn ohne ihn gäbe es überhaupt keine gegenständliche und damit auch keine körperliche oder seelische Welt für uns. Dieses selbstlose Auge, das sich allem zuzuwenden vermag, sowohl den sichtbaren Dingen als auch den unsichtbaren, sieht zwar alles, sich selbst aber nur, wenn es von allem anderen absieht. Und es ist so sehr den Gegenständen seiner Beobachtung hingegeben, dass es die beachtlichen Eigenschaften, die es besitzt, übersieht. Es ist nämlich selbstleuchtend und es bringt das, was es sieht, hervor. Genauso wie es die jugendlichen oder greisen Körper erst in seinem Blickfeld als Gegenstände sichtbar macht, verleiht es auch den Erlebnissen des seelischen Kosmos ihre Gestalt. Gerade, weil es der Quell aller Gestalten ist, ist es selbst gestaltlos. Jedem Menschen ist dieses Zauberauge eingeboren, aber jedem ein eigenes. Und doch vermögen wir uns durch es erst ineinander zu erblicken. In diesem Auge des Geistes spiegelt sich die Welt, so wie er sich in ihr spiegelt. Und auch wenn er auf dem Schauplatz des seelischen Erlebens aufleuchtet, ist er gleichwohl die Voraussetzung für dieses Erleben. Jenseits des vergänglichen Leibes, jenseits der wandelbaren Seele leuchtet in ihnen und durch sie der geistige Quellgrund ihrer Realität auf, der in jedem Menschen einzigartig und doch allen gemeinsam ist.

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