Zuletzt aktualisiert am 19. Juli 2024.
Wer sich in umfassender Weise mit der Geschichte der abendländischen Esoterik befassen will, muss auch die Erneuerung des Okkultismus und der rituellen Magie zur Kenntnis nehmen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog.
Diese Erneuerung ist ein komplexes, durch eine Vielzahl von Faktoren bedingtes Phänomen. Schon die Romantik förderte das Interesse an der Nachtseite der Natur und des Bewusstseins und dadurch die Empfänglichkeit für den Mesmerismus, den Spiritismus und die Magie, die sich als Methoden anboten, in das Jenseits des Alltagsbewusstseins einzudringen. Zwischen 1821 bis 1826 antwortete Georg Conrad Horst mit seiner sechsbändigen »Zauber-Bibliothek«, die Hexerei, Theurgie, Prophezeiung und Zauberei behandelte, auf dieses wachsende Bedürfnis. Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen eine Reihe von verwandten Büchern, unter anderem Joseph Ennemosers »Geschichte der Magie« (1844), die 1854 von William Howitt ins Englische übersetzt wurde, der seinerseits eine »Geschichte des Übernatürlichen« schrieb (»History of the Supernatural«, 1863). In Frankreich veröffentlichte Roger Gougenot des Mousseaux unter den Titeln »La magie au dix-neufième siècle« (1860) und »Les hauts phénomènes de la magie« (1862) eine Reihe von Enthüllungen. Das Schlüsselwerk des französischen Okkultisten Eliphas Lévi gehört in dieses Milieu.
Die Freimaurerei spielte mit ihrer Tradition hermetischer Weisheit bei der Erneuerung des Okkultismus eine wichtige Rolle. Die Vorherrschaft der Hochgrad-Theosophie Pasquallys, Willermoz’ und Cagliostros stellte sicher, dass die Maurerei leicht in die esoterischen Traditionen integriert werden konnte. Ellic Howe hat die Geschichte der englischen »Winkelmaurerei« im 19. Jahrhundert nacherzählt, die okkultes Wissen durch eine Vielzahl kleiner Orden und Gesellschaften verbreitete. Diese Gruppen beriefen sich auf die unterschiedlichsten legendären Traditionen, auf das alte Ägypten, auf Asien oder auf die Rosenkreuzer, das heißt, den Orden der Gold- und Rosenkreuzer und ihre Hochgradmaurerei, die im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa entstanden waren. Mitte der 1860er Jahre gründeten einige englische Maurer einen in Grade eingeteilten Orden, die »Societas Rosicruciana in Anglia« (SRIA), dessen Aufgabe das Studium westlicher esoterischer Traditionen war. 1888 riefen einige seiner Mitglieder einen explizit magischen Orden ins Leben, den »Hermetic Order of the Golden Dawn« (»Hermetischer Orden der Goldenen Dämmerung«), um das magische Wissen und Können mit Hilfe von Graden und Initiationen zu pflegen.
Möglicherweise spiegelt sich in der Ausbreitung der Winkelmaurerei auch die Erneuerung des Ritualismus wieder, die in der Anglikanischen Kirche durch die Bewegung von Oxford unter John Keeble, Henry Newman und Edward Pusey seit 1830 vorangetrieben wurde. Die anglokatholische Erneuerungsbewegung suchte dem nüchternen anglikanischen Gottesdienst ein elaboriertes Ritual entgegenzustellen, das reiche sinnliche Erlebnisse, zusätzliche Sakramente und farbenfrohe Messgewänder bot. Diese Bewegung übte in der englischsprachigen Welt einen großen Einfluss aus, was sich an der Wiederaufnahme der Sakramentenverehrung durch die anglikanische Kirche und die Wiederbelebung religiöser Orden seit der Jahrhundertmitte zeigt. Gegen Ende des Jahrhunderts verknüpften der Golden Dawn und andere okkulte Orden in Frankreich diesen wiederentdeckten Sinn für den Ritualismus mit jenem künstlerischen Geschmack, der das fin-de-siècle in England und Frankreich auszeichnete. Das rituelle Vorbild der Maurerei wirkte sich auch auf andere okkultistische Gruppen aus. 1910 führte Annie Besant (1847-1933), die Nachfolgerin von Helena Petrowna Blavatsky, durch die Gründung einer Adoptionsloge (die auch Frauen offenstand) winkelmaurerische Ideen in die Theosophie ein. Ihr Mitstreiter Charles Webster Leadbeater (1854-1934), ein früherer anglokatholischer Geistlicher, schloss sich der Adoptionsmaurerei an und gründete 1917 die »Liberal-Katholische Kirche«, die den Ritualismus und okkultistische Ideen miteinander verband und diese in der englischsprachigen Welt, besonders in Australien, verbreitete.
Eliphas Lévi und die Erneuerung des Okkultismus in Frankreich
Eliphas Lévi (1810-1875) ist eine Schlüsselgestalt bei der Erneuerung des Okkultismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er beeinflusste Gruppen in England, Frankreich und Deutschland. In Paris als Alphonse Louis Constant geboren und aufgewachsen, fühlte er sich zum katholischen Priesteramt hingezogen, bewegte sich aber auch in literarischen, linksgerichteten und feministischen Kreisen. Neben einem politischen Radikalismus pflegte er auch ein mystisches Interesse. Er hatte sich in Knorr von Rosenroths »Kabbala denudata« (»Entschleierte Kabbala«, 1677-1684) vertieft, die Werke Boehmes, Swedenborgs, Saint-Martins und Fabre d’Olivets, des Übersetzers der »Goldenen Verse des Pythagoras« und Schöpfers einer esoterischen Kosmogonie, gelesen. Constant lernte Joseph Maria Hoëne-Wronski (1776-1853) kennen, einen älteren polnischen Emigranten, der sich seit langem mit Esoterik und messianischer Prophetie beschäftigte und sich in der Kabbala, bei Boehme und in der Gnosis gut auskannte. Wronski war 1797 aus der russischen Armee ausgetreten, um in Deutschland zu studieren, wo er stark von Kant, Fichte und Schelling beeinflusst wurde und ging im Jahr 1800 nach Frankreich. 1803 erlebte er eine mystische Erleuchtung, durch die er das Absolute entdeckt zu haben glaubte und widmete seither sein Leben der Entwicklung und Darstellung einer »Absoluten Philosophie«. Er beschäftigte sich mit Geschichtsphilosophie und teilte die Zeit in drei Epochen ein, deren letzte die menschliche Vernunft in Übereinstimmung mit den göttlichen Gesetzen bringen werde. Wronski war ausschlaggebend für die Ausrichtung Constants auf Magie und Okkultismus. Da Wronski selbst esoterische Ideen mit revolutionären Erwartungen verband, fühlte sich Constant von dessen religiösem und wissenschaftlichem Utopismus stark angezogen.
Constant veröffentlichte sein erstes Werk über Magie »Dogme de la haute magie 1855 (»Dogma der hohen Magie«), ein Jahr später das »Rituel de la haute magie (»Ritual der hohen Magie«, 1856) und benutzte seither das Pseudonym Eliphas Lévi (gebildet aus den hebräischen Entsprechungen seines Vornamens). Seine späteren Werke »Histoire de la haute magie« (»Geschichte der hohen Magie«, 1860) und »La Clef des Grands Mystères« (»Der Schlüssel der großen Mysterien«, 1861) setzten seine Synthese der »okkultistischen« Traditionen fort. Lévis Zusammenschau der westlichen magischen Tradition fußte auf Quellen des Mittelalters und der Renaissance, insbesondere auf Trithemius, Agrippa von Nettesheim und Paracelsus. Der Mensch ist ein Mikrokosmos, sympathetische Korrespondenzen verbinden die drei Welten: die natürliche oder physische, die spirituelle oder metaphysische und die göttliche oder religiöse Welt, durch eine hierarchische Analogie. Der Magier kann auf die verschiedenen Ebenen einwirken, indem er Wesen und Mächte durch Zaubersprüche, Zeichen, kabbalistische Formeln und Talismane anruft. Lévi war der Ansicht, alle okkulten Wissenschaften hätten sich, um der Verfolgung durch das Christentum zu entgehen, in Symbole und Allegorien gehüllt. Die okkulten Wissenschaften – vom Tarot über die Alchemie bis zur Kabbala – wurden im Geheimen weitergegeben und waren nur für Initiierte zugänglich. Bei seiner Konstruktion dieser synkretistischen magischen Tradition praktizierte Lévi einen Konkordismus, den bereits die gelehrten Magier der Renaissance pflegten, der von Faivre als »extrinsisches Merkmal« der esoterischen Philosophie bezeichnet wurde.
Lévis Untersuchung der Lehren der transzendentalen Magie ist denkbar umfassend. In seinen beiden ersten Büchern diskutiert er kosmologische Grundlagen wie die Dyade, Triade und Tetrade mit Hilfe einer synkretistischen Begrifflichkeit, die den salomonischen Tempel, die männlich-weibliche Geschlechterpolarität sowie die gnostische, maurerische und taoistische Symbolik einbezieht. Er schildert die magischen Kräfte der Tetrade (Vierheit), die auf den Beziehungen der vier magischen Elemente und der Elementargeister beruht. Die Herrschaft des Willens über die physische Seele der vier Elemente wird in der rituellen Magie durch das Pentagramm dargestellt. Die Elementargeister in Erde, Wasser, Luft und Feuer unterwerfen sich diesem Zeichen, wenn man es in einem Kreis oder auf einem Altar anbringt, der magischen Anrufungen dient. Lévi behauptete, das Hauptziel der Magie sei es, den Willen zu verdichten und auf einen einzigen Gegenstand zu richten. Der Magier nutze das Ritual, um seine Kräfte zu sammeln und umzuwandeln und dann auf die äußere Welt einzuwirken. Lévi mischte in seine Philosophie der Magie mesmeristische Ideen, wenn er die sympathetische Magie mit Hilfe des »Astrallichtes« oder eines »großen magischen Wirkmediums« erklärte, das er als subtiles Fluidum beschrieb, welches das gesamte Universum durchdringt und sich in vier physischen Kräften manifestiert: in Feuer, Licht, Elektrizität und Magnetismus. Dieses Wirkmedium kann der menschliche Wille beeinflussen und es kann seinerseits Wirkungen in der menschlichen Imagination hervorrufen. Magische Operationen vermitteln Zugang zu den Energien und Wesen des Astrallichtes und erzeugen auf diesem Wege übernatürliche Phänomene und das Hellsehen.
Weitere Kapitel beschreiben die hellenistische Mythologie, die Kabbala, die Alchemie, Zaubersprüche- und tränke, die Totenbeschwörung, die schwarze Magie und die Weissagung. Neu an Lévis Ausführungen sind Korrespondenzen, die er zwischen den 22 Pfaden des kabbalistischen Lebensbaumes und den 22 Tarotkarten herstellt. Auf eine esoterische Bedeutung der Tarotkarten (die wahrscheinlich im 15. Jahrhundert in Italien entstanden) wies erstmals Antoine Court de Gébelin (1725-1784) hin, ein protestantischer Geistlicher, Hochgradmaurer und Anhänger Mesmers. In seinem Buch »Le Monde primitif« (1773-1784), einem neunbändigen Werk, das die ursprüngliche Harmonie der alten Welt durch die Wiederentdeckung einer universellen Ursprache wiederherstellen wollte, schrieb er ihnen einen ägyptischen Ursprung zu. Diese Idee griff Jean-Baptiste Alliette (1738-1791) auf, ein okkulter Kartenleser, der unter dem Namen »Etteilla« seit den 1770er Jahren in Paris arbeitete. Etteilla deutete den Tarot als Buch des Thoth, das von den Priestern im alten Ägypten offenbart worden sei. Lévis Verknüpfung der Kabbala und des Tarot, das er als Quelle wirkmächtiger, magischer Symbolik auffasste und nicht bloß als Mittel der Schicksalsdeutung, sollte die künftige Praxis vieler magischer Orden beeinflussen. Nahezu der gesamte moderne Okkultismus betrachtet den Tarot als Quelle wirkmächtiger, magischer Bilder und setzt seine Übereinstimmung mit den anderen Symbolsystemen der Astrologie, der Alchemie und der Magie voraus. Lévi war nicht nur der erste, der das Tarot auf diese Weise mit anderen okkulten Wissenschaften verband, er war auch der erste bedeutende moderne Kompilator der westlichen esoterischen Tradition, dessen populär illustrierte Werke die rituelle Magie, die Hermetik und die gelehrten Magier der Renaissance wieder dem gebildeten Publikum in Europa und den USA zugänglich machten. Es wurde behauptet, das Werk Lévis sei das »Nadelöhr« gewesen, durch das die westliche esoterische Tradition der Magie, die zu seiner Zeit am Dahinsiechen war, in die Moderne eingewandert sei.
1854 besuchte Lévi London, wo er englische Okkultisten, unter anderem Sir Edward Bulwer-Lytton, den Autor von »Zanoni« (1842) traf, der in dieses Buch eine Fülle esoterischen Wissens hatte einfließen lassen. Höhepunkt seines Aufenthaltes soll die Herbeirufung des antiken Thaumaturgen (Wundertäters) Apollonius von Tyana durch ein magisches Ritual gewesen sein. 1861 besuchte er London erneut und wurde seither von einer jüngeren Generation von Okkultisten als Adept bewundert. Kenneth Mackenzie, der Historiker der Freimaurerei, besuchte ihn in Paris, MacGregor Mathers, ein Mitbegründer des »Hermetischen Ordens der Goldenen Dämmerung« nannte ihn einen »großen Kabbalisten«. Arthur Edward Waite veröffentlichte eine Anthologie seiner Schriften und übersetzte seine Hauptwerke ins Englische, Aleister Crowley schließlich glaubte, er sei eine Reinkarnation Lévis. Helena Petrowna Blavatsky übersetzte seinen Bericht über die Herbeirufung des Apollonius von Tyana und zitierte ihn des öfteren in ihrer »Entschleierten Isis«. Diese Anerkennung zeigt seine Bedeutung für die Erneuerung des westlichen Okkultismus.
Antoine Faivre sah in Lévi die Hauptfigur des Okkultismus im 19. Jahrhundert. Während sich frühere Esoteriker einer hermetischen Variante der Wissenschaft verschrieben, weisen moderne Okkultisten den wissenschaftlichen Fortschritt oder die Modernität nicht zurück. Die praktischen Erfolge der positiven Wissenschaft und ihrer Technologien luden sie vielmehr dazu ein, diese in eine ganzheitliche Weltsicht zu integrieren. Die Pansophie der späten Renaissance ist noch heute evident, aber der moderne Okkultismus sucht Beweise für sie durch wissenschaftliche Experimente oder versucht, seine Einsichten in einer wissenschaftlichen Sprache vorzutragen.
Gérard Encausse (1865-1916), genannt Papus, war ein führendes Mitglied des 1887 rekonstituierten Hermes-Zweiges der Theosophischen Gesellschaft Paris und gab seit 1888 eine eigene Zeitschrift namens »L’Initiation« heraus. Papus, ein Arzt, Forscher und Experimentalwissenschaftler, veröffentlichte das einflussreichste Buch über Okkultismus seit Lévi: den »Traité méthodique de science occulte« (»Methodische Abhandlung über die okkulte Wissenschaft«, 1888), gründete esoterische Zeitschriften, darunter »La Voile d’Isis« (»Schleier der Isis«), und verfasste eine ganze Reihe medizinischer Schriften. Zu seinen zahlreichen okkulten Werken über Heilkunst, Kabbala und das Handlesen gehört auch ein Buch über das »Tarot der Zigeuner« (»Tarot des Bohémiens, 1889), das die Beziehung zwischen dem Tarot und der Kabbala untersucht. Eines seiner Hauptwerke, »La Kabbale«, widmete er 1892 dieser geheimen Tradition des Westens. Papus wurde stark von Joseph-Alexandre Saint-Yves d’Alveydre (1842-1910) beeinflusst, der eine Reihe okkultistischer und politisch-utopischer Bücher verfasste. Papus erweckte auch den Martinistenorden wieder zum Leben – oder genauer gesagt, er erfand ihn unter Berufung auf eine angebliche Kette der Initiation, die von Louis Claude de Saint-Martin ausgegangen sei. Als Haupt dieses Ordens gründete er viele neue Logen in Europa und Amerika. Er trat auch dem kabbalistischen »Orden des Rosenkreuzes« bei, den Stanislas de Guaita (1861-1897) und Joséphin Péladan (1858-1918) führten, einem Orden, der eine künstlerisch gefärbte Esoterik repräsentierte, die mit der neuromantischen symbolistischen Bewegung verbunden war.
Der Hermetische Orden der Goldenen Dämmerung
Die mit der Freimaurerei verknüpfte »rosenkreuzerische« Tradition initiatorischer Gesellschaften wirkte mit Eliphas Lévis Einsatz für die westliche Magie zusammen, um eine bunte Schar englischer Okkultisten hervorzubringen, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mit zeremonieller Magie beschäftigten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen der Spiritismus und der Okkultismus immer mehr Anhänger, was auch die Anziehungskraft der Freimaurerei erhöhte. 1866 gründete eine kleine Gruppe von Maurermeistern, die sich für esoterische Traditionen interessierte, eine maurerisch-rosenkreuzerische Studiengruppe, die »Societas Rosicruciana in Anglia« (SRIA). Durch Robert Wentworth Little (1840-1878) ins Leben gerufen, organisierte sich die SRIA hierarchisch und gab sich Grade nach dem Vorbild der deutschen Gold- und Rosenkreuzer im 18. Jahrhundert. Little verfolgte vielerlei maurerische Interessen und galt als eifriger Student der Werke Eliphas Lévis. Er gelangte in den Besitz gewisser alter deutscher Rosenkreuzerschriften und konsultierte darüber Robert Mackenzie (1833-1886), einen Kenner esoterischer Traditionen und ägyptischer Altertümer, der behauptete, bereits einige Jahre früher mit deutschen Rosenkreuzern in Kontakt getreten zu sein. In den 1870er und 1880er Jahren bearbeitete die SRIA – die noch heute existiert – gewisse Rituale und veranstaltete Vorträge über esoterische Themen, darunter Spiritismus, maurerische Symbolik und die Kabbala.
Drei Brüder der SRIA gründeten den »Hermetischen Orden der Goldenen Dämmerung«, der zum Prototyp und führenden Beispiel paramaurerischer magischer Orden werden sollte. Die Initiative ergriff William Wynn Westcott (1848-1925), ein Gerichtsmediziner aus London, der seit 1871 Freimaurer war. Er hatte am University College in London Medizin studiert und zusammen mit seinem Onkel bis 1879 in Somerset praktiziert, als er nach Hendon umsiedelte, um sich dem Studium der Kabbala, der Hermetik, der Alchemie und des Rosenkreuzertums zuzuwenden. Diese Interessen veranlassten 1880 seinen Beitritt zur SRIA. Seine ersten Veröffentlichungen waren Studien zum Sepher Yetzirah, zur Bronzetafel Kardinal Bembos (Mensa Isiaca), zur Zahlenlehre sowie eine Übersetzung von Lévis »Magischem Ritual des Sanctum Regnum«, einem Werk, das sich mit den Trümpfen des Tarot befasst. Westcott gab später das neunbändige Sammelwerk »Collectanea Hermetica« (1893-1902) heraus, das neue englische Übersetzungen alchymischer, hermetischer und kabbalistischer Schriften enthielt. 1882 lernte Westcott Samuel Liddell Mathers kennen, der in diesem Jahr der SRIA beigetreten war. Beide suchten nach einer stärker praktisch ausgerichteten Esoterik und verbanden sich mit der kurzlebigen »Hermetischen Gesellschaft«, die Anna Kingsford 1884 gegründet hatte, um der östlich orientierten Theosophischen Gesellschaft Blavatskys westliche (christliche) esoterische Traditionen entgegenzustellen. Um 1886 hatte Westcott begonnen, über einen magischen Orden nachzudenken, der auf den westlichen esoterischen Traditionen beruhte, in dessen Gründung er bald darauf verwickelt wurde.
Die Ursprünge der zeremoniellen Magie des Ordens der Goldenen Dämmerung und ihrer Rituale sind in den Schleier des Geheimnisses gehüllt, da Westcott sich darum bemühte, dem Orden eine exotische rosenkreuzerische Autorität zu verleihen. Er behauptete, er habe im August 1887 von Reverend A.F.A. Woodford, einem Pastor und gut bekannten Freimaurer, ein verschlüsseltes Manuskript erworben, das in einer geheimen Schrift, die aus der Polygraphie des Johannes Trithemius entwickelt worden sei, fünf magische Grade beschrieb (Lévi hatte in seinem »Ritual« behauptet, die besten Texte der mittelalterlichen zeremoniellen Magie seien auf diese Weise verschlüsselt). Höchstwahrscheinlich wurde dieses Manuskript ursprünglich von Kenneth R.H. Mackenzie verfasst, dessen Papiere nach seinem Tod in den Besitz Westcotts gelangten. Westcott fälschte daraufhin einen imaginären Briefwechsel mit einer gewissen (wohl fiktiven) Anna Sprengel, einer deutschen »Adeptin«, die in den Papieren Mackenzies erwähnt worden war. Ziel dieses Schwindels war es, eine angebliche Abstammung von einer mysteriösen kontinentalen okkulten Loge zu etablieren und damit die Autorität, einen eigenen Tempel dieses Ordens in England zu begründen. Letztere war für Westcott angesichts der Vorliebe der englischen Maurerei für legitime Sukzession von besonderer Bedeutung. Westcott lud daraufhin Mathers ein, aufgrund des Materials in dem verschlüsselten Manuskript ausgefeilte Rituale zu entwickeln. Zur selben Zeit schlug er Mathers vor, mit ihm zusammen den Orden zu leiten und den vollständigen Plan einer Initiation zu schaffen. William Robert Woodman (1828-1891), ein Arzt im Ruhestand und »Höchster Magier« der SRIA wurde zum dritten Leiter des Ordens ernannt. Ellic Howes Analyse der zwielichtigen Dokumente, die der Gründung des Ordens der Goldenen Dämmerung zugrunde liegen, wurde von Robert Gilbert um eine Sammlung von Zeugnissen von Zeitgenossen ergänzt (Ellic Howe, »The Magicians of the Golden Dawn«, London 1972; Robert A. Gilbert, »The Golden Dawn Companion«, Wellingborough 1986).
Samuel Liddell Mathers (1854-1918) wurde in London als Sohn eines Klerikers geboren und von seiner verwitweten Mutter in Bournemouth großgezogen. 1877 wurde er Freimaurer und begann seine mystischen Studien. 1885 zog er nach London, wo er mit Anna Bonus Kingsford, der Präsidentin der englischen Theosophischen Gesellschaft in Kontakt kam. Kingsfords esoterische Interessen waren in erster Linie westlich und 1884 hatte sie zusammen mit Edward Maitland die »Hermetische Gesellschaft« gegründet, die dem Studium der westlichen hermetischen Tradition und der Kabbala gewidmet war. Mathers bewegte sich in diesen Kreisen. Er machte die Bekanntschaft Blavatskys, mit der er über die Kabbala diskutierte. 1886 hielt er über diese Vorträge in der Theosophischen Gesellschaft. 1887 veröffentlichte er eine Übersetzung der »Entschleierten Kabbala« von Knorr von Rosenroth.
Mathers umfangreiche Untersuchungen der Geschichte, Lehren und Rituale der Magie fanden einen opulenten Ausdruck in der Gestaltung der Rituale für die verschiedenen Grade und Einweihungsstufen des Ordens der Goldenen Dämmerung. Mathers verbrachte viel Zeit im Britischen Museum, um sich ausreichende Kenntnisse der griechisch-ägyptischen Magie und der mittelalterlichen Zauberhandbücher anzueignen, die er mit seinen Studien der Kabbala ergänzte. 1888 veröffentlichte er ein kleines Buch über den okkulten Tarot, auf das die Übersetzung eines mittelalterlichen magischen Textes, des »Schlüssels des Königs Salomo« (»Clavicula Salomonis«, 1889) folgte. Neben der Magie interessierte sich Mathers auch für Kriegswissenschaften. Unter dem Einfluss der zeitgenössischen keltischen Erneuerung fügte er seinem Namen den Bestandteil »MacGregor« hinzu. 1892 zogen Mathers und seine Frau Mina, die Schwester des französischen Philosophen Henri Bergson, nach Paris, wo sie den Athanor-Tempel Nr. 7 der Goldenen Dämmerung gründeten. Hier benutzte Mathers auch den Titel »Comte de Glenstrae« und übersetzte weitere mittelalterliche Handbücher der Magie: »The Book of the Sacred Magic of Abra-Melin the Mage« (1898), «The Grimoire of Armadel«, das als Manuskript unter Tempelmitgliedern kursierte und eine Ausgabe des »Lemegeton« (»The Lesser Key of Solomon«, zu dem die »Goetia« gehörte), das 1904 von Aleister Crowley veröffentlicht wurde. Diese mittelalterliche Magie der Beschwörungen, magischen Zirkel, Pentagramm-Rituale und geweihter Talismane war eng mit der jüdischen Tradition und der Kabbala verbunden. Mathers Ausgaben der magischen Handbücher suchten diese aus ihrer Verbindung mit der schwarzen Magie zu lösen. Die von ihm geschaffenen Rituale und Praktiken der Goldenen Dämmerung waren daher mehr der spirituellen Magie der alexandrinischen Hermetik verpflichtet, als der mittelalterlichen Beschwörungsmagie.
Mit ihrer beachtlichen Produktion von Schriften, zu der die Rituale des Ordens gehörten, gelang Westcott und Mathers die Wiederherstellung der prisca theologia der Renaissancemagie mit ihrer Synthese aus Hermetik, Neuplatonismus und Kabbala. Beide umschlossen mit ihren Publikationen große Teile der westlichen esoterischen Traditionen. Dem Beispiel Lévis folgend, machten sie eine vergessene, von ihnen rekonstruierte universelle Lehre, die auf Zoroaster, Hermes Trismegistos, Moses, Orpheus, Pythagoras und Plato zurückging, zum Herzstück ihrer neuen Institution, die in die westliche magische Tradition initiieren sollte. Diese Tradition sollte dem Rosenkreuzertum verbunden sein, über das Westcott mehrere Werke veröffentlichte. Das erste Manifest, die »Fama Fraternitatis« (1614) hatte behauptet, seine Philosophie sei keine »neue Erfindung«, sondern gehe auf Adam zurück und sei Moses und Salomo bekannt gewesen. Entsprechend wurden die Initianden der Goldenen Dämmerung bei ihrer Einweihung in den zweiten Grad eingeladen, sich dieser »prisca theologia« anzuschließen, die von Christian Rosenkreuz überliefert worden sei: »Wisse, o Anwärter, dass die Mysterien der Rose und des Kreuzes seit ewigen Zeiten existiert haben und dass in Ägypten, Eleusis, Samothrake, Persien, Chaldäa und Indien diese Riten praktiziert und diese Weisheit gelehrt wurde.« Wouter Hanegraaff bezeichnete die moderne Rekonstruktion der prisca theologia im späten 19. Jahrhundert durch Lévi und Blavatsky als eine »Form der alten Weisheit, die auf einer esoterischen Interpretation der vergleichenden Religionswissenschaft« beruhe. Im Fall der Goldenen Dämmerung wurde diese alte Weisheit den Initianden durch dramatische Rituale und Grade als eine lebendige Tradition nahegebracht.
Die Hierarchie der Grade und ihre Rituale
Bereits die SRIA benutzte nach dem Vorbild der Gold- und Rosenkreuzer ein System aus neun Graden. Da das verschlüsselte Manuskript sich auf die zehn Sephiroth (die Emanationen der Gottheit) im kabbalistischen Baum des Lebens bezog, entwickelte Mathers ein nahezu identisches System von Graden, die in drei unterschiedliche Orden aufgegliedert waren:
Erster Orden
Neophyt 0 o= 0 o
Zelator 1 o = 10 o Malkuth (Königreich)
Theoricus 2 o = 9 o Yesod (Fundament)
Practicus 3 o = 8 o Hod (Glanz)
Philosophus 4 o = 7 o Netzach (Sieg)
Zweiter Orden
Adeptus Minor 5 o = 6 o Tiphereth (Schönheit)
Adeptus Major 6 o = 5 o Geburah (Strenge)
Adeptus Exemptus 7 o = 4 o Chesed (Barmherzigkeit)
Dritter Orden (Geheime Obere)
Magister Templi 8 o = 3 o Binah (Intelligenz)
Magus 9 o = 2 o Chokmah (Weisheit)
Ipsissimus 10 o = 1 o Kether (Krone)
Mathers arbeitete die Rituale und die Lehrstunden für die ersten fünf Grade aus. Im Unterschied zur SRIA, die gelehrte Vorträge anbot, besaß der erste oder äußere Orden der Goldenen Dämmerung ein voll ausgebildetes Curriculum zeremonieller Magie. Der Lehrplan für den »Zelator« schloss die Namen und alchymischen Symbole der drei Prinzipien der Natur ein, die Metalle, die in der Alchemie den sieben Planeten zugeordnet werden, die Namen der alchymischen Prinzipien der Sonne und des Mondes, des Grünen Löwen, des Königs und der Königin, die Namen und astrologische Bedeutung der zwölf Häuser des Tierkreises und der Aspekte der Planeten, die Anordnung der zehn Sephiroth im Baum des Lebens auf Hebräisch und Englisch, die Namen und Beschreibungen der Cherubim, die Namen der zehn Himmel von Assia in Hebräisch und englisch, die Namen der 22 Tarotkarten und der vier Farben im Kartenspiel. Höhere Grade erweiterten diesen Lehrplan beträchtlich, und die entsprechenden Zeremonien, die auf dem Logenritual der Maurerei basierten, benutzten eine Vielfalt von Gewändern, Farben, Passworten, Zeichen und Griffen.
Der Grad des Neophyten und sein Ritual sollten den Aspiranten in ein neues Leben führen, verliehen ihm einen neuen Namen oder ein magisches Motto und öffneten seine Seele dem Licht. Die Initiation sollte die Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos bewusst machen. Die folgenden vier Grade boten elementare Riten der Erde, des Wassers, der Luft und des Feuers, ergänzt durch ägyptisch-hermetische und kabbalistische Korrespondenzen. Mit diesen Ritualen versuchte der äußere Orden, die Elementarkräfte im Tempel (der den Makrokosmos repräsentierte) und in der Seele der Zelebranten und Aspiranten zu beiderseitigem Fortkommen ins Gleichgewicht zu bringen. Die Stimmung dieser Rituale antwortete auf die kulturellen Neigungen der spätviktorianischen Zeit. Während die Freimaurerei die Grundlage der Tempelpraxis lieferte, entsprachen die Zeremonien dem kirchlichen Trend zum Ausbau des Ritualismus zu dieser Zeit. Der Schmuck des Tempels, die farbenfrohen ägyptischen Gewänder und das dramatische Spektakel der Rituale kamen den Neigungen der zeitgleichen Strömungen der Neuromantik und des Symbolismus in der Literatur und den Künsten entgegen.
Der Zweite Orden (Ordo Rosae Rubeae et Aureae Crucis)
Kein Spektakel zeremonieller Magie, sondern Unterricht wurde im zweiten Orden geboten. Dieser hatte, wenigstens auf dem Papier, von Anfang an existiert, als Westcott und Mathers sich selbst den 7 o = 4 o Grad, den höchsten im zweiten Orden zusprachen. 1892 hatte Mathers Rituale für einen zweiten Orden der Goldenen Dämmerung ausgearbeitet. Bei diesem handelte es sich um einen spezifisch »rosenkreuzerischen« Orden mit dem Namen »Ordo Rosae Rubeae et Aureae Crucis« (»Orden der roten Rose und des goldenen Kreuzes«). Aspiranten, welche die ersten fünf Grade absolviert hatten, konnten sich für den »Portal-Grad« bewerben, der den Schleier »Paroketh« zwischen den Welten Yetzirah und Briah in der Kabbala symbolisierte. Die Zeremonie bestand aus einer Eröffnung, dem Ritual des Kreuzes und der vier Elemente, dem Ritus des Pentagramms und den fünf Pfaden (dem 21. bis 26. Pfad im Baum des Lebens, die den Schleier Paroketh kreuzen und ihren Entsprechungen im Tarot) sowie einem zeremoniellen Abschluss. Das Ritual des »Adeptus Minor« im zweiten Orden beruhte auf der Legende des Christian Rosenkreutz und schloss die Wiederentdeckung seines Grabes ein. Die Gestaltung der Gruft und des Grabes mit ihren kabbalistischen, alchymischen und astrologischen Symbolen und Inschriften orientierte sich an den Schilderungen der »Fama Fraternitatis«. Die Dekorationen in voller Lebensgröße wurden von Mathers und seiner künstlerisch begabten Frau verschwenderisch mit okkulten Farben geschmückt.
Das Curriculum des zweiten Ordens verband die Korrespondenzen der natürlichen oder sympathetischen Magie mit den Techniken der zeremoniellen Magie. Hier gab es genaue Anweisungen für das Ritual und eine erhabene Beschwörung des Pentagramms. Adepti Minores lernten, Talismane, Lotuszauberstäbe, magische Schwerter sowie die vier elementarischen Waffen anzufertigen und sie zu handhaben. Andere Rituale bezogen sich auf die Weihung planetarischer Talismane. Mathers studierte auch die Manuskripte und Tagebücher John Dees im Britischen Museum und im Ashmolean Museum in Oxford, um ein zusammenhängendes System »enochischer« Magie für den zweiten Orden auszuarbeiten. Die Rituale und Praktiken des zweiten Ordens, die einen Überfluss zeremonieller Gewänder, Anrufungen, magischer Lichter, Feuer, Kerzen und Räucherungen unter einem reich geschmückten Tempelgewölbe entfalteten, hinterließen in den Teilnehmern tiefe Eindrücke. Die Magie wurde hier als Evokation verstanden, das heißt als Aktivierung jener Elemente der Seele, die den makrokosmischen Kräften der Natur entsprechen. Die Praktiken des zweiten Ordens weisen auf ein Verständnis der Magie als einer besonderen Form religiöser Erfahrung hin, die auf den Willen und die Erweiterung des Bewusstseins abzielte.
Wachstum und Niedergang
Dem Isis-Urania-Tempel Nr. 3 in London (die ersten beiden Tempel standen laut Gründungslegende auf dem Kontinent) schloss sich ein Osiris-Tempel Nr. 4 in Weston-Super-Mare (1888) und ein Horus-Tempel Nr. 5 in Bradford (1888) an. Ein Amen-Ra Tempel Nr. 6 wurde 1893 in Edinburgh eröffnet, während Mathers 1893 den Ahathoor-Tempel Nr. 7 in Paris gründete. Im Mai 1892 gehörten dem äußeren Orden der Goldenen Dämmerung 150 Mitglieder an. Als Mathers damit begann, Initiationen in den Ordo Rosae Rubeae et Aureae Crucis vorzunehmen, setzte sich dieses Wachstum fort. Ende 1894 hatte der zweite Orden 50 Mitglieder, und der äußere 224. Viele bekannte Künstler traten dem Orden der Goldenen Dämmerung bei. William Butler Yeats, der irische Dichter, trat im März 1890 aus der Theosophischen Gesellschaft in den Orden über und wurde ein guter Bekannter Mathers. Annie Horniman, die Tee-Erbin, die später das Abbey Theater in Dublin baute, trat schon früher in diesem Jahr bei und Florence Farr, eine bekannte Schauspielerin und die Geliebte George Bernard Shaws wurde von Yeats im Juli 1890 eingeführt. Yeats blieb dem Orden und seinem Nachfolger, der »Stella Matutina«, bis in die 1920er Jahre verbunden. Viele Theosophinnen kamen dazu und Ärzte und andere Akademiker bildeten den Kern der häufig maurerischen männlichen Mitgliedschaft.
Mathers herrischer Führungsstil sowie seine Abwesenheit im Ausland riefen zunehmende Spannungen mit anderen Brüdern und Schwestern des zweiten Ordens hervor. Mitglieder in London revoltierten schließlich im Januar 1900, als Mathers Aleister Crowley in den zweiten Orden aufnahm. Crowley hatte sich dem äußeren Orden im November 1898 angeschlossen und schnell den Philosophus 4 o = 7 o erreicht. Aber die Londoner Mitglieder fanden, er passe nicht zu ihnen. Mathers reagierte auf die Revolte, indem er den Gründungsmythos Westcotts und die Sprengelbriefe zur Fiktion erklärte, und behauptete, allein er habe jemals direkten Kontakt mit den geheimen Oberen des dritten Ordens gehabt. Im Jahr 1902 bildeten die Londoner Rebellen einen Nachfolgeorden namens »Stella Matutina«, den R. W. Felkin und J. W. Brodie-Innes leiteten, der einen eigenen Amun-Tempel errichtete. Edward Berridge rief einen loyalistischen Orden ins Leben, der später unter dem Namen »Alpha et Omega« (A ∴ O ∴) bekannt wurde und in einem neuen Isis-Tempel bis 1913 weiter arbeitete.
Trotz seines relativ kurzen Lebens hat der Orden der Goldenen Dämmerung das ganze 20. Jahrhundert hindurch zahlreiche Nachfolger gezeugt, die zeremonielle Magie praktizierten. Zwischen 1936 und 1940 veröffentlichte Israel Regardie, der Stella Matutina 1933 beigetreten war, das komplette Ritual des Ordens. Während die ursprünglichen Orden dahinstarben, wurden die Ritualtexte in den 1970er Jahren neu gedruckt, was eine neue Generation von Magiern entstehen ließ, die in Europa und Nordamerika erneut Tempel gründeten.
Arthur Edward Waite
Arthur Edward Waite (1857-1942), ein fruchtbarer Autor und Herausgeber esoterischer Werke, der dem zweiten Orden 1899 beigetreten war, übernahm den ursprünglichen Isis-Urania-Tempel. Waite war 1891 in den äußeren Orden aufgenommen worden, hatte sich nach der Erlangung des 4 o = 7 o Grades 1893 zurückgezogen, aber 1896 wieder angeschlossen. Er zog jedoch die Mystik der rituellen Magie vor. Nach der Spaltung im Jahr 1900 schuf er rosenkreuzerische und christliche Rituale, aus denen er die ursprünglichen ägyptischen, hermetischen und heidnischen Anspielungen entfernte. Sein eigener »Unabhängiger und Rektifizierter Orden R.[osae] R.[ubeae] et A.[ureae] C.[rucis]« entstand im Jahr 1903 und existierte bis 1914, als er ihn wieder schloss. Im Juli 1915 gründete Waite einen neuen mystischen Orden, die »Bruderschaft des Rosenkreuzes«, dem für einige Jahre Charles Williams, ein Autor religiöser Allegorien angehörte. Evelyn Underhill, die bekannte Verfasserin von Werken über christliche Mystik, war Mitglied des ersteren Ordens und ihre Beteiligung legt nahe, dass Waites mystische Zeremonien geeignet waren, religiöse Erfahrungen hervorzurufen. Waites Unabhängiger und Rektifizierter Orden hatte seine eigenen Nachfolger. Einige seiner Mitglieder mit rosenkreuzerischen Interessen, die aus ihrer Beziehung zu Rudolf Steiner entstanden waren, schlossen sich Felkins Merlin-Loge an. Andere, mit neuplatonischen Interessen, spalteten sich ab, um den »Schrein der Weisheit« zu gründen, eine esoterische Gesellschaft, die geschmackvolle Editionen des Göttlichen Pimander, der Werke Plotins und des Dionysios Areopagita herausgibt. Ihr Universeller Orden bearbeitet in seinem Landhaus in Brook in der Nähe von Goldalming in Surrey noch immer ein Ritual.
Waite hatte sich schon lange vor seiner Aufnahme in die Goldene Dämmerung mit Okkultismus befasst. Nach der Konversion seiner Mutter zum Katholizismus im Jahr 1863 entwickelte er eine Liebe zu Ritualen und Riten. Während der 1880er Jahre entdeckte er die Schriften Eliphas Lévis und veröffentlichte eine Anthologie daraus, »The Mysteries of Magic« (1886). Später übersetzte er einige der Hauptwerke Lévis. Sein erstes umfangreiches Buch über das Okkulte, »The Real History of the Rosicrucians«, erschien 1887, bald folgte »The Magical Writings of Thomas Vaughan« (1888). Danach veröffentlichte er »The Occult Sciences« (1891) und später eine ganze Reihe von Übersetzungen alchymischer Werke, darunter »The Hermetic Museum«, »The Triumphal Chariot of Antinomy«, »Collectanea Chemica« und gesammelte Werke von Edward Kelley und Paracelsus. 1894-1895 veröffentlichte er eine eigene Zeitschrift, »The Unknown World«, die sich mit Mystik, Alchemie und Hermetik befasste. Weite Werke Waites sind: »The Book of Black Magic and of Pacts« (1898), »The Life of Louis Claude de Saint-Martin« (1901), »The Hidden Church of the Holy Graal« (1909), »The Pictorial Key to the Tarot« (1911), »The Secret Tradition in Freemasonry« (1911) und »The Holy Kabbala« (1929), das von Gershom Scholem, dem führenden Kenner der Materie, sehr gelobt wurde.
Aleister Crowley und die Magie von Thelema
Aleister Crowley (1875-1947) schloss sich dem Orden der Goldenen Dämmerung 1898 noch in der Universität von Cambridge an, wo er Gedichte verfasst hatte und in okkulte Literatur eingetaucht war. Er sog das System der rituellen Magie schnell in sich auf. 1900 praktizierte er die zeremonielle Magie des Abra-Melin (in Mathers neuer Übersetzung), um »die Erkenntnis seines Schutzengels zu erlangen und mit ihm zu kommunizieren«. Nachdem er Mathers Trennung vom zweiten Orden mitverursacht hatte, bereiste er zwischen 1900 und 1903 Nord- und Südamerika, Indien und China und studierte Joga, Tantrismus, Buddhismus und das I Ging, das alte chinesische System magischer Schau, das er mit der Kabbala verglich. Während er 1904 in Ägypten weilte, diktierte ihm eine offenbar exkarnierte Intelligenz namens »Aiwass« das »Buch des Gesetzes«, eine Offenbarung von Thelema oder des magischen Willens. Ihre Maxime lautet: »Tu, was du willst, soll sein das ganze Gesetz!« Aiwass verkündete ein neues Zeitalter der Freiheit, das Zeitalter des Horus, in dem die »Sklavenreligionen« des Christentums, des Islam und des Buddhismus einem ungehemmten Individualismus und der totalen Selbstverwirklichung weichen sollten. Crowley brach mit Mathers und gründete 1907 seinen eigenen Orden namens »Astrum Argentinum«, in dem er Rituale der Goldenen Dämmerung nutzte und mit Joga und anderen östlichen Praktiken vermischte. Die alte Gradeinteilung behielt er bei.
1912 wurde Crowley durch Theodor Reuß, einen Titelhändler, in einen deutschen paramasonischen Orden, den »Ordo Templi Orientis« (O.T.O.) aufgenommen. Möglicherweise hatte Carl Kellner (1850-1905), ein reicher deutscher Industrieller mit gewissen Kenntnissen des Joga, Reuß dazu angeregt, einen magischen Orden zu gründen, der auf dem Kundalini Joga und den polaren Energien der Sexualität fußte. Der Orden entstand irgendwann zwischen 1906 und 1912 unter der Führung von Reuß, der die tantrische Sexualmagie mit Hilfe gewisser angeblich templerisch-rosenkreuzerisch-gnostischer Praktiken deutete. Diese eklektische Idee stammte aus der »phallischen« Interpretation der Kultur durch Hargrave Jennings, die dieser in seinem Buch »The Rosicrucians, their Rites and Mysteries« (1870) entwickelt hatte, das in okkulten Kreisen im Umlauf war, sowie aus Publikationen des deutschen Okkultisten Max Ferdinand Sebaldt (1859-1916) über Sexualmagie. Crowley nahm die Sexualmagie bereitwillig als Hauptbestandteil in sein magisches System auf. Crowley, der 1922 die Nachfolge von Reuß in der Führung des O.T.O. antrat, wurde von Teilen der rosenkreuzerischen Subkultur der 1920er Jahre, zu der die »Fraternitas Saturni« gehörte, verehrt.
Crowley entwickelte sein eigenes System der Magie (die er »magick« schrieb) aus drei Strängen: der rituellen Magie der Goldenen Dämmerung, die Astrologie, Kabbala und orientalische Importe enthielt; einer westlichen Form des Tantrismus, die aus dem O.T.O. abgeleitet war; und dem Evangelium von Thelema, das lehre, alle sollten Selbsterkenntnis erlangen und entsprechend soziale und moralische Schranken hinter sich lassen. Crowley identifizierte sich selbst mit dem großen Tier 666 aus der Apokalypse und stach mit allen Arten antinomischen Verhaltens hervor. Seine magischen Rituale schlossen Geschlechtsverkehr mit weiblichen und männlichen Partnern ein, und riefen in Verbindung mit starkem Drogenkonsum Visionen von Göttern, Dämonen und übernatürlichen Erscheinungen hervor. Die klarste Darstellung seines Systems ist in »Magick in Theory and Practice (1929) enthalten und seine Magie wird immer noch von mehreren Nachfolgeorden des O.T.O. praktiziert. Gerald Gardner (1884-1964), der Begründer der modernen Hexerei, führte die Magie Crowleys in die neuheidnische Wicca-Bewegung ein.
Dion Fortune und das Innere Licht
Violet Mary Firth (1891-1946), die aus der Dynastie der Stahlmagnaten aus Yorkshire stammte, ist eine weitere wichtige Erbin der Esoterik der Goldenen Dämmerung. Als Studentin hatte sie eine traumatische Erfahrung mit psychischen Angriffen, die sie zu einer Psychotherapieausbildung und einer entsprechenden Tätigkeit in London führte. Sie fühlte sich zu Mythologie und Esoterik hingezogen und suchte Kontakt mit magischen Orden. 1919 wurde sie in Brodie-Innes »Alpha et Omega« aufgenommen und im Jahr darauf wechselte sie zu einer Loge des A ∴ O ∴, die Mina Mathers in London begründet hatte, nachdem ihr Mann in Paris verstorben war. In der Goldenen Dämmerung nahm Firth das Motto »Deo Non Fortuna« an, das phonetisch das Pseudonym vorbildete, unter dem sie bekannt wurde. Zu dieser Zeit nahm sie auch an einer Studiengruppe der Theosophischen Gesellschaft in London teil. Von den Vorträgen unbeeindruckt, fand sie in der Bibliothek Annie Besants Buch »The Ancient Wisdom« (1897). Die darin enthaltene Erzählung von der weißen Bruderschaft, einer Hierarchie von Adepten, die über die Evolution der Menschheit wacht und diese leitet, beeinflusste sie tiefgehend. Wie auch immer, statt sich den Theosophen anzuschließen, wurde sie Mitglied einer Gruppe, die Theodore Moriarty (1873-1923) führte, ein Freimaurer, Mystiker und Wundertäter, den sie in ihren Büchern »The Secrets of Dr. Taverner« (1926) und »Psychic Self-Defense« (1930) als Arzt-Magus porträtierte.
Moriarty trug sein eigenes System einer kleinen Gruppe von Menschen als »universale Theosophie« vor, einer Gruppe, die auch symbolische Rituale in einer Loge durchführte, die Männer und Frauen zuließ. Dion Fortunes Interesse an Atlantis, esoterischer Heilung, Kosmologie und Trancemedien gehen auf Moriartys Einfluss zurück. Glastonbury mit seinen Ruinen einer mittelalterlichen Abtei in Somerset, die traditionell mit Joseph von Arimathia verbunden wird, und seinem Reichtum an druidischen, christlichen und Gralsüberlieferungen wurde zu einem frühen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. 1921 übte sie dort zusammen mit dem hellseherischen Archäologen Frederick Bligh Bond (1864-1945) die Tätigkeit eines Trancemediums aus. 1924 erwarb ihre Gruppe in Glastonbury Land und errichtete ein Hauptquartier in London, wo sie Logenarbeit in drei Graden durchführte. Sie benutzte ihre Trance, um mit Meistern in Verbindung zu treten, die ihr Wissen von den »inneren Ebenen« zukommen ließen und eine Kosmologie, die jener der Theosophie gleicht, die sie später unter dem Titel »The Cosmic Doctrine« (1925) veröffentlichte. Sie vertrat ein esoterisches Christentum und wurde 1925 Präsidentin der christlichen mystischen Loge der Theosophischen Gesellschaft, verließ diese aber 1927, um die Gemeinschaft (später Bruderschaft) des »Inneren Lichtes« zu gründen. Keltische und heidnische Elemente, die Mythologie von Atlantis und Avalon und ägyptisch-hermetische, magische Traditionen charakterisieren die Rituale der Gruppe zwischen 1928 und 1939.
Dione Fortunes viele Bücher schließen Titel ein wie »The Esoteric Orders and Their Works« (1928), »The Training and Work of an Initiate« (1930), »Spiritualism in the Light of Occult Science« (1931) und »The Mystical Qabalah« (1935). Daneben verfasste sie eine Reihe beliebter okkulter Romane, die viele Erzählungen über zeremonielle Magie enthalten. Dione Fortune erschloss sich christliche, keltische und heidnische Quellen und bewegte sich immer mehr auf die heidnischen Ursprünge zu. Ihre eklektische Inspiration, verbunden mit ihrem Glauben an die offenbarende Kraft des Weiblichen, hat die New-Age-Formen der Magie und des Neopaganismus beeinflusst. Ihre »Bruderschaft des Inneren Lichtes« (seit 1946 »Society of Inner Light«) praktiziert noch immer Gruppenmeditation, symbolische Visualisierungen und Rituale und betont die Bedeutung ägyptischer Quellen und der Kabbala, die sie jedoch in einen christlichen Rahmen einbettet. Eine verwandte Gruppe, die »Diener des Lichtes« (»Servants of Light«) wurde 1965 von W. Ernest Butler, einem Schüler Fortunes gegründet und wird bis heute von Dolores Ashcroft-Novicki geleitet. Ihre magische Arbeit fußt auf der hermetischen Kabbalah.
Die moderne Ritualmagie nahm die Beschäftigung der Jungschen Psychoanalyse mit Archetypen und dem kollektiven Unbewussten voraus. Verwurzelt in Symbolik und Ritual der Freimaurerei, suchten die magischen Orden die Kräfte des inneren Lebens oder der höheren Ebenen der Wirklichkeit zu erwecken. Diese Erweckung fand im Stile der traditionellen Renaissancemagie statt und bestand im Ausagieren eines Dramas der Korrespondenzen, die den Mikrokosmos mit dem Makrokosmos verbanden. Die Kabbalah (mit Lévis Verknüpfung zum Tarot) spielte in diesen Systemen eine wichtige Rolle, ebenso wie die ägyptischen, hermetischen und rosenkreuzerischen Bezüge. Der aus all dem resultierende Synkretismus ist ein typisch modernes Phänomen, ebenso wie das Gewicht, das auf den Willen und die Macht des Einzelnen gelegt wurde.
Fortsetzung:
Helena Petrowna Blavatsky und die Theosophische Gesellschaft
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