Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.
Der esoterische Schulungsweg der Anthroposophie in der »Philosophie der Freiheit«
In der »Philosophie der Freiheit« beginnen sich die Keime, die in den Goetheschriften gelegt wurden, zu entfalten. In ihr tritt die Seele aus dem Geist hervor und deswegen stellen sich in ihr die Entstehung der Wirklichkeit und die Erkenntnis in vier Stufen dar, die den vier Stufen des Anorganischen, Lebendigen, Seelischen und Geistigen entsprechen.
Bereits Anfang der 1880er Jahre hatte Steiner die Absicht, eine »Philosophie der Freiheit« zu schreiben. Schon damals schwebte ihm ein Zusammenhang der Idee der Freiheit mit der Kunst, dem Schönen, der Ästhetik vor. 1881 sprach er davon, er wolle eine »Freiheitsphilosophie« schreiben. Anlehnen wollte er sich an Schillers Briefe über »Naive und sentimentalische Dichtung«, auf alle gelehrten »Schnörkeleien« verzichten und ein philosophisches Werk verfassen, das sich wie ein »unterhaltender und lehrreicher Roman« lese:
»Der August wird mir hoffentlich die nötige Ruhe gewähren, einen großen Teil meiner lieben Freiheitsphilosophie zu Papier zu bringen. Ich werde nicht ermangeln, Ihnen von den Fortschritten Mitteilung zu machen. Ich werde mich jeder weiteren Exkursion, allen Vergnügungen zeitraubender Art entziehen und mich bloß dieser Arbeit widmen. Über die Form bin ich ja auch nicht mehr im geringsten im Zweifel; es wird ein schlichter Prosastil; nicht Brief- und nicht Dialogform; ohne viel Paragraphenteilung, ohne die üblichen gelehrten Zitate und schulmäßigen Schnörkeleien. Sehen Sie sich Schillers Aufsatz ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹ an und denken Sie sich solche Aufsätze aneinandergereiht, so haben Sie die Form der Freiheitsphilosophie … Ganz ungezwungen geschriebene, die Liebe zur Sache bekundende, aneinandergereihte Aufsätze zusammenhängenden Inhaltes lesen sich eben angenehmer als Bücher, die nichts als ein auseinandergetriebenes Inhaltsverzeichnis sind. Die Systematik darf natürlich dennoch nicht fehlen; nur muss sie eben nicht im Sinne der [Zimmermannschen] ›Formalästhetik‹ den Leser fortwährend belästigen. Ich würde mich freuen, wenn es dahin käme, durch die Form den Inhalt so nahe zu bringen, dass man philosophische Gedanken wie einen unterhaltenden und lehrreichen Roman liest. Ich glaube wohl, dass es möglich ist. Um was ich Sie bezüglich der ganzen Sache nur bitten möchte, ist das, doch ja nicht – auch nicht scherzweise – anzunehmen, dass ich meine Philosophie aus der Luft gegriffen habe und deshalb auch wieder jeden Augenblick von mir werfen könne. Man kann dies mit einem Werke tun, nicht aber mit einer Welt- und Lebensanschauung. Wo ich hinblicke, sehe ich nur neue Bestätigungen meiner Ansichten und sie überzeugen mich von Tag zu Tag mehr« (GA 38, S. 18-19)
In Steiners Werk ist nur eine kleine Studie vom Ende der 1880er Jahre überliefert, die einen der klassischen Ästhetik zuzuordnenden Gegenstand behandelt. [1] Darüber hinaus ist nichts über sein Vorhaben bekannt. Wenn Steiner sein Vorhaben, eine ästhetische »Philosophie der Freiheit« zu schreiben, nicht aufgegeben hat, dann muss er erkannt haben, dass eine wirkliche Ästhetik sich nur am Wesen des Menschen ablesen lässt, an dem die Urformen des ästhetischen Handelns im Erkennen und freien Tun manifest werden.
Die »Philosophie der Freiheit« ist diese Ästhetik. Sie ist keine Erkenntnistheorie, wie vielfach behauptet wird. Sie ist auch keine Anthropologie (»Menschenkunde des höheren Selbst«), wie man missverständlich formuliert hat. Wozu hätte Steiner noch einmal eine Erkenntnistheorie schreiben sollen, hatte er diese doch bereits in den »Grundlinien …« in Anknüpfung an Goethe und unabhängig von diesem in »Wahrheit und Wissenschaft« vorgelegt. Sein im eigentlichen Sinne erkenntnistheoretisches Werk stellt die Dissertation »Wahrheit und Wissenschaft« dar. Die »Philosophie der Freiheit« ist aber auch keine Ethik. Sie beschäftigt sich vielmehr mit der ästhetischen Dimension des menschlichen Erkennens und Handelns.
Vorbild für diese Ästhetik dürften Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« gewesen sein, in denen auch die gedankliche Grundstruktur der »Philosophie der Freiheit« veranlagt ist, die Unterscheidung von Formtrieb und Stofftrieb, die durch den Spieltrieb vermittelt werden. Der erste Teil der »Philosophie der Freiheit«, die »Wissenschaft der Freiheit«, ist einer Untersuchung des Formtriebes – dem Erkennen – gewidmet, der zweite Teil, die »Wirklichkeit der Freiheit« dem Stofftrieb – dem Willen. Der erste Teil zeigt, wie sich der Formtrieb des Menschen im Widerspiel mit dem Stoff der Wahrnehmungswelt entfaltet und der Wirklichkeit eine menschliche Gestalt gibt. Der zweite Teil, die »Wirklichkeit der Freiheit«, beschreibt, wie der Mensch selbst, indem er seinem Stofftrieb den geistigen Gehalt der Welt einverleibt, eine ästhetische Gestalt annimmt und wie er der Welt eine ästhetische Gestalt gibt, indem er ihr seinen eigenen geistigen Gehalt einverleibt. Das Verdienst, diesen Grundcharakter des Werkes erkannt zu haben, kommt Herbert Witzenmann zu, der in seiner Untersuchung »Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens« diese Eigentümlichkeiten des Werkes dargelegt hat.
Der ästhetische Grundcharakter des Buches kam im ersten Kapitel der ersten Auflage [2] deutlich zum Ausdruck.
Dort hieß es: » […] wie sich die Philosophie als Kunst zur Freiheit des Menschen verhält […] das ist die Hauptfrage meiner Schrift.« Die Hauptfrage ist also nicht die Frage nach dem Wesen des Erkennens (Erkenntnistheorie) oder die nach dem Wesen des menschlichen Handelns (Ethik), sondern die nach der Freiheit des Menschen im Kontext einer Philosophie, die als Kunstform aufgefasst wird. In der Philosophie als Kunst offenbart sich die ursprünglich ästhetische Verfasstheit des Menschen. Im Forschungsgebiet der Ästhetik durchdringen sich Wesen (Idee) und Erscheinung (Wahrnehmung) in spezifisch menschlicher Form. Der Mensch, der die Philosophie als Kunst versteht und betreibt, entfaltet die künstlerische, d.h. schöpferische Potenz seines Erkennens und Handelns.
Der Philosoph wird im ersten Kapitel der ersten Auflage des Buches als »Begriffskünstler« bezeichnet. Die Charakterisierung des Philosophien als Begriffskünstler enthält zugleich eine Andeutung über den Schulungsweg des Philosophen und den Schulungscharakter des Buches die »Philosophie der Freiheit« [3].
Im Einleitungskapitel heißt es: »Alle wirklichen Philosophen waren Begriffskünstler. Für sie wurden die menschlichen Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künstlerischen Technik. Das abstrakte Denken gewinnt dadurch konkretes, individuelles Leben. Die Ideen werden Lebensmächte. Wir haben dann nicht bloß ein Wissen von den Dingen, sondern wir haben das Wissen zum realen, sich selbst beherrschenden Organismus gemacht.« (S. 270)
Die Ideen werden dadurch zu Lebensmächten, dass sich der denkende Mensch ihnen erkennend hingibt, so wie der Künstler sich seinem Kunstmateriale hingibt. Ein Künstler fällt nicht vom Himmel, sondern nimmt erst durch unablässiges Üben Gestalt an. Durch unablässige Übung der Hingabe an das Kunstmaterial der Idee entwickelt der Mensch die Fähigkeit der Intuition, d.h. des hingebungsvollen Lebens im ideellen Weltzusammenhang. Benutzt er die wissenschaftliche Technik als künstlerische Methode, kann er zu individuell geprägten Ideenschöpfungen gelangen, in denen sich sowohl seine besondere Individualität ausprägt, als auch der über-individuelle Zusammenhang der Ideenwelt. Je mehr der erkennende Mensch im ideellen Zusammenhang der Welt lebt, um so mehr gewinnt die Wissenschaft selbst für ihn organisches Leben. Die von ihm hervorgebrachten und im Hervorbringen erlebten Ideen werden ein Teil seines eigenen seelischen Lebens.
Die Ideen werden aber nicht nur Teil seines seelischen Lebens. Sie werden Lebensmächte, d.h. sie durchdringen auch die leiblich-organische Natur des Menschen und kommen durch diese in seinem Handeln zur Erscheinung.
Für diesen philosophischen Schulungsweg sind nach Steiners Worten keine »frommen Übungen« und keine »Askese« erforderlich, wie in der »orientalischen« Gelehrsamkeit, sondern allein der »Wille, sich in das Gebiet der reinen Gedankenwelt zu begeben«, »sich in das Ätherreich der Begriffe zu erheben«.
Es ist klar, dass die Intuitionsfähigkeit, also die Kraft der Seele, Ideen hervorzubringen, zu erfassen und in ihnen zu leben, nur durch die Erhebung der Seele in das Gebiet der reinen Gedankenwelt entwickelt werden kann. Da die Idee gemäß den »Grundlinien …« das Göttliche ist, das im menschlichen Denken in seiner höchsten Form erscheint, ist die Erhebung in das Gebiet der reinen Gedankenwelt Andacht. Durch dieses Leben in der reinen Gedankenwelt wächst dem denkenden Ich auch die Kraft zu, dieses Leben zu intensivieren und allmählich von einem Leben in Gedanken zu einem Erleben von Gedankenwesenheiten überzugehen. Dass dieser Übergang durch eine spezifische Form des Gedankenlebens, nämlich die meditative, erheblich gefördert wird, wird sich weiter unten zeigen. Der Mensch muss sich, wie es im letzten Satz des ersten Kapitels der ersten Auflage heißt, der »Idee erlebend gegenüberstellen«, nicht, um sich von ihr zu distanzieren, sondern, um sich mit ihr um so inniger – in Freiheit – zu verbinden. Auf diese Weise geht die Andacht und Kontemplation des Lebens in Gedanken in das Erleben von Gedankenwesenheiten, in die Vereinigung des denkenden Ich mit der dieses Ich denkenden Gottheit über.
Die »Philosophie der Freiheit« ist eine Ästhetik, denn die menschliche Freiheit ist das Urschöne. Das Schöne ist, wie es schon in Steiners Vortrag über »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik« [4] 1888 heißt, die Vergeistigung der Natur, nicht die Offenbarung des Geistes in einem sinnlichen Gewande. Das ist aber das Wesen der Freiheit wie des Erkennens. Die Vergeistigung der Natur vollzieht sich, wenn der Mensch die Idee der Freiheit und die Idee des Erkennens verwirklicht. Es ist zunächst die menschliche Natur selbst, die vergeistigt wird, im weiteren Verlauf aber auch die außermenschliche Natur. Der freie Mensch ist das ästhetische Urphänomen. Da das Erkennen selbst eine Freiheitshandlung ist, beginnt die Vergeistigung oder Vermenschlichung der Natur bereits im Erkennen des Menschen. –
Die »Philosophie der Freiheit« zeigt, dass das Erkennen der Gestaltungsprozess der Wirklichkeit ist, der im Überbewussten (Begriff) und Unterbewussten (Wahrnehmung) wurzelt, aber zur Erinnerung (Bewusstwerdung) der erlebten Wirklichkeit führt. Der Begriff ist überbewusst, kommt aber durch die menschliche Intuition im Bewusstsein zur Erscheinung. Die Wahrnehmung ist unterbewusst, wird aber durch die Beobachtung ins Bewusstsein erhoben. Diese beiden Faktoren werden im Erkenntnisprozess zusammengeführt, durch den die erlebte Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein Gestalt annimmt. Der Gestaltungsprozess der Wirklichkeit im Erkennen kann durch das Erinnern des vergessenen Denkens, durch Geist-Erinnern bewusst gemacht werden. Erhebt der Mensch die Akte seines erkennenden Weltgestaltens aus der Vergessenheit in seine beobachtende Erinnerung, dann wird er sich der Tatsache bewusst, dass er selbst der Gestalter seiner Wirklichkeit ist. –
Die »Philosophie der Freiheit« zeigt, dass das Handeln der Selbstgestaltungsprozess des Menschen ist. Im Verwirklichen der Freiheit wächst der Mensch aus dem Unterbewussten (den Trieben, Begierden, deren wirkende Gesetze ihm nicht bewusst sind) heraus in das Überbewusste hinein, das in Form der moralischen Intuitionen im Bewusstsein des Menschen zur Erscheinung kommt. In der Verwirklichung der Freiheit erschaut der Mensch seine eigene künftige Geistgestalt, die ihm aus der Welt der moralischen Intuitionen entgegenkommt, um sich mit ihr zu vereinigen. Durch das Geist-Erschauen des moralischen Erlebens erfasst der Mensch seine Freiheitsgestalt und die Freiheitsgestalt der Welt, die aus ihm hervorgeht. –
Der aus Erkenntnis Handelnde ist der Mensch, der Geist-Besinnen übt, indem er den erinnerten Geistgehalt der Wirklichkeit mit dem erschauten Geistgehalt seiner Freiheit verschmilzt und sich dabei als die individualisierte Form des freien Menschen, als das ästhetische Urphänomen verwirklicht, in dem die Natur in einer idealisierten, vermenschlichten Form wiederersteht. Das Handeln in Freiheit ist die Transsubstantiation der Schöpfung durch die Kommunion der Erkenntnis. [5]
Die Stufen des Weges in der »Philosophie der Freiheit«
Der Schulungsweg der »Philosophie der Freiheit« verläuft demgemäß in zwei Richtungen. 1. Das Ergreifen des Denkwillens, der sich im Erkennen des Menschen entfaltet, geht vom Ausnahmezustand der Beobachtung des Denkens aus. 2. Die Entfaltung des Willensdenkens, das sich im Handeln selbst ergreift, geht vom Ausnahmezustand der Hingabe an die moralische Intuition aus. –
Der Schulungsweg der »Philosophie der Freiheit« beruht zunächst darauf, dass der Leser (der Schüler dieses Weges) die beiden Ausnahmezustände in seiner Seele hervorruft. Der Ausnahmezustand der Beobachtung des Denkens wird im dritten Kapitel des Buches thematisiert. Durch diesen Ausnahmezustand des Erkennens, der auf der Betätigung des Denkwillens beruht, erlangt der Übende ein Bewusstsein seines eigenen geistigen Wesens, das in der Wirksamkeit des Denkwillens seine Gegenwart bekundet. –
Die Hingabe an die moralische Intuition ist ebenfalls ein Ausnahmezustand, auch wenn er von den Interpreten der »Philosophie der Freiheit« nicht so häufig erwähnt, ja oft nicht einmal als solcher erkannt wird. Er ist der Ausnahmezustand des Willensdenkens und wird im neunten Kapitel behandelt. Der Ausnahmezustand des Willensdenkens beruht auf der Selbsthingabe des Menschen an die sich ihm hingebende Ideenwelt, durch die eine in Liebe getauchte Verschmelzung der denkenden Individualität und der universellen Wesenheit des Denkens zustande kommt, aus welcher die Individualität ihren moralischen Ideengehalt schöpft. Dieser Ausnahmezustand des Wollens ist die Voraussetzung für jedes freie Handeln. –
Im Erkennen muss das an die Welt hingegebene, selbstvergessene Denken sich seiner eigenen Tätigkeit erinnern, um durch die Verwirklichung des Ausnahmezustandes das Ereignis der Wirklichkeitsbildung zu beobachten. – Im Wollen muss das weltvergessene, an sich selbst hingegebene Denken die Freiheitsgestalt der Welt erschauen, die ihm aus der Sphäre der moralischen Intuitionen entgegenkommt, um aus ihm hervorzugehen. –
Der Denkwille entfaltet sich im Erkennen über vier Stufen:
1. Beim Hervorbringen von Begriffen erlebt er sich selbst als Geist in einer Tätigkeit, die aus ihm selbst entspringt. Er gibt sich den Inhalt seiner Erkenntnisintuitionen. Erinnert sich der Denkwille durch intuitive Beobachtung (intuitives Selbsterfassen) an sich selbst als den Quellgrund der von ihm erlebten Intuitionen, wird er zugleich des Entspringens seiner Tätigkeit aus der Wesenheit des Denkens gewahr, aus der und in der er sich verwirklicht. Das Ich, das geistige Wesen des Menschen, lebt im Denken, indem es sich als Denkwille in diesem betätigt. Das Denken lebt aber zugleich im Ich, als der geistige Inhalt, der sich in die ureigene Tätigkeit dieses Ich ergießt. –
Um den Denkwillen zu erleben, ist nicht erforderlich, dass das Ich diesem Denkwillen äußerlich beobachtend gegenübertritt. Dies ist gemäß dem dritten Kapitel der »Philosophie der Freiheit« gar nicht möglich. An die Stelle der externen Beobachtung tritt vielmehr die Selbsterinnerung der eigenen Denktätigkeit. Diese Selbsterinnerung ist mit einer »unmittelbaren und intimen Erkenntnis« verbunden, die nicht auf dem äußerlichen Gegenüberstehen, sondern auf dem Eins-Sein mit einem Gesetz beruht, das vom Ich verwirklicht wird. Wenn das Ich das Gesetz des Denkens verwirklicht, vereinigt es sich mit dem Gesetz und weiß zugleich, dass es das Tätige ist. Das Wissen ist ein unmittelbares, intuitives Wissen, also ein Erleben. Dieses unmittelbare Wissen begründet das auf Selbsterinnerung beruhende Bewusstsein der Denktätigkeit. Man kann dieses Selbstinnesein des Ich in der Denktätigkeit als eine Form der Beobachtung bezeichnen. Es ist – im Gegensatz zur externen Beobachtung, die auf dem Gegenüberstehen beruht – eine intuitive Beobachtung, die auf dem Eins-Sein beruht. Durch die Unterscheidung der äußeren Beobachtung vom unmittelbaren Innesein kann die Aporie der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens aufgelöst werden, an der manche Leser des dritten Kapitels der »Philosophie der Freiheit« scheitern. Diese Aporie ist die erste Schwelle, die auf dem philosophischen Schulungsweg überschritten werden muss. Hilfreich bei der Überwindung dieser Schwelle können auch die sechs Meditationen sein, in die sich die Quintessenz des dritten Kapitels zusammenfassen lässt:
Ich erfasse mich in meinem Denken
Ich bringe mich selbst durch das Denken hervor
Ich schöpfe denkend den Sinn meines Daseins aus mir selbst
Ich und Denken sind eins
Ich bin im Denken
Das Denken ist in mir
Das Ich weiß sich unmittelbar in seiner Tätigkeit und kann zugleich seinen Blick den von ihm hervorgebrachten Inhalten zuwenden. Dadurch wird das Denken als Ganzes in der Selbsterinnerung bewusst. Nicht nur die Denkinhalte werden bewusst, sondern auch die Denktätigkeit. Der Vorgang der Selbsterinnerung hat nichts mit einem gewöhnlichen Erinnerungsvorgang zu tun, durch den etwas Vergangenes wieder bewusst gemacht wird.
Die Selbsterinnerung tritt als unmittelbares Erlebnis auf, wenn die Beobachtungsanleitungen, die das dritte Kapitel der »Philosophie der Freiheit« enthält, in die Tat umgesetzt werden.
Wenn das Ich sich der Tatsache bewusst wird, dass das Denken das unbeobachtete Element seines gewöhnlichen Geisteslebens ist, hat es sich zugleich ein Bewusstsein dieses unbeobachteten Elementes verschafft. Im unmittelbaren Erleben seiner gegenwärtigen Tätigkeit kann es seine Tätigkeit lenken, während es sie ausübt. Gäbe es dieses unmittelbare, erlebende Wissen nicht, könnten wir immer erst nachträglich ein Bewusstsein unserer Denktätigkeit erlangen und das Denken würde sich in uns ohne unser Zutun abspielen. Dann wäre es aber nicht möglich, dass wir uns selbst die Verantwortung für unser Denken zuzuschreiben. Es wäre nicht zu erklären, wie wir dazu kommen, uns selbst als die Vollbringer unseres Denkens zu betrachten, ja, das Denken überhaupt als etwas zu betrachten, das mit uns zu tun hat. Die Verknüpfungen der Denkinhalte kämen im Bewusstsein zustande, ohne dass wir diese Verknüpfung kontrollieren oder beeinflussen könnten und wir wären, erst nachdem sie zustande gekommen sind, mit den schon abgeschlossenen (vollendeten) Verknüpfungen konfrontiert. Dadurch nähmen die Denkvorgänge aber Wahrnehmungsform an: sie wären uns ohne unser Zutun gegeben. Soll ich selbst der Hervorbringer meiner Denkinhalte und der Verknüpfer dieser Inhalte sein, dann muss ich, während ich die Inhalte hervorbringe, auch ein Wissen von der Art und Weise besitzen, wie sie verknüpft werden.
Tatsächlich vollzieht sich der Denkvorgang so: Das Ich, das seinen Willen im Denken entfaltet, lebt während seiner Tätigkeit »in einem rein geistigen Zusammenhangsweben«. Wenn es sich im Denken tätig verwirklicht, verwirklicht es zugleich das Denken in sich. Es erlebt geistig den von ihm mitvollzogenen Zusammenhang, weil es sich mit diesem vereinigt. Der erlebte Zusammenhang entfaltet sich unabsehbar im denkenden Bewusstsein, er ist nirgends unterbrochen. Aus diesem lebendig webenden Denkwillen gehen fortwährend schattenhafte Abbilder des vollzogenen Zusammenhangs in Form von Bild- oder Wortvorstellungen hervor. Diese Vorstellungen sind Metamorphosen des Denkwillens, die in die Seele eintreten und durch diese in die »Lebensorganisation« übergeführt werden. Bei diesen Wort- oder Bildvorstellungen handelt es sich um den »stark sich geltend machenden Schatten« des lebendigen Denkens. Bewusst werden die Denkinhalte, indem sie denkend miterlebt werden und das Ich im Miterleben mit ihnen eins wird. Wenn die miterlebten geistigen Zusammenhänge in das vorstellende Bewusstsein eintreten, nehmen sie die Gestalt von (»herabgelähmten«) Vorstellungen an.
Diese mitvollzogenen geistigen Zusammenhänge heißen in der »Philosophie der Freiheit« »Begriffe«. Die Begriffe können nicht nur intuitiv erlebt, sondern auch auf die Wahrnehmung bezogen werden. Dann lenken sie den Vorgang der Beobachtung. Wenn wir durch die Begriffe hindurch beobachten, sind wir nicht uns selbst und den geistigen Zusammenhängen hingegeben, die wir denkend erfassen, sondern den innerlich oder äußerlich auftretenden Gegebenheiten. Dadurch wendet sich der Begriff, der ideelle Zusammenhang, den sinnlichen Gegebenheiten zu und wird an diesen Gegebenheiten individualisiert.
2. Wenn der Denkwille den Begriff in die Seele eintreten lässt, wird dieser zum Beobachtungsorgan. Der Begriff setzt in ihr eine seelische Suchbewegung in Gang, er lenkt die Beobachtung. Er richtet die Aufmerksamkeit, die Blickfähigkeit der Seele auf ein bestimmtes Wahrnehmungsfeld, indem er das allgemeine Wahrnehmungsfeld vorindividualisiert (z.B. die Aufmerksamkeit auf Töne und nicht auf Farben richtet). Durch den Begriff, der in der Seele wie eine blicklenkende Kraft wirkt, wird ihr geistiges Auge erst auf ein Ziel hingerichtet, durch ihn kann die Wahrnehmung erst erblickt werden. Die Anschauung ohne Begriffe wäre leer.
3. Wenn der Denkwille den Begriff in die Lebensorganisation übergehen lässt, wird dieser zur Bildekraft, welche die Einzelwahrnehmungen in zusammenhängende Gebilde umformt, während er von ihnen zugleich individualisiert wird. »Dinge« sind Zusammenhänge, die beim Beobachten durch das Weben des Begriffs an den singulären Wahrnehmungsinhalten entstehen. Wenn der Denkwille das beobachtende Bewusstsein mit den Wahrnehmungsinhalten, die ihm aus der Welt der Sinne entgegenkommen, zusammenschließt, verwebt er zugleich mein individuelles Leben, das sich im beobachtenden Begreifen der Wahrnehmungsinhalte entfaltet, in das kosmische Leben, das sich dem menschlichen Bewusstsein einprägt.
4. Wenn der Denkwille den Begriff mit der physischen Organisation und den Sinnen verschmilzt, verbindet er sich mit den Wahrnehmungsinhalten, die ihn in bestimmter Form festhalten. Er wird zum inhärenten Begriff, durch den das Ich sich mit der wahrgenommenen Welt vereinigt.
Das Ergreifen moralischer Intuitionen durch das Willensdenken ist der zweite Ausnahmezustand, zu dem die »Philosophie der Freiheit« hinführt. Bereits im ersten Kapitel des Buches »Das bewusste menschliche Handeln« (dem zweiten Kapitel der ersten Auflage) war von den vier Entfaltungsstufen des Willens die Rede: Instinkt, Trieb, Begierde und bewusst gewordenes Motiv. Der Instinkt ist der »angeborene«, in der menschlichen Leibesorganisation liegende Antrieb zum Handeln. Der Trieb ist das (schlafend bewusste) Erlebnis des geistigen Lebenszusammenhangs zwischen Ich und Welt, der sich in den Bildekräften des Leibes und den Wachstumskräften entfaltet. Die Begierde ist das (träumend bewusste) seelische Erlebnis des Zusammenhangs zwischen Ich und Welt. Das Motiv ist der Zusammenhang, den das Willensdenken zwischen Ich und Welt wachbewusst stiftet. Damit es sich »in der richtigen Art« handelnd in den Weltzusammenhang einfügen kann, muss das Ich sich einer Selbsterziehung unterziehen.
Auf diese Selbsterziehung deuten manche experimentellen Anleitungen im zweiten Teil des Buches. »Es ist in dem Wahrnehmungsobjekt Mensch die Möglichkeit gegeben, sich umzubilden, wie im Pflanzenkeim die Möglichkeit liegt, zur ganzen Pflanze zu werden. Die Pflanze wird sich umbilden wegen der objektiven, in ihr liegenden Gesetzmäßigkeit; der Mensch bleibt in seinem unvollendeten Zustande, wenn er nicht den Umbildungsstoff in sich selbst aufgreift, und sich durch eigene Kraft umbildet. Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben,« heißt es im neunten Kapitel (der zweiten Auflage, S. 170).
Dieser »Umbildungsstoff« ist der Mensch selbst. Richtet er sein Willensdenken auf sich selbst als »Wahrnehmungsobjekt«, wird er zum Stoff, an dem sein Wille arbeitet, um ihn »umzubilden«. Motive, die in Vorstellungsform in seinem Bewusstsein vorliegen, werden zu moralischen Intuitionen umgebildet, Begierden zu moralischen Phantasievorstellungen, der Trieb wird zur moralischen Technik und der Instinkt zur moralischen Tat.
In jedem einzelnen Willensakt wirken Motive und Triebfedern zusammen. »Das Motiv« heißt es im neunten Kapitel, »ist ein begrifflicher oder vorstellungsgemäßer Faktor; die Triebfeder ist der in der menschlichen Organisation unmittelbar bedingte Faktor des Wollens. Der begriffliche Faktor oder das Motiv ist der augenblickliche Bestimmungsgrund des Wollens; die Triebfeder der bleibende Bestimmungsgrund des Individuums. Motiv des Wollens kann ein reiner Begriff oder ein Begriff mit einem bestimmten Bezug auf das Wahrnehmen sein, das ist eine Vorstellung.« (S. 150) Die Triebfedern sind Bestandteile der charakterologischen Anlage des Menschen, sie sind ihm mitgegeben oder anerzogen, die Motive bestimmen die Ziele des Wollens im jeweiligen Augenblick des Handelns.
Steiner unterscheidet vier unterschiedliche Triebfedern: das Wahrnehmen der Sinne, die Gefühle, das Vorstellen und das begriffliche Denken ohne Rücksicht auf einen bestimmten Wahrnehmungsgehalt, das »reine Denken«. Wahrnehmungen, die unmittelbar – »ohne Dazwischentreten« eines Gefühls oder Begriffs – Handlungen auslösen, wirken auf Triebfedern, die Steiner unter dem Begriff des »Triebes« zusammenfasst. »Die Befriedigung unserer niederen, rein animalischen Bedürfnisse (Hunger, Geschlechtsverkehr usw.) kommt auf diesem Wege zustande. Das Charakteristische des Trieblebens besteht in der Unmittelbarkeit, mit der die Einzelwahrnehmung das Wollen auslöst.« Das Handeln aufgrund von Instinkten wird hier nicht eigens erwähnt, ist aber im Begriff des »Triebes« mit enthalten.
Gefühle können ebenfalls zu Handlungsantrieben werden, wenn sie von Wahrnehmungen ausgelöst werden (oder spontan auftreten). Als Beispiele nennt Steiner das Schamgefühl, den Stolz, das Ehrgefühl, die Demut, die Reue, das Mitgefühl, das Rache- und Dankbarkeitsgefühl, die Pietät, die Treue, das Liebes- und Pflichtgefühl.
Vorstellungen (Erinnerungsvorstellungen) werden dadurch zu Motiven, »dass wir im Laufe des Lebens fortwährend gewisse Ziele des Wollens an Wahrnehmungen knüpfen, die in mehr oder weniger modifizierter Gestalt immer wiederkehren. Daher kommt es, dass bei Menschen, die nicht ganz ohne Erfahrung sind, stets mit bestimmten Wahrnehmungen auch die Vorstellungen von Handlungen ins Bewusstsein treten, die sie in einem ähnlichen Fall ausgeführt oder ausführen gesehen haben. Diese Vorstellungen schweben ihnen als bestimmende Muster bei allen späteren Entschließungen vor, sie werden Glieder ihrer charakterologischen Anlage.« (S. 154) Mit anderen Worten: die Erinnerungskraft wird zur Triebfeder.
Aus der Perspektive des ethischen Individualismus ist das reine Denken der höchste Antrieb des Wollens, da es nicht mehr durch die Organisation, also auch nicht mehr durch die charakterologische Anlage bestimmt ist, sondern unmittelbar aus der Gegenwart (des Geistes) heraus wirkt. Damit ist der Ausnahmezustand der moralischen Intuition bezeichnet. So wie der Denkwille sich zur Anschauung seiner eigenen Tätigkeit des Hervorbringens von ideellen Inhalten erhebt, kann auch das Willensdenken sich zur Anschauung des moralischen Ideengehaltes der Welt erheben, den es tätig hervorbringt und zu seinem Wesensinhalt macht. Das reine Denken muss stets hervorgebracht werden, es »drängt die Organisation zurück« und »setzt sich selbst an deren Stelle«. Die Beobachtung dieses Zurückdrängungsvorgangs ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des freien Wollens. Denn beobachtet – oder besser intuitiv erlebt – wird das reine Denken als Kraft, das sich den Triebkräften, die in der Organisation wirken, entgegensetzt und eine umso stärkere Energie entfaltet, als diese ihm entgegensetzen. Das reine Denken drängt aber nicht nur die Energien der Triebfedern zurück, die aus der Organisation des Menschen wirken, es eignet sich deren Energien auch an. Mit anderen Worten: es bildet die Kräfte des Vorstellungslebens, des Gefühls, der Triebe und Instinkte um und setzt eine aus ihm selbst hervorgehende ideelle Gestalt dieser Triebkräfte an ihre Stelle. Durch diesen Prozess werden vorstellungsförmige Motive zu moralischen Intuitionen umgeschmolzen, metamorphosieren sich Begierden zu moralischen Phantasievorstellungen, Triebe zur moralischen Technik und Instinkte zu moralischen Taten.
Den vier Entfaltungsstufen des Willens korrespondieren vier Arten von Motiven.
1. Der Stufe des Wahrnehmens entspricht das Prinzip, durch sein Handeln die größte Summe eigener Lust zu bewirken, das Streben nach individueller Glückseligkeit: der Egoismus.
2. Dem unbewussten Erlebnis des geistigen Lebenszusammenhangs zwischen Ich und Welt, der sich in den Bildekräften des Leibes und den Wachstumskräften entfaltet (Trieb), entspricht als bewusst gewordenes ethisches Prinzip das größtmögliche Wohl der Gesamtmenschheit rein um dieses Wohles willen.
3. Dem seelischen Erlebnis des Zusammenhangs zwischen Ich und Welt (Begierde), entspricht die Maxime des Kulturfortschritts oder der sittlichen Entwicklung der Menschheit zu immer größerer Vollkommenheit.
4. Dem Zusammenhang, den das Willensdenken zwischen Ich und Welt stiftet, entspricht die Verwirklichung »rein intuitiv erfasster individueller Sittlichkeitsziele«.
Das Gewahrwerden moralischer Intuitionen ist ein Ausnahmezustand des gewöhnlichen Bewusstseins. Die Herbeiführung dieses Ausnahmezustandes kann durch folgende Meditationen erleichtert werden, die den Inhalt des neunten Kapitels zusammenfassen:
Wer das Denken beobachtet, lebt während der Beobachtung in einem geistigen, sich selbst tragenden Wesensweben darinnen
Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende bewusste Erleben eines rein geistigen Inhaltes
Nur durch eine Intuition kann die Wesenheit des Denkens erfasst werden
Das Denken drängt die menschliche Organisation in deren eigener Tätigkeit zurück und setzt sich selbst an deren Stelle
Den realen Inhalt unserer Intuitionen macht das aus, was bei aller Allgemeinheit der Ideenwelt in jedem Menschen individuell geartet ist
Während ich handle, bewegt mich die Sittlichkeitsmaxime, insoferne sie intuitiv in mir leben kann; sie ist verbunden mit der Liebe zu dem Objekt, das ich durch meine Handlung verwirklichen will
Das Willensdenken ergreift sich selbst in der Verwirklichung der Freiheit über vier Stufen.
- Durch die Hervorbringung moralischer Intuitionen gibt es sich einen geistigen Inhalt und einen Sinngehalt, der die Ziele seines Handelns und seines Daseins in der Welt umschreibt. (Intuition)
- Durch die moralische Phantasie, die von der moralischen Intuition geleitet wird, befreit das Willensdenken die Vorstellungstätigkeit der Seele von ihrer Gebundenheit an frühere Erfahrungen und die mit ihnen zusammenhängenden Sympathien und Antipathien. Die moralische Phantasie bringt geistgeprägte (individuelle) Bilder künftiger Handlungen hervor. (Intentionalität)
- Als moralische Technik bringt das Willensdenken die Erkenntnisintuitionen ins Zwiegespräch mit seinen moralischen Intuitionen und modifiziert seine Phantasievorstellungen den Erkenntnisintuitionen gemäß, welche die Konstellation des jeweiligen Wahrnehmungsgebietes erfassen, in das der freie Geist handelnd eingreifen will. Dadurch versöhnt er sich mit dem geistigen Gehalt seines Lebensschauplatzes, d.h. mit seinem Schicksal. (Inhärenz)
- In der moralischen Tat führt das Willensdenken die moralischen Phantasievorstellungen in die Wahrnehmung über und lässt eine neue, aus der freien Individualität hervorgegangene Gestalt des Menschen und der Welt erscheinen, die geistförmig ist. (Transsubstantiation)
Das gewöhnliche Bewusstsein, das sich in die beiden Ausnahmezustände der (intuitiven) Beobachtung des Denkens und der Hingabe an die moralische Intuition erhebt, erfasst zwar den Begriff als intuitiven Inhalt (als Erkenntnisintuition und als moralische Intuition). Es kann aber auch beobachten, dass der Begriff seine lebendige Bildekraft verliert, wenn er in die Seele eintritt und die Gestalt von Vorstellungen annimmt. Lässt das denkende Ich seinen Blick auf dieser Vorstellungsform des Begriffs ruhen, dann schwebt ihm innerlich etwas Gegenständliches vor, das zwar ideell, aber auch schattenhaft und seines bildekräftigen Lebens beraubt ist. Der Begriff verbirgt vor dem gewöhnlichen Bewusstsein seine Bildekraft und erscheint in diesem als kraftloses Gesetz. Die Vorstellung bewegt nichts und ist selbst nicht bewegt. Sie ist nicht bildekräftig und trägt keine Bildekräfte in sich.
Anders verhält es sich, wenn wir die Funktion des Begriffes im Beobachtungsvorgang betrachten. Im Beobachtungsvorgang entfaltet der Begriff – wie oben beschrieben – seine Bildekraft den Wahrnehmungsinhalten gegenüber. Allerdings wird vom gewöhnlichen Bewusstsein der Beobachtungsvorgang selbst nicht beobachtet, ist doch sein Blick auf das gelenkt, was der Beobachtung gegeben ist, und nicht auf die Tätigkeit des Beobachtens. Würde die Beobachtung auf die Tätigkeit des Beobachtens gelenkt, geriete auch die Tätigkeit des Begriffs im Beobachtungsvorgang ins Blickfeld. Dieser entfaltet im Beobachtungsvorgang die oben beschriebenen Funktionen: er richtet den Denkblick auf Wahrnehmungsfelder und verleiht dem Blick sowie den Wahrnehmungsfeldern ihre Bestimmtheit, er individualisiert sich an den Wahrnehmungsinhalten und verschmilzt mit diesen. Könnten wir die Tätigkeit des Begriffs anschauen, die dieser während des Beobachtungsvorgangs entfaltet, dann befänden wir uns im Bereich der Seele in der Imagination (Beobachtung, moralische Phantasie), im Bereich der Lebenskräfte in der Inspiration (Übergehen, moralische Technik) und im Bereich der physischen Organisation in der »wahren Intuition« (Verschmelzen, moralische Tat). Stattdessen entschwindet die Bildekraft des Begriffs auf dem Beobachtungsweg aus dem Bewusstsein. Der Beobachtungsvorgang enthält die drei Stufen der höheren Erkenntnis in sich. Aber die erste Beobachtung, die wir über ihn machen, ist die, dass die Tätigkeit des Begriffs sich der Beobachtung des gewöhnlichen Bewusstsein entzieht.
Wollte man diese Bildekraft des Begriffs ins Bewusstsein heben, müssten spezifische Beobachtungsübungen entwickelt werden, durch welche die angedeuteten Wirksamkeiten des Begriffs beobachtbar würden.
Die »Philosophie der Freiheit« beschreibt keine einzelnen Übungen, sie legt aber die prinzipielle Richtung und den Charakter eines solchen Übungsweges fest.
Um die Stufe der Erkenntnisintuition und moralischen Intuition mit größerer Bewusstheit zu durchdringen, sind Übungen der Hingabe an ideelle Inhalte und der Versenkung in ideelle Inhalte erforderlich. Beruht doch die Intuitionsfähigkeit darauf, dass wir »überhaupt imstande sind, uns zum Ideengehalt der Welt zu erheben.« Diese Erhebung kann nur gelingen, wenn sie geübt wird. Das scheint selbstverständlich, wird aber vermutlich gerade deswegen viel zu wenig beachtet. Nur durch den fortgesetzten kontemplativen und meditativen Umgang mit Ideen entwickelt sich die Fähigkeit, sich denkend mit der Ideenwelt zu verbinden und in ihr zu leben. Durch das unablässige Bemühen um das Leben in der Ideenwelt fallen auch immer mehr Hindernisse und Widerstände weg, die von seiten der seelischen oder leiblichen Organisation der Versenkung in ideelle Inhalte im Wege stehen könnten. Beim kontemplativen Leben in Ideen geht es nicht darum, sich Wissensinhalte anzueignen. Entscheidend ist vielmehr, in Ideen zu leben und an ihrem Leben bewusst teilzuhaben. Dadurch wächst die Fähigkeit, aus der Ideenwelt selbsttätig Erkenntnisintuitionen und moralische Intuitionen zu schöpfen.
Für die Stufe der Beobachtung und der moralischen Phantasie wären Übungen der ideellen Individualisierung zu entwickeln. Diese Fähigkeit der ideellen Individualisierung kann an Vorstellungsverwandlungen geübt werden. Sowohl die Funktion, die der Begriff in der Beobachtung entfaltet, als auch die moralische Phantasie beruhen auf dem Vermögen der Individualisierung des Begriffs, die nicht aus der Wahrnehmungswelt empfangen, sondern aus dem Ich gezeugt wird.
Für die Stufe des Übergangs und der moralischen Technik sind Übungen des geistigen Hörens und Sprechens erforderlich, sowie Übungen des geistigen Gleichgewichts. Beruht doch die Inhärierung von Begriffen im Beobachtungsvorgang – ebenso wie die Anpassung der moralischen Phantasievorstellungen an das zu gestaltende Wahrnehmungsgebiet – darauf, dass das Ich imstande ist, die Sprache der Gegebenheiten zu vernehmen und sich nicht diesen gegenüber vorlaut geltend zu machen. Die singuläre Qualität der Wahrnehmung, die sich dem Begriff einprägen will und die Schicksalskonstellation der jeweiligen Lebenssituation sprechen ihre eigene Sprache, die nur einem schweigenden Vernehmen hörbar wird. In diesem schweigenden Vernehmen schafft das Ich einen Ausgleich zwischen seinem individuellen Wollen und dem Willen des Weltzusammenhangs, in dem sich sein Schicksal ausspricht.
Für die Stufe des Verschmelzens und der moralischen Tat schließlich sind Übungen des Verzichts und der Selbstaufgabe erforderlich. Einswerden mit den singulären Wahrnehmungsinhalten kann das Ich nur, wenn es sich selbst in diese aufgibt. Einswerden mit dem Weltzusammenhang durch die moralische Tat kann es nur, wenn es den von ihm erkannten Weltzusammenhang zum Inhalt seines Wollens erhebt.
Anknüpfend an diese Einsichten entwickelt Steiner 1910 in der »Geheimwissenschaft im Umriß« den esoterischen Schulungsweg. In seinem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« schlägt er zunächst einen scheinbar anderen Weg ein, der sich aber bei näherer Betrachtung als konsequente Umsetzung des Weges darstellt, der in der »Philosophie der Freiheit« veranlagt ist. Die Art dieser Umsetzung wird in einem weiteren Beitrag mit dem Titel »Der esoterische Schulungsweg der Anthroposophie in ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹« untersucht werden.
Anmerkungen:
[1] Gemeint ist der Aufsatz »Über das Komische in seinem Zusammenhang mit Kunst und Leben«, veröffentlicht in GA 47.
[2] Jetzt im Zweiten Anhang enthalten.
[3] In der 2. Auflage im Anhang. Vgl. dazu: Lorenzo Ravagli, Das Evangelium der Bewusstseins-Seele München, 1995.
[4] Veröffentlicht in GA 30.
[5] Zu Geist-Erinnern, Geist-Erschauen und Geist-Besinnen siehe auch Rudolf Steiner: »Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24«, GA 260.
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Fortsetzung: Der esoterische Schulungsweg in »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«