Der Geist der Pfingstzeit

Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2019.

Laut Johannes stellte Jesus in einer seiner Abschiedsreden den um ihn Versammelten einen Beistand, den »Geist der Wahrheit und Erkenntnis« (»parakletos«, eigentlich »den Herbeigerufenen«) in Aussicht. »Und ich will den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der das ganze Äon hindurch bei euch sein wird, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht zu fassen vermag, da sie ihn nicht sehen und erkennen kann. Ihr aber werdet ihn erkennen, denn er wird bei euch und in euch sein.« (14, 16-17) »Der Beistand«, fährt Johannes fort, »der heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, er wird euch alles lehren und euch alles in Erinnerung rufen, was ich zu euch gesprochen habe.« (14, 26).

»Wenn dann der herbeigerufene Geist kommt, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der aus dem Vater hervorgeht, dann wird er für mich Zeuge sein, und auch ihr werdet meine Zeugen sein, denn ihr seid von Urbeginn in mir.« (15, 26) Es wird aber die Stunde kommen, »da sie euch töten werden, im Glauben, Gott einen Dienst zu erweisen. So werden sie handeln, weil sie weder den Vater noch mich erkannt haben.« (16, 2-3) »Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist zu eurem Guten, wenn ich fortgehe. Denn ginge ich nicht von euch, käme der Geist, der euch beisteht, nicht zu euch. Wenn ich aber fortgehe, so werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er die Welt wegen ihres Abfalls von Gott und wegen der fehlenden Übereinstimmung mit seinem Willen und wegen der Scheidung der Geister zur Rechenschaft ziehen: wegen des Abfalls von Gott – weil sie nicht an mich glauben; wegen der fehlenden Übereinstimmung – weil ich zum Vater gehe und ihr mich nicht mehr seht; wegen der Scheidung der Geister – weil der geistige Herrscher dieser Welt (der Archont) bereits gerichtet ist.« (16, 7-12)

»Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, dann wird er euch zur Erkenntnis der ganzen Wahrheit führen. Er wird nicht aus sich heraus reden, er wird in Worte fassen, was er hört. Das, was da kommen wird, wird er euch verkünden. Mich wird er offenbaren, denn aus mir wird er schöpfen, was er verkündet. Alles, was ich bin, ist mein Vater. Deswegen habe ich euch gesagt: er wird aus mir schöpfen und mich verkünden.« (16, 13-15)

Die Apostelgeschichte berichtet: »Und als sich die Zeit der fünfzig Tage erfüllte, erwarteten sie in gemeinsamer Andacht den Anbruch des Pfingstfestes. Da erhob sich plötzlich aus dem Himmel ein Brausen, als wehe ein gewaltiger Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie versammelt waren. Und es erschienen ihnen sich zerteilende Zungen wie aus Feuer, die auf jedem einzelnen von ihnen innehielten. Und der heilige Geist erfüllte sie alle, und sie begannen in fremden Zungen zu sprechen, wie der Geist es ihnen eingab.« (2,1-4)

Im ersten Brief des Paulus an die Korinther, diesem Mysterienbrief, lesen wir: »Die Weisheit der in die Mysterien Eingeweihten sprechen wir aus, nicht die Weisheit dieses Äons, auch nicht die Weisheit der Archonten (der Zeitgeister) dieses Äons, die vergehen, sondern wir sprechen die Weisheit Gottes aus wie Mysterieneingeweihte, die Weisheit, die immer schon im Verborgenen bestanden hat, die vor allen Äonen bei Gott in seiner Herrlichkeit wohnte. Keiner der Archonten dieses Äons hat diese Weisheit erkannt. Hätten sie sie erkannt, dann hätten sie den Herrn der himmlischen Heerscharen nicht gekreuzigt. Denn es steht geschrieben: ›Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, und was in keines Menschen Herz gedrungen ist, das hat Gott jenen zugeteilt, die er liebt.‹ Uns aber hat es Gott durch den Geist offenbart.

Denn der Geist durchdringt alles, selbst die Tiefen der Gottheit. Welcher Mensch vermöchte zu erkennen, was zum Menschen gehört, wenn nicht der Geist des Menschen in ihm wohnte? So kann auch niemand erkennen, was zu Gott gehört, es sei denn der Geist Gottes wohnte in ihm. Wir haben nicht den Geist dieser Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott kommt, damit wir erkennen, womit Gott uns beschenkt hat. Und wir sprechen nicht Worte aus, die menschliche Weisheit uns gelehrt hat, sondern Worte, die der Geist uns lehrt. Das Geistige begreifen wir durch den Geist. Der Psychiker (in dem der Geist Gottes noch nicht erweckt ist) vermag nicht zu begreifen, was aus dem Geist Gottes kommt. Es ist ihm Torheit oder Irrsinn; er vermag es nicht zu verstehen, denn nur der Geist vermag es zu verstehen. Der Pneumatiker, der vom Geist Gottes erfüllt ist, vermag alles zu verstehen, auch wenn er selbst von niemandem verstanden wird. Wer hätte je den Geist des Herrn erkannt, wer vermöchte gar, ihn zu belehren? Wir aber haben den Geist des Christus in uns aufgenommen.« (2, 6-16)

Und im Kapitel 12 lesen wir: »Die verschiedensten Gaben des Geistes gibt es, aber nur einen Geist. Die verschiedensten Arten des Dienens gibt es, aber nur einen Herrn. Die verschiedensten Kräfte gibt es, aber es ist ein und derselbe Gott, der sich in all diesen Kräften äußert. Einem Jeden ist es gegeben, den Geist zur Erscheinung zu bringen, zum Wohle aller. Dem einen wird durch den Geist das Wort der Sophia, der Gottesweisheit gegeben, einem anderen durch denselben Geist das Wort der Gnosis, der Gotteserkenntnis, einem dritten die Kraft des Glaubens vom selben Geist. In dem einen bewirkt der eine Geist die Kraft des Heilens, in dem anderen die Fähigkeit, kosmische Geistwesen durch sich wirken zu lassen, in einem anderen die Gabe der Prophetie, oder die Gabe, die verschiedenen Geistwesen zu unterscheiden. Dem einen verleiht er die Gabe, zu reden, ohne dass er versteht, was er redet, dem anderen die Fähigkeit, das geisterfüllte Gestammel zu verstehen. Dies alles wird von ein und demselben Geist bewirkt, dem es gefällt, einem jeden das seinige zuteil werden zu lassen.« (12, 4-11)

All diese Geistesgaben aber werden von einer Gabe übertroffen, von der es an dieser Stelle nicht heißt, sie sei ein Geschenk des heiligen Geistes. Der Mensch selbst ist aufgerufen, sie zu den Gaben hinzuzufügen. Wer diese Kraft in sich zur Entfaltung bringt, beschreitet laut Paulus einen Weg, der »höher als alle anderen ist«, denn:

»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre mein Sprechen nichts als tönendes Erz und klingende Schelle. Und besäße ich die Gabe der Prophetie und wüßte alle Geheimnisse Gottes und wäre alle Gnosis mein eigen, und hätte ich dazu noch die Kraft des Glaubens, der Berge versetzt, aber wäre ohne Liebe, dann wäre ich nichts. Und wenn ich alles hingäbe, was mein ist, und zuletzt sogar meinen Leib, auf dass er verbrannt würde, und hätte der Liebe nicht, so wäre alles umsonst.

Die Liebe macht die Seele groß.
Die Liebe erfüllt die Seele mit Güte.
Die Liebe kennt keinen Neid, keine Prahlerei.
Sie läßt keine Heuchelei gedeihen.
Die Liebe verletzt nicht, was wohlanständig ist.
Sie vertreibt die Selbstsucht,
sie fördert die Besonnenheit,
sie trägt niemandem Böses nach,
sie freut sich nicht über Unrecht,
sie freut sich mit der Wahrheit.
Sie duldet alles,
sie bringt allem Vertrauen entgegen,
sie ist immer guter Hoffnung und erträgt alles.

Die Liebe kann, wenn sie wirklich in uns wohnt, nicht verlorengehen. Die Gabe der Prophetie wird einmal schwinden, die Gabe, vom Geist erfüllte Worte zu sprechen, kann sich zurückziehen, auch die Gnosis kann verlorengehen. Nicht aus dem Ganzen erkennen wir und nicht aus dem Ganzen prophezeien wir. Einst aber wird die Vollendung kommen, dann werden wir ganz sein. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, ich fühlte und dachte, wie ein Kind. Als ich zum Mann wurde, streifte das Kind ich ab. Jetzt noch sehen wir alles wie in einem Spiegel in rätselvollen Bildern, dereinst werden wir von Angesicht zu Angesicht schauen. Jetzt noch erkenne ich nicht aus dem Ganzen, dereinst aber werden Erkennen und Erkanntwerden eins sein. Uns aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Die größte aber unter ihnen ist die Liebe.« (13, 1-13)

Der Geist der Vielen und die vielen Geister

Der fleischgewordene Logos, durch den alles geworden war, kündigte den Geist der Weisheit und der Erkenntnis, den Geist der Sophia und der Gnosis an, den Beistand, der das ganze Äon hindurch bei den Menschen und in ihnen sein werde. Als »heiligen Geist« bezeichnete er ihn (pneuma hagion), als Geist der Lehre und der Erinnerung, als Zeugen der Wahrheit, als Schiedsrichter und Scheider. Die Welt – der Kosmos und die Kosmokratoren –, so Jesus durch Johannes, sei nicht imstande, ihn zu erfassen, da er nicht mit Augen gesehen und nicht mit dem gewöhnlichen Verstand begriffen werden könne. Ebenso Paulus: die Psychiker, in denen der Geist Gottes noch nicht erwacht ist, können die Gnosis und Sophia Gottes nicht verstehen, der Gnostiker aber versteht alles, denn der Geist, der ihn erfüllt, durchdringt alles, selbst die Tiefen der Gottheit, da er aus den Tiefen der Gottheit hervorfließt, ja, die Gottheit sich aus ihren Tiefen in ihn entäußert.

Die Apostelgeschichte berichtet von der Ausgießung dieses Geistes zu Pfingsten. Die Vielen erfüllte er, so wie er zuvor den Einen erfüllt hatte, und die Vielen begannen in allen Zungen der Erde zu sprechen, denn der Logos, der sie erfüllte, ist das Wort aller Worte, das Wort, das alle Worte zusammenfaßt, aus dem alle Sprachen hervorgegangen sind. Dieses Wort mit seiner Weisheit (Sophia) und seiner Erkenntnis (Gnosis) war im Urbeginn bei Gott und die, die von ihm erfüllt werden, waren schon immer in ihm – »denn ihr seid von Urbeginn in mir«, heißt es im Johannesevangelium. Wenn die Menschen, die den heiligen Geist in sich aufnehmen, von Urbeginn an im Geist Gottes waren, müssen sie da nicht schon von Urbeginn an existiert haben? Und was haben sie in der Zeit zwischen dem Urbeginn und dem jeweiligen Heute getan? Sie haben sich reinkarniert. Und sie haben in der Folge ihrer Erdenleben immer mehr von jenem Geist in sich aufgenommen, der in Christus in seiner Fülle gelebt hat und von ihm in seiner Fülle durch den Vater ausgegangen ist. Und da er schon vor seinem Erscheinen in der Fülle Jesu Christi unter den Menschen gewirkt hat, sind seine Offenbarungen bei allen Völkern zu finden. Ja, die Geister der Vielen sind aus ihm hervorgegangen und nun, da sie den Einen Geist in sich aufnehmen, vermögen sie zur Einheit zu finden, aus der sie hervorgegangen sind. Die Fülle dieses Geistes (das »Pleroma«) faßt sie alle in sich und führt sie zu sich zurück. Nichts ist außer dieser Fülle, denn sie ist das unerschöpfliche und unergründliche Leben Gottes, aus dem der Kosmos lebt und in das er eingebettet ist. Alles ist ihre Offenbarung, in vielen Gaben manifestiert sie sich.

Der Geist Gottes hat sich in den menschlichen Geistern – und nicht nur in diesen – vervielfältigt, die Gefäße sind zerbrochen, wie die Kabbala sagt, und in jeder Scherbe spiegelt sich bruchstückhaft das göttliche Licht. »Ek merous« erkennen wir jetzt, schreibt Paulus, nicht aus dem Ganzen, sondern aus den Teilen, bruchstückhaft, wie in einem Spiegel – dereinst aber werden wir aus dem Ganzen erkennen, wenn denn der Geist Gottes seine Tiefen in uns aufschließt. Aus diesen Tiefen aber quillt noch etwas anderes, etwas, das größer ist als Weisheit und Erkenntnis, als alle besonderen Gaben des Geistes, größer als der Glaube und die Hoffnung. Aus diesen unergründlichen Tiefen quillt die Liebe, an der wir alle teilhaben, wenn wir unsere Herzen für sie öffnen. Diese Liebe »bläht nicht auf«, wie die Erkenntnis, sie macht demütig, duldsam, vertreibt die Selbstsucht, verletzt nicht, kurz: sie heilt die Seele. Auch wenn davon bei Paulus nicht die Rede ist, so schließt sich doch in dieser Liebe die Seele dem Reichtum des heiligen, heilenden Geistes auf. Sie heilt die Seele von Selbstsucht, der Wurzel des Hasses und von der Überheblichkeit, der Quelle der Herrschsucht. Die Archonten dieser Welt, die Kosmokratoren, sie bäumen sich auf gegen diese Liebe, weil sie in ihr schon gerichtet sind, aber nicht, weil die Liebe richtet, sondern weil sie sich selbst von ihr ausschließen.

»Für den Monismus« schreibt Steiner 1893 in der »Philosophie der Freiheit«, »ist der Begriffsinhalt der Welt für alle menschlichen Individuen derselbe. Nach monistischen Prinzipien betrachtet ein menschliches Individuum ein anderes als seinesgleichen, weil es derselbe Weltinhalt ist, der sich in ihm auslebt. Es gibt in der einigen Begriffswelt nicht etwa so viele Begriffe des Löwen, wie es Individuen gibt, die einen Löwen denken, sondern nur einen … Das Denken führt alle Wahrnehmungssubjekte auf die gemeinsame ideelle Einheit aller Mannigfaltigkeit. Die einige Ideenwelt lebt sich in ihnen als in einer Vielheit von Individuen aus. Solange sich der Mensch bloß durch Selbstwahrnehmung erfaßt (als »Psychiker«, paulinisch gesprochen), sieht er sich als diesen besonderen Menschen an; sobald er auf die in ihm aufleuchtende, alles Besondere umspannende Ideenwelt blickt, sieht er in sich das absolut Wirkliche lebendig aufleuchten. Der Dualismus bestimmt das göttliche Urwesen als dasjenige, was alle Menschen durchdringt und in ihnen allen lebt. Der Monismus findet dieses gemeinsame göttliche Leben in der Wirklichkeit selbst. Der ideelle Inhalt eines anderen Menschen ist auch der meinige, und ich sehe ihn nur so lange als einen anderen an, als ich wahrnehme, nicht mehr aber, sobald ich denke. Jeder Mensch umspannt mit seinem Denken nur einen Teil der gesamten Ideenwelt, und insofern unterscheiden sich die Individuen auch durch den tatsächlichen Inhalt ihres Denkens. Aber diese Inhalte sind in einem in sich geschlossenen Ganzen, das die Denkinhalte aller Menschen umfaßt. Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott.« (Kapitel »Die Konsequenzen des Monismus«). Die Kraft des Denkens, durch die wir in den Bewußtseinsinhalt eines anderen Menschen eintauchen und ihn als unseresgleichen erkennen, bezeichnet Steiner als »Kraft der Liebe in geistiger Art« (Kapitel 8, Zusatz zur Neuauflage 1918). Diese Liebe ist die »Agape«, von der Paulus spricht. Warum wir kein Wesen von der Menschheit ausschließen können, möge es uns auch noch so fremd sein, liegt in der Natur unseres Denkens begründet.

Rudolf Steiner, Die Verheissung des Geistes der Wahrheit, GA 97

Ein Kommentar

  1. Raul Guerreiro

    Dear Mr. Ravagli,

    In your online text „Der Geist der Pfingstzeit“ you use the following formulation along traditional lines:

    „Die Vielen erfüllte er, so wie er zuvor den Einen erfüllt hatte, und die Vielen begannen in allen Zungen der Erde zu sprechen, denn der Logos, der sie erfüllte, ist das Wort aller Worte, das Wort, das alle Worte zusammenfaßt, aus dem alle Sprachen hervorgegangen sind.“

    I think that you should add Steiner’s precise explanations that this description is not correct.

    The so called enlightenment by the Holy Spirit provoked no sudden ability of the Twelve to „speak in foreign languages“ but instead:

    (1) the inner and complete spiritual comprehension about the fact that, just before Golgata, humanity was about to disappear (human etheric bodies would „fly away“ to the sun, there would be no more physical reincarnations, and the planet would become a cemitery) so that this was the central rescue act by Christ;

    (2) Instead of „speaking in foreign languages“ the Twelve became more exactly able to reach the HEARTS IN ANY OTHER RELIGION, and spiritually introduce to them the reality of the earth-embracing cosmic Christ.

    Best greetings
    Raul

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