Zuletzt aktualisiert am 11. Dezember 2015.
Der Belgier Théophile Simar, in den 1920er Jahren Bibliothekar des belgischen Kolonialministeriums, war einer der ersten Autoren des 20. Jahrhunderts, der den Begriff Rassismus verwendete und sich mit dessen Geschichte befasste (Théophile Simar, Étude critique sur la formation de la doctrine des races aux XVIIIe siècle et son expansion aux XIXe siècle, Bruxelles 1922). Er wies in seinem Buch darauf hin, dass Linné, Buffon und Blumenbach die Tradition der Klassifikation und des anatomischen Vergleichs des Menschen mit den Primaten und der Zuordnung der Unterschiede zwischen Menschen zu natürlichen Ursachen begründet hätten, meinte aber – ebenso wie später Eric Voegelin (»Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus«, 1933) und Hannah Arendt (»Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, 1951/1955) –, die von diesen begründete physische Anthropologie sei nicht im eigentlichen Sinn rassistisch, da sie noch im Zusammenhang mit der griechisch-römischen Vorstellung von Ordnung und der logischen Einheit der Art stand. Die Rasse wurde laut Simar erst in dem Augenblick zu einer »reell wirkenden, lebendigen Kategorie«, als sie über die Klassifikationen von Hobbes, Locke, Montesquieu und der Anthropologen hinausging, und einen Willen zur Macht entwickelte, der auf einer Biologie fußte, die zwischen höheren und niederen Rassen unterschied.
Montesquieus Frage nach dem Geist der Gesetze führte laut Hannaford dazu, dass die Untersuchung von Regierungsformen sich nicht länger an Aristoteles und den Hierarchien orientierte, die Tradition, Offenbarung und Autorität als die »große Kette der Wesen« bezeichnet hatte, sondern sich dem Wesen der Seele und des Geistes zuwandte. Fortan kreisten die Auseinandersetzungen um Seele, Geist und Bewusstsein des Menschen. Während Aristoteles noch behauptet hatte, Politik liege jenseits der Natur, versuchten die Philosophen des 18. Jahrhunderts die Menschenrechte und die sozialen Handlungen aus der Natur des Menschen abzuleiten.
Der neue Staat, der an die Stelle der antiken Formen der polis und der res publica trat, wurde von manchen als autonomer organischer souveräner Leib gedacht, von anderen als Uhrwerk, das innerhalb eines neu entdeckten natürlichen Phänomens namens Gesellschaft situiert war. Manche Autoren befürworteten einen natürlichen und physiologischen Staatsbegriff, andere einen Staat, in dem das Leben völlig von ökonomischen, administrativen und moralischen Kriterien beherrscht war. Manche gestanden dem Staat nur gewisse rudimentäre Funktionen zu und überließen die Individuen innerhalb der Gesellschaft ihren eigenen persönlichen Interessen. Manchmal wurden Staat und Gesellschaft als Begriffe ganz aufgegeben und alles einer »verborgenen Hand« überlassen, welche die nackte Selbstsucht oder die autonome Vernunft der Einzelnen irgendwie in Übereinstimmung bringen sollte. Wie auch immer er gedacht wurde, der Staat trat nun zu jenen physiologischen und biologischen Begriffen in Beziehung, die durch die Werke der Naturhistoriker, Anatomen und physischen Anthropologen popularisiert worden waren. Die Gesellschaft fasste Individuen zusammen, die durch die Natur verbunden und zunehmend überzeugt waren, sie besäßen von Geburt an natürliche Rechte. Diese Individuen unterschieden sich grundlegend von den Bürgern Griechenlands oder Roms, deren Status sich aus ihren Handlungen in der politischen Arena ableitete.
David Hume: Nationalcharakter als Ausdruck politischer Traditionen
Im selben Jahr, in dem Montesquieus Überlegungen zum Klima und zur physischen Umgebung des Menschen erschienen (1748), publizierte der schottische Philosoph David Hume (1711-1776) einen Essay über »Nationalcharaktere«, in dem er der Frage nachging, ob diese durch moralische (geistige) oder physische Ursachen (Klima, Nahrung, Boden) bedingt seien. Er begann mit den Worten: »Die Ungebildeten neigen dazu, alle nationalen Charaktere zum Äußersten zu treiben; und wenn sie es erst einmal zum Prinzip erhoben haben, dass irgendein Volk schurkenhaft oder dumm ist, werden sie keine Ausnahmen zulassen, sondern jedes Individuum nach dieser Schablone betrachten.« Abgesehen von der leidenschaftlichen Liebe der Bewohner südlicher Klimazonen und der Neigung nördlicher Völker zur Trunkenheit, konnte Hume keine Beweise dafür erkennen, dass physische Ursachen auf den Geist des Menschen einwirkten. Nicht das Klima ließ die Verhaltensweisen ähnlich werden, sondern das Leben in Gemeinschaften und das Vorbild von Laster und Tugend. Der vernunftbegabte Mensch war ein soziales Wesen, das durch Vergesellschaftung mit anderen diesen ähnlich wurde. In jeder Gesellschaft gab es Trägheit und Fleiß, Tugend und Laster, Menschlichkeit und Brutalität, Weisheit und Narrheit, die zusammen den natürlichen Instinkten ihre Färbung gaben. In republikanischen Staaten prägten sich der Wunsch nach dem gemeinsamen Wohl und legitimer Autorität dem privaten Interesse und den natürlichen Beziehungen auf.
Im Gegensatz zu Montesquieu war Hume der Auffassung, der Hauptgrund für Englands bewundernswertes politisches System liege nicht in der Natur, sondern in der Politik, die den Nationalcharakter beeinflusse. Dieser Charakter entwickle sich durch lange Zeit hindurch und werde durch die Zufälle des Krieges, durch Verhandlungen und Heiraten geprägt, insoweit sich diese auf die Autorität einer Regierung auswirkten. Aber Hume gestand auch zu, dass manche Völker trotz ihrer Zerstreuung gewisse Verhaltensweisen bewahren, zum Beispiel die Juden ihre Neigung zum Betrug und die Armenier ihre Ehrlichkeit. In einer Fußnote bemerkte er, eine kleine Gesellschaft innerhalb einer größeren werde eher einen gleichförmigen moralischen Zustand zeigen, weil die Fehler der Einzelnen der Gesamtheit zugeschrieben würden.
Die Völker, die an den Polen lebten, führten laut Hume ein Dasein in Elend und Armut, während jene im Süden geistig träge seien. Aber diese Eigenschaften schrieb er moralischen und nicht physischen Ursachen zu. Gleichzeitig behauptete er kategorisch, die betreffenden Völker seien gegenüber der restlichen Spezies minderwertig und zu einer höheren geistigen Entwicklung unfähig. Es war diese Differenz bzw. die spannungsreiche Beziehung zwischen moralischen und physischen Ursachen, die Blumenbachs machtvolle Idee der Einheit des Spezies nicht auszugleichen vermochte.
In einer oft zitierten Anmerkung führte Hume aus, die Neger seien den Weißen von Natur aus unterlegen, da sie niemals eine zivilisierte Nation oder einzelne Individuen hervorgebracht hätten, die auf irgendeinem geistigen Gebiet Herausragendes geleistet hätten. Negersklaven zeigten keinerlei Erfindungsgeist, während Weiße von sich aus unternehmerisch seien. Unter Berufung auf alte Theorien über die Hitze, die das Herz und die Leidenschaften entflammt, und auf den Bericht des Aristoteles über die Verfassung Solons, behauptete er, dem Neger mangle es an politischem Instinkt und er sei unfähig zu jenen institutionellen Übereinkünften, die das Wesen einer bürgerlichen Gesellschaft ausmachten: »Wenn du ihnen einen ordentlichen Schluck anbietest, wirst du von ihnen alles bekommen; und du wirst sie leicht dazu bringen, dass sie dir für ein Fass Brandy ihre Kinder, Frauen oder Geliebten verkaufen.« Einen so »gleichförmigen und anhaltenden Unterschied« zwischen Weißen und Schwarzen könne es nicht geben, hätte nicht die Natur selbst diesen Unterschied zwischen beiden Rassen bewirkt. Wie auch immer, die Sklaverei lehnte er aus ökonomischen Gründen ab und meinte, sie stehe dem Glück der Menschheit im Weg.
Alles in allem war Hume nicht der Auffassung, der Nationalcharakter und die Sitten eines Volkes gingen auf die Natur zurück. Diese hingen vielmehr mit dem Zusammenleben in einer Gemeinschaft über lange Zeit zusammen. Wie Locke betonte er die Weitergabe von Ideen über Tugend und Laster durch andauernde gesellschaftliche Übereinkünfte. Die Grundlage dieser Übereinkünfte lag aber nicht – und hier stimmte er mit Boulainvilliers überein – in einem Gesellschaftsvertrag.
Montesquieu hatte gemeint, die Engländer hätten ihre Idee der Regierung aus einem edlen germanischen Reis gezogen und dass sie weder auf Boulainvilliers’ und Hobbes’ Recht auf Eroberung beruhte, noch auf Dubos’ Naturrecht, das auf eine gallorömische Quelle zurückging, sondern auf Stufen der Gesetzesentwicklung (Rassen) von einer politischen über eine feudale bis zur gegenwärtigen Ordnung. Montesquieu stand deutlich im Widerspruch zu Hume, der die Wirkungen der existierenden Regierungsform betonte, wenn auch nur wegen der Stabilität und Ordnung, die sie erzeugte.
Gotthold Ephraim Lessing: Nationalcharakter als Ergebnis individueller moralischer Entwicklung
Die unterschiedlichen Auffassungen über den Vertrag und die möglichen Auswirkungen physischer Ursachen auf den menschlichen Geist riefen eine Flut literarischer Untersuchungen und Kritiken hervor. In Deutschland, wo der außerordentlichen Gelehrsamkeit Blumenbachs nichts Gleichwertiges auf dem Gebiet der Literatur oder Kunst zur Seite stand, waren die Auseinandersetzungen besonders heftig, besonders bei jenen Fragen, die Blumenbach nicht befriedigend beantwortet hatte: bei der Degeneration, der Bildekraft, dem Schönheitsideal und dem Einfluss von Sprache und Umwelt auf die moralische und physische Entwicklung.
Im 18. Jahrhundert waren die deutschen Autoren weitgehend dem Vorbild der französischen Rationalisten gefolgt, das Gottsched 1730 in seiner »Kritischen Dichtkunst für die Deutschen« dargestellt hatte. Obwohl Gottsched schon von Klopstock kritisiert worden war, der versucht hatte, die deutsche Literatur von dieser Dominanz zu befreien, indem er das Interesse an den deutschen Heldensagen weckte, gelang es erst Lessing – mit seinen gegen die Abhängigkeit des deutschen Genius von den französischen Vorbildern gerichteten »Briefen, die neueste Literatur betreffend« – 1754 eine Suche nach dem deutschen Nationalcharakter in Gang zu setzen. Auf den Spuren Montesquieus, der die germanisch-englischen Regierungsformen bewundert hatte, stellte Lessing Shakespeare als Ideal des literarischen Stils und Geschmacks dar. Darauf folgte zwischen 1759 und 1765 eine heftige, aber anregende Debatte über Literatur und die Klassiker, an der sich neben Lessing auch Friedrich Nicolai und Moses Mendelsohn beteiligten.
In seinem literaturkritischen Essay »Laokoon« umriss Lessing 1766 neue Grundzüge ästhetischer Urteilsfindung in der Malerei, Poesie und Bildhauerei, indem er sich auf die Metaphysik des Aristoteles stützte. Das ganze Werk durchzieht eine Kritik an den seichten Urteilen und am falschen Geschmack, der sich in der gesamten deutschen Literatur und in den Vorstellungen von Schön und Hässlich finde, sowohl bei Liebhabern der Kunst, bei Kritikern als auch bei Philosophen.
Seine Betrachtungen über Hässlichkeit und Schönheit der Formen stützte Lessing auf viele Beispiele aus der griechisch-römischen Literatur, Poesie, Malerei und Bildhauerei, auf mittelalterliche deutsche Quellen und Texte der Renaissance. Er stellte fest, dass manche Dinge wie Narben, Hasenscharten, große Nasenflügel oder das Fehlen von Augenbrauen den Tast-, Geschmacks- oder Geruchssinn nicht beleidigten, aber ein inneres Gefühl des Ekels hervorriefen. Aber nicht alle Völker fänden das Gleiche abstoßend. Als Beispiel dafür, »wie Vorstellungen der Würde, des Anstandes, mit dem Ekelhaften in Kontrast gesetzt, lächerlich werden«, gab Lessing eine Erzählung Lord Chesterfields aus einer englischen Zeitschrift wieder.
»Man weiß, wie schmutzig die Hottentotten sind und wie vieles sie für schön und zierlich und heilig halten, was uns Ekel und Abscheu erwecket. Ein gequetschter Knorpel von Nase, schlappe, bis zum Nabel herabhängende Brüste, den ganzen Körper mir einer Schminke aus Ziegenfett und Ruß an der Sonne durchbeizet, die Haarlocken von Schmier triefend, Füße und Arme mit frischem Gedärme umwunden: dies denke man sich an dem Gegenstande einer feurigen, ehrfurchtsvollen, zärtlichen Liebe; dies höre man in der edeln Sprache des Ernstes und der Bewunderung ausgedrückt und enthalte sich des Lachens!«
In einer Auseinandersetzung über Wunderbeweise verteidigte Lessing das Recht, die Bibel zu kritisieren und gleichzeitig die Autorität des Christentums, das die Kraft besitze, durch seine Lebendigkeit zu überzeugen. Er meinte aber, das Christentum habe als lebendige, die Seelen erobernde Kraft bereits bestanden, bevor das Neue Testament geschrieben worden sei. Wegen dieser schockierenden Auffassung wurden seine Schriften konfisziert. Daraufhin wandte er sich der Bühne und den Dramen Shakespeares zu. In seinem »Nathan« dramatisierte er den Glauben des Juden Nathan, des Muslims Saladin und eines christlichen Kreuzritters als Zeugnisse eines edlen Charakters und nutzte die Bühne, um seine Botschaft bezüglich der Bedeutung der Charakterzeichnung, eines neuen Verständnisses des Christentums und der Notwendigkeit von geistiger Unabhängigkeit und Toleranz zu Gehör zu bringen.
In diesem Drama brachte er seine Vorstellung vom edlen Charakter der Juden zum Ausdruck, die er bereits in seinem Stück »Die Juden« vertreten hatte und seine Ansicht, jede Religion, jedes Dogma sei ein Zeugnis für das Fortschreiten der Menschheit zu immer höheren Formen der Moral. Durch diese Dramen, sowie durch seine »Hamburgische Dramaturgie« und seinen »Laokoon« rief er ein völlig neues Interesse an der Wirkung des persönlichen Charakters in der Geschichte hervor. »Dass er mit Absicht handelt, erhebt den Menschen über das Tier, dass er mit Absicht erfindet und nachahmt, erhebt den Genius über die kleinen Geister, die nur um der Erfindung willen erfinden und nachahmen, um nachzuahmen.« Er nutzte die Vorstellung eines griechisch-römischen Schönheitsideals, um die Aufmerksamkeit auf eine edle germanische Vergangenheit zu lenken und das Interesse auf die Literaturkritik und den idealen persönlichen und nationalen Charakter zu lenken, so wie es sein Freund Mendelsohn bei seinem Versuch, die anomischen Juden wieder in das geistige Leben Deutschlands zurückzuführen, getan hatte. Nach Lessing sind der Jude, der Muslim, der Neger oder der Wilde das, was sie sind, nicht weil sie außerhalb der Politik stehen – also im antiken Sinn dem ethnos angehören, und damit einen statischen und regressiven Nationalcharakter besitzen, wie ihn Hume sich vorgestellt hatte. Sie sind, was sie sind, aufgrund ihres persönlichen moralischen Charakters. Manche, wie die Neger in Amerika, vermögen ihm nicht zu entrinnen, und tragen eine andauernde Bürde der Minderwertigkeit; andere, wie die germanischen Völker oder die intellektuellen Hofjuden, erheben sich zu höheren und edleren Formen der Freiheit.
Immanuel Kant: Physischer und geistiger Charakter
Immanuel Kant, der Enkel eines Schotten und geistige Nachfahre Humes, veröffentlichte sein Werk »Von den verschiedenen Racen der Menschen« erstmals 1775. In dieser Abhandlung vertrat er wie Blumenbach die Auffassung, es gebe trotz der Verschiedenheit der »Racen« nur »eine einzige Naturgattung der Menschheit«, da alle »Racen« miteinander fruchtbare Kinder zu zeugen vermöchten. Im Unterschied zu Blumenbach sprach er aber lediglich von vier »Racen«: der Weißen, der »Negerrace«, der »hunnischen (mungalischen)« und der »hinduischen oder hindostanischen«. In seiner »Anthropologie vom pragmatischen Standpunkt« von 1798 unterzog er den persönlichen, geschlechtlichen, nationalen und moralischen Charakter des Menschen einer philosophischen Untersuchung, um sein inneres Wesen – das Lessing versuchsweise dramatisch erforscht hatte – von dessen äußeren Erscheinungsformen zu unterscheiden. Für Kant hatte der Ausdruck »Charakter« eine doppelte Bedeutung: »Insofern der Mensch der Welt der Sinne oder der Natur angehört, besitzt er einen physischen Charakter; als Vernunftwesen, das mit Freiheit begabt ist, besitzt er Charakter überhaupt.«
Es gibt also einen körperlichen Charakter, welcher der Sinneswahrnehmung zugänglich ist und einen geistigen Charakter. Zum physischen Charakter gehören das »Naturell«, die »Naturanlage« sowie das »Temperament« und die »Sinnesart«. Das Naturell geht auf das Gefühl der Lust und Unlust und lässt sich daran erkennen, wie ein Mensch durch etwas emotional berührt wird, während das Temperament mit dem »Begehrungsvermögen« und den »Triebfedern der Sinnlichkeit« zu tun hat. Aus physiologischer Sicht ist das Temperament Bestandteil der physischen Konstitution und ein dauernder Zustand, der mit dem Umlauf der Säfte zusammenhängt; aus psychologischer Sicht besteht es aus den Gefühls- und Willenskräften der Seele.
Die der Seele zugeordneten Temperamente (von denen er annahm, dass in ihnen »insgeheim« das Körperliche des Menschen mitwirke) schied Kant in solche des »Gefühls« und der »Tätigkeit« und brachte sie mit der Anspannung und Abspannung der Lebenskraft in Zusammenhang. Laut Kant gibt es – entsprechend den vier syllogistischen Figuren – nur vier unvermischte Temperamente: das sanguinische, melancholische, cholerische und phlegmatische, vier Typen, die auch Linné bei seiner systematischen Gliederung der Menschheit verwendete. Historisch gesehen stellt Kants Temperamentenlehre eine Weiterentwicklung der Säftelehre des Hippokrates und Galen dar und stützt sich insbesondere auf den Neuplatonismus der kabbalistischen Schriften des Mittelalters.
Die Temperamente des Gefühls werden von Kant in das sanguinische oder »leichtblütige« Temperament und das melancholische oder »schwerblütige« unterteilt. Die Temperamente der Tätigkeit in das cholerische oder »heißblütige« und das phlegmatische oder »kaltblütige«. Im sanguinischen wird die Empfindung »schnell und stark affiziert, dringt aber nicht tief ein«, im melancholischen ist sie »weniger auffallend, wurzelt sich aber tiefer ein«. Von den beiden Temperamenten der Tätigkeit, dem cholerischen und phlegmatischen, ist das erstere rasch, aber nicht anhaltend tätig, das letztere lässt sich nur langsam, aber dann anhaltend bewegen. Das phlegmatische Temperament oder die Kaltblütigkeit ist für den Philosophen am günstigsten. Da die Temperamente zueinander im Widerspruch stehen oder sich gegenseitig neutralisieren, kann es keine zusammengesetzten Temperamente geben. Der Frohsinn des Sanguinikers kann in Leichtsinn übergehen, der Tiefsinn des Melancholikers in Wahnsinn, der Hochsinn des Cholerikers in Starrsinn und der Kaltsinn des Phlegmatikers in Schwachsinn.
Das Temperament gehört zum Menschen als Naturwesen. Als solches ist er hauptsächlich passiv. Der moralische oder geistige Charakter hängt dagegen von dem ab, was er selbst aus sich macht, also von seinem Willen, jener Kraft, durch die er sich Prinzipien unterwirft, die seine Vernunft eingesehen hat. Charakter erlangt der Mensch, wenn er gleichsam durch einen heiligen Eid dem Instinkt abschwört und sich der Vernunft zuwendet. Dieser Übergang stellt so etwas wie den Beginn einer neuen Epoche dar. »Mit einem Worte: Wahrhaftigkeit im Inneren des Geständnisses vor sich selbst und zugleich Betragen gegen jeden Anderen, sich zur obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewusstseins eines Menschen, dass er einen Charakter hat … Kurz, das Vorhandensein eines Gewissens verleiht dem Menschen seinen Charakter, da es ihm die höchste Verpflichtung auferlegt, wahrhaftig zu sein, sowohl gegenüber sich selbst, als auch gegenüber anderen.«
Laut Hannaford ist Kants philosophische Analyse von Temperament und Charakter insofern für die Geschichte der Rassenidee bedeutsam, als sie eine völlig neue Vorstellung eingeführt habe: dass die Beurteilung dessen, was der Mensch in sich trage, zu seiner Charakterisierung gehöre und dass die Physiognomie etwas über das Innere des Menschen auszusagen vermöge.
Um diese Behauptung zu belegen, zitiert Hannaford eine Passage aus Kants »Anthropologie«, die aber bei genauerer Betrachtung das Gegenteil dessen besagt, was er behauptet: »Wenn eine Uhr ein gefälliges Gehäuse hat, so kann man daraus (sagt ein berühmter Uhrmacher) nicht mit Sicherheit urteilen, dass auch das Innere gut sei; ist das Gehäuse aber schlecht gearbeitet, so kann man mit ziemlicher Gewissheit schließen, dass auch das Innere nicht viel tauge; denn der Künstler wird doch ein fleißig und gut gearbeitetes Werk dadurch nicht in Misskredit bringen, dass er das Äußere desselben, welches die wenigste Arbeit kostet, vernachlässigt. – Aber nach der Analogie eines menschlichen Künstlers mit dem unerschöpflichen Schöpfer der Natur wäre es ungereimt auch hier zu schließen: dass er etwa einer guten Seele auch einen schönen Leib werde beigegeben haben, um den Menschen, den er schuf, bei andern Menschen zu empfehlen und in Aufnahme zu bringen, oder auch umgekehrt einen dem andern (durch das hic niger est, hunc tu Romane caveto [hier ist ein Neger, hüte dich Römer!]) abgeschreckt haben werde. Denn der Geschmack, der einen bloß subjektiven Grund des Wohlgefallens oder Missfallens eines Menschen an dem andern (nach ihrer Schönheit oder Hässlichkeit) enthält, kann der Weisheit, welche objektiv das Dasein derselben mit gewissen Naturbeschaffenheiten zum Zweck hat (den wir schlechterdings nicht einsehen können), nicht zur Richtschnur dienen, um diese zwei heterogenen Dinge als in einem und demselben Zweck vereinigt im Menschen anzunehmen.«
Vom schönen Gehäuse der Uhr lässt sich nach Kant also nicht auf eine ebenso schöne oder gute Beschaffenheit des Inneren schließen, von einem schlechten oder hässlichen Gehäuse jedoch mit ziemlicher Sicherheit auf ein schlechtes Inneres. Wenn schon bei künstlichen Gebilden die Schlüsse unsicher sind, werden sie bei den Werken der Natur oder Gottes ungereimt oder unzulässig: man darf nicht erwarten, dass Gott einer guten Seele auch eine schöne Hülle verleiht, oder einer hässlichen Seele eine hässliche Hülle. Denn der subjektive Geschmack, der nach Gefallen und Missfallen urteilt, darf der göttlichen Weisheit nicht zur Richtschnur dienen. Zwar gibt es eine »physiognomische Charakteristik«, die aber nach Kant nie eine Wissenschaft werden kann, »weil die Eigentümlichkeit der menschlichen Gestalt, die auf gewisse Neigungen oder Vermögen des angeschauten Subjekts hindeute«, nicht nach Begriffen verstanden werden könne, sondern nur »durch Abbildung oder Darstellung in der Anschauung« – was immer das auch heißen mag. Daher ist die Physiognomik, »die Kunst der Ausspähung des Innern des Menschen vermittels gewisser äußerer unwillkürlich gegebener Zeichen« laut Kant »ganz aus der Nachfrage gekommen« und von ihr nichts übrig geblieben, »als die Kunst der Cultur des Geschmacks und zwar nicht an Sachen, sondern an Sitten, Manieren und Gebräuchen«. Unter Physignomik oder dem, was von ihr übrig geblieben ist, versteht also Kant die Kunst, den ästhetischen oder moralischen Geschmack nicht an Sachen (physischen Gegenständen oder Menschen), sondern »an Sitten, Manieren und Gebräuchen« zu bilden, was wohl auf eine Art von ästhetischer Ethik hinausläuft, die von moralischen Beispielen in der Literatur (der Schilderung von Sitten, Manieren und Gebräuchen) eine günstige Auswirkung auf die ethische Geschmacks- und Charakterbildung erhofft.
Kant hat also nicht nur, wie Hannaford sagt, »gewisse Zweifel an den Ideen Johann Lavaters« geäußert, der behauptete, der Charakter könne aus den Gesichtszügen erschlossen werden, er hielt »die Kunst der Ausspähung des Inneren des Menschen vermittels äußerer Zeichen« schlicht für obsolet.
Wie verhält es sich mit Kants Ausführungen über den Nationalcharakter?
Unter »Volk« (populus) verstand Kant »die in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, insofern sie ein Ganzes ausmacht«. Unter »Nation« (gens) diejenige Menge oder auch den Teil derselben, der sich »durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt«. Jene, welche die Gesetze dieses »bürgerlichen Ganzen« missachten und sich »zusammenrotten«, bezeichnete er als »Pöbel« (vulgus). Da der Pöbel kein Interesse daran habe, zum bürgerlichen Ganzen zu gehören, schließe er sich selbst von der Staatsbürgerschaft aus. Abgesehen von diesem (selbst-)gewollten Ausschluss aus der Staatsbürgerschaft, entspreche, so Hannaford, Kants Idee der Nation jener von Aristoteles, Cicero und Machiavelli; sicherlich sei bei ihm die Nation noch nicht jene Einheit von Natur (Abstammung) und Staat, die sich später bei Autoren des 19. Jahrhunderts finde.
In seinen teilweise satirischen Ausführungen über Franzosen, Engländer und die übrigen europäischen Völker bestritt Kant Humes Auffassung, wenn jeder Angehörige einer Nation seinen besonderen Charakter anzunehmen beflissen sei (wie bei den Engländern), dann habe die Nation selbst keinen. Kant wandte bissig ein, »die Affektation eines Charakters sei gerade der allgemeine Charakter des Volkes«, dem Hume angehöre. Der Engländer ist laut Kant herablassend, arrogant und unfreundlich gegenüber Fremden, weil er glaubt, er genüge sich selbst in allen Dingen und könne es sich deshalb erlauben, gegenüber anderen abweisend zu sein. Den Franzosen dagegen zeichne seine Liebe zur Konversation und Höflichkeit, seine Lebendigkeit und sein Freiheitsgeist aus. »Auf diese Weise«, so Kant, »werden die zwei civilisiertesten Völker auf Erden, die gegen einander im Contrast des Charakters und vielleicht hauptsächlich darum mit einander in beständiger Fehde sind, England und Frankreich, auch ihrem angebornen Charakter nach, von dem der erworbene und künstliche nur die Folge ist, vielleicht die einzigen Völker sein, von denen man einen bestimmten und, solange sie nicht durch Kriegsgewalt vermischt werden, unveränderlichen Charakter annehmen kann.« England und Frankreich sind also nicht nur die »civilisiertesten Nationen«, sondern »vielleicht« auch die einzigen, von denen man einen »bestimmten, unveränderlichen Charakter« annehmen kann, solange sie sich nicht durch Kriege vermischen. Nur zwei Völker besitzen demnach einen angeborenen und unveränderlichen Charakter, und auch dieser wird sich verändern, wenn sich diese Nationen vermischen. »Die angestammten und durch langen Gebrauch zur Natur gewordenen und auf sie gepfropften Maximen, welche die Sinnesart eines Volkes ausdrücken« sind laut Kant, »nur so viel gewagte Versuche, die Varietäten im natürlichen Hang der Völker mehr für den Geographen, empirisch, als für den Philosophen, nach Vernunftprincipien, zu erläutern.« In einer launigen Anmerkung schreibt Kant: »Die Türken, welche das christliche Europa Frankestan nennen, wenn sie auf Reisen gingen, um Menschen und ihren Volkscharakter kennen zu lernen (welches kein Volk außer dem europäischen thut und die Eingeschränktheit aller übrigen an Geist beweiset), würden die Eintheilung desselben, nach dem Fehlerhaften in ihrem Charakter gezeichnet, vielleicht auf folgende Art machen: 1. Das Modenland (Frankreich). – 2. Das Land der Launen (England). – 3. Ahnenland (Spanien). – 4. Prachtland (Italien). – 5. Das Titelland (Deutschland sammt Dänemark und Schweden, als germanischen Völkern). – 6. Herrenland (Polen), wo ein jeder Staatsbürger Herr, keiner dieser Herren aber außer dem, der nicht Staatsbürger ist, Unterthan sein will.« Den Charakter eines Volkes lässt Kant entgegen Hume nicht durch die »Regierungsart« bestimmt sein, denn die Frage sei, woher die Regierung selbst ihren eigentümlichen Charakter habe. Auch aus dem Klima oder dem Boden lasse sich der angestammte Charakter nicht erklären, da die Völker trotz Wanderungen ihren Charakter behielten. Die Charakterzeichnung der übrigen Völker, der Spanier, Italiener, Deutschen und Russen leitet Kant nicht aus der Art ihrer verschiedenen Kultur ab, sondern »aus der Anlage ihrer Natur, die aus der Vermischung ihrer ursprünglich verschiedenen Stämme [Hannaford schreibt »races«] hervorgegangen« sei. Kants Behauptungen, die Völker hielten ihren Charakter trotz Wanderungen bei und verlören ihn durch Vermischung oder Eroberung, stehen in einem gewissen Widerspruch zueinander. Das zeigen auch seine Bemerkungen über das englische Volk, dem er einerseits – wie dem französischen – einen angeborenen und unveränderlichen Charakter, andererseits gar keinen, oder nur einen erworbenen zuschreibt. Der alte Stamm der Briten (eines keltischen Volkes) sei ein »tüchtiger Menschenschlag« gewesen, aber die Einwanderungen der Deutschen und des französischen Völkerstammes hätten »die Originalität dieses Volkes verlöscht«. Daher habe das englische Volk einen »Charakter, den es sich selbst anschaffte, wenn es gleich von Natur eigentlich keinen hat. Mithin dürfte der Charakter des Engländers wohl nichts anderes bedeuten als den durch frühe Lehre und Beispiel erlernten Grundsatz, er müsse sich einen solchen machen, d.i. einen zu haben affektieren …« Diese Bemerkungen deuten darauf hin, dass er ähnlich wie Hume von einer Charakterbildung durch Kultur und Gewohnheit ausging. An anderer Stelle jedoch sagt er vom angeborenen, natürlichen Charakter, er liege »sozusagen in der Blutmischung der Menschen« und unterscheide sich vom erworbenen, künstlichen Charakter der Nationen. Seine Betrachtungen zu den Volkscharakteren schließt Kant mit der Bemerkung ab: »So viel ist wohl mit Wahrscheinlichkeit zu urteilen: dass die Vermischung der Stämme (bei großen Eroberungen) welche nach und nach die Charaktere auslöscht, dem Menschengeschlecht alles vorgeblichen Philantropismus ungeachtet nicht zuträglich sei.« In Hannafords Text steht anstelle von »Stämmen« »races« und anstelle von Menschengeschlecht »human race«.
Während in der Mischung der »Stämme« oder Völker die Natur auf Angleichung abzielt, besitzt sie laut Kant auch die Tendenz, die Angehörigen desselben Volkes, ja sogar derselben Familie körperlich und geistig unendlich zu vermannigfaltigen. Die Vermählung ungleicher Individuen belebe so die Fruchtbarkeit und bringe Abwechslung ins Leben. Kants Blick auf die Stämme und Völker akzeptiert einerseits die Tendenz der Natur, nach der Gleiches von Gleichem angezogen wird und doch bemerkt er auch ein anderes Gesetz, das dieser ständigen und fortschreitenden Annäherung an undifferenzierte Gleichheit entgegensteht.
An Kants Ausführungen über den Charakter der europäischen Nationen schließen sich solche über den Charakter der Rasse, des Menschengeschlechts. Als Angehöriger der Gattung besitzt der Mensch den Charakter, den er sich selbst gibt. Mit Vernunft begabt, erhält er sich selbst und seine Gattung durch Übung und Belehrung über das häusliche Regiment und die Regierung des Staates. Der Zweck der Menschengattung, den eine unerforschliche Weisheit in sie gepflanzt hat, ist »die Perfectionierung durch fortschreitende Cultur.« Den Menschen zeichnet seine technische Begabung für die Handhabung von Dingen aus, seine pragmatische Begabung, andere für seine Zwecke geschickt zu gebrauchen und seine moralische Anlage, in seinem Umgang mit sich selbst und anderen nach dem Freiheitsprinzip unter Gesetzen zu handeln. Diese Fähigkeiten – die technische, pragmatisch und moralische – unterscheiden den Menschen von den übrigen Bewohnern der Erde und sie begründen Fortschritt, – durch sie vervollkommnet sich die Menschheit von Generation zu Generation. Die höchste Stufe der Entwicklung des Menschen ist die moralische, wenn er sich selbst als dem Pflichtgesetz unterstellt erkennt und ein Bewusstsein seiner Freiheit erlangt.
Aber er muss zum Guten erzogen werden. Er muss sich selbst kultivieren, zivilisieren und sich durch Künste und Wissenschaften in das Gebiet der Moral erheben. Er muss gegen die Neigung ankämpfen, sich passiv der Bequemlichkeit und dem Wohlergehen hinzugeben. Und der wissenschaftliche Fortschritt der Gattung ist nie mehr als bruchstückhaft und es gibt keine Garantie gegen Rückschritte, von denen sie stets aufgrund wiederkehrender »staatsumwälzender Barbarei« bedroht ist.
Kant hielt Rousseaus Auffassung, die Menschheit sei durch die Zivilisation dekadent geworden, für pessimistisch, ohne dass Rousseau das von ihm aufgeworfene Problem gelöst hätte. Er glaubte nicht, Rousseau habe die Rückkehr in einen idyllischen Naturzustand angestrebt, sondern vielmehr den Versuch unternommen, einen Blick zurück zu werfen, um zu erkennen, was das an sich gute Wesen des Menschen bei seinem Weg von der Natur in die Kultur korrumpiert hatte.
Kant verwarf Rousseaus Idee, der Mensch im Naturzustand sei edel gewesen und die Erziehung habe die Gattung beschädigt. Eine solche Sicht verhieß für die Zukunft nichts Gutes. Er meinte, die angeborene Neigung zum Bösen werde durch die Vernunft gezähmt, wenn auch nicht gänzlich beseitigt. Eine bürgerliche Verfassung erhöhe künstlich die Neigung zum Guten, aber selbst unter der Herrschaft des Gesetzes mache sich die tierische Natur bemerkbar und die Feindseligkeit drohe stets, auszubrechen. Allein die Erziehung könne den ständigen Fortschritt zum Guten garantieren. Die menschliche Gattung vermöge ihr eigenes Glück zu schmieden und solle dies auch tun, aber ob sie es auch tatsächlich tut, das kann allein die Erfahrung und die Geschichte zeigen. »Man kann also sagen: Der erste Charakter der Menschengattung ist das Vermögen als vernünftigen Wesens, sich für seine Person sowohl als für die Gesellschaft, worin ihn die Natur versetzt, einen Charakter überhaupt zu verschaffen; welches aber schon eine günstige Naturanlage und einen Hang zum Guten in ihm voraussetzt: weil das Böse (da es Widerstreit mit sich selbst bei sich führt und kein bleibendes Prinzip in sich selbst verstattet) eigentlich ohne Charakter ist.«
Vernunftbegabte Lebewesen erreichen ihre Bestimmung durch die allmähliche Entwicklung all ihrer Anlagen, so dass am Ende die Gattung, wenn auch nicht jedes einzelne Individuum, den Zweck der Natur erfüllt; vernunftlose Lebewesen erreichen ihre Bestimmung durch die Weisheit der Natur. Menschen sind vernunftbegabte Lebewesen, die – mögen sie auch schlecht sein – dennoch vielfältig begabt sind und eine Anlage zur Moral besitzen. Je mehr ihre Bildung voranschreitet, umso mehr schämen sie sich über das Unrecht, das der Egoismus bewirkt und werden dadurch geneigter, ihre privaten Bedürfnisse dem allgemeinen Wohl zu unterstellen.
Die moralische Veranlagung – die eingeborene Stimme der Vernunft – wirkt der Tendenz zum Egoismus und zum Bösen entgegen: mithin stellt die Menschengattung »eine aus dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschreiten unter Hindernissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen« dar, »wobei dann ihr Wollen im Allgemeinen gut, das Vollbringen aber dadurch erschwert ist, dass die Erreichung des Zwecks nicht von der freien Zusammenstimmung der Einzelnen, sondern nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist, erwartet werden kann.«
Kant betrachtete den Menschen sowohl in einem ethischen und moralischen, als auch einem physischen Kontext. Kritisch gegenüber Rousseaus Vorstellung des edlen Wilden und dessen Vertragstheorie der Gesellschaft, versuchte er die Politik als Aktivität zu begreifen, die sich aus den selbstgesetzten Zielen des Menschen ergibt. Angesichts der bestehenden Verhältnisse, in denen Macht, Gewalt, Anarchie, Despotismus und Barbarei nicht ignoriert werden konnten, sollte die Gattung nach einer höheren moralischen Ordnung streben. Von einer mit dem »Willen zur Macht« durchdrungenen Rasse oder einem »Rassenbewusstsein« ist bei Kant nichts zu bemerken.
Voltaire: Die Ambivalenz der Aufklärung
Dass ein Intellektueller aufgrund der von ihm vertretenen Theorie ein Rassist sein kann, ohne dadurch die Entwicklung von Vorurteilen in der Bevölkerung oder die tatsächliche Diskriminierung bestimmter Gruppen zu fördern, zeigt das Beispiel Voltaires (1694-1778). George M. Fredrickson kommt nach einer Durchsicht seiner verstreuten Äußerungen über Schwarze und Juden zum Urteil, Voltaire dürfe als »der erste konsequente moderne Rassist« bezeichnet werden (Fredrickson, Rassismus. Ein historischer Abriss, 2004, S. 64). Voltaires direkte Kontakte mit Schwarzen dürften äußerst begrenzt gewesen sein, falls es überhaupt welche gab und sein Antisemitismus mochte durch unerfreuliche Erfahrungen mit jüdischen Bankiers verursacht worden sein. Sein Toleranzideal hinderte ihn jedoch nicht daran, die Juden als das »abscheulichste Volk der Erde« zu bezeichnen. Zwar kritisierte er vor allem das Christentum, dem er äußerst feindselig gegenüberstand, und das Judentum als Religion vor allem wegen seiner Verbindungen zum Neuen Testament und zu der Religion, die aus ihm hervorgegangen war. Aber er vertrat auch die These, die Menschheit sei keine Einheit, sondern falle in unterschiedliche Arten, nämlich die Rassen auseinander, die sich getrennt entwickelt und ungleiche Fähigkeiten ausgebildet hätten, womit er den Titel des Buches von Gobineau, das von der »Ungleichheit der Menschenrassen« handelte, vorformulierte. Über die schwarze Rasse äußerte er sich äußerst abfällig und verächtlich. Voltaire stand nicht nur der jüdischen Religion, sondern auch den zeitgenössischen Juden äußerst ablehnend gegenüber. Fredrickson meint, er habe den säkularisierten rassischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts vorweggenommen, indem er den Juden eine Reihe unwandelbarer negativer Merkmale zuschrieb, allerdings waren die Fehler, die er den Juden zuschrieb, das Gegenteil dessen, was ihnen die späteren Antisemiten unterstellten. Sie verkörperten für ihn nicht etwa die Vernunft, sondern religiösen Fanatismus und Intoleranz.
Andererseits bereitete Voltaire mit seiner Kampagne für religiöse Toleranz und individuelle Freiheit die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert vor und stand der Sklaverei ablehnend gegenüber. Die Christen verurteilte er, weil sie die Sklaverei geduldet hatten. Seine Haupangriffe richtete er gegen die religiösen und weltlichen Autoritäten, gegen den Aberglauben und die Unvernunft. Insofern trug er auch dazu bei, eine Bewegung gegen die Sklaverei vorzubereiten, die sich auf die Vernunft stützte. Voltaire steht für die Ambivalenz des Rationalismus der Aufklärung, der zwar die Hierarchie, die auf Glauben und Vorurteilen beruhte, bekämpfte, aber gleichzeitig eine neue schuf, die sich auf Vernunft, Wissenschaft und Geschichte berief.