Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2013.
Die Entstehung der physischen Anthropologie: Von Bernier zu Blumenbach.
1619, so Hannaford, verkündete Descartes, der Kosmos sei ein Mechanismus – ein umfassendes System, das vom menschlichen Verstand mathematisch erklärt werden könne. Neben dem Werk des französischen Rationalisten markierten Francis Bacons umsichtige Versöhnung der Bibelexegese mit dem fortschreitenden Naturwissen, Isaac Newtons Gesetze der Ursachen und Wirkungen, und Thomas Hobbes radikale Kritik an der Metaphysik und Politik des Aristoteles den Beginn einer systematischen Untersuchung der Arten und Formen der Natur, die zunehmend logisch aus geographischen und klimatischen Bedingungen, aus Stufen der Rechtsentwicklung (»Rassen«) und Sprachen abgeleitet wurden.
Vorläufer Blumenbachs
Ein Jahr nach Lockes Essay über den menschlichen Verstand erschien das populäre Buch John Rays (1627-1705) »The Wisdom of God Manifested in the Works of Creation« (»Die Weisheit Gottes, wie sie sich in den Werken der Schöpfung zeigt«, 1691), auf das 1692 der »Miscellaneous Discourse Concerning the Dissolution and Changes of the World« folgte. Locke hatte Rays präzise Anwendung der aristotelischen Methode auf die Entdeckungen Francis Willughbys gepriesen, der in Europa und England botanische Untersuchungen durchgeführt hatte.
Diese erstmals 1673 erschienenen Untersuchungen hatten sich bis 1682 aus einer tabellarischen Darstellung von Gewächsen zu einer allgemeinen Geschichte – »Methodus Plantarum Nova« (1682) – der gesamten Pflanzen- und Tierwelt weiter entwickelt. Ray, der als »Vater der Naturgeschichte« betrachtet wird, war der erste, der Tiere mit Hilfe eines Kategoriensystems klassifizierte, das in der Natur gründete (nicht in übernatürlichen Ursachen). Sein Werk beeinflusste Georges-Louis Leclerc, den Grafen von Buffon, die Brüder Jussieu und den Baron von Cuvier.
Ein Jahrhundert später fasste Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840), der Vater der modernen »Haut-und-Knochen-Anthropologie«, diese Entwicklung zusammen und erwähnte mindestens zwölf Versuche, die Menschheit logisch konsequenter zu gliedern. Einer der ersten, der einen solchen Versuch unternahm, war François Bernier (1625-1688). Er hatte 1684 in seiner »Neuen Gliederung der Erde nach den verschiedenen Arten oder Rassen, die sie bewohnen« vier oder fünf solcher »Arten oder Rassen« auf Grundlage von Geographie, Hautfarbe und physischer Formen vorgeschlagen. Diese waren:
• Europa (ohne Lappland), Südasien, Nordafrika und Amerika: diese Weltteile bewohnten Menschen, die ein ähnliches Klima und ein ähnliches Aussehen gemeinsam hatten;
• Afrika im engeren Sinn: Menschen mit dicken Lippen, flachen Nasen, schwarzer Haut und schütterem Bartwuchs;
• Asien im engeren Sinn: Menschen mit weißer Haut, breiten Schultern, flachen Gesichtern, kleinen Augen und keinem Bartwuchs;
• Lappen: hässliche, gedrungene, kleine, tierähnliche Menschen.
Blumenbach würdigte auch die Vorarbeiten des schwedischen Naturforschers und Professors für Botanik in Uppsala, Carolus Linnaeus (Carl von Linné, 1707-1778), der sich einer äußerst strengen Systematik beflissen hatte. Obwohl gläubiger Christ, zweifelte er an der biblischen Erzählung über die Aufteilung der Welt unter die Söhne Noahs (Sem, Ham und Japhet). Sein Interesse an der Natur und seine Untersuchungen über die Gewohnheiten und Gebräuche der Lappen führten ihn in seiner ersten Ausgabe des »Systema Naturae« (1735), den Vorstellungen gemäß, die Locke formuliert hatte, zur Anwendung der aristotelischen Begriffe von Gattung und Art. Er arbeitete ein System aus, in dem Klassen, Gattungen und Arten als Werkzeuge verwendet wurden, um eine allumfassende Ordnung der Primaten zu postulieren, in die der Mensch eingefügt werden konnte. Dieser musste also nicht mehr aus dem Tierreich ausgeschlossen und nach nicht-naturwissenschaftlichen, moralischen Prinzipien betrachtet werden, sondern gehörte nun zur Ordnung der Natur. Linné gliederte die Menschheit wie folgt:
• Homo ferus: läuft auf allen vieren, kann nicht sprechen, von Fell bedeckt;
• Europaeus albus: erfinderisch, weiß, sanguinisch, von Gesetzen regiert;
• Americanus rubescus: zufrieden mit seinem Los, freiheitsliebend, dunkel und leicht erregbar, von Gewohnheiten beherrscht;
• Asiaticus luridus: gelb, melancholisch, von Meinungen beherrscht;
• Afer niger: schlau, faul, sorglos, schwarz, von der Willkür seines Herrn beherrscht.
Auffallend an Linnés Einteilung ist die Stufung der Menschentypen nach Bewusstseinskategorien. Während der wilde Mensch (gemeint sind sog. Wolfskinder) völlig anomisch ist und außerhalb aller Dichotomien lebt, ordnet Linné die vier folgenden Kategorien nach aufklärerischen Entwicklungsvorstellungen: zuoberst stehen die von Gesetzen (von der aufgeklärten Vernunft) beherrschten Weißen, darauf folgen die von Gewohnheiten und Meinungen beherrschten Asiaten und Amerikaner, schließlich die völlig fremdbeherrschten Schwarzen.
Blumenbach hieß die Einteilung Linnés in den weißen Europäer, den roten Amerikaner, den gelben Asiaten und den schwarzen Neger gut, meinte aber, seine Auffassung sei logisch inkonsistent, wenn er den Menschen in der Natur neben dem Lemuren und der Fledermaus anordne und ihn als einen direkten Verwandten des Affen bezeichne.
Die Gliederung Goerges-Louis Leclercs, des Grafen von Buffon (1708-1788) sagte Blumenbach mehr zu. Auch dieser hatte die Menschheit nach physiologischen Kriterien in sechs Gruppen eingeteilt:
• Polare Lappen
• Tataren
• Südasiaten
• Europäer
• Äthiopier
• Amerikaner
Auch wenn Buffons Ansichten sich im Lauf der Zeit änderten, glaubte er nicht an die Unveränderlichkeit der Arten und strebte weniger nach Klassifikation, als nach einer genauen Untersuchung von Einzelheiten. Die Variationen der Menschheit hingen seiner Ansicht nach von klimatischen und geographischen Faktoren und der Ernährung ab. Aber auch der Sprache maß er eine gewisse Bedeutung zu. Er versuchte, die Naturforschung von metaphysischen und religiösen Ideen zu befreien, und während er wie Linné der aristotelischen Methode folgte, lehnte er dessen Versuch ab, die Natur in ein einziges System der Klassifikation zu bringen, weil die Wissenschaft es seiner Ansicht nach aufgrund der unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nicht mit Gewissheit, sondern nur mit Wahrscheinlichkeit zu tun habe.
Buffon widmete sich mehr der Beschreibung individueller Gegenstände und der Unterscheidung zwischen Worten und Dingen, als Linné. Daher war seine Arbeit auch nicht so präzise und methodisch exakt und er hielt auch nicht an der Identität physischer und geistiger Eigenschaften fest, die Linné behauptet hatte.
Buffons Zurückhaltung könnte durch die bitteren methodischen Auseinandersetzungen bedingt gewesen sein, denen er begegnete, als er Stephen Hales »Vegetable Statistics« (1727) 1735 ins Französische übersetzte und Newtons »Method of Fluxion« las, in dem dieser die Erfindung der Wahrscheinlichkeitsrechnung durch Leibniz bestritt. Möglicherweise hing sie auch mit dem überwältigenden Erfolg der drei ersten Bände seines Werkes »Histoire naturelle, générale et particulière« zusammen, die er ein Jahr nach Montesquieus Werk über die Rassen als Stufen der Gesetzesentwicklung veröffentlicht hatte. Dieses Werk deckte ein weites Gebiet ab und wuchs später auf 44 Bände an, die Minerale, Vögel, Epochen, Reptilien, Fische, Schalentiere und den Menschen behandelten. Buffon trennte darin ebenso wie Blumenbach den Menschen von den Affen und zwar wegen seiner artikulierten Sprache, auf der auch die Unterscheidung Lockes zwischen Tier und Mensch beruhte. Für Buffon war der Mensch ein Vernunftwesen und die Unterschiede zwischen Mensch und Mensch durch das Klima oder die Lebensweise erklärbar. Diese Unterscheidung zwischen Sprache und Umwelt, die durch Locke, Bernier, Buffon, Montesquieu und Linné eingeführt wurde, beschäftigte Blumenbach und spätere Anthropologen und Philologen sehr.
Blumenbachs fünf Varietäten
Blumenbach schrieb das Verdienst, die ersten Schädeluntersuchungen vorgenommen zu haben, dem Gouverneur von Virginia, Nathaniel Powell (gest. 1662) zu (»A New Collection of Voyages« 1767). In diesem Werk trug Powell eine Dreiteilung vor, die auf den drei Söhnen Noahs beruhte, die man allgemein als Urväter dreier Hauptgruppen oder Völker der Menschheit betrachtete (Semiten, Hamiten und Japhetiten). Als er zehn Jahre alt war, wurde Blumenbach an der Universität von Gotha, an der sein Vater Professor war, in die Schädelforschung eingeführt. In Göttingen lernte er das Werk des Schweizer Anatomen und Botanikers Albrecht von Haller (1708-1777) kennen, der dort 1736 den Lehrstuhl für Medizin erhalten hatte. Blumenbach konzentrierte sich auf die Ausarbeitung einer definitiven Beschreibung der Varietäten der Menschheit, die auf einer strikten Anwendung der aristotelischen Methode fußte, wie sie von Locke, Linné und Buffon aufgefasst worden war. Seine Leitidee war die Einheit der menschlichen Art. 1775 veröffentlichte er »De Generis Humani Varietate Natura«, durch das er zum »Vater der physischen Anthropologie« wurde.
In der ersten Auflage des Buches verwendete Blumenbach den traditionellen Ausdruck »varietas« (»Varietät«, Benennung einer Spielart, eines geringen Unterschiedes), um die »wunderbare Verschiedenartigkeit« der Menschheit zu bezeichnen. Ab der dritten Auflage 1795 traten an dessen Stelle, wenn auch nicht gänzlich, die Ausdrücke »gens« und »gentilium«, die Eric Voegelin als Äquivalente für »Rasse« und »rassisch« betrachtete. Eric Voegelin vertrat jedoch die entschiedene Auffassung, Blumenbach habe den Ausdruck »varietas« nur auf physische und nicht auf seelische oder charakterliche Eigenschaften des Menschen angewandt. Blumenbachs Schilderungen entsprechen insofern mehr den antiken humoralen Beschreibungen der »auswärtigen Völker« und weniger den späteren präzisen psychologischen Charakterisierungen. Er sprach im alten Stil davon, dass Völker einen bestimmten Charakter hätten (die Deutschen sind überorganisiert, die Engländer unterorganisiert …), und ordnete ihnen nicht wie spätere Autoren genau umrissene Eigenschaften zu, die auf einer begrifflichen Analyse ihrer »Persönlichkeit« beruhten. Unter Blumenbachs »facies gentilitia« sollte laut Hannaford nicht mehr verstanden werden, als die plastische Ausformung dessen, was Voegelin als »rassischen Gesichtstypus« bezeichnet.
Hannaford meint, Voegelins Zurückhaltung erinnere daran, dass man nicht die Erweiterung einer biologischen Kategorie zu einer geistigen oder historischen voraussetzen dürfe, bevor diese Erweiterung tatsächlich vollzogen worden sei. Man solle ebenfalls nicht unterstellen, Montesquieu, Blumenbach, Buffon und Linné hätten sich vom physischen und geistigen Erbe des Mittelalters gänzlich befreit oder ihre Überlegungen zu physiologischen und anatomischen Daten hätten notwendigerweise eine rassistische Verwendung vorherbestimmt.
In der ersten Auflage seines Buches schlug Blumenbach vier Varietäten der menschlichen Art vor – die Einwohner Europas, Asiens, Afrikas und jenes Teiles von Amerika, der Europa am nächsten lag. Auch wenn er Unterschiede der Hautfarbe notierte, stützte er seine Klassifikation hauptsächlich auf die Schädelformen. Er nutzte seine Sammlung von 82 Schädeln, um Gesichtswinkel zu ermitteln und legte grundlegende Regeln einer solchen Untersuchung fest. Nach weiteren Forschungen zu Amerika und Asien meinte er, es entspreche mehr den Gegebenheiten der Natur, wenn fünf Varietäten unterschieden würden. Er betonte, diese Varietäten seien keine festgelegten, unveränderlichen Formen, sondern seien offen für Revisionen. Diese fünf Varietäten waren die folgenden:
1. Die umfassendste, ursprüngliche Varietät: Dieser ordnete Blumenbach die gesamte Bevölkerung Europas einschließlich der Lappen zu, die er aufgrund ihrer Erscheinung und Sprache, die finnischen Ursprungs zu sein schien, nicht von den Europäern trennen wollte. Diese Varietät schloss die Menschen Westasiens diesseits des Obi ein, jene am Kaspischen Meer, am Taurusgebirge und am Ganges, ebenso Nordafrika, Grönland und die Eskimos, die er von den übrigen Einwohnern Amerikas unterschied und auf die Finnen zurückführte.
2. Das restliche Asien: Hierzu gehörten die Menschen, die jenseits des Ganges, jenseits des Kaspischen Meeres und des Obi Richtung Novaja Semlja lebten. Diese Menschen hatten bräunliche, fast olivfarbene Haut, strenge Gesichter, schmale Augenlider und spärliche Behaarung. Blumenbach unterschied zwei Untervarietäten:
• eine nördliche: Die Völker Chinas, Koreas, Tonkings, Pegus, Siams und Avas, die einsilbige Sprachen, Verderbtheit und Gemeinheit des Geistes und der Sitten gemeinsam hätten;
• eine südliche: Die Ostjaken, Sibirier, Tungusen, Mandschus, Tataren, Kalmücken und Japaner.
3. Afrika: Die Bewohner dieses Kontinents seien schwarz, muskulös und besäßen einen hervortretenden Oberkiefer, aufgeworfene Lippen, Stupsnasen und schwarzes Kraushaar.
4. Das restliche Amerika: Die Bewohner seien kupferfarben, eher dünn und besäßen spärliche Behaarung.
5. Die südliche neue Welt: Die Bevölkerung der Sundainseln, der Molukken, der Philippinen und des pazifischen Archipels, bestehend aus Otaheita, Neuseeländern, den Bewohnern der Freundschafts-, Osterinseln und Marquesas, die zierlich seien und von milder Veranlagung, sowie den Neukaledonen, Tanna und Neuhebriden, die schwärzer seien und eher krauses Haar besäßen, dazu misstrauisch und wild seien.
Erst in der dritten Auflage 1795 reflektierte Blumenbach über die Geschichte dieses Versuches einer Einteilung der Menschheit. Er anerkannte die ursprünglichen Beiträge von Bernier, Leibniz (der das Wort »Rasse« in die deutsche Sprache eingeführt habe), Buffon und Powell. Nun präsentierte er eine überarbeitete Version der fünf Hauptvarietäten und führte den Namen »kaukasisch« ein, den er von jenen Menschen ableitete, die an den südlichen Hängen des Kaukasus in Georgien lebten (damit prägte Blumenbach einen Begriff, der bis heute weltweit von Einwanderungsbehörden benutzt wird):
• kaukasisch (erstmals 1781 beschrieben)
• mongolisch (in der Ausgabe 1781 als asiatisch bezeichnet)
• äthiopisch
• amerikanisch
• malaiisch
Die kaukasische Varietät war für Blumenbach wegen der Übereinstimmung der Schädel- und Körperform mit einem mittleren ursprünglichen Typus die schönste und ursprünglichste. Auf beiden Seiten dieser Mitte gab es Extreme – die Mongolen und Äthiopier und andere ursprüngliche Europäer, die westlich des Ganges bis nach Grönland und Nordamerika hinauf lebten. Der Amerikaner war für ihn der Übergang des Kaukasiers zum Mongolen und der Malaie der Übergang vom Kaukasier zum Äthiopier. Beide nahmen eine untergeordnete Stellung ein.
Erneut betonte Blumenbach, diese Klassifikationen hätten unscharfe Ränder und seien nicht fest und unveränderlich. In seiner Einleitung setzte er sich deutlich von der Auffassung ab, die drei Naturreiche seien wie Stufen einer Leiter oder Glieder in einer Kette angeordnet. Diese Sicht der »Großen Kette der Wesen«, die Arthur Lovejoy als heilige Formel des 18. Jahrhunderts bezeichnete, die dem ebenso heiligen Wort »Evolution« des 19. Jahrhunderts entsprochen habe, hielt Blumenbach nicht länger für gültig.
Um zu dieser Klassifikation der menschlichen Varietäten zu gelangen, musste Blumenbach sich mit verschiedenen Problemen auseinandersetzen, unter anderem der Frage nach der Existenz von »Monstern« (Fabelwesen mittelalterlicher Bestiarien), der Beziehung zwischen dem Wilden und dem Menschen, zwischen Mensch und Affe, zwischen natürlichen und verborgenen Ursachen und zwischen physischen Beweisen und linguistischen Ähnlichkeiten. Die erste Auflage seines Buches eröffnete er mit der Grundfrage, die Linné offen gelassen hatte: gehören und gehörten die Menschen aller Zeiten und jeder Varietät ein und derselben oder vielleicht unterschiedlichen Arten an?
Blumenbach verwarf die abstoßenden Geschichten Plutarchs und Vergils über den sexuellen Verkehr indischer Frauen mit Affen und hielt auch die Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen geistigen Begabungen der Wilden für vollkommen irregeleitet. Jeder, der auch nur ein Mindestmaß an Kenntnissen über geistige Begabungen und Körperbau besitze, könne erkennen, wie groß die Unterschiede zwischen Mensch und Tier seien, ohne auf die Bibel, die Physikotheologie oder geheime Ursachen zurückgreifen zu müssen.
Was war es also, das den Menschen vom Tier unterschied? Blumenbach glaubte, der Mensch sei arm an Instinkten – angeborenen Fähigkeiten, die ihn vor äußeren Verletzungen schützten und ihm bei der Futtersuche halfen. Der Mensch werde nackt geboren, hänge von der Gesellschaft und Erziehung ab und eigne sich langsam die Vernunft an. Tiere verließen die Gesellschaft ihrer Artgenossen nicht aus Vernunftgründen. Was den Menschen auszeichne, sei die Sprache: aus ihm spreche die Stimme der Vernunft und nicht die des Instinkts. Und was ihm erlaube, das Tierreich zu verlassen und das Menschenreich zu betreten, sei ebendiese Sprache. Seine Auffassung belegte er durch medizinische und anatomische Untersuchungen über den Kehlkopf und den Gaumen von Affen und Pygmäen. Seine Untersuchung des Gehirns eines Mandril hatte ihn davon überzeugt, dass der Orang Utan nicht eng mit dem Menschen verwandt war. Aufgrund dieser Beweise verwarf er die Ansicht Linnés, der Mensch sei vom Affen nicht unterscheidbar. Im Gegenteil, schon ein oberflächlicher Blick mache deutlich, wie sehr er sich von allen übrigen Tieren unterscheide; man bedürfe keiner Analyse anhand eines bestimmten Kriteriums. Tatsächlich habe die höchste Macht den menschlichen Körper nicht mit bestimmten, bleibenden Fähigkeiten ausgestattet, weil der edelste Teil des Menschen, seine Vernunft, die Fähigkeiten aller übrigen Tiere in den Schatten stelle und den Menschen zum Meisterwerk der Natur mache.
Blumenbach untersuchte auch die Berichte über sogenannte wilde Menschen, von denen angenommen wurde, sie seien halbe Tiere – den hessischen Jungen, das Zeller Mädchen, das Mädchen aus der Champagne und Peter Hamlin – und wies nach, dass es sich um menschliche Wesen handelte. Ihre Zähne unterschieden sich von tierischen, sie konnten lachen und die weiblichen besaßen eine Jungfernhaut und hatten Menstruationen. Blumenbachs akribische Untersuchung von Haaren, Brüsten, Beschneidungen, Hoden, Zähnen, deformierten Ohren, Penissen und Nägeln zeigten, dass alle Behauptungen, die Menschen gehörten mehr als einer Art an, meist auf Beweisen beruhten, die Hautkrankheiten und Albinismus mit Eigenschaften der Art verwechselten. Die Monster, Menschen mit Schwänzen, Pygmäen und Riesen gehörten seiner Auffassung nach ins Reich der Fabeln.
In der dritten Auflage seines Buches griff Blumenbach auch Lord Monboddo (James Burnett) an, der in seinem Buch »Ancient Metaphysics« (1779-1799) und in »The Origins and Progress of Language« (1773) einen natürlichen Übergang vom Tier zum Menschen behauptet und den Menschen derselben Art wie den Orang Utan zugeordnet hatte. Er forderte die konsistente Anwendung der Linnéschen und Newtonschen Methodologie, die von den ernstzunehmenden Berichten von Herodot und Hippokrates sowie seiner eigenen Schädelsammlung unterstützt werde, die alle signifikante Unterschiede zwischen Mensch und Affe erkennen ließen. Wo es Zweifel über die Einteilung der Arten und Gattungen gab, riet er zu extremer Vorsicht und empfahl zwei Regeln Newtons: 1. dass dieselben Ursachen für dieselben natürlichen Wirkungen verantwortlich seien, 2. dass wir nicht ohne zwingenden Grund mehr Ursachen der natürlichen Vorgänge annehmen sollten, als nötig sind, die Phänomene zu erklären. »Wir müssen daher die körperliche Verschiedenheit der Menschenrassen auf dieselben Ursachen zurückführen, auf die wir auch die Unterschiede bei unseren Haustierrassen zurückführen, die über die ganze Welt verteilt sind.«
Blumenbach ließ zwei Fragen offen: das Problem der Schöpfung bzw. Entstehung und die biblische Dreiteilung der Welt, besonders das Problem Hams, des »Negers«. Der Ausdruck »Neger« wurde laut Hannaford zuerst im 16. Jahrhundert von den Spaniern und Portugiesen in einem nichtpejorativen Sinn verwendet, um die Einwohner Afrikas zu bezeichnen. Purchas habe ihn ebenso verwendet, um die Äthiopier zu beschreiben. Erst im 18. Jahrhundert habe er eine pejorative Bedeutung angenommen und nunmehr eine physische oder geistige Minderwertigkeit bezeichnet bzw. die Abweichung von einem ästhetischen Standard. Blumenbach habe zu einer Zeit geschrieben, als die Neger und die amerikanischen Ureinwohner als halbe Tiere betrachtet wurden, deren physische Eigenschaften jenen der Europäer nicht unterlegen waren, denen aber die Möglichkeit gefehlt habe, ihre Fähigkeiten zu entwickeln.
In der ersten Auflage seines Buches hatte Blumenbach behauptet, Unterschiede in Körperformen und Hautfarbe ließen sich auf das Klima zurückführen. Während er sich entschieden für die Anwendung der Linnéschen und Newtonschen Methodologie bei der Analyse des menschlichen Körpers einsetzte und die einzelnen Schädel, Knochen und Gewebe in seinem Besitz peinlich genau untersuchte, hielt er gleichzeitig an einer biologischen Theorie fest, die der Antike verpflichtet war. Er beschrieb den Körper mit hippokratischen und galenischen Begriffen und dachte, er bilde sich aus Feuchtigkeit und Nahrungsstoffen. Er beschäftigte sich nicht mit Physiognomie, da sie außerhalb seines Untersuchungsgebietes lag. Später sollten Kant, Nicolai und Franz Xaver Messerschmidt diesen vernachlässigten Aspekt aufgreifen und ihn in einer moderneren Form fortführen.
Blumenbach hielt die Ansicht, es gebe mehrere Menschenarten, von der angeblich in der Bibel die Rede war und die weit verbreitete Werke zu dieser Zeit vertraten, in denen unter anderem behauptet wurde, der Äthiopier gehöre einer anderen Menschenart an, für eine Folge willkürlicher Unterscheidungen. »Denn auch wenn es unter weit voneinander entfernten Nationen wie den Bewohnern des Kaps der Guten Hoffnung, den Grönländern und den Tscherkessen so große Unterschiede zu geben scheint, dass man sie als unterschiedliche Menschenarten betrachten könnte, so wird man doch, wenn man sich ernsthaft mit der Frage befasst, erkennen, dass sie alle einander ähnlich sind und dass eine Varietät so gut zu jeder anderen passt, dass man zwischen ihnen keine klaren Grenzen ziehen kann.«
In einer genaueren Analyse des Negers, von dem manche meinten, er solle wegen seiner beschränkten geistigen Fähigkeiten und des deutlichen Farbunterschiedes unter dem Kaukasier und nicht neben ihm angeordnet werden, versicherte Blumenbach, seine Untersuchungen hätten keine körperliche Eigenschaft zutage gefördert, die ausschließlich dem Neger eigen sei und sich nicht auch bei anderen Völkern finde. Er verwarf ohne weitere Argumentation die Behauptung, die Neger stünden den Affen nahe. Selbst wenn man das klassische griechische Schönheitsideal zugrunde lege, das seine literarischen Kollegen so stark beschäftigte, werde schon die oberflächliche Beobachtung ebenso viele hässliche Europäer entdecken wie hässliche Neger. Blumenbach meinte, Neger seien von Natur aus sanftmütig, besäßen beachtliche Fähigkeiten des Rechnens und eine Begabung für Musik und seien den anderen Rassen nicht unterlegen. Aus seiner Sicht gingen alle Varietäten ineinander über und mussten auf dem Hintergrund der Art gesehen werden, die ein und dieselbe war.
Bei der Untersuchung möglicher Beweise für die Existenz unterschiedlicher Varietäten müssten drei verschiedene Regeln beachtet werden: 1. dass die menschliche Art einzigartig sei, 2. dass keine angebliche Tatsache ohne ein sie stützendes Dokument, das heißt, ohne anatomische Fakten, akzeptiert werden dürfe und 3. dass kein Naturwissenschaftler von einer Erklärung zu einer anderen übergehen dürfe, ohne die Zwischenbegriffe und Abstufungen zu beachten. Wo es Zweifel über die Vergleichbarkeit von Schädeln und Knochen gab, war Blumenbach überzeugt, dass sie in der Regel durch die striktere Beachtung der Newtonschen Methode beseitigt werden konnten und man nicht auf Beweise vom Hörensagen oder die Legende von Noah zurückgreifen musste.
Angesichts des nicht nachlassenden Interesses an willkürlichen Einteilungen der Menschheit setzte sich Blumenbach in der dritten Auflage seines Buches mit der Theorie auseinander, in der Dämmerung der Schöpfung sei kein Tier oder keine Pflanze geschaffen worden sei, sondern alles habe bereits in Form unentwickelter Keime bestanden. Diese Annahme hielt er für unseriös und postulierte stattdessen eine gewisse Kraft, den nisus formativus, die er nicht so sehr als Ursache betrachtete, denn als ewige und fortdauernde Wirkung, die a posteriori aus der Konstanz und Universalität der Phänomene erschlossen werden könne. Diese geheimnisvolle Kraft werde durch das Klima, die Lebensweise und hybride Fortpflanzung zur Tätigkeit angeregt. Diesen Bildungstrieb und seine Wirkungen beschrieb er in einer Reihe von Schriften näher. Der »nisus formativus« wurde im Werk Kants, Fichtes, Schellings und Goethes zu einer spezifischen Lebenskraft. Blumenbach führte den nisus formativus ein, nachdem er die Degeneration als mögliche Ursache für die körperliche Verschiedenheit der Menschen nach allen Seiten betrachtet und die Untersuchung der wirklichen Ursachen der Naturphänomene soweit vorangetrieben hatte, als die Newtonsche Methode es zuließ. Aus seiner Sicht sollte man die Pluralität der Spezies nicht behaupten, bevor nicht alle möglichen Variablen innerhalb der Idee der Einheit dieser Spezies und alle möglichen Ursachen der Degeneration gründlich untersucht worden waren.
Blumenbach zog als mögliche Gründe für die Degeneration der Art und die Farbunterschiede von Haut und Gesicht die Chemie, Gallensekrete und das Klima in Betracht. Er kritisierte außerdem die Arbeiten des holländischen Anatomen Petrus Camper (1722-89) über die Gesichtswinkel. Campers Abhandlung über die realen Unterschiede in den Gesichtszügen von Menschen unterschiedlicher Länder nutzte Gesichtswinkel, um die Schädel zu charakterisieren. Aber Blumenbachs »norma verticalis« maß den Schädel von dessen oberem Zentrum aus und beruhte auf einer vertikalen Skala. Blumenbach wandte gegen Camper ein, dieser habe bei seiner Fixierung auf die Form und die Gesichtswinkel nicht nur das Volumen des Schädels vernachlässigt, sondern auch den Geist und die Seele des Menschen. Blumenbach empfahl eine Untersuchung der Zähne, Brüste, Penisse, Hände, Füße und Gestalt nahe, um Unterschiede in einem breiten Spektrum von Variationen erkennen zu können. Er vertraute darauf, dass eine gründliche, umfassende vergleichende Untersuchung auch ohne Bezugnahme auf den »nisus formativus« Resultate erbringen werde, die geeignet seien, jede denkbare polygenistische Theorie – und damit die Behauptung, es gebe verschiedene Menschenarten – zu widerlegen.
1865 pries der englische Herausgeber der Werke Buffons und Sekretär der Akademie der Wissenschaften, M.P.J. Flourens, Blumenbach wegen seiner konsequenten Anwendung der Linnéschen Methode. Sein großer Beitrag in den ergebnislosen Debatten über die Ursprünge des Europäers, Juden, Negers und Wilden habe darin bestanden, auf gut dokumentierten Beweisen und dem Vermeiden extremer Urteile in einer Sphäre vermittelnder Begriffe und stufenweiser Abschattungen zu beharren. »Die menschliche Rasse hatte ihre ursprüngliche Einheit vergessen und Blumenbach stellte sie wieder her«, meinte Flourens.
Trotz seiner kategorischen Urteile über die Einheit der Art und seiner Auffassung, der Neger gehöre ganz und gar zur Menschheitsfamilie, wurden seine Schlussfolgerungen nicht von allen akzeptiert. K.F.H. Marx, dessen Erinnerungen an seinen Kollegen in Göttingen ebenfalls in der englischen Ausgabe Buffons erschienen, behauptete, Blumenbach habe die Vorstellung, Völker stünden auf unterschiedlichen Stufen der physischen und moralischen Entwicklung, nicht gänzlich zurückgewiesen. »Wie die Knochenstruktur des Schädels sich immer mehr der tierischen Form annähert, wenn unglückliche äußere Umstände und andere Faktoren der Ausbildung der höheren Fähigkeiten im Wege gestanden haben, konnte man in seiner Sammlung am Schädel des Kretins sehen, der – nicht ohne Hintergedanken –, neben dem Orang-Utan-Schädel lag, während nicht weit davon entfernt die wundervolle Schädelform einer weiblichen Georgierin die Aufmerksamkeit auf sich zog.«
Trotz Blumenbachs Beweisen aus der Untersuchung der Schädel für den Unterschied zwischen Tier und Mensch und für die Behauptung, es gebe keine Beziehung zwischen dem Neger und dem Orang Utan, blieben Zweifel an den subtilen Unterscheidungen seines Klassifikationssystems zurück. Während der letzten vierzig Jahre seines langen Lebens entstanden Kontroversen über Themen, die er ebenfalls behandelt hatte: die Degeneration, die Bildekraft, die Bedeutung der Sprache und des Milieus (Geographie, Klima, Bodenbeschaffenheit) und die Fähigkeit verschiedener Völker zur physischen, moralischen und politischen Vervollkommnung.