Nichts weniger als irrational. Zu Band 6 der kritischen Steiner-Ausgabe #2

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Das zweite Kapitel von Clements Einleitung zu Band 6 der kritischen Steinerausgabe, »Steiners Anthropologie in der neueren Forschung«, das unter anderem der Abrechnung mit Zander dient, kann hier kurz referiert werden. Clement bemängelt das Fehlen »kritischer« Literatur zu Steiners späteren Schaffensphasen, hält jedoch solche Titel wie Richard Geisens Anthroposophie und Gnostizismus (fälschlicherweise »Thomas« getauft) oder Klaus Bannachs Anthroposophie und Christentum wenigstens für brauchbar. Hartmut Traub wandte sich mit Philosophie und Anthroposophie aus der Perspektive der akademischen Forschung der Philosophie Steiners zu. Zanders Anthroposophie in Deutschland habe erstmals »Steiners Verhältnis zur theosophischen Bewegung« näher untersucht und zwischen einer »theosophischen und einer anthroposophischen Phase« unterschieden. Allerdings, dies sei hier angemerkt, war diese Unterscheidung lediglich formell, da er durch seine pauschale Ableitung der Anthroposophie aus der Theosophie diese Differenz faktisch negierte. Dies hat auch Clement festgestellt, denn er meint, die Frage, worin sich die erstere von letzterer unterscheide, sei von Zander nicht beantwortet worden, – was bei einem über tausend Seiten umfassenden Werk einigermaßen erstaunlich ist. Die neuere Esoterikforschung hat einige »präliminarische Studien« von Olav Hammer, Katharina Brandt und Egil Asprem zu Steiners Theosophie aufzuweisen (dazu weiter unten).

Schließlich kommt der Herausgeber auf die textkritische Auseinandersetzung mit Steiners Theosophie zu sprechen. Daniel Hartmann gab zum hundertjährigen Geburtstag des Werkes eine textkritische Edition heraus, die als »Meilenstein« gelten darf. Hartmann ließ allerdings in seinen Kommentaren eine »werkgenetische Kontextualisierung« vermissen. Diese Lücke versuchte Zander zu schließen. Seine Interpretation der Theosophie ignorierte jedoch die »stilistischen und inhaltlichen Besonderheiten« des Buches, Steiners »gedankliche Eigenleistungen« und dessen Zusammenhang mit seinen philosophischen Anschauungen. Zanders Hauptthesen fasst Clement in fünf Punkten zusammen: 1. Steiners Hinwendung zur Theosophie sei eine Konversion und ein Bruch mit allem früheren gewesen, 2. er habe sich die Inhalte der Theosophie erst während seiner theosophischen Zeit angeeignet, 3. seine »Leseerfahrungen« als Früchte eigener Forschung ausgegeben, 4. der restliche Inhalt dieses Werkes sei aus anderen »Quellen« geklaut und 5. das Buch entbehre jeglicher Systematik. Akademischerseits sei Zanders Werk »überwiegend positiv« rezipiert worden und gelte heute allgemein als »Standardwerk«, obwohl es von anthroposophischer Seite »massiv« kritisiert worden sei (Swassjan, Ravagli). In gewisser Weise konterkariert Clements eigene Kritik an Zander jedoch diese »überwiegend« positive Wertung. Ausführlich gewürdigt wird von ihm das Schriftchen Rudolf Steiner und die Anfänge der Theosophie von Robin Schmidt, das – obwohl von einem anthroposophischen Autor verfasst –, doch nicht apologetisch sei. Dessen gegen Zander aufgrund detaillierter historischer Untersuchungen formulierte Thesen: 1. Steiner habe die Theosophie nicht erst um die Jahrhundertwende kennengelernt, sondern sei bereits seit Mitte der 1880er Jahre mit ihr vertraut gewesen, 2. schon sein philosophisches Denken sei mystisch geprägt gewesen, daher könne weder von einem Bruch noch einer Konversion die Rede sein, 3. er habe bereits in den 1890er Jahren über einen eigenständigen Esoterikbegriff verfügt und in seiner theosophischen Zeit nach einer Synthese von »Mystik und Wissenschaft« gestrebt.

Als nennenswerte Beiträge der Esoterikforschung zu Steiner als Theosoph würdigt der Herausgeber die Arbeiten der bereits genannten Autoren. Olav Hammer und Katharina Brandt schrieben 2013 ein Kapitel für das Handbook of the Theosophical Current über ihn und Egil Asprem widmete ihm 2014 in seinem Buch The Problem of Disentchantement längere Ausführungen. Die These der beiden ersteren zu Steiners Entwicklungsgang übersetzt Clement leider falsch aus dem Englischen. Statt dass er »ängstlich darauf bedacht« gewesen sei, »die abendländisch-philosophischen Grundlagen seiner Werke hervorzuheben«, habe er laut Clements Eindeutschung »sein Werk nicht in einer Weise darstellen« wollen, »als speise es sich aus idealistischen und orientalischen Quellen«.[1] Allerdings hätten die beiden Autoren versäumt, die gegenseitige Befruchtung von Philosophie und Theosophie bei Steiner näher zu untersuchen. Seine Haltung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gegenüber der Theosophie werde von ihnen als Beispiel für eine »Rhetorik der Abgrenzung« charakterisiert, das in erster Linie der »Identitätsstiftung« diente. Dies ist allerdings auch eine diskurstheoretische Beobachtung, die sie der Notwendigkeit enthebt, auf inhaltliche Aspekt dieser »Abgrenzung« näher einzugehen. Als Schlüsselelement dieser »Rhetorik« heben Hammer und Brandt Steiners Bemühen hervor, seine weltgeschichtlichen, menschenkundlichen oder christologischen Anschauungen »als Resultate einer quasi-wissenschaftlichen, visionären Methode« hinzustellen, »die einem sorgfältig kontrollierten Erkenntnisprozess« entsprungen seien. Außerdem habe er die Eigenständigkeit dieser Methode gegenüber der Theosophie betont. Im Unterschied dazu waren es bei Asprem – ähnlich wie bei Schmidt – Steiners philosophische Interessen, die ihn zur Theosophie drängten. Laut Asprem verfolgte Steiner in seiner Theosophie die philosophischen Themen weiter, die ihn bereits vor der Jahrhundertwende beschäftigten (Freiheit, ontologischer Monismus). Aber auch er geht laut Clement nicht gründlicher auf die gegenseitige Befruchtung von Philosophie und Theosophie, Wissenschaft und Mystik bei Steiner ein. Aus einer Kombination von Schmidts und Asprems Kontinuitätsthesen gewinnt Clement den systematischen Gesichtspunkt für seine eigenen Untersuchungen.

Noch einmal kommt der Herausgeber im letzten Teil dieses Kapitels auf zwei Seiten auf Zanders Anthroposophie in Deutschland zu sprechen. Dieser habe die einzige kritische Analyse von Steiners Fragment Anthroposophie vorgelegt. Der darin entwickelte Begriff der Anthroposophie habe, so Zander, nichts mit der von Steiner nach 1914 entwickelten Weltanschauung zu tun. Dies gestehe auch der Herausgeber des Bandes Cornelius Bohlen zu. Das Fragment sei lediglich ein weiterer Versuch Steiners gewesen, sich gegen die Theosophie zu profilieren (also »Abgrenzungsrhetorik« zu betreiben). Nun weist Clement Zander auf den folgenden eineinhalb Seiten eine ganze Reihe von Irrtümern nach, die sich in dessen knapp zwei Seiten über das Fragment finden. Während Zander unter Berufung auf eine Aussage Steiners in GA 322 behauptet, Steiner selbst habe zugestanden, die »eigentliche Anthroposophie« erst später gegeben zu haben, findet Clement eine solche Aussage nirgends im betreffenden GA-Band. Im Gegenteil: er »erhebt den umgekehrten Anspruch« – die eigentliche Anthroposophie sei bereits in der diesem Buch vorangegangenen Vortragsreihe Anthroposophie (1909) umrissen worden und es sei ihm 1910 (im Fragment) nicht gelungen, diesen Umriss angemessen zu verschriftlichen. Auch Bohlen gestehe keineswegs zu, was Zander behaupte, vielmehr schreibe er, Steiner habe noch 1920/21 betont, das Fragment enthalte die Umrisse der »eigentlichen Anthroposophie«. Auch Zanders Verdikt über die mangelnde Originalität des Fragmentes hält Clement zufolge einer näheren inhaltlichen und stilistischen Analyse nicht stand. Zanders Hinweise auf dessen angebliche Quellen verliefen zudem im Sande. Clement meint hingegen: »Bei aller Fragmentarität scheint das Charakteristische anthroposophischer Gedankenentwicklung, mit dem Steiner sich substantiell über das theosophische Denken hinaus entwickelt hat … an verschiedenen Stellen des Fragmentes deutlich auf. Wer wissen möchte, wie Rudolf Steiner seine Anthroposophie von der Öffentlichkeit aufgefasst und verstanden wissen wollte, wird sich … an die Schrift von 1910 … zu halten haben«. »Es spricht … vieles dafür«, so Clements Fazit, »diese Schrift entgegen der Deutung Zanders als wichtigen Grundtext für das Verständnis des steinerschen Anthroposophiebegriffs anzusehen und sie in der Steinerforschung deutlich stärker heranzuziehen als bisher«.

Soweit der Überblick über die »neuere Forschung«. Wenden wir uns »Steiners Weg in die Theosophie« zu. Dieser Weg geht in Clements Einleitung von Blavatsky aus. Schon diese habe unter »Theosophie« ein (weitgehend verloren gegangenes) »mystisch-monistisches Verständnis des Seins und des Menschen« verstanden. Diese Interpretation des Begriffs war Ende des 19. Jahrhunderts keineswegs exotisch. Auch dem »etablierten akademischen Diskurs« sei diese Interpretation vertraut gewesen, was Otto Willmanns Geschichte des Idealismus zeige, die Steiner gelesen und geschätzt habe. Willmann subsumierte unter diesem Begriff eine Reihe von Weltanschauungen, die eine Aufhebung der Differenz zwischen menschlichem und göttlichem Geist für möglich hielten. Als »guter Katholik« grenzte er allerdings apologetisch eine verwerfliche pantheistische Form dieser Theosophie, die von der grundsätzlichen Identität des Menschen mit Gott ausgehe, von einer akzeptablen christlichen Form ab, die sich des unaufhebbaren Unterschiedes zwischen beiden bewusst sei. Während Blavatsky einen ontologischen Monismus propagierte, bestand Willmann auf der Dualität zwischen Schöpfer und Schöpfung. Auch für Steiner war laut Clement die Theosophie ein »Synonym« für eine Form des Monismus, »mit dem die traditionellen anthropomorphen und dualistischen Gottesvorstellungen der monotheistischen Volksreligionen nicht vereinbar waren«. Und hier folgt der bereits zitierte Satz: »In der steinerschen Theosophie sollte der freie, sich selbst verwirklichende Mensch die Rolle Gottes als Schöpfer der Wirklichkeit übernehmen und alle Gottesvorstellungen als in ein imaginäres Jenseits projektierte [müsste heißen: »projizierte«] Veräußerungen des eigenen schöpferischen Wesenskerns begreifen lernen«.

Die Theosophie Blavatskys wurzelte nach Clement weder in Böhmes mystischer Weltanschauung, noch im philosophischen Monismus, noch der orientalischen Mystik, noch in einer philosophia perennis, Strömungen, die ihr erst nachträglich zur Selbstlegitimation ihrer Ansprüche einverleibt wurden, sondern in den »Kulturströmungen des Mesmerismus und des Spiritualismus[2]«. Ersterer galt seinen Vertretern nicht nur als Therapieform, sondern auch als Methode der Bewusstseinserweiterung. Ende des 19. Jahrhunderts suchten laut Clement seine prominenten Befürworter Zeugnisse für die Existenz und Wirksamkeit des von ihnen postulierten magnetischen Fluidums in der Geistesgeschichte, z.B. bei Paracelsus, den Ägyptern, im Hinduismus oder in China. Hier begegne ein Vorbild jener »Traditionskonstruktionen«, deren sich später auch die Theosophen bedienten. [Diese Art von »Konstruktion« findet sich allerdings bereits in Joseph Ennemosers voluminösem Werk zur Geschichte des thierischen Magnetismus, das erstmals 1819 erschien. Überhaupt ist die »Konstruktion von Traditionen« eine der ältesten Methoden der Legitimation philosophischer oder theologischer Positionen, die letztlich im mythischen Bewusstsein wurzelt, das die jeweilige Gegenwart durch die Erzählung über ihre Herkunft begründet. Eines der ältesten schriftlichen Vorbilder dürfte die Thora sein]. Bedeutsamer für die Entstehung der Theosophie war jedoch nach Clement der »Spiritismus«, der seinen Inhalt aus der Kommunikation mit Verstorbenen schöpfte. Dieser lässt sich laut Clement weder als Scharlatanerie, noch als irrationale Gegenreaktion gegen Rationalismus und Aufklärung abtun, sondern muss als alle Gesellschaftsschichten durchdringender Versuch gewertet werden, den kulturellen Abgrund, der sich durch die Hegemonisierung des Aufklärungsprojektes zwischen »Wissenschaft« und »Esoterik« eröffnete, unter den Bedingungen eben dieser Hegemonie zu überbrücken. Mesmerismus und Spiritismus sind sonach – ebenso wie die »Esoterik« des 19. und 20. Jahrhunderts – als Ausdruck einer Sehnsucht aufzufassen, wissenschaftlich-kritisches Denken, Autonomie des Individuums und Spiritualität miteinander zu versöhnen. Das unversöhnte Abendland, das unter dem Verlust von Sinnstiftung litt, verlangte nach einer neuen Synthese von logos und sophia. Diese Sehnsucht zu erfüllen, war auch das erklärte Ziel der Theosophie. (Dieser Erklärungsversuch greift jedoch zu kurz, da es »Esoterik« im Sinne der Esoterikforschung bereits in der Renaissance – wenn nicht schon zur Zeit des Hellenismus – gab, Epochen, denen schwerlich ein Abgrund zwischen wissenschaftlicher Rationalität und Spiritualität unterstellt werden kann).

Auf einigen Seiten zeichnet Clement im Folgenden die Entwicklung der »modernen Theosophie« in Deutschland (und ihre Vorgeschichte) bis zu Steiners Beitritt zur Gesellschaft nach. Er würdigt Blavatskys Werke Isis Unveiled von 1877 und die Secret Doctrine von 1887 sowie Sinnetts Occult World (1881) und Esoteric Buddhism (1883). Während Blavatskys erstes Buch vor allem einer alternativen Erklärung der spiritistischen Phänomene aus dem Mesmerismus gewidmet war und westliche und östliche Traditionen ausgewogen zu Wort kommen ließ, setzte sich aufgrund der Verbindung der Theosophischen Gesellschaft mit dem Arya Samaj [fälschlicherweise als »Arya Samja« bezeichnet] Ende der 1870er Jahre der indische Einfluss durch, der in Sinnetts Büchern zum Ausdruck kam. Aber bereits in ihrem ersten Werk soll Blavatsky sich auf Meister oder »Mahatmas« als Quellen ihrer Einsichten berufen haben (der Ausdruck Mahatma kommt in Isis Unveiled aber, soweit ich sehe, überhaupt nicht vor). Deutlich tritt die orientalische Orientierung erst in Blavatskys zweitem Werk zutage, das sich als umfassender Kommentar zu den tibetischen »Dzyan-Strophen« ausgibt. Die Bevorzugung östlicher Weisheitstraditionen löste die erste Sezessionsbewegung in der Theosophischen Bewegung aus, da christlich orientierte Mitglieder wie Anna Kingsford, Edward Mailand und andere diese einseitige Ausrichtung in Frage stellten. Weitere Sezessionen kamen hinzu: die Abspaltung der amerikanischen Landesgesellschaft, die allerdings nicht wegen der mangelnden christlichen Orientierung erfolgte, sondern wegen des Anspruchs ihres Vorsitzenden seinerseits einen direkten Draht zu den Meistern zu haben, die Gründung der Quest Society durch G.R.S. Mead 1909, schließlich die Anthroposophische Gesellschaft 1912/13. Wie man sieht, greift Clement in seiner historischen Darstellung hier weit voraus.

Neben dem Konflikt über die Valenz unterschiedlicher spiritueller Traditionen spielte die Coulomb-Affäre, die im 1885 erschienenen »Hodgson-Report« der Society for Psychical Research aufgearbeitet wurde, bei der Entwicklung der Theosophischen Gesellschaft eine kritische Rolle. Seine vernichtenden Feststellungen veranlassten Blavatsky zur Flucht nach Europa. Clement konstruiert bei seiner Interpretation dieser Vorgänge einen Gegensatz zwischen Esoterik – vertreten durch Blavatsky – und wissenschaftlicher Forschung – vertreten durch Hodgson –, den später, wie er in einer Anmerkung ausführt, die Anthroposophische Gesellschaft beerbt habe. Bereits die Theosophen hätten sich gegen die Befunde des Hodgson-Berichts mit dem Argument zur Wehr gesetzt, hier trete eine materialistische, von okkulten Widersachern gesteuerte Wissenschaft gegen eine spirituelle Weltsicht an, die letzterer nichts als Verständnislosigkeit entgegenbringe. Kritische Reevaluationen des Hodgson-Berichts haben allerdings gezeigt, dass dieser keineswegs so wissenschaftlich war, wie er behauptete (Harrison 1986, 1997) 1986 veröffentlichte die Society for Psychical Research sogar einen Widerruf, in dem sie bekannte, Blavatsky sei von der Gesellschaft ein Jahrhundert zuvor zu Unrecht verurteilt worden. Die wissenschaftliche Gesellschaft benötigte zur Rehabilitation eines ihrer Opfer beinahe so lange wie der Vatikan. Die von ihm postulierte Haltung, so Clement, erschwere bis heute den sachlichen Dialog um die Bewertung der Texte Steiners. »Gewisse anthroposophische Kreise« nähmen selbst die »sachlichste Kritik als Ausdruck okkulter Gegnerschaft« wahr und deuteten sie mit Hilfe von »Verschwörungstheorien«. In solche Randbemerkungen fließen vermutlich die offenbar vorhandenen, persönlichen Traumatisierungen des Herausgebers der kritischen Edition durch anthroposophische Fundamentalisten ein, die es tatsächlich gibt (die Fundamentalisten, die Traumata unterstelle ich).

Nach dem Tod Blavatskys und Olcotts beerbten Annie Besant und Charles Webster Leadbeater die Gründer. Sie verfassten bereits in den 1890er Jahren sieben theosophische Handbücher, sowie eine Reihe weiterer Schriften, in welchen die Lehrinhalte der Gesellschaft thematisiert und popularisiert wurden. Beide behaupteten, die Erkenntnisse der Theosophie seien nicht ausschließlicher Besitz von »Meistern«, sondern jedem Menschen bei entsprechender Schulung seiner Erkenntnisfähigkeiten zugänglich. Aber diese Behauptung stellt gegenüber Blavatsky keineswegs eine Neuerung dar, die in der Isis Unveiled dieselbe Ansicht vertrat. Leadbeater wurden ungewöhnliche hellseherische Fähigkeiten zugeschrieben.

Der Blick schweift nun nach Deutschland, zu den unterschiedlichen, von Hübbe-Schleiden und Hartmann bereits in den 1880er und -90er Jahren begründeten theosophischen Gemeinschaften. 1900 waren die sieben erforderlichen Logen zur Gründung einer eigenständigen Landessektion vorhanden und im Zuge dieses Vorhabens wurde Steiner 1902 zum Generalsekretär der zu gründenden Sektion berufen. Sein schneller Aufstieg in der Theosophischen Gesellschaft ist laut Clement keineswegs verwunderlich, wenn man bedenkt, dass er bereits seit zwei Jahrzehnten mit ihren Lehrmeinungen und führenden Vertretern bestens vertraut war. Seine Kontakte, ja Freundschaften zu Theosophen reichten bis in die achtziger Jahre, in seine Wiener Zeit zurück. 1885 hatte er die »Standardwerke« von Sinnett und Mabel Collins rezipiert und empfahl sie sogar an Bekannte weiter. Aufgrund dieser Tatsachen, die Robin Schmidt in seiner Studie zusammentrug, muss laut Clement das von Zander geprägte Bild von Steiners »Weg in die Theosophie korrigiert werden«. Seine Hauptthese, dieser habe sich die Inhalte der Theosophie erst in den auf 1900 folgenden Jahren angeeignet, sei nicht länger haltbar. Damit ist aber das Fundament seines voluminösen Werkes nicht mehr haltbar, das geschrieben wurde, um eben diese These zu untermauern. Vielmehr sind Steiners Beitritt zur Gesellschaft und sein Aufstieg zum führenden Vertreter der Theosophie in Deutschland, ja Europa, »schlüssige Konsequenzen einer beinahe zwanzigjährigen Beschäftigung mit den Themen, Problemen und Vertretern der theosophischen Weltanschauung«. Zu Steiners theosophischen Bekannten und Freunden zählten der Gründer der Wiener Theosophischen Gesellschaft, Friedrich Eckstein, die Frauenrechtlerin Marie Lang, der Diplomat und Sekretär der Wiener Gesellschaft, Karl Graf zu Leiningen-Billigheim [fälschlich »Billheim« geschrieben] und andere. In einem Brief schrieb Steiner 1891 an Pauline Specht, er sei eine Zeit lang »fast besorgniserregend im mystischen Element geschwommen«. Aber von seinem »Untertauchen« in dieses Element zeugen laut Clement nicht nur biographische Dokumente, sondern mehr noch seine Schriften aus den 1880er und -90er Jahren, die deutlich machen, dass er sich bereits damals »denkerisch in einem ›mystischen Element‹ bewegte«, das sich jedoch »vorwiegend der Sprache des deutschen Idealismus bediente«. So brachte er in die Theosophische Gesellschaft nicht nur einen »mystikaffinen Idealismus«, sondern auch einen »ausgeprägten Esoterik-Begriff« mit und die Antwort auf die Frage, ob er statt wie bisher als »Mystiker im Gewand des Philosophen« nun als »Philosoph im Gewand des Mystikers« auftreten wolle, konnte ihm daher nicht allzu schwerfallen. Mit den Inhalten der Theosophie war er vertraut und ihrer Mystik stand er »grundsätzlich positiv« gegenüber, auch wenn er der Institution und der Art, wie sie zum Beispiel von Franz Hartmann öffentlich vertreten wurde, den er als Exponenten einer »sich selbst missverstehenden Esoterik« betrachtete, eine »tiefsitzende Skepsis« entgegenbrachte.

1900 bis 1902 fanden seine beiden ersten Vortragsreihen in der Theosophischen Bibliothek Berlin (1900 bis 1902) statt, die zur Veröffentlichung der Bücher Die Mystik im Aufgang … und Das Christentum als mystische Tatsache … führten. Das Christentum interpretierte Steiner in dieser Schrift laut Clement als Nachfolgebewegung der Mysterienkulte des Altertums und der Initiationsphilosophie des Neuplatonismus, während er in der Kirche eine Verfallsform dieser Traditionen sah, die die erstere bekämpfte.

Die Frage, vor der Steiner 1902 stand, war laut Clement die folgende: »War es möglich, die stark an orientalischen Vorbildern orientierte und von manchen Theosophen offenbar buchstäblich aufgefasste Begriffs- und Bilderwelt der theosophischen Weltanschauung mittels seines eigenen objektiven Idealismus und gemäß dem eigenen philosophisch geprägten Esoterik-Begriff so zu durchdringen und umzuwandeln, dass Theosophie nicht als unkritisch hinzunehmende Offenbarung, als unverifizierbare Erzählung von einem transzendenten Jenseits aufträte, sondern als Medium der Vermittlung spiritueller Selbsterfahrung und einer damit verbundenen Transformation der Erkenntnisfähigkeit, wie Steiner dies in seiner Philosophie der Freiheit ja mit abstrakten philosophischen Gedankengestalten bereits einmal versucht hatte«. Dies war aber keineswegs die Frage, vor der Steiner stand, sondern Clements Frage an die heutige Anthroposophie, die er in Steiner hineinprojiziert. Steiner stand nach eigener Aussage vielmehr vor der Frage: »Muss man verstummen?« Oder anders ausgedrückt: »Wie kann ein Weg gefunden werden, um das innerlich als wahr Geschaute in Ausdrucksformen zu bringen, die von dem Zeitalter verstanden werden können?« (Mein Lebensgang) »Niemand«, so Steiner im 25. Kapitel seiner Autobiografie, »niemand hätte mich verstanden, wenn ich gesagt hätte: dem, was am Menschen als Geist erscheint, und der Natur liegt etwas zugrunde, das weder Geist, noch Natur ist, sondern die vollkommene Einheit beider. Diese Einheit: schaffender Geist, der den Stoff in seinem Schaffen zum Dasein bringt und dadurch zugleich Stoff ist, der ganz als Geist sich darstellt: diese Einheit wird durch eine Idee begriffen, die den damaligen Denkgewohnheiten so fern wie möglich lag. Von einer solchen Idee aber hätte gesprochen werden müssen, wenn in geistgemäßer Anschauungsart die Urzustände der Erd- und Menschheitsentwickelung und die heute noch im Menschen selbst tätigen geist-stofflichen Mächte hätten dargestellt werden sollen, die auf der einen Seite seinen Körper bilden, auf der andern das lebendig Geistige aus sich hervorgehen lassen, durch das er die Kultur schafft. Die äußere Natur aber hätte so besprochen werden müssen, dass in ihr das ursprünglich Geist-Stoffliche als erstorben in den abstrakten Naturgesetzen sich darstellt.

Das alles konnte nicht gegeben werden«.

Clement hingegen glaubt, Steiner habe sich gefragt, was er sich selbst frägt: »Ließ sich die Theosophie so vermitteln, dass sie nicht als eine Art Ersatzreligion mit dogmatischem Wahrheitsanspruch auftrat, sondern als eine moderne, auf methodischer und kritischer Forschung beruhende Wissenschaft von der Selbsterkenntnis des Geistes im Menschen?« Darum bemüht sich der Herausgeber der kritischen Steinerausgabe, der Esoterikforscher Clement, der das Projekt einer philosophisch-kritischen Reformulierung der Anthroposophie verfolgt. Der von ihm konstruierte Gegensatz zwischen »buchstäblich aufgefasster Begriffs- und Bilderwelt«, »unkritisch hinzunehmender Offenbarung«, »unverifizierbarer Erzählung von einem transzendenten Jenseits« auf der einen Seite und »spiritueller Selbsterfahrung«, »Transformation der Erkenntnisfähigkeit« und »moderner, auf methodischer und kritischer Forschung beruhender Wissenschaft« auf der anderen ist zumindest ein Anachronismus.

Steiner entfaltete als Generalsekretär eine stupende Aktivität, die sich auf drei Gebiete konzentrierte: die Gründung einer autonomen Landessektion, die im Oktober 1902 erfolgte, eine umfassende Vortragstätigkeit innerhalb und außerhalb der Theosophischen Gesellschaft und die Herausgabe eines monatlichen Publikationsorgans (Luzifer bzw. Luzifer-Gnosis). In dieser Zeitschrift wurden ab 1903 grundlegende Aufsätze publiziert, die bereits die wesentlichen Inhalte der im Mai 1904 erscheinenden Theosophie enthielten; die »Theorie« der Wesensglieder und der Aura, Reinkarnation und Karma, die Darstellung des seelischen und geistigen Erlebens im leibfreien Zustand, die »Dreiweltenlehre« und den Schulungsweg. Bereits 1903 verfasste er außerdem den ausführlichen Entwurf einer theosophischen Kosmogonie (GA 89, Bewusstsein, Leben, Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie), in die eine Entwicklungsgeschichte der Menschheit und die Grundzüge seiner späteren Hierarchienlehre integriert waren. Die Theosophie enthielt diese drei Bestandteile jedoch nicht, sie wurden in die Geheimwissenschaft im Umriss ausgelagert. Die Gründe dafür hat Steiner in seiner Autobiografie erläutert.

Mit dem (dritten) Kapitel der Einleitung, »Inhalt und textuelle Entwicklung der Theosophie«, wird sich der dritte Teil dieser Rezension befassen.

Rudolf Steiner – Schriften – Kritische Ausgabe. Band 6: Schriften zur Anthropologie. Herausgegeben und kommentiert von Christian Clement. Mit einem Vorwort von Egil Asprem. Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, 423 S., 108 Euro

Erster Teil der Rezension | Fortsetzung –>

Zu Helmut Zander siehe auch die Webseite: zander-zitiert.de

Anmerkungen:

[1] Das englische Original lautet: »Although Rudolf Steiner remained anxious to represent his work as flowing from an idealistic and Occidental foundation …«. Was die Autoren bejahen, wird durch die Übersetzung verneint.

[2] Gemeint ist hier allerdings nicht der »Spiritualismus« als philosophische Strömung, die ontologisch den Geist gegenüber der Materie präferiert, sondern der »Spiritismus«.

 

Ein Kommentar

  1. Kommt man für Steiners Verhältnis zur theosophischen Bewegung aus ohne seine Darstellung (GA 35 usw.) zwei antithetischer Einweihungswege: mittelalterliche Mystik und neuzeitliche Alchemie (Ekstase, Okkultismus)? In Die Mystik (SKA 5) bildet Cusanus den Übergang zwischen diesen beiden Forschungswegen.
    Nach Grenzen der Naturerkenntnis (GA 322, vgl. GA 325) wurden beide Wege von Steiner erweitert mit einer inspirativen Kosmologie und – “anthropologisch oder eigentlich anthroposophisch“ (322.86 und 106, vgl. Zander Bd.I S.675) – mit einer imaginativen Organologie (GA 27) und Sinneslehre (SKA 6).
    Als Traumdeutung (Mystik, Vision) und Mediumismus (Hypnose, Somnambulismus, Parapsychologie) seien beide Richtungen moderne, aber unvollkommene Forschungsmethoden (Das Initiaten-Bewusstsein, GA 243).

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