Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.
3. Die Überwindung der Geistermächte
Ist nach Galater 6, 14 das Ende der alten Welt mit dem Tod Jesu eingeleitet, muss auch der erste Sieg über die widergöttlichen Engelmächte errungen sein, der schließlich mit dem Endsieg der Parusie vollendet werden wird.
Wie Paulus die Beziehung Christi zu den Engelmächten sah, ergibt sich aus folgenden Textstellen:
Philipper 2, 6-10
»Er, der in der Lichtgestalt eines Gottes existierte,
| ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων
hielt es nicht für sein Vorrecht,
| οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο
Gott gleich zu sein,
| τὸ εἶναι ἴσα θεῷ
sondern entäußerte sich selbst
| ἑαυτὸν ἐκένωσεν
und nahm die Gestalt eines Sklaven an,
| μορφὴν δούλου λαβών
er glich sich den Menschen an
| ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπων γενόμενος
und wurde wahrgenommen als ein Mensch.
| καὶ σχήματι εὑρεθεὶς ὡς ἄνθρωπος
Er erniedrigte sich selbst
| ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν
und ward gehorsam bis zum Tode,
| γενόμενος ὑπήκοος μέχρι θανάτου,
ja zum Tode am Kreuz …
| θανάτου δὲ σταυροῦ
Galater 4, 4
»Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste …«
I Korinther 2, 8
»Von der Weisheit (sophia) sprechen wir unter den Eingeweihten (teleiōis), nicht von der Weisheit dieses Äons oder der Engelmächte (archontōn) dieses Äons, sondern von der Weisheit Gottes, die im Mysterium verborgen war, die Gott vor aller Zeit zu unserer Erleuchtung (doxan) vorherbestimmt hat; jener Weisheit, die keine der Engelmächte dieses Äons gekannt hat, denn hätten sie sie gekannt, dann hätten sie den Herrn des himmlischen Lichtes (doxēs) nicht ans Kreuz geschlagen«.
• Indem der himmlische Christus in Menschengestalt erschien und sich unter die Herrschaft der Engelmächte und ihres Gesetzes begab
• erlitt er durch seinen Tod das übliche Geschick, das diese Mächte über jeden Menschen verhängen
• aber gerade durch seinen Tod wurde ein Schlag gegen die Engelmächte geführt
• sie begingen mit seiner Kreuzigung einen fatalen Fehler, zu dem sie sich nur deshalb verleiten ließen, weil sie nicht wussten, mit wem sie es zu tun hatten
• die Erscheinung des himmlischen Christus in Menschengestalt war eine Verhüllung seines eigentlichen Wesens, durch welche die Engelmächte überlistet wurden.
Engel und Dämonen sind in der hellenistischen Zeit und im frühen Christentum geistige Mächte, mit welchen als Realitäten gerechnet werden muss, als Planetenherrscher regieren sie den Kosmos und die sublunare Welt – im Guten, wie im Bösen.
Die Lehre von den Engeln und Dämonen spielt im gesamten nachapostolischen Christentum eine bedeutende Rolle. Für Ignatius ist sie der höhere, esoterische Teil der christlichen Gnosis (Trall, 5, 1. f). Athenagoras erklärt, zur christlichen Theologie gehöre nicht nur die Lehre von Gott, dem Vater, dem Logos-Sohn und dem Geist, sondern auch die Beschreibung der Engelwelt und ihrer Bedeutung (Suppl. 10). In den Thomasakten ist die Lehre von den Engeln ein Hauptstück der christlichen Predigt, neben dem Dogma von Gott, den Sakramenten und der Auferstehung (Acta Thomae, c. 36). Auch Origenes weist den Engeln eine herausragende Bedeutung zu und baut die Engellehre in systematisch aus (de princ. I, 5, 1 ff). In seiner Schrift gegen den Neuplatoniker Celsus (c. Cels. III, 37), rechnet er die Theorie über die Engelwelt zu den »tiefen, esoterischen und nur den Eingeweihten zugänglichen Lehren« (bathyteroi kai esoterikoi kai epoptikoi logoi).
In der Gnosis steht die Geisterwelt erst recht im Zentrum.
Das nachapostolische Christentum erhält vom Urchristentum und durch dieses vom apokalyptischen Spätjudentum weitschichtig ausgebautes engelkundliches Material. Auch im Hellenismus gibt es entsprechende Vorstellungen, hier kennt man nicht nur Dämonen, sondern auch theioi angeloi, göttliche Engel. Einer Klasse von Engeln wird besondere Aufmerksamkeit zuteil: den Verwaltungs- und Völkerengeln (5. Buch Mose 32, 7 f):
»Als Eljon (der Höchste) den Völkern Land zuteilte
und die Söhne Adams (hyious Adam) voneinander schied,
da setzte er die Grenzen der Völker
nach der Zahl der Söhne Eljons fest (Septuaginta: »der Söhne Gottes«, »angelōn theou«)
Denn der Anteil Jahwes ist sein Volk,
Jakob ist sein Erbe«.
Eusebius bezeichnet diese Kunde von den Völkerengeln als größtes Mysterium; auch Clemens Romanus, Irenäus, Origenes und Eusebius nehmen auf sie bezug.[1] Nähere Ausgestaltung erfährt sie mitunter durch Kombination mit den Göttersöhnen von Gen 6, 1 ff., die mit den menschlichen Frauen die Riesen (nach dem AT-Text) bzw. Dämonen zeugten (nach der Interpretation nachapostolischer Väter seit Justin). Auch die Auffassung Pauli vom Gesetz hängt nach Gal 4,3-5. 9 mit diesen Verwalterengeln zusammen, von denen man häufig annimmt, sie seien von Gott abgefallen. Noch Justin und andere sprechen davon, diese Engel hätten nach ihrem Abfall von Gott ihre Völker geknechtet und sie durch falsche Lehren über das Opferwesen und auf andere Art verführt, während Irenäus und Eusebius die Auffassung vertreten, das neue Gottesvolk stehe nicht mehr unter der Herrschaft der Völkerengel.
Das nachapostolische Christentum tendiert dazu, die paulinische Anschauung vom bereits erfolgten Sieg über die Engelmächte festzuhalten, aber die Begründung wird problematisch.
Paulus selber redet Gal 4 von den Engeln, denen das Judenvolk unter der Knechtschaft des Sinaigesetzes diene, als Verwaltern (epitropoi) und Vormündern (oikonomoi), womit er sich auf das 5. Buch Mose 32, 7 bezieht. Aber schon er ist der Auffassung, wie später auch Justin, diese Engel seien von Gott abgefallen. Bei Simon Magus, der sich auf Paulus beruft, sind die Verwaltungsengel mit den Gesetzgebungsengeln identisch.
Auch das Alte Testament kennt die Engel. Ihre Konjunktur erleben sie jedoch im Spätjudentum, in den apokalyptischen Schriften.
Die Lehre des Paulus von der Überwindung der Engelmächte durch den Tod des Messias Jesus findet sich selbstverständlich im Alten Testament nicht, ihre Voraussetzungen liegen in der henochischen Apokalyptik und in der Lehre und dem Schicksal Jesu.
Häufig wird angenommen, die Engelmächte hätten den Tod Christi am Kreuz herbeigeführt, seien damit jedoch einer List zum Opfer gefallen.
Bei den Synoptikern ist diese Vorstellung nur schwach ausgeprägt: Lukas spricht einmal davon, Satan sei in Judas gefahren, und habe ihn zum Verrat an Jesus veranlasst (Lk 4, 13; 22, 3). In der Apostelgeschichte fehlt jedoch diese Idee, hier sind stets die Juden und Römer für Verurteilung und Kreuzigung verantwortlich. Stärker ausgeprägt ist das Motiv im Johannes-Evangelium (Joh 6, 70; 13, 2. 27; 14, 30 – an den ersten Stellen ist Judas vom Diabolos bzw. Satanas besessen, an der letzten kommt der »Fürst [archōn] dieser Welt«). Im Anschluss an diese Stellen wird der Teufel oder der »Fürst dieser Welt« für den Tod Jesu verantwortlich gemacht. Andere wiederum lassen den Todesengel Thanatos als Mörder Jesu auftreten.
Paulus selbst redet in I Kor 2, 8 weder vom Teufel, noch vom Thanatos, sondern lässt den »Herrn des Himmelslichtes« von einer unbestimmten Anzahl von »Archonten« gekreuzigt werden. Justin spricht daher allgemein von »Dämonen« als den Anstiftern des Todes Jesu. Origenes, der Paulus mehrfach zitiert, identifiziert die Archonten richtig mit Engelmächten (de princ. III, 2, 1.). Die Vorstellung, der himmlische Christus habe die Engelmächte getäuscht, indem er die Gestalt eines Menschen annahm, begegnet häufig. Vertreten wird sie von den Gnostikern seit Simon Magus, man findet sie in der Himmelfahrt des Jesaias, bei Ignatius, Markion, Justinus, Irenäus, im Apostelbrief, den Sibyllinischen Orakeln, im Evangelium des Nikodemus II, den Thomasakten, bei Dionys von Alexandrien, Hegemonius, Epiphanius, Amphilochius oder Arnobius.
Manchmal wird auch die Jungfrauengeburt als List bezeichnet, durch die der himmlische Messias seine wahre Identität verhüllte: um das Geheimnis der Menschwerdung Christi vor den Engelmächten zu verbergen, musste dieser von einer bereits verlobten Jungfrau geboren werden. Auch in der Versuchung durch den Teufel verheimlichte er, dass er der Sohn Gottes war, schwieg im Verhör vor seinen Richtern und täuschte in Gethsemane Todesfurcht vor.
All diese Vorgänge werden im Sinne des Verhüllungsmotivs gedeutet.
Aber die evangelischen Berichte sind widersprüchlich: nachdem Jesus bei der Taufe durch die Stimme aus dem Himmel als Messias eingesetzt ist, macht sich Satan an ihn heran, aber da Jesus den Versuchungen standhält, erringt er schon hier, also nicht erst mit seinem Tod, einen Sieg über die böse Geistermacht und Satan hat seinerseits den Messias als solchen erkannt.
Diese Auffassung entspricht schon nicht mehr jener des Paulus, nach der die Engelwesen durch die menschliche Verhüllung Christi getäuscht wurden, diesen zu Tode brachten und gerade dadurch ihren Ruin als weltbeherrschende Mächte herbeiführten.
In der nachapostolischen Zeit lässt die Versuchungsgeschichte den Umgang mit der paulinischen Aussage I Kor, 2, 8 problematisch werden (»die Weisheit Gottes … die keiner von den Archonten dieser Welt erkannt hat«). Was Paulus über die Archonten sagt, dass keiner den Herrn der Herrlichkeit erkannte, und sie ihn deswegen gekreuzigt hätten, lässt sich nach der Versuchungsgeschichte nicht mehr auf die Geistermächte beziehen. Daher verstehen Tertullian, Cyprian und Lactanz unter diesen die weltlichen Herrscher.
Der Kern des Problems liegt im Gedanken, dass Jesus durch seinen Tod die Geistermächte überwunden habe. Auch Celsus kennt diese Auffassung im 2. Jahrhundert.
Origenes berichtet über eine Bemerkung des Celsus: »Wenn man die Christen frage, was sie zum Glauben an Jesus als den Sohn Gottes gebracht habe, so erhalte man die Antwort: Wir sind ihm zugefallen, weil wir wissen, dass seine Bestrafung zum Zweck der Vernichtung des Vaters der Schlechtigkeit geschehen ist«. Fällt jedoch die eschatologische Grunddeutung des Todes und der Auferstehung, dann wird unverständlich, warum gerade dem Tod eine katastrophale Wirkung auf die Geistermächte zugeschrieben werden soll.
Das zeigt schon die Konkurrenz mit der Versuchungsgeschichte. Diese Geschichte macht den bereits erfochtenen Sieg Jesu über Satan als das Ergebnis einer überlegen geführten geistigen Auseinandersetzung mit dem verführerischen Teufel begreiflich, in der Jesus seine eben empfangene übernatürliche Begabung mit dem göttlichen Geist bewährt. Damit ist der Sieg über Satan einleuchtend motiviert, aber um den Preis, dass diese ganze Erzählung mit dem Tod Jesu nichts mehr zu tun hat.
Zahlreiche nachapostolische Autoren sprechen zwar noch von der Überwindung der Geistermacht durch den Tod Christi, aber überwunden wird nicht Satan, sondern Thanatos, der Todesengel – so Barnabas, Justin, Melitto von Sardes, Irenäus, Tertullian, Origenes, Lukian von Antiochien und Athanasius. Man könnte auch von einem Rationalisierungsversuch sprechen: der Sieg über Thanatos wird verständlich, sofern Christus den Machtbereich des Todes, in den er sich selbst begibt, durch seine Auferstehung sprengt.
Ohne Rücksicht auf I Kor 15, 26. 54 f (»der letzte Feind der vernichtet wird, ist der Tod« [das heißt, am Ende des messianischen Zeitalters]; »Wenn aber dies Verwesliche anziehen wird die Unverweslichkeit und dies Sterbliche anziehen wird die Unsterblichkeit, dann wird erfüllt werden das Wort, das geschrieben steht … Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?«) spricht man geradezu von einer Vernichtung des Todesengels. Manche spekulieren darüber, dass durch Tod und Auferstehung Jesu Satan vernichtet worden sei. So Tertullian, der sagt, in Wahrheit habe Jesus den Teufel ans Kreuz geheftet, ebenso Origenes, der aber auch argumentiert, mit seinem Blut habe der sterbende Christus die dem Teufel verfallene Menschheit von diesem losgekauft. Amphilochius von Ikonium meint dagegen, Christus habe dem Teufel am Angelhaken seiner Gottheit den menschlichen Fleischesleib hingehalten, der danach schnappte, um an der Gottheit hängen zu bleiben, eine Vorstellung, die noch in der Reformationszeit populär war.
Bei Paulus wird weder der Teufel, noch der Todesengel durch Jesu Tod und Auferstehung überwunden, er spricht allgemein von einem Sieg über die »widergöttlichen Geistesmächte«.
Dogmengeschichtlich die stärkste Wirkung entfaltet hat die Vorstellung von Christi Hadesfahrt. Sie vermochte gleich zwei Fragen zu beantworten:
1. Wie konnten auch die vorchristlichen Gerechten der Gnadenwirkung seines Heils teilhaftig werden? Antwort: Christus ist zwischen Tod und Auferstehung im Hades erschienen, um den hier Gefangenen zu predigen und das Sakrament der Taufe zu spenden.
2. Wie die Überwindung der Geistermächte möglich war: der Kreuzestod ist gleichsam das Tor, durch das sich Christus dorthin begibt, wo er diese Mächte, die er überwinden wollte, antraf: in die Unterwelt.
Allerdings geht es bei dieser Vorstellung nur um die Mächte des Hades, nicht um die gottfeindlichen Engel- und Geistermächte insgesamt. Daher gibt es auch Darstellungen der Hadesfahrt, bei der Christus auch solche Geistermächte antrifft, die eigentlich in der Oberwelt herrschen. Speziell Satan wird in den Hades versetzt im Testament Daniels, dem Martyrium des Bartholomäus, der pseudo-cyprianischen Schrift »De duplici martyrio« und vor allem im Nikodemus-Evangelium, der bekanntesten und ausführlichsten Schilderung einer Hadesfahrt.
Manche Texte, wie die pseudo-origenistischen Traktate, behaupten sogar, Christus habe im Hades die gesamte widergöttliche Geisterwelt angetroffen. Im Hades entfaltet Christus in der Regel eine übernatürliche, bezwingende Macht, er zerbricht die Tore, sprengt die ehernen Riegel usw. Den besiegten Hadesmächten wird eine Beute abgenommen: es sind die vorchristlichen Heiligen, die mit ihm zusammen auferstehen. Christus kehrt mit »reicher Beute« ins Lichtreich zurück und bringt die Seelen der Verstorbenen aus der Unterwelt mit.
Manchmal verwendet er das Kreuz als Waffe gegen die Hadesmächte, daraus geht später die (abergläubische) Verwendung des Kreuzeszeichens als eines Abwehrmittels gegen dämonische Mächte hervor.
Dieser Mythos von der Hadesfahrt ist der entechatologisierte Ersatz der eschatologischen Idee der Überwindung der widergöttlichen Geistermächte durch den Kreuzestod Jesu.
Die Hadesfahrt wurde sogar im alten Taufbekenntnis festgehalten, durch Ergänzung des Symbolum Romanum. Aber nur das armenische Bekenntnis lässt Christus im Hades den Geistern predigen.
Die Hadesfahrt wurde jedoch keineswegs als endgültige Lösung des Problems empfunden. Manche Autoren nahmen an, weder durch seinen Kreuzestod, noch durch seine Hadesfahrt habe Christus die Geistermächte überwunden, sondern erst bei seiner Himmelfahrt, nach der Auferstehung. Beim Aufstieg durch die Luftregionen und die Planetensphären begegnet Christus jenen Engeln und Dämonenheeren, die nicht im Hades residieren, sondern in der sublunaren Welt und im Kosmos. Hierbei beruft man sich auf Psalm 68, 19:
»Du bist aufgefahren zur Höhe
und führtest Gefangene gefangen;
du hast Gaben empfangen unter den Menschen
auch die Abtrünnigen müssen sich, Gott, vor dir bücken«
– so Justin, Irenäus, Origenes, aber auch die Gnosis.
Laut Pistis Sophia und den Bücher Jeū hat der Erlöser bei seiner Himmelfahrt die Bahnen der Gestirne und ihre Umlaufzeiten verändert und dadurch die Macht der Archonten dieser Welt gebrochen. Nach den Valentinianern geschah dies bereits bei seiner Geburt, als ein neuer Stern aufleuchtete, der die Konstellation der Sphären änderte – dadurch wurden die Erwählten aus der Macht der Heimarmene (des Schicksals) befreit. Die Manichäer erzählen, bei der Himmelfahrt habe der »lebendige Geist« die Archonten gefangen genommen, an das Firmament hinaufgeführt und sie dort oben gekreuzigt. Die Markioniten hingegen ließen Christus nach seiner Himmelfahrt ein zweites Mal in göttlicher Gestalt herabsteigen und über den weltschöpferischen Judengott, seinen Gegner, wegen der Kreuzigung Gericht halten. Dieser anerkennt in Jesus die höhere Gottheit und bekennt, durch dessen Tötung sein eigenes Gesetz gebrochen und dadurch den Tod verdient zu haben.
All diese Mythen sind Notbehelfe, die das Problem der Überwindung der Geistermächte im Zeitalter der Enteschatologisierung lösen sollen. Letztlich sind für die Kirche bei der Frage, ob die Geistermächte bezwungen wurden oder nicht, auch nicht mehr die paulinischen Vorstellungen maßgebend, sondern ihre Beurteilung der Lage der natürlichen und geschichtlichen Welt. Und diese Lage lässt sie die Frage eindeutig verneinen.
Die alexandrinischen Optimisten halten eine solche Bezwingung für überflüssig: für Clemens steht die gesamte Welt seit ihrer Schöpfung unter der Leitung des Logos, auch das ganze Heer der Engel und Götter, daher muss hier nichts bezwungen werden. Origenes lehnt die Vorstellung eines Vernichtungskampfes Christi gegen die Engel- und Geistermächte grundsätzlich ab, denn alle Geister werden sich schließlich freiwillig dem Logos unterwerfen.
Pessimistische großkirchliche Theologen verneinen die Frage deshalb, weil Tod und Teufel nach wie vor wie »brüllende Löwen« in der Welt umgehen und alles zu verschlingen trachten. Es sei vielmehr die Aufgabe der Gläubigen, ausgerüstet mit der durch Christus verliehenen Waffenrüstung Gottes, den Kampf gegen Tod und Teufel zu führen. Laut Cyprian ist das Leben des Christen ein täglicher Kampf gegen den Teufel, so auch für Ignatius, Tatian, Marcell von Ankyra, Hilarius von Poitiers – sie sagen, das Martyrium des Gläubigen sei der größte Sieg gegen Tod und Teufel. Statt Christus überwinden nun seine Gläubigen durch ihren Märtyrertod die widergöttlichen Mächte.
Die kirchlichen Theologen halten den »Häretikern« sogar entgegen: »Wie könnte der Teufel denn die Gläubigen noch verführen« – dass er dies tut, beweisen die »Häretiker« allein durch ihre Existenz – »wenn er schon gebunden wäre?« Epiphanius behauptet sogar, die Macht des Teufels sei seit der Menschwerdung des Gottessohnes noch wirksamer als nach dem Sündenfall.
4. Weitere Deutungen des Todes Jesu (Sünde, Fleisch)
Wie veränderten sich die Vorstellungen des Paulus über die Wirkungen von Tod und Auferstehung auf den natürlichen Menschen in der nachapostolischen Zeit? In Betracht kommen seine Anschauungen über die Sünde und das Fleisch.
Für Paulus war Christi Tod nicht nur eine Sühneveranstaltung für die Sündenschuld der erwählten Gläubigen, sondern auch eine Entmächtigung der Sünde.
Rm 6-8 erscheint die hamartia (Sünde) als böser Dämon personifiziert, der seinen Sitz im Menschen, in seinem Fleischesleib hat, er tyrannisiert den Menschen durch einen von ihm bewirkten Zwiespalt zwischen Wollen und Tun. Der inwendige Mensch will zwar das Gute, aber er ist ohnmächtig. Sein Handeln wird durch die den Fleischesleib beherrschende Sünde bestimmt: »Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue dasselbe nicht ich, sondern die Sünde, die in mir wohnt«. (Rm 7, 18 f.). Der Mensch ist in der Gegenwart durch die bösen Geistermächte bestimmt. Da aber durch Jesu Tod das neue Äon beginnt, muss auch die Vernichtung des natürlichen Fleischesleibes des Menschen und die Entmächtigung der in ihm herrschenden Sünde begonnen haben. Jesus als der Messias wird zum Anfänger einer neuen Menschheit (I Kor, 15. 21. 22. 45-47), und seine Gläubigen zu erwählten Gliedern seiner Gemeinde, die in der Taufe seinen Tod und seine Auferstehung miterleben, an seiner Auferstehungsleiblichkeit teilhaben, der Sünde abgestorben sind und im Wesen des für die Endzeit verheißenen Geistes als die neue Schöpfung des anhebenden Äons leben.
Anfänger einer neuen Menschheit wird Jesus, weil er durch seine Auferstehung die endzeitliche Auferstehung in Gang setzt, die sich vom Tage seiner Auferstehung an in verschiedenen Gruppen und Klassen (Etappen – tagmata) verwirklicht.
Paulus erklärt alle bisherigen Unterschiede des Fleischesleibes wie Geschlecht, Rasse, Nation oder Klasse für belanglos, sie müssen jedoch bis zur Parusie ertragen werden. Aber die Verzögerung der Parusie lässt diese Anschauung fragwürdig erscheinen und schließlich verschwinden.
Trotz aller Anerkennung der Dämonologie lässt das nachapostolische Christentum eine deutliche Abneigung gegen die Vorstellung des Paulus (Rm 6-8) erkennen, die Sünde hause im menschlichen Fleisch, unterscheide sich als fremde Macht von seinem Ich und tyrannisiere dieses. Denn diese Vorstellung stellt die Freiheit des Willens in Frage. Die großkirchlichen Theologen müssen jedoch die Willensfreiheit gegen die »Häretiker« verteidigen, die sich für ihren Determinismus auf Rm 6-8 berufen.
Weniger Probleme bereitete die Vorstellung, der Tod Christi sei ein Sühneopfer für die menschliche Sünde. Origenes deutet in seinem Kommentar zum Römerbrief die Stelle Rm 8, 3 einfach in diesem Sinn um. Die Idee eines freiwilligen Opfertodes war in der gesamten hellenistischen Welt verbreitet und christliche Theologen bezogen sich auch auf solche Anschauungen.
Aber bald tritt an die Stelle dieser Vorstellung vom Opfer Christi jene vom Opfer des Gläubigen. Diesem wird für lässliche Sünden, später auch für Todsünden der Wert einer Sühneleistung zuerkannt. Schon der Petrusbrief I (4, 1 f) erklärt: »Wer im Fleische leidet, ist von der Sünde los«. Ignatius ist überzeugt, dass sein Märtyrertod für andere Sühne leistet. Origenes stellt eine Analogie zwischen dem Opfertod Christi und jenem des Märtyrers her. Cyprian glaubt, das Verdienst der Märtyrer werde stellvertretend den Abgefallenen im Endgericht zugute kommen. Die Didache und der II Clemensbrief reden bereits von der sühnenden Kraft des Almosens, die syrische Didaskalia auferlegt es dem Bischof, die Sünden der ihm anvertrauten Gläubigen zu tragen.[2] Zugrunde liegt diesen Ansichten eine grundsätzliche Beschränkung der Wirkung des Sühnetodes Christi, die Paulus in Rm 3, 25 ausgesprochen hat: die Sühne Christi bezieht sich nur auf die vor der Taufe begangenen Verfehlungen. Dieser Gedanke war aber nur in der Zeit der Naherwartung aufrecht zu erhalten, daher musste im nachapostolischen Zeitalter über die Möglichkeit einer zweiten Sühne nachgedacht werden. Das Problem der Sünde des Getauften ist nicht lösbar durch eine Berufung auf die Sühnewirkung des Todes Christi. Wenn auch der Gläubige niemals sündlos bleiben kann, und immer neuen Sündennachlasses bedarf, müssen neue Satisfaktionsleistungen erbracht werden.
Noch entschiedener wandte man sich von der Vorstellung des Paulus ab, durch den Tod Christi sei das Fleisch vernichtet worden. Die Großkirche lässt diese Auffassung nicht nur stillschweigend fallen, sie lehnt sie sogar mit großer Entschiedenheit ab. Und zwar in der Auseinandersetzung mit der markionitischen Gnosis, die sich auf Paulus beruft.
Übereinstimmend mit Paulus (»Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib?«, Rm 7, 23-24) vertreten die Markioniten die Auffassung, Christus sei nicht zur Erlösung des Fleisches erschienen, sondern zur Erlösung vom Fleische (da das Fleisch nicht vom guten Gott, sondern vom mediokren Schöpfergott geschaffen worden war) und im Gläubigen vollziehe sich durch Tod und Auferstehung Christi die Vernichtung des Fleischeslebens (d.h. der Fesselung an die Schöpfung des schlechten Gottes). Die »Häretiker« sagen: der Mensch könnte nicht vom Bösen beherrscht werden, wenn er nicht im Fleische geschaffen worden wäre. Diese Auffassung bekämpft die Großkirche, sie bekämpft einmal mehr Paulus in Gestalt der Gnostiker. Die Berufung der Gnostiker auf Paulus Rm 7, 5; 8, 4-7. 9, wo es heißt, er und die Gläubigen seien »nicht mehr im Fleische«, lehnt sie als baren Unsinn ab: das hieße, dem Paulus die Behauptung zuzutrauen, er und die Gläubigen seien bereits gestorben!
Wie hätte er da noch Briefe an sie schreiben können? So argumentieren Tertullian oder Methodius. Aber Paulus schreibt den Gläubigen tatsächlich ein wirkliches Sterben und Auferstehen mit Christus zu. Diese Aussagen dürfen laut kirchlichen Theologen aber nicht wörtlich verstanden werden: mit einem wirklichen Sterben und Auferstehen in Christus habe das Taufsakrament nichts zu tun – das sei Häresie! Alle Urteile des Paulus, wonach Erlösung zugleich Vernichtung des Fleisches bedeute, dürften nicht wörtlich verstanden werden, sie bezögen sich gar nicht auf das Fleisch als solches, lautet das Argument, sondern nur auf die schlimmen Werke des Fleisches.
Der Kampf der Großkirche gegen die Häresien um die Beurteilung des Fleisches zeigt, wie sehr sie sich in grundsätzlichem Gegensatz zu Paulus befindet. Deutlich bringt dies Irenäus zum Ausdruck, wenn er sagt, der Satz »Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben« (I Kor 15, 50), stürze die ganze Heilsordnung Gottes um, wenn er wörtlich verstanden werde. Die Großkirche argumentiert gegen Paulus vom Boden einer völlig neuen, entgegengesetzten Erlösungslehre aus. Wenn Tertullian erklärt: »Denn der Herr ist gekommen, um das verlorene Schaf wieder zu suchen, und das verlorene Schaf war der Mensch. Und deshalb ist kein neues Geschöpf geworden«, dann widerspricht er explizit II Kor 5, 17: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden«.
Die Lehre vom Fleisch war der Punkt, an dem die Umschaltung der Erlösungslehre, schließlich des gesamten Dogmas, erfolgte, das aus einem eschatologisch bestimmten Glauben in eine uneschatologische katholische Kirchenlehre umgewandelt wurde.
Sogar die Lehre des Paulus, dass durch Tod und Auferstehung Christi die Auferstehung der Gläubigen garantiert sei, erhält im neuen kirchlichen Dogma einen wesentlich anderen Sinn.
In allen Fragen: der Aufhebung des Sinaigesetzes, der Überwindung der Geistermächte, der Entmächtigung der Sünde, der Vernichtung des natürlichen Fleisches und am Ende auch des Sühnetodes, wendet sich das nachapostolische Christentum vom ursprünglichen Glauben ab.
An seine Stelle tritt eine völlig neue Theorie: die Lehre von der Schaffung der Sakramente durch den Tod Jesu.
Wo diese Lehre nicht übernommen wird, muss die Heilsbedeutung des Todes Jesu gänzlich aufgegeben werden. Dies ist in der Gnosis der Fall. Hier vollzieht sich das Erlösungswerk Christi ohne Tod und Auferstehung. Nach Basilides etwa hat Christus überhaupt nicht gelitten, sondern mit Simon von Kyrene seine Gestalt vertauscht, so dass Simon gekreuzigt wurde, nicht Jesus, während dieser dabeistand und die Irregeführten auslachte. Die Erlösung, d.h. die Scheidung des Vermischten, des Pneumatischen und des Materiellen, vollzieht sich hier in Jesus nicht so, dass dieser Vorgang für andere in Gang gesetzt würde. Die Gnostiker müssen in sich dasselbe bewirken, was Jesus in sich bewirkt hat. Sie können es, weil Jesus ihnen in seiner Lehre das Wissen um den Weg zur Erlösung verkündete. Solchen Anschauungen begegnet man aber nicht nur in der Gnosis, sondern auch in »nicht-gnostischen« frühen nachapostolischen Schriften. Zum Beispiel in den Johannesakten, Kap. 96-103. Hier werden alle Gedanken an einen Erlösungstod Jesu als unmöglich dargestellt. Während Jesus auf Golgatha angeblich gekreuzigt wird, erscheint er Johannes auf dem Ölberg, zum Beweis, dass die Kreuzigung eine Täuschung sei: »Nichts von dem, was man von mir sagen wird, erlitt ich«, sagt er zu seinem Jünger – sein Leiden sei lediglich ein Sinnbild für das Leiden des Menschen überhaupt.
Die Krisis erreicht im Werk der beiden Alexandriner Clemens und Origenes ihren Höhepunkt. Für Clemens ist die Heilsbedeutung des Todes problematisch geworden, er bezieht sich gar nicht mehr auf diesen fundamentalen Gedankenkreis. Er bricht mit der Vorstellung des Erlösungstodes, wenn er argumentiert, das Leiden des Herrn sei nicht aufgrund einer Verfügung Gottes erfolgt, also keine göttliche Heilsveranstaltung. Für ihn ist die Passion Christi in Analogie zur Passion der Märtyrer zu sehen. Christus hat als erster von seinen Verfolgten den Tod erlitten, die Apostel und die wahren Gläubigen haben sein Beispiel nachgeahmt. Gott lässt in beiden Fällen dieses Leiden lediglich zu, aber seine Vorsehung fügt es so, dass diese Leiden erzieherisch zum Guten wirken – das Leiden Christi in bezug auf die Sünden anderer, das Leiden der Gläubigen in bezug auf ihre eigenen Sünden. Das Erlösungswerk besteht darin, dass in Christus der Logos Mensch wurde, um die Menschheit religiös und sittlich zu erziehen und zu bilden. Clemens trägt ein Beispiel hellenistischer Religionsphilosophie vor.
Origenes erkennt die chaotische Fülle widersprüchlicher Heilsvorstellungen: »Nicht nur im alten, sondern auch im Neuen Testament gibt es den tötenden Buchstaben«, schreibt er. Er kennt die christliche Überlieferung besser als jeder andere und doch kann er, da das Chaos nicht entwirrbar ist, keine Lösung in dieser Überlieferung finden. Daher sucht es diese in der neuplatonischen Religionsphilosophie. Hier findet er zu einer religiösen Überzeugung, die sich philosophisch rechtfertigen lässt. Die chaotische Fülle der Tradition mit all ihren Widersprüchen ist für ihn Gegenstand des bloßen Glaubens. Da der Gegenstand des Glaubens für immer unverstanden bleiben muss, muss die Erkenntnis dem Glauben übergeordnet werden. Und im System der Erkenntnis spielt eine Lehre von der Heilsbedeutung von Tod und Auferstehung keine Rolle mehr. Nur der einfältige Glaube, so sagt er, hält sich lediglich an den gekreuzigten Christus, dem christlichen Gnostiker hingegen genügt die Erkenntnis des Logos und er vermag im Sinne des Paulus zu sagen: »Wenn wir auch Christus nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr …«.
In Wahrheit bricht auch die Großkirche mit dem ursprünglichen Glauben und baut ein neues Dogma auf, das eine neue Lehre von der Heilsbedeutung des Todes und der Auferstehung enthält.
In dieser neuen Lehre bedeutet Erlösung nicht mehr – wie bei Paulus – den Einbezug der Erwählten in das kosmische Weltende, sondern die Umwandlung des Gläubigen in der weiter bestehenden Welt durch die von der Kirche verwalteten Heilsgüter (Vergottung [theōsis] durch die Sakramente und Leben gemäß der Glaubensregel), die Kirche ist selbst an die Stelle des neuen Äon und der neuen Welt getreten, die durch die Parusie heraufgeführt werden sollten, der Erlöser existiert und wirkt in ihr fort, sie ist sein Leib.
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Anmerkungen:
[1] Siehe: I Clem. 29, 2; Hermas, Vis III, 4, 1; Sim VIII, 3,3 ; Justin, Apol. II, 5; Athenagoras, Suppl. 10. 24; Irenäus, adv. haer. III, 12, 9; Clemens Alex., Strom V, 10, 2; Origenes, c. Cels. VII, 69; Novatian, de trin. 1; Lactanz, div. inst. II, 14; Hilarius Pictav. trac. in psalm. LXI, 2; Euseb, dem. evang. IV, 6, 8 f; 7, 1 ff.; Theoph. IV, 8; Ps. Clem. Recogn. VIII, 50. In der Gnosis bei Simon Magus, nach Irenäus, adv. hear. I, 23, 3.
[2] Eine ähnliche Vorstellung begegnet übrigens in der Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft: hier wurde nach Steiners Tod davon gesprochen, Steiner habe das Karma (die Sünden) der Gesellschaftsmitglieder auf sich genommen – und diese seien deshalb für seinen Tod verantwortlich. Siehe: Die Opferhandlung Rudolf Steiners
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