Christos Angelos – Engelschristologie (1)

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Fra Angelico, Verkündigungsengel

Martin Werner, der evangelische Dogmenhistoriker und Kollege Friedrich Eymanns an der Berner Universität, der den Lesern dieses Blogs als Rezensent des Buches von Friedrich Rittelmeyer über »Anthroposophie und Theologie« sowie als Gutachter der evangelischen Kirche zur Frage der »Christlichkeit der Anthroposophie« bekannt ist, veröffentlichte 1941 ein umfangreiches Standardwerk über die Entwicklungsgeschichte des Christentums, das die Engelschristologie und ihr allmähliches Verschwinden zum Thema hatte.[1] 1959 erschien eine Kurzfassung dieses Buches im Stuttgarter Kohlhammer Verlag.[2] In beiden Büchern erscheint Werner als Fürsprecher einer von der Großkirche als häretisch verworfenen Strömung des frühen Christentums, die auch ein bemerkenswertes Licht auf Steiners Christologie wirft.

Im Folgenden werden einige der wesentlichen Erträge dieser beiden Publikationen zusammengefasst. Soweit ich weiß, wurden Werners Untersuchungen, die sich auf Vorarbeiten anderer Autoren stützen, bis heute in der anthroposophischen Forschung nicht rezipiert.

Die Dogmenentwicklung lässt sich laut Werner geistesgeschichtlich nicht rekonstruieren, wenn ihr nicht die konsequent-eschatologische Interpretation zugrunde gelegt wird, die Albert Schweitzer in seiner »Geschichte der Leben Jesu-Forschung« und weiteren Publikationen entwickelte.

Diese Interpretation stützt sich auf die älteste Evangelientradition des Markus- und Matthäusevangeliums. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Jesus mitten im Zeitalter der spätjüdischen Apokalyptik auftritt und sich deren eschatologische Grundanschauung, die Naherwartung des Weltendes, zu eigen macht.

Die spätjüdischen Offenbarungsschriften erwarten das Ende der natürlichen Geschichte durch eine künftige Neugestaltung der Welt. Jesus stimmt mit dieser Apokalyptik im Wesentlichen überein, auch er spricht vom kommenden Äon des Reiches Gottes, der übernatürlich neugestalteten Welt.

Er erwartet

• die Katastrophe einer letzten vormessianischen Drangsalzeit,

• das gloriose Erscheinen – die Parusie – eines himmlischen Messias, des »Menschensohnes«, auf den Wolken des Himmels zur Heraufführung des neuen Äons,

• die allgemeine Auferstehung der Toten,

• das endzeitliche Weltgericht,

• die endgültige Überwindung aller dämonischen Mächte,

• die Verwandlung aller Dinge,

• auch der Daseinsweise derer, die als Genossen des Menschensohnes am Gottesreich teilnehmen dürfen.

Seine Naherwartung verkündet er z.B. in der Bergpredigt, die auf den nahen Umbruch vorbereiten soll.

Orientiert man sich an dieser Eschatologie, wird der innere Sinnzusammenhang der Botschaft Jesu und der Urapostel mit jener des Paulus verständlich.

Sie wirft ein Licht auf die Umwandlung des Urchristentums in den hellenischen Frühkatholizismus.

Kernvorstellungen in der Verkündigung Jesu

1. Das Reich Gottes oder das Reich der Himmel: für Jesus steht es nahe bevor und er ruft angesichts dieses Bevorstehens zur Busse, zur Sinnesänderung auf. Es ist für ihn nicht etwa schon gegenwärtig. Das Gottesreich der Apokalyptik ist der neue Äon der übernatürlichen Weltvollendung, ein neuer Weltzustand, der nur durch übernatürliche Ereignisse realisierbar ist und das Ende der bestehenden natürlichen Welt bedeutet. Das urapostolische Christentum kennt kein Gottesreich, das sich in der Person Jesu bereits verwirklicht hätte.

2. Das messianische Selbstbewusstsein Jesu: Hat Jesus die apokalyptische messianische Hoheitsbezeichnung des »Menschensohnes« tatsächlich auf sich bezogen, wie dies die ältesten Evangelienberichte bezeugen? Laut Werner sind

• jene Herrenworte als gesichert zu betrachten, in denen er seine messianische Würde so versteht, dass sie ihm erst in naher Zukunft zuteil wird

• er bemüht sich, sie vor der Öffentlichkeit als Geheimnis zu wahren

• er spricht nur im engsten Jüngerkreis von der Notwendigkeit seines Todes und seiner Auferstehung und deutet damit an, wie es zu seiner Erhöhung zur Würde des himmlischen Menschensohnes kommen soll

3. Jesu Stellungnahme zum mosaischen Gesetz: Die grundsätzliche Aussage in Mt 5,17 ff[3] ist nicht nachträglich in antipaulinischem Sinn verschärft und verfälscht worden. Die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes erlischt jedoch mit dem in Bälde erwarteten Weltende.

Wer dem Reich Gottes im neuen Äon angehört, für den verlieren die mosaischen Satzungen des bisherigen irdischen Daseins ihren Sinn und ihre Geltung. Paulus folgert richtig aus Mk 12,24-28 / Mt 22,23 f, dem Gespräch über die eherechtlichen Bestimmungen im Zusammenhang mit der Auferstehung, dass Christus durch seinen Tod des Gesetzes Ende geworden sei (Rm 10,4).

Nach seinem Tod entwickelt sich daraus der urchristliche Glaube an Jesu Messianität und sein Erlösungswerk durch seinen Tod und seine Auferstehung im Hinblick auf seine baldige Wiederkunft als himmlischer Messias.

Da sich aber seine Wiederkunft verzögert und die eschatologische Naherwartung nicht erfüllt, lässt sich die Außerkraftsetzung des Gesetzes durch Paulus nicht behaupten, ohne nicht zugleich zum Problem zu werden.

Paulus löst das Problem durch einen Kompromiss: für die nichtjüdischen Gläubigen gilt das Gesetz ohnehin nicht, da dieses Gesetz nicht von Gott stammt, sondern von Engelmächten, die es dem jüdischen Volk zu seinem Unheil auferlegt haben. Die jüdischen Gläubigen dagegen sollen bis zum Anbruch des neuen Zeitalters wenigstens äußerlich das Gesetz weiter befolgen: »So bleibe jeder in dem Stande, in den er berufen wurde« (I Kor, 7,20).

Paulus ringt mit dem Problem, dass Jesu Tod eschatologische Bedeutung hat und die Wiederkunft ausbleibt. Seine judaistischen Gegner in der jerusalemischen Urgemeinde zweifeln daran, dass die Gültigkeit des Gesetzes für irgendwen aufgehoben wurde.

Für sie ist die Wiederkunft Jesu und das Weltende noch nicht eingetreten; sie zweifeln daher auch die Heilsbedeutung des Todes und der Auferstehung an.

Die Entwicklung des urchristlichen Glaubens wird demnach von zweierlei bestimmt:

• von der Naherwartung

• von der Nichterfüllung dieser Erwartung infolge der Parusie-Verzögerung.

Wie beeinflussen diese Bewusstseinstatsachen die weitere Entwicklung?

Die älteste Evangelienüberlieferung ist erst mehrere Jahrzehnte nach Jesu Tod schriftlich fixiert worden.

Die einsetzende Verzögerung der Parusie musste als Nichterfüllung der eschatologischen Naherwartung zum Problem werden und zu Modifikationen des ursprünglichen eschatologischen Dogmas führen (Reinterpretation).

Wirkliche Geschichte und eschatologisches Geschichtsprogramm klafften, je mehr die Zeit fortschritt, immer mehr auseinander. Die Notwendigkeit einer Korrektur wirkte zurück auf die Darstellungen der vergangenen urchristlichen Frühgeschichte. Diese konnte durch unhistorische Züge entstellt werden, die sich sogar auf die Dogmengeschichte auswirkten.

Deutlich zeigen dies die sekundären Berichte über die Erscheinungen des Auferstandenen.

Bei Paulus (1 Kor 15) geht es bloß um den Beweis für die Tatsächlichkeit der leiblichen Auferstehung Christi. In den späteren Berichten werden dem Auferstandenen Handlungen und Gespräche mit den Jüngern zugeschrieben, die alle irgendwie das Problem zum Thema haben, dass die Erscheinungen eigentlich seine endzeitliche Erscheinung, seine Parusie, hätten sein sollen, es jedoch nicht gewesen sind.

Einerseits wird die Erscheinung des Auferstandenen mit Parusie-Motiven ausgemalt (Engelbegleitung, Parusie-Wolke, Feier des messianischen Mahls), andererseits werden sowohl die Fragen der Jünger als auch die Aussagen des Auferstandenen vom Ausbleiben der Endereignisse bestimmt (Apg I. 9. 10. 11; Mk 16. 19 etc. pp).

Die sekundären Berichte bestätigen, dass das Ausbleiben der Parusie, die der objektive Beweis für die leibliche Auferstehung gewesen wäre, Zweifel an der Beweiskraft der Erscheinungen Christi für die Auferstehung erweckt.

Im alten Judenchristentum verdichtete sich der Zweifel zur Gewissheit: die ausbleibende Wiederkunft widerlegte die Beweiskraft der Erscheinungen; die Judenchristen waren der Auffassung, der tatsächliche Verlauf der Geschichte spreche gegen die Annahme der leiblichen Auferstehung Jesu. In den Provinzen Asia und Galatia war bald ein Judenchristentum verbreitet, das die Überzeugung vertrat, Christus habe zwar gelitten und sei gekreuzigt worden, aber seine Auferstehung habe noch nicht stattgefunden, sondern werde erst im Zusammenhang mit der endzeitlichen Totenauferstehung erfolgen.

Vorausgesetzt wird von diesen Judenchristen, dass die Auferstehung Jesu kein isoliertes Ereignis ist, sondern der Auftakt der Endereignisse, der Anbruch des neuen Zeitalters, des Aufgangs einer neuen Welt durch den Untergang der alten, also im Zusammenhang mit der allgemeinen Auferstehung der Toten steht. Bleiben diese Endereignisse aus, hat auch die Auferstehung Jesu noch nicht stattgefunden – oder eben, weil die Auferstehung Jesu noch nicht stattgefunden hat, bleiben auch die Endereignisse aus. 

Die gesamte weitere Geschichte des Christentums wird durch die Enteschatologisierung (den Abschied von der Naherwartung der Wiederkehr Christi) bestimmt.

Mit dem völligen Aussterben der ganzen ersten Generation der Gläubigen der apostolischen Zeit kommt die große Krise. Den Angehörigen dieser Generation war als den Gläubigen der »letzten Tage« das Vorrecht zugedacht, die Parusie und die Teilnahme am messianischen Zwischenreich zu erleben.

Schon die ersten Sterbefälle in paulinischen Gemeinden weckten Bedenken. Aber Paulus behauptet, die vorzeitig Verstorbenen würden jenen gleichgestellt, die beim Anbruch der Parusie noch leben und sogleich eine übernatürliche Leiblichkeit erhalten, denn die ersteren würden bei ihrem Anbruch auferstehen, während alle anderen (die Ungläubigen) erst am Ende der messianischen Periode auferstünden.

Stirbt aber die ganze erste Generation aus, ohne dass die Parusie eintritt, zeigt dies, dass sie gar nicht die privilegierte Gemeinde der »Heiligen der letzten Tage« war, d.h. die apostolische Zeit war nicht im Sinne der Naherwartung die beginnende Endzeit.

Damit fällt auch die Voraussetzung dieser endzeitlichen Deutung der Apostelzeit: die eschatologische Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu.

Dieses Problem führt zur Krise des nachapostolischen Zeitalters und leitet durch den Hellenisierungsprozess in den Frühkatholizismus über.

In der nachapostolischen Zeit geht der Glaube verloren, Jesu Tod und Auferstehung sei der Auftakt für den Anbruch der Endzeit. Je mehr die Parusie ausbleibt, desto weniger kann an der eschatologischen Deutung seines Todes festgehalten werden.

Von der Naherwartung zeugt im Urchristentum die Wahl des Sonntags zum kultischen Feiertag des Herrenmahls. Der erste Wochentag nach dem Sabbat war der Tag der Auferstehung: der Herren-Tag (kyriake hemera), zugleich war die Wortwahl eine Umschreibung des hemera tou kyriou, des Tages des Herrn, d.h. des Tages der endzeitlichen Parusie. Das Herrenmahl, erst täglich gefeiert, wurde auf den Sonntag verlegt und war verbunden mit der Bitte um die Parusie (dein Reich komme) und der Erwartung seines Eintreffens. Es sollte zum messianischen Mahl mit dem Wiederkehrenden werden.

Allmählich geht diese Erwartung auf die Osterzeit über, von der nun die Ankunft erwartet wird.

Anfangs war der Glaube an den Zusammenhang zwischen Jesu Auferstehung und der allgemeinen Auferstehung der Toten noch stark verbreitet (Zeugnisse in Himmelfahrt Jesajas, in den Sibyllinischen Orakeln oder im Nikodemus-Evangelium II).

Der sekundäre Evangelienbericht über die Wunderereignisse bei Jesu Tod (Mt 27, 45, 51) mit der Sonnenfinsternis, dem Zerreißen des Tempelvorhangs, dem Erdbeben, dem Bersten der Felsen, der Öffnung der Gräber und der Auferstehung der Heiligen ist bereits eine Rückprojektion der erwarteten Endzeit in die Geschehnisse bei Jesu Tod: wenigstens hier sollte sich das nahende Ende deutlich angekündigt haben. Andere nachapostolische Zeugnisse steigern die Bedeutung dieser Wunder sogar noch (Pseudo-Clementinen: das Zerreißen des Vorhangs; Petrusevangelium: hier verschwinden der Tempel und alle Synagogen und die christusfeindlichen Juden trifft bereits das Gericht; ja mit Jesu Tod bricht das Weltende an).

Andere Berichte erweitern die Auferstehung der entschlafenen Heiligen zu einer Auferstehung aller Gerechten und Heiligen seit Adam.

Aber die Zeichen der Apokalypse bei Jesu Tod und Auferstehung werden sinnlos, wenn diese nicht eintritt und so verliert sich im Verlauf der Jahrhunderte das Verständnis für deren Bedeutung.

Die Liturgie des Herrenmahls enthielt ursprünglich die starke Bitte um die Parusie (siehe Didache), aber bereits der zweite Thessalonicherbrief verwahrt sich gegen die Vorstellung, diese stünde kurz bevor.

Folgeerscheinungen der Naherwartung: falsche Messiasse treten auf (Simon Magus, Dositheus, Judas Galileus, Montanus). Die Montanisten kündigten an, das himmlische Jerusalem werde sich in Phrygien herabsenken und lösten die Ehen auf; fanatische Parusiepropheten störten die öffentliche Ordnung; Leute ließen Ackerbau und Gewerbe liegen, zogen in die Wüste oder irrten in den Bergen umher, in Erwartung der Herabkunft des Herrn. Sein Nichterscheinen rief Enttäuschung, Verzweiflung und Abfall vom Glauben hervor. »Wenn es nicht geschehen wird, so glaubet fortan auch der Schrift nicht, sondern tut ein jeder von euch, wie er will«, sagte man nun, oder: »Dies haben wir auch schon in den Tagen unserer Väter gehört, und siehe, wir sind alt geworden, und nichts von alledem ist uns widerfahren«.

Ein stürmisches Fragen nach neuer Offenbarung des Wann und Wie und Warum setzte ein.

Viele gaben mit der enttäuschten Naherwartung den Wiederkunftsglauben endgültig auf, insbesondere die Gnostiker.

Den Apologeten des alten Glaubens fiel es nicht leicht, die andauernde Verspätung zuzugestehen, sie dachten sich alle möglichen Ausreden aus. Allmählich wandelte sich die Bitte um baldige Parusie in die gegenteilige der weiteren Verzögerung! (Tertullian: »Wir beten um den Verzug des Endes«). Die neue Parole lautete: das Christentum erhält die Welt.

Im 4. Jahrhundert schrieb der Lobredner Kaiser Konstantins, Eusebius von Cäsarea: Schon das erste Erscheinen Christi habe der Welt die Erfüllung der alten prophetischen Wunderverheißung vom Völkerfrieden der messianischen Heilszeit gebracht …

Schließlich verschwand das eschatologische Verständnis von der Heilsbedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu ganz. 

Symptome der Krise der nachapostolischen Zeit beim Übergang vom urchristlich-apostolischen zum frühkatholischen Christentum

Der nachapostolische Autor Hermas lässt im Hirten die Kirche als eine auf einem Sessel sitzende schwache Greisin auftreten, der Geist der Christenheit sei alt geworden, dem Absterben nahe, kraftlos durch weichliches Leben und Zweifel, schreibt er. Glaubensschwäche, Unglauben, Abfall machen sich breit; Warnungen vor dem Zweifel vermehren sich. Der Zweifel richtet sich auf den fundamentalen Lehrgehalt überhaupt.

Kern des Problems ist die Unsicherheit über das Heilswerk Christi in seinem Tod und seiner Auferstehung.

Polykarp von Smyrna mahnt, an der Lehre von der erlösenden Bedeutung des Kreuzestodes festzuhalten und verdammt all jene, die seiner Mahnung nicht Folge leisten: »Wer das Zeugnis des Kreuzes nicht bekennt, der ist aus dem Teufel«. Ignatius kennt Judenchristen in Kleinasien, die die Auferstehung Jesu leugnen.

Häufig wird argumentiert, eine Lösung der aufgebrochenen Probleme sei nur erreichbar durch das Auftreten einer neuen Offenbarung. Gnosis, Montanismus, aber auch die Großkirche werden von diesem Postulat bestimmt. Den einen wird die neue Offenbarung direkt vermittelt, entweder schriftlich durch Himmelsbrief, wie dem Apokalyptiker Johannes, dem Propheten Elchasai und dem Apokalyptiker Hermas, oder durch unmittelbare Inspiration, wie den montanistischen und anderen Propheten.

Offenbarungen des Auferstandenen vor seiner Himmelfahrt an die Apostel werden veröffentlicht (Epistola apostolorum, Petrusapokalypse, Pistis Sophia, Sophia Jesu Christi, Syrische Didaskalia), oder man verfasst neue Evangelien und Apostelbriefe mit neuen Belehrungen. Hierher gehört auch das Johannes-Evangelium, das zu einem der dogmengeschichtlich wirksamsten der neuen Offenbarungsbücher wurde, wobei dessen Recht, ins Neue Testament aufgenommen zu werden, ein Problem darstellte, zu dessen Lösung eine neue Offenbarung erforderlich war: Nach dem Fragment des Kanon Muratori (Z 9-32) ist Johannes durch eine dem Andreas zuteil gewordene nächtliche Offenbarung der göttliche Befehl zur Abfassung eines neuen Evangeliums übermittelt worden.

Das Postulat einer neuen Offenbarung musste sich jedoch selbst ad absurdum führen, sobald die entstehenden gegnerischen christlichen Parteien sich alle auf eine neue Offenbarung beriefen. Nun mussten sie sich gegenseitig auch die Legitimation ihrer jeweiligen Offenbarungen streitig machen. 

Problem der Häresie

In der nachapostolischen Zeit ist eine Mannigfaltigkeit von dogmatischen Sonderrichtungen zu beobachten. Unmittelbar nach dem Hinscheiden der Apostel und der ersten Generation sei die Irrlehre mächtig aufgebrochen, schreibt Hegesipp.

Die »Häresie« wird für Jahrhunderte zum Massenphänomen. Irenäus spricht von »unzählbaren« Abgefallenen. Heiden und Juden lehnen den Übertritt zum Christentum mit dem Argument ab, angesichts des verwirrenden Dogmenstreits unter den Christen könne man nicht wissen, welche der Parteien nun wirklich die Wahrheit vertrete. Die gesamte urchristliche Lehre ist fraglich geworden.

»Häretiker« bezeichnen sich mit Vorliebe als Suchende (»Suchet, so werdet ihr finden«, Mt 7,7). Auch in der werdenden Großkirche muss gesucht werden, wenn auch auf anderen Wegen. Die Häresie erweist sich als wesentlicher Faktor der dogmengeschichtlichen Entwicklung. Der stark betonte Gegensatz zu den Häresien beweist nichts gegen die legitime Zugehörigkeit der Häresie zum nachapostolischen Christentum; auch die »Häretiker« nennen sich ursprünglich Christen, die mit der Zeit eingebürgerten Ketzerbenennungen sind ihnen von der Großkirche angehängt worden. Der römische Staat hat alle als Christen betrachtet und verfolgt, auch Montanisten und Markioniten gehörten zu den Märtyrern.

Auch die »Häresie« hielt sich für rechtgläubig und berief sich auf die Hl. Schrift, die Tradition und die Glaubensregel.

Der »Häretiker« Markion (ca. 85-160) war der erste, der ein Neues Testament schuf. Die Gnostiker begannen als erste mit der methodischen Auslegung der neutestamentlichen Schriften. Sie verwendeten dieselbe Methode wie die neutestamentlichen Autoren, die apostolischen Väter und Justin gegenüber dem Alten Testament (Allegorie). Auffällig machte sich bei den Gnostikern die griechische Philosophie und synkretistische Religion geltend, aber diese Einflüsse wirkten auch auf die Großkirche. Gleichzeitig ist Markion von der griechischen Philosophie weit weniger beeinflusst als mancher frühkatholische Theologe.

Irenäus und Tertullian glauben den heidnischen Charakter der Häresie erwiesen zu haben, wenn sie gewisse Sonderlehren auf Philosophenschulen zurückführen können, stehen aber selbst nicht weniger unter deren Einfluss. Die Häresien werden nicht nur bekämpft, sondern schon ihr Aufkommen wird als Problem empfunden; Warum lässt Gott sie zu? Antwort: als Prüfung des Glaubens (1 Kor 11,19). Peinlich ist nur, dass die »Häretiker« sich ebenfalls auf dieses Pauluswort berufen und die Großkirche als Häresie bezeichnen, während sie behaupten, die Echtheit des Glaubens zu bewahren.

»Ketzer« werden bekämpft, während der Kirche selbst die dogmatische Klarheit, Sicherheit und Einheit fehlt. Origenes (ca. 185-254) sieht sich vor die Aufgabe gestellt, das Ganze der kirchlichen Lehre in geschlossenem Zusammenhang darzustellen, weil »so viele unter denen, die an Christus zu glauben bekennen, nicht nur in nebensächlichen und geringfügigen Dingen uneinig sind, sondern auch in bedeutenden und gewichtigsten Hauptpunkten«. Die Dogmenbildung und -umbildung innerhalb der Kirche dauert Jahrhunderte. Das Ausmaß des Wandels im Dogma zeigt das paradoxe Schicksal der Ketzerbekämpfer: sie werden zu einem beträchtlichen Teil von der späteren katholischen Großkirche zu »Häretikern« gestempelt.

Nach dem Maßstab, den sie an andere anlegt, ist die werdende Großkirche nichts anderes als eine Häresie, aber eben die erfolgreichste Häresie, die schließlich alle anderen aus dem Feld schlägt (Werner 1959, S. 35).

Das Problem Paulus

Innerhalb des Urchristentums gab es eine Spaltung zwischen gesetzestreuem Judenchristentum und Paulinismus. »Judenchristen« bezeichnet die älteste urapostolische Gemeinde in Jerusalem. Im 2. Jahrhundert gilt dieses Judenchristentum als Häresie und stirbt schließlich aus. Die dogmengeschichtliche Bedeutung des Paulinismus besteht darin, dass er die Form des Urchristentums ist, die in der Krisis des nachapostolischen »Heidenchristentums« problematisch wird und eine Umwandlung im Sinn der Hellenisierung erfährt. Für den aufkommenden Frühkatholizismus, der sich mit der Parusiverzögerung abfindet, wird die Lehre des Paulus zunehmend unverständlich (siehe II Petrusbrief, 3. 15-16, der Paulus als schwer verständlich kritisiert). Die »Häretiker« nehmen jedoch gerade Paulus für sich in Anspruch. Irenäus weist auf die Notwendigkeit hin, angesichts dieser Vereinnahmung des Paulus diesen gründlich und im Sinne der Großkirche auszulegen.

Das Judenchristentum hingegen lehnt Lehre und Briefe des Paulus grundsätzlich ab.

Die größten Schwierigkeiten bereitet aber Markion. Er erhebt die Paulusbriefe geradezu zu kanonischen Schriften und kritisiert Fälschungen. Zu seiner Zeit waren tatsächlich viele gefälschte Paulusbriefe im Umlauf: die Pastoralbriefe des Paulus, die Markion nicht in sein Neues Testament aufgenommen hat, sind Fälschungen.

Die Krise zeigt sich zunächst als Kampf um Paulus zwischen Großkirche und Häresien. Durch Bekämpfung und Nachahmung der Markionitischen Kirche ist die Großkirche zur katholischen geworden.

Mittel zur Lösung der Krise

a) Altes Testament 

Gab es keine neue Offenbarung, musste die Autorität der Tradition eine umso größere Bedeutung erlangen. Durch Paulus war die nachapostolische Tradition an das Alte Testament rückgebunden, neben diesem gab es zunächst keine ebenbürtige christliche Offenbarungsschrift. Für das vormarkionitische Christentum ist der alttestamentliche Schriftbeweis die entscheidende Instanz überhaupt. Um das Alte Testament entsteht ein heftiger Kampf zwischen Großkirche, Gnosis, Markion und Judenchristentum. Das Verhältnis des Christentums zum Alten Testament ist völlig ungeklärt. Der Grund ist, dass das Christentum aus der spätjüdischen Apokalyptik entstanden ist und zu großen Teilen des Alten Testaments keine oder nur eine problematische Beziehung hat.

Jesus beruft sich nur auf Teile des Alten Testaments. Sein eschatologisches Verständnis des Messias ist der Henoch-Apokalypse verpflichtet, daher kann er sich höchstenfalls noch auf Daniel beziehen, nicht-apokalyptische Stoffe des Alten Testaments kann er nur durch Umdeutung benutzen (Mk 12, 26f, Mt 12,35-37). Gegenüber den Gesetzen des Alten Testaments ist er kritisch eingestellt.

Paulus muss das Problem der Parusieverzögerung lösen, das sich vom Alten Testament her gar nicht stellt. Seine Lösung: die Aufhebung des Gesetzes vom Sinai durch den Tod Jesu.

Diese These wird von der urapostolischen Gemeinde als schriftwidrig, als Angriff auf das Alte Testament betrachtet. Paulus muss aus dem Alten Testament, das dem Gesetz ewige Gültigkeit zuspricht, beweisen, dass es durch den Tod Jesu aufgehoben wurde. Ohne gewalttätige Allegorese ist dies nicht möglich.

Auch das nachapostolische Christentum versucht die Schwierigkeiten mit dem Alten Testament durch Allegorese zu beseitigen; schon Justinus ist darin Virtuose. Mit fortschreitender Enteschatologisierung und Hellenisierung verlieren die einst wichtigsten Offenbarungsbücher, die Apokalypsen, immer mehr an Ansehen.

Zwischen 150 und 200, in der entscheidenden Phase der Kanonbildung, wird die Aufnahme der Apokalypsen in das Neue Testament fast vollständig verhindert, nur Johannes schafft es noch. Dadurch geht der nachapostolischen Kirche die Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Lehre des Paulus und henochischer Apokalypse verloren, damit aber auch der Schlüssel für das Verständnis der Stellung Jesu zum Alten Testament. Stattdessen wird mit Hilfe der Allegorese hemmungslos aus dem Alten Testament herausgelesen, was nicht einmal Paulus darin suchte. Die Berufung auf das Alte Testament wird dadurch selbst zum Problem.

Markion bestreitet das Recht auf allegorische Auslegung radikal, lehnt das Alte Testament als jüdische Offenbarungsschrift gänzlich ab und stellt ihm den von ihm geschaffenen christlichen Kanon, das Neue Testament, gegenüber. Er bestreitet die Übereinstimmung von paulinischer Lehre und Altem Testament und gibt damit dem jüdischen Standpunkt recht.

Er zwingt die Großkirche ebenfalls zur Kanonbildung, die aber ihr Neues Testament nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung des alten versteht.

Über die Reichweite einer möglichen Allegorese streitet man sich. Origenes lehrt einen dreifachen Schriftsinn. Strittig ist z.B. die Gestalt des Messias.

Im nachapostolischen Christentum diskutiert man nicht über die zwei Naturen in Christus, wie später, sondern über die Frage seiner zwei Parusien:

• der ersten Erscheinung in menschlicher Niedrigkeit,

• der zweiten in himmlischer Macht und Herrlichkeit.

Nach jüdischer Auffassung gibt es im Alten Testament nur eine Parusie des Messias in wunderbarer Herrlichkeit. Die Christen können die erstere schwer bis gar nicht in den Weissagungen des Alten Testamentes nachweisen.

Origenes wird von Rabbinern entgegengehalten, der Gottesknecht in Jes 52-53 sei gar nicht der Messias, sondern das Volk Israel. Justinus muss eingestehen, dass die Kreuzigung im Alten Testament nur symbolisch angedeutet wird. Den Juden wirft er vor, sie hätten aus Psalm 95,10 eine Weissagung des Kreuzes weggefälscht, stattdessen haben die Christen sie in die Septuaginta hineingefälscht. Die Markioniten (Anhänger des Markion) bestreiten rundweg eine Weissagung des Kreuzestodes im Alten Testament.

Und wie sind die Weissagungen zu deuten, die von einem irdischen Messiaskönig reden (Sach 9, 9f)?

Diese lassen sich weder auf die erste, noch auf die zweite Parusie beziehen.

Markion beharrt darauf, dass der »messias armatus, militaris, bellator« (der bewaffnete, kriegerische Messias) mit dem Jesus der Evangelien nichts zu tun hat.

Noch im 4. Jahrhundert muss die Kirche zugeben, dass von der vorzeitlichen Zeugung des Logos-Sohnes kein einziger Prophet etwas gesagt hat.

b) Neues Testament

Die Idee einer Sammlung der unverfälschten apostolischen Urkunden stammte von Markion. Aber seine Reduktion des Apostolischen auf Paulus, seine Beschränkung auf das Lukasevangelium, seine Streichungen innerhalb dieser Schriften (aller »Einschübe« jüdischen Ursprungs – »judenchristlicher Fälschungen«), verurteilt die Kirche als unbegründete Willkür. Sie will alles kanonisieren, was sich irgendwie auf die Autorität der 12 Apostel zurückführen lässt.

Markion lässt sich von der Notwendigkeit leiten, dass die paulinisch-urchristliche Lehre im Zeitalter der Parusieverzögerung umgedeutet werden muss. Wenn die Kirche ihm nicht folgen will, dann muss sie willkürlich erweitern, so wie er willkürlich reduziert: je mehr Urapostolisches sie in ihr Neues Testament aufnimmt, desto mehr Nachapostolisches muss sie zur Kompensation, als Mittel der umdeutenden Interpretation mit aufnehmen. Daher die zwingende Notwendigkeit, dem Kanon auch pseudepigraphische Schriften einzufügen. Die Großkirche legt die echten Paulusbriefe hartnäckig im Sinn der Pastoralbriefe aus (die in Wahrheit Fälschungen sind). So wie der echte Paulus hinter den pseudepigraphischen Briefen verschwindet, so die synoptischen Evangelien hinter dem Johannes-Evangelium.

Die Theologie des Johannes ist eine gnostisierende Umwandlung des Paulinismus. Nicht zufällig sind die Gnostiker Herakleon und Valentinus (zwischen 100 und 150) die ersten, die sich um seine Auslegung bemühen.

• Markion will vom Johannes-Evangelium nichts wissen,

• die »Aloger« lehnen es wegen seiner Logoslehre ab,

• Irenäus versucht den Gnostikern das Johannes-Evangelium zu entreißen, indem er ihre Berufung auf den Prolog widerlegt,

• noch der Kanon Muratori muss die Aufnahme in den Kanon durch die Erzählung eines legendären Offenbarungswunders rechtfertigen.

Der wahre Grund für seine Kanonisierung ist das siegreiche Vordringen der neuen Logoschristologie und der mit ihr zusammenhängenden realistisch-sakramentalen Erlösungslehre des Johannes.

Dies führt zur Überordnung des Johannes-Evangeliums über die Synoptiker. Clemens lobt das Johannes-Evangelium wegen seines »pneumatischen« Charakters, während die übrigen Evangelisten nur den Menschen Jesus schilderten.

Die Kirche schafft mit ihrem Kanon ein Referenzwerk für die Umdeutung des Urchristentums. Dadurch verbaut sie sich aber zugleich die Möglichkeit, die echte Lehre Jesu und des Paulus richtig zu verstehen.

Die schematische Vorstellung kommt auf, dass die Apostel einschließlich Paulus von Jesus als dem göttlichen Lehrer das Depositum der rechten Kirchenlehre empfangen haben, um es an die legitime Tradition weiterzugeben.

Durch ihren Gegensatz zur Gnosis und zu Markion steht die kirchliche Exegese im Dienst des Unternehmens, einfach das Gegenteil dessen zu lehren, was die Gnostiker und Markion behaupten. Die Kirche kommt allmählich zum Schluss, dass mit dem Schriftbeweis gegen die Häresien nichts auszurichten ist (so Tertullian in de praesriptione haereticorum, 14, 15, 18, 19): den »Häretikern« fehle es nicht an Klugheit, die Schrift liefere ihnen das Material, man möge ihnen deshalb das Recht generell absprechen, sich auf sie zu berufen und sich stattdessen an die Glaubensregel halten. 

c) Die »apostolische« Tradition

Die Kirche beruft sich daher zunehmend auf die lebendige Stimme der in ihr selbst geltenden Tradition als entscheidende Instanz. Aber solche Tradition gibt es überall, daher berufen sich alle Parteien – zu Recht – auf ihre jeweilige Tradition. Nur die Montanisten setzen sich mit ihrem Anspruch auf prophetische Inspiration über jede Tradition hinweg; Markion vertritt die Auffassung, die Urtradition sei schon früh durch die Urapostel verfälscht worden.

Daher präzisieren Tertullian und Irenäus den schwammigen Traditionsbegriff. Nach ihnen ist darunter zu verstehen: die Lehre des Gesamtkollegiums der Apostel in den von ihnen selbst gegründeten Gemeinden, die durch die nachweisbare Sukzessionsreihe ihrer Bischöfe vermöge des diesen verliehenen »charisma veritatis« übereinstimmend und unverändert bis in die Gegenwart überliefert ist. Cyprians Kirchenbegriff vollendet diese Theorie vorläufig.

Die dogmatischen Hauptsätze werden im überlieferten Taufbekenntnis verankert, das durch fortschreitende Interpretation und Erweiterung zur regula fidei (Glaubensregel) wird.

Das Symbol (Glaubensbekenntnis) wird, je nach politischer Lage und dem Ausgang der dogmatischen Streitigkeiten, stets erweitert und sein Sinn neu festgelegt. Was das Symbol in einer Streitfrage lehrt, weiß man erst endgültig, nachdem entschieden ist, welche der streitenden Parteien gesiegt und damit ihre Entscheidung über den neu zu formulierenden Wortlaut der Bekenntnisformel durchzusetzen vermocht hat. Die Glaubensregel wird zu einem Dokument einer in Veränderung begriffenen Tradition. Die Behauptung, das Symbolum sei die fixierte echte apostolische Tradition ist eine große Fiktion.

Auch der Begriff des Apostolischen in der von Tertullian und Irenäus ausgebildeten Traditionstheorie ist eine dogmatische Konstruktion, bestimmt durch den antihäretischen Kampf. Markion hatte im Streit zwischen judaistischer Urgemeinde und Paulus die Partei des letzteren ergriffen. Zur Sicherung des Traditionsbegriffs muss die Großkirche das Gegenteil behaupten: dass es ein einheitliches Urkollegium der Apostel gegeben hat, die alle als Weltmissionare ausziehen, diese in 12 Teile teilen und unter allen Völkern das eine und gleiche Evangelium lehren.

Dieses Bild ist völlig ungeschichtlich. Nach urchristlicher Auffassung hat der Apostel auch gar nicht die Aufgabe, in die Welt hinauszuziehen, sondern in Jerusalem zu bleiben (siehe Apg). In der Vernebelung der Spannung zwischen Paulus und den Uraposteln, vor allem des Streits um die Gesetzesfrage, liegt eine Geschichtsklitterung.

Für Paulus ist dies eine fundamentale dogmatische Frage – Gal 5, 2-4: »Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasset, so nützt euch Christus nichts – ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid von der Gnade gefallen«.

Diese Aussage ist nur vor dem Hintergrund der paulinischen Auffassung verständlich, dass der Tod Christi das Gesetz aufgehoben, sein Tod mithin eine eschatologische Bedeutung hat.

Die Verzögerung der Parusie stellt diese Auffassung in Frage. Die Großkirche müsste sich eigentlich von der Auffassung der Urapostel distanzieren, sie beruft sich aber in ihrem Kampf gegen die Ketzer gerade auf die einheitlich apostolische Tradition, muss also die urchristliche eschatologische Naherwartung aus dieser Tradition eliminieren.

Konsequent ignoriert sie den Ausdruck der Naherwartung in den neutestamentlichen Aussagen oder deutet diese gewaltsam um. Betreffende Texte werden sogar falsch zitiert oder übersetzt, z.B. wird Paulus 1 Kor 7,31 aus dem Präsens ins Futurum transponiert. Im lateinischen Westen heißt es dann: »figura huius mundi transibit«, statt »transit«.

Die in letzter Instanz angerufene kirchliche, bischöflich garantierte Tradition war kein legitimes, objektives Kriterium zur Lösung der großen dogmengeschichtlichen Krisis der nachapostolischen Zeit. Die apostolische Tradition war gefälscht. 

Zerfall der apostolischen Lehre vom Heilswerk Christi

1. Überblick

Das erste Stadium des Zerfalls zeigt sich am Streit um das Gesetz:

a) Paulus und b) die gesetzestreue apostolische Urgemeinde werden durch die Parusieverzögerung zu unterschiedlichen Auffassungen über die Heilsbedeutung des Todes und der Auferstehung veranlasst.

Die Aussagen des christlichen Schrifttums im 2. und 3. Jahrhundert über diese Heilsbedeutung von Tod und Auferstehung sind ein einziges Chaos.

Mit der Lehre von der Sühneveranstaltung des Todes Jesu (Rm 3, 21 ff.) führt Paulus nach 1 Kor 15, 3 nur die urapostolische Auffassung näher aus. Grundgedanke des Paulus ist die in Gal 1,4 und 6, 14 ausgesprochene These, dass durch den Kreuzestod Christi das Weltende eingeleitet wird und zwar so, dass sich dieses eschatologische Geschehen bereits in der Existenz der Gläubigen real auszuwirken beginnt. (»Es sei aber fern von mir, mich zu rühmen als allein des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt«.)

Diese Auffassung beruht auf zwei Voraussetzungen:

1. dass nach den Uraposteln in Jesus der Messias erschien, um durch Tod und Auferstehung seine messianische Aufgabe zu erfüllen,

2. dass seine messianische Aufgabe nach spätjüdisch-apokalyptischer Lehre in der Heraufführung des Weltendes und des Vollendungszustandes des neuen Äon besteht.

Interpretiert man Gal 6, 14 im Sinne der spätjüdischen apokalyptischen Lehre, ergeben sich alle Konsequenzen in bezug auf die Wirkung des Todes Jesu, mit denen Paulus weit über den Sühnetodgedanken der Urapostel hinausgeht.

Paulus lehrt als einziger unter den Aposteln folgendes: 

• durch den Tod Jesu ist die Herrschaft der gottfeindlichen Engelmächte gebrochen und die Gläubigen sind aus der Knechtschaft unter ihre Macht befreit,

• das Sinaigesetz, das dem Volk Israel für die Dauer der alten Weltzeit auferlegt war, ist aufgehoben,

• die Zeit der allgemeinen endzeitlichen Totenauferstehung ist angebrochen,

• der auferstandene Christus ist der Erste unter vielen anderen,

• durch Tod und Auferstehung hat er bereits den dem alten Weltzustand entsprechenden, mit der Sünde behafteten Fleischesleib abgetan und diese Überwindung des Fleisches und der Sünde wirkt sich bereits an den Gläubigen als den Auserwählten der endzeitlichen Gemeinde des Messias aus,

• in der Taufe erleben sie das Sterben und die Auferstehung Christi mit,

• ihr alter Fleischesleib wird ertötet und sie haben an der neuen Auferstehungsleiblichkeit Christi teil,

• sie sind der Sünde abgestorben und leben und handeln fortan in der Kraft des in alldem wirksam gewordenen göttlichen Geistes als der Kraft des neuen Äons,

• in Christus seiend, sind sie bereits eine neue Schöpfung, also in die Sphäre des neuen Äons versetzt,

• dies alles, während bis zur nahen Parusie äußerlich die alte Welt, als im Vergehen begriffene, noch fortbesteht. 

Wenn nun das nachapostolische Christentum aufgrund der Parusieverzögerung den eschatologischen Grundsinn der These von Gal 6,14 aufgibt, weil die erste Generation der Gläubigen gar nicht die auserwählte Gemeinschaft der Endzeit sein konnte, fällt die Voraussetzung aller paulinischen Einzelaussagen dahin und diese werden zweifelhaft:

• die Entmachtung der Engel,

• die Aufhebung des Sinaigesetzes,

• die Vernichtung des Fleisches und der Sünde,

• die Schaffung der neuen Auferstehungsleiblichkeit. 

Jede dieser Einzelaussagen wird zu einem speziellen dogmatischen Problem. Das nachapostolische Christentum vollzieht die Enteschatologisierung des paulinischen Grunddogmas von der Heilsbedeutung von Tod und Auferstehung Christi. Sein Versuch einer neuen Begründung führt zur Auflösung der Lehre des Paulus.

Wie ist die neue Einstellung zur Grundthese von Gal 6,14? (»mir ist die Welt gekreuzigt und ich der Welt«).

Im ersten Buch Jeū heißt es: »Jesus, der Lebendige hob an und sprach zu seinen Aposteln:

Selig ist der, welcher die Welt gekreuzigt hat und nicht die Welt ihn hat kreuzigen lassen!

Die Apostel antworteten einstimmig: Herr, lehre uns die Art des Kreuzigens der Welt, damit sie uns nicht kreuzige, und wir zugrunde gehen und unser Leben verlieren.

Jesus, der Lebendige, antwortete: Der die Welt gekreuzigt hat, ist derjenige, welcher mein Wort gefunden und es nach dem Willen dessen, der mich gesandt hat, erfüllt hat«.

Die Sätze des Paulus werden Jesus in den Mund gelegt, die ursprüngliche Tat Jesu wird zu einer Lehre umgedeutet, die Kreuzigung der Welt ist nicht mehr eine objektive Tat, die Christus durch seinen Tod für die Gläubigen vollzogen hat, sondern eine Aufgabe, die der Gläubige selbst zu erfüllen hat.

Die Forderung an die Gläubigen (dass sie sein Wort erfüllen sollen) wird meist im Sinne der Askese gedeutet. Gal 6, 14 wird asketisch verwertet.

Celsus spottet über die Christen: »Einträchtiglich führen die unter sich so verschiedenen Christen alle den Spruch im Munde: ›Die Welt ist mir gekreuzigt und ich der Welt‹, dabei aber hecheln sie einander im dogmatischen Hader aufs schändlichste durch«.

Die eschatologische Bedeutung des paulinischen Grundgedankens über die Heilsbedeutung von Tod und Auferstehung Jesu wird ganz fallen gelassen. Ein Musterbeispiel dafür aus der frühen nachapostolischen Zeit bietet der Hebräerbrief. Er greift aus Paulus allein den Gedanken des Todes als Sühneveranstaltung auf und isoliert diesen als Lehrsatz für sich. Dem Gedanken gibt er zugleich eine neue Auslegung. Das ursprüngliche Wesen des Christus als einer Erscheinung der Endzeit wird vollkommen umgedeutet: Christus wird zum himmlischen Hohepriester, der als solcher mit der Eschatologie nichts zu tun hat.

Als eine der schwierigsten Thesen erweist sich paradoxerweise die Auffassung des Paulus von der Aufhebung des Gesetzes. Das Heidenchristentum ist dank des Kampfes von Paulus grundsätzlich vom Gesetz befreit, das gesetzestreue Judenchristentum verliert rapide an Bedeutung für die Kirchengeschichte, trotzdem bleibt das Gesetzesproblem eines der schwierigsten. 

2. Das Problem der Aufhebung des Gesetzes

Die Großkirche kam zu keiner einheitlichen oder sachlich haltbaren Lösung des Problems.

Die Hauptthesen des Paulus:

• er sah im Sinaigesetz eine der bedrückendsten Unvollkommenheiten des alten Weltzustandes,

• der himmlische Christus schuf eine neue Schöpfungsordnung, auch um das Gesetz aufzuheben,

• aber Paulus kritisierte nicht den Inhalt des Gesetzes, das er als »heilig«, »gerecht« und »gut« bezeichnete (Rm 7, 12. 14),

• sondern er kritisierte seinen Ursprung. 

Nach Gal 3,19 f

• ist das Sinaigesetz nicht durch Gott selbst, sondern dem Judenvolk – vermittelt durch Moses – von Engelmächten auferlegt,

• und zwar nicht, um der Sünde zu wehren, sondern um sie zu mehren, da es den der Sünde verhafteten Menschen vollends zu ihr aufreizen musste,

• es wurde zum tötenden Buchstaben,

• Gesetzesdienst ist nicht Gottesdienst, sondern Unterwerfung unter die Engelmächte (Knechtung – Gal 3, 23; 4, 3. 9. 24 f; 5, 1),

• Erlösung vom Sinaigesetz bedeutet zugleich Erlösung aus der Gewalt der widergöttlich eingestellten Engelmächte,

• eingeleitet wurde diese Erlösung durch Tod und Auferstehung Christi, da durch sie das neue Äon in Kraft gesetzt wurde,

• verwirklicht wird sie zunächst nur in der endzeitlichen Gemeinde des Messias, als des neuen Äons, das inmitten der untergehenden alten Welt verborgen Gestalt annimmt,

• erst bei seiner bevorstehenden Parusie wird Christus den alten Weltzustand vollständig und endgültig aufheben,

• bis dahin soll sich der Gläubige den alten Ordnungen noch fügen und nicht revolutionär vorgreifen, soweit dies für das neue Leben in der messianischen Gemeinde kein wesentliches Hindernis ist,

• wer als Nichtjude in diese Gemeinde aufgenommen wird, darf sich jetzt nicht plötzlich dem Gesetz der alten bösen Welt unterwerfen und sich beschneiden lassen, da er ja gerade von den Mächten, die sie beherrschen, erlöst wird (Gal 1,4),

• ein Jude, der Christ wird, soll auch nicht äußerlich seine Beschneidung unkenntlich machen und sich eigenmächtig vom Sinaigesetz emanzipieren, das durch das Wiedererscheinen Christi vollständig aufgehoben werden wird (I Kor 7, 18 ff). 

Das nachapostolische Heidenchristentum gibt infolge der Parusieverzögerung aber die eschatologische Heilsbedeutung des Todes Jesu auf. Damit fällt es in den judenchristlichen Standpunkt zurück, kann aber zugleich nicht die judenchristlichen Folgerungen ziehen.

Paulus hatte doch das Heidenchristentum vom Gesetz ausgenommen (Beschneidung, Lebensweise); diese Gesetzesfreiheit verteidigt das Heidenchristentum in der nachapostolischen Zeit gegen Judentum und Judenchristentum auch. Aber die Argumente des Paulus dafür werden immer fragwürdiger.

Zunächst der Zusammenhang des Gesetzes mit den widergöttlichen Engelmächten.

Diese Vorstellung taucht bei einigen nachapostolischen Schriftstellern weiterhin auf. Nach Kol 2, 8-18 gilt Gesetzesdienst als Engeldienst (siehe auch Ignatius, Barnabasbrief, Aristides und die Sibyllinischen Orakel). Aber das sind nur Nachklänge einer alten paulinischen Vorstellung, – ja, diese Vorstellung wird von der Großkirche plötzlich als Häresie schroff abgestoßen.

Diese Ablehnung hängt mit der Stellung Markions und der Gnosis zum Gesetz zusammen. Eine Rolle spielt dabei ein Argument des Judentums und Judenchristentums:

• das Sinaigesetz gehöre doch zur Heiligen Schrift der alttestamentlichen Gottesoffenbarung. 

Schon Paulus hatte mit diesem Argument ein Problem: er half sich mit der Unterscheidung zwischen tötendem Buchstaben, auf den die Engelmächte die Juden fixiert hätten,

und dem verborgenen Sinn des Buchstabens, den nur der Geistesmensch, der christliche Gnostiker, zu durchschauen vermöge – für ihn sei es eine Weissagung auf Christus und die messianische Gemeinde der Endzeit. 

Von diesem Gegenargument des Paulus machen der Hebräerbrief, Barnabas und Justin bei ihrer Auseinandersetzung mit Juden und Judenchristen reichlich Gebrauch.

Anstößig bleibt die Abwertung des Gesetzes trotzdem, schreibt doch der Pentateuch gerade dem Wortsinn, dem Buchstaben des Gesetzes, ewige Gültigkeit zu, auch haben hier keinerlei Engelsmächte mit der Gesetzgebung zu schaffen, diese ist vielmehr eine Offenbarung Jahwes, des Gesetzgebers des Volkes Israel, Moes ist nicht Vermittler der Engelmächte, sondern Jahwes. Die Gnosis und Markion halten jedoch an der Auffassung des Paulus fest und ordnen ihr den Pentateuch unter. Den Ausgleich erreichen sie, indem sie den göttlichen Gesetzgeber des Alten Testaments mit einem der Gesetzgeberengel von Gal 3, 19 f identifizieren. Einer dieser Engel muss der Gott Israels, Jahwe, sein. Dadurch gerät aber der Gott vom Sinai, der Gott des Alten Testaments, der Weltschöpfer, zu Christus, dem himmlischen Erlöser in einen Gegensatz. Mit dem Sinaigesetz muss auch der Gott des Alten Testaments verworfen werden.

Die Scheidung zwischen Judentum und Christentum ist radikal.

Am radikalsten ist hier Markion. Bei ihm rückt an die Stelle der Vielheit der Engel von Gal 3, 19 einzig der Gott des Alten Testaments, der Weltschöpfer, der das Sinaigesetz gegeben und die Propheten Israels inspiriert hat, nun aber dem höheren Gott, den Christus verkündet und vertritt, als inferiorer Gegner gegenübersteht.

Die Erlösung aus der Sklaverei der Engelmächte wird bei Markion zur Erlösung aus der Gewalt des Judengottes.

Die Großkirche muss dagegen den Galaterbrief im Sinn des Pentateuch korrigieren: nicht irgendeine christusfeindliche Engelmacht ist der Gesetzgeber vom Sinai, sondern eindeutig der Gott Israels. Erreicht wird dies dadurch, dass man den in Gal 3, 19 erwähnten Vermittler statt auf Moses, auf Christus bezieht. Christus selbst wird im Auftrag des Gottes Israels zum Gesetzgeber vom Sinai, die von Paulus erwähnten Engel werden zu einer himmlischen Dienerschaft herabgesetzt. Damit gibt man nicht nur die markionitische Auffassung preis, sondern auch die des Paulus.

Dieser neuen Lehre verhelfen zum Durchbruch: Irenäus, Clemens von Alexandrien, Origenes, Hippolyt, Eusebius von Caesarea und der sog. Hymenäusbrief aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts (eines der ersten quasi-offiziellen Dokumente der Kirche, ein Erlass von sechs östlichen Bischöfen gegen Paulus von Samosata).

Die Kirche verkehrt die Auffassung des Paulus in ihr Gegenteil und erschwert sich damit die Verteidigung der von ihm ererbten Gesetzesfreiheit. Sie befindet sich in einem Zweifrontenkampf: hier Juden und Judenchristen – dort die Gnostiker und Markion.

Ihre Argumente schwächen mitunter den einen Gegner, stärken aber zugleich den anderen. Der Widerstreit der eigenen Argumente macht die Stellung der Kirche zur Gesetzesfrage immer schwieriger und verworrener. Davon profitiert der Markionismus, der sich zäh aufrecht hält und im Manichäismus fortsetzt. Würde die Kirche weiterhin an Rm 10, 4 festhalten, dass »der Tod Christi des Gesetzes Ende« ist, wäre sie dem Markionismus wehrlos ausgeliefert. Man bemüht sich daher um Umdeutungen, die Paulus das Gegenteil des von ihm Gemeinten unterstellen. Das Gesetz sei die Milch gewesen, heißt es jetzt, die Paulus nach I Kor 3, 2 den Anfängern in der christlichen Erkenntnis zu trinken gab, – ja, man behauptet sogar, Jesus habe zur Sicherstellung des mosaischen Gesetzes den Kreuzestod erlitten!

Die Gesetzesfreiheit der Heidenchristen ist dadurch in Frage gestellt. Wie können sie von ihm befreit sein, wenn Christus am Sinai der Gesetzgeber war?

Der Jurist Tertullian argumentiert, es müsse sich nachweisen lassen, dass Christus das Sinaigesetz doch teilweise wieder revidiert habe. Dieser Gedanke einer Teilrevision des Sinaigesetzes ist gänzlich unpaulinisch; Paulus kennt nur ein gänzliches Entweder – Oder, ein Ja oder Nein. Wie kann außerdem ein Gesetz, das Christus im Auftrag Gottes erlassen hat, revisionsbedürftig sein?

Nun bemüht sich die Kirche um eine Kritik am Inhalt des Gesetzes, die Paulus gänzlich fremd war. Die Entdeckung der Kritik der Propheten am israelitischen Kultbetrieb kommt ihr gelegen. Für die Heidenchristen ist dies neu, da Paulus lehrte, das Gesetz sei gut. Der Verfasser des Barnabasbriefes ist der erste, der so argumentiert.

Hierzu gehören z.B. Jer 7, 22: »Ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten führte, nichts gesagt und geboten in betreff von Brandopfern und Schlachtopfern«. Diese Kritik findet man auch in den kanonisch werdenden synoptischen Evangelien bestätigt. Die Kirche darf sich guten Gewissens gegen den kultisch-rituellen Teil der alttestamentlichen Gesetzgebung wenden. Besondere Kritik erfährt das Beschneidungsgebot. Die Homilien der pseudo-origenistischen Traktate geißeln es als etwas Sinnlos-Widernatürliches, als einen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung. Der Diognet-Brief überschüttet das mosaische Ritualgesetz mit Schimpf und Hohn. Aber die Kirche tut damit nichts anderes, als Markion, den sie deswegen verdammt. Der einzige Unterschied ist, dass Markion das gesamte Alte Testament verwirft, die Großkirche nur das Zeremonialgesetz.

In Markions Kritik steht der Christus im Gegensatz zum Gesetzgeber am Sinai; in der Kritik der Kirche, die sich auf die Propheten beruft, steht der Logos-Christus im Widerspruch zu sich selbst (da er ja der Gesetzgeber am Sinai war). 

Die Kirche kritisiert den Inhalt des Gesetzes und hält gleichzeitig Markion entgegen, dieses sei »heilig, gerecht und gut«. So kommt es zu komischen Gewalttätigkeiten in der Schriftauslegung. Epiphanius legt gegen den inzwischen toten Markion II Kor 3,6 entgegen dem ausdrücklich Gesagten aus: »Der Buchstabe nämlich tötet nicht; denn im Buchstaben ist das Leben« (sic!).

Schließlich zieht sich die Kirche mit einem Kompromiss aus der Affäre. Die Propheten zeigen, welcher Teil des Gesetzes zur Aufhebung bestimmt ist: das Zeremonialgesetz.

Das Gesetz aber bekundet, dass auch das Zeremonialgesetz auf Gottes Anordnung zurückgeht; man muss also begründen, warum das Zeremonialgesetz von Anfang an nur temporär vom präexistenten Christus-Logos in Kraft gesetzt wurde. Aber diesem Nachweis steht die Aussage des Gesetzes entgegen, es gelte mitsamt den Zeremonialgesetzen »ewig«.

Daneben wird die von Paulus eingeführte allegorische Deutung praktiziert: die mosaischen Gesetze sind als Typen und Symbole dessen erlassen worden, was durch Christus einst verwirklicht werden sollte. Diese Theorie führt zu einer zunehmenden Judaisierung der Großkirche. Den Weg ebnet die Unterscheidung des buchstäblichen und spirituellen (d.h. des allegorischen und typologischen) Sinns, die Regel des Paulus »lex spiritualis est« (Rm 7, 14) – aber bei Paulus ist das Gesetz überhaupt gemeint, nicht nur das Zeremonialgesetz.

Überall kann jetzt ein »spiritueller Sinn« in den Buchstaben hineingedeutet werden, das heißt aber auch: nirgends wird das mosaische Gesetz als Ganzes außer Kraft gesetzt.

Das Nebeneinander der verschiedenen Theorien über die Bedeutung des Gesetzes wirkt sich verunsichernd auf das Urteil aus, wenn es darum geht, zu entscheiden, was ewig gültig und was zeitbedingt am Gesetz ist. Am bequemsten ist die Unterscheidung zwischen buchstäblichem und spirituellem Sinn.

Novatian hat Probleme mit »Häretikern«, die dem Gott des Alten Testaments vorwerfen, er habe für unrein erklärt, was er selbst geschaffen habe. Dagegen helfe nur die allegorische Auslegung, die kein Schriftwort in einem Gottes unwürdigen Sinn auslege.

Eines der wichtigsten Ausscheidungskriterien ist, wie sich an Justinus, Clemens und Origenes zeigt, das lex naturae. Nach diesem lässt sich der Dekalog von Exodus 20 als ewig gültiges Gesetz dartun. Clemens würdigt auf diesem Wege den ethischen Gehalt des Deuteronomium.

Die Kirche scheitert nur deshalb nicht vollständig an diesem Problem, weil sie auch die evangelischen Darstellungen von Lehre und Geschichte Jesu zu Rate zieht.

Die sittlichen Unterweisungen Jesu bewahren die Kirche vor der vollständigen Verirrung im Chaos der allegorisch-typologischen Auslegung. Der altprophetisch-ethische Gehalt der Verkündigung Jesu macht sich als Korrektiv immer wieder geltend. Aus seinem Auftreten in den Evangelien schöpft man die Gewissheit, dass nach dem Vorlauf der Propheten (durch die er ja selbst als präexistenter Logos gesprochen hat) er selbst die endgültige Revision des mosaischen Gesetzes vollzogen hat.

In diesem Sinn deutet man – allerdings textwidrig – das Wort »lex et prophetae usque ad Johannem« (Mt 11,13). Jesus wird zum neuen Gesetzgeber: er hat anstelle des alten ein neues Gesetz gebracht (siehe Joh 13, 34 – »ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe«).

Das Dogma, dass die Verkündigung eines neuen, ewigen und allgemeingültigen Gesetzes zum Erlösungswerk Jesu gehöre, das an die Stelle des alten mosaischen tritt, wird von vielen Theologen vertreten (Barnabas, Hermas, Justin, Aristides, Tertullian, Clemens, Origenes, Hippolyt, Eusebius, Laktanz) – auch für Irenäus ist Christus Gesetzgeber.

Jesu Gesetzgebung der Freiheit erneuert aber nur das ursprüngliche Gesetz, das »durch die Schriftgelehrten verfälscht« wurde, es revidiert also die Unvollkommenheiten des letzteren, gemäß dem Ausspruch: »Ich bin nicht gekommen (Gesetz oder Propheten) aufzulösen, sondern zu erfüllen« (Mt 5, 17).

Aus all dem ergibt sich eine wichtige dogmengeschichtliche Erkenntnis: die altkirchliche Vorstellung von Christus als Gesetzgeber ist nicht das Ergebnis einer Hellenisierung, sondern des Versuchs, sich der Schwierigkeiten der paulinischen Lehre vom Gesetz zu entledigen.

Der neue Grundsatz beseitigt aber nicht alle Probleme. Die textwidrige Umdeutung des Herrenwortes Mt 11, 13 widerspricht der gleichzeitigen Berufung auf Mt 5, 17: einerseits Geltung des Gesetzes nur bis Johannes, andererseits nicht Auflösung, sondern Erfüllung des Gesetzes. Die Großkirche verlegt ihren Selbstwiderspruch in Jesus selbst zurück; dieses Missgeschick widerfährt sogar Origenes: Er behauptet, Jesus habe seinen Jüngern verboten, am Beschneidungsgebot festzuhalten, aber davon ist in den Evangelien nirgends die Rede, außer bei Lukas, der gleichzeitig von der Beschneidung Jesu berichtet!

Die Judenchristen verweisen auf das Herrenwort Mt 10, 25: »Es muss dem Jünger genügen, zu sein wie der Meister« – d.h.: Jesus ist beschnitten worden, also müssen sich auch die Jünger beschneiden lassen.

Die Kirche kämpft mit dem umgedeuteten Mt 11, 13 gegen den Judaismus, mit Mt 5, 17 aber gegen Markion und die Gnosis, die sich ihrerseits auf Mt 11, 13 gegen die Kirche berufen.

Mt 5, 17-19 wird schließlich zum eigentlich umstrittenen Problem. Hier erklärt Jesus, dass er niemals bewusst darauf ausgeht, die Thora außer Kraft zu setzen, sagt er doch: »bis Himmel und Erde vergehen, soll kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes dahinfallen«, und: wer auch nur das kleinste dieser Gebote auflöse, werde der Geringste im Gottesreich heißen. 

Die Markioniten behaupten, dieses Wort sei von den Judenchristen gefälscht, ursprünglich hätte es gelautet: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu erfüllen, sondern es aufzulösen« – nur dieser Satz entspreche der Auffassung des Paulus.

Die großkirchlichen Theologen misshandeln den Text etwas vorsichtiger und raffinierter, sie zitieren immer nur: »nicht auflösen, sondern erfüllen«, was sich im Sinne der Partialrevision umdeuten lässt, unterschlagen jedoch die Fortsetzung Mt 5, 18 f, die jede Partialrevision deutlich ausschließt.

Die Judenchristen können sich gegen jede Revision oder Aufhebung mit Mt 5, 17 zur Wehr setzen; vermutlich machte sie dieses Wort auch schon zu entschiedenen Gegnern des Paulus.

Der bizarre Streit zeigt, dass bald niemand mehr in der Kirche Jesu Stellung zum Sinaigesetz richtig erfasste.

Was ist die Folge?

• Indem man die paulinische Lehre von der Aufhebung des Gesetzes durch den Tod Christi und dessen Zusammenhang mit der Engellehre aufgibt und Christus selbst zum Gesetzgeber macht, wird die Auffassung des Paulus vom Knechtsdienst des Gesetzes unter den herrschenden Engelmächten unhaltbar,

• die Kirche kann auch nicht der These des Paulus zustimmen, das Gesetz reize den Menschen zu seiner Übertretung, es wirke als der eigentliche Antrieb zur Sünde und der Gesetzesdienst sei ein Dienst am Tode (II Kor 3, 7). 

Je mehr die »Häretiker« sich auf diese Sätze berufen, die an der Gesetzgebung durch die Engelmächte festhalten, um so unhaltbarer werden sie für die Kirche. Der nachapostolischen Kirche wird Pauli ursprüngliches Verhältnis zu Jesus in der Lehre vom Gesetz immer unverständlicher: weil für ihn mit dem Tod Jesu und seiner Auferstehung als Christus das neue Äon begonnen hat, ist das Gesetz des alten abgetan. Er zieht damit die Folgerung aus Mt 5, 17-19, dass das Gesetz bis aufs letzte Jota in Kraft bleibt, bis zum Weltende, – aber keinen Tag länger (d.h. bis zum Ende der alten Welt). Da die Wiederkunft ausbleibt und das Christentum enteschatologisiert wird, kann die Kirche diesen eschatologischen Gedankengang nicht mehr denken. Mit ihrer neuen Lehre von Christus als dem neuen Gesetzgeber kommt die Kirche auch noch in Widerspruch zu Paulus Gal 4,4, wonach Jesus Christus vor seinem Tod »dem Gesetz untertan« gewesen sei.

Den interessantesten Kompromissvorschlag formuliert einer der bedeutendsten Gnostiker, der Theologe Ptolemäus, in seinem Brief an die Dame Flora. Nach ihm zerfällt die Thora in (a) Gebote Gottes, (b) Gebote des Moses und (c) Gebote der Ältesten des Judenvolkes.

Die Gebote Gottes

• in die reinen Gebote, deren Inhalt das Gute ist, die der Dekalog festhält, der von Christus nicht aufgelöst, sondern erfüllt, d.h., auf die höchste Stufe gebracht wird,

• und die gemischten Gebote, in denen das Gute noch mit dem Vergeltungsprinzip durchsetzt ist – diesen Teil des Gesetzes hebt Christus auf,

• schließlich die kultisch-zeremoniellen Gebote, die typisch-symbolisch sind. 

Der ungleichwertige Inhalt dieser göttlichen Gebote zeigt, dass ihr Urheber zwar keine widergöttliche Macht, aber auch nicht der vollkommene Vater Jesu Christi war, sondern eine mittlere Gottheit, der nur gerechte Weltschöpfer. Die Unvollkommenheit des Gesetzes liegt in der Unvollkommenheit des Gesetzgebers begründet, die Fähigkeit und Vollmacht Christi zur Revision dieses Gesetzes darin, dass er der Gesandte des höchsten Vatergottes ist, der über dem Gott des Sinai steht. Ptolemäus kombiniert Markion und die Lösungen der Großkirche miteinander. Epiphanius, der Ketzerrichter, antwortet auf diese elegante Lösung nur mit Schmähung und Schimpf. Selbst bringt er nichts Besseres vor und ist nicht intelligent genug, um zu verstehen, wie umfassend der Theologe Ptolemäus bemüht ist, allen Problemen Rechnung zu tragen, die die Lehre des Paulus dem nachapostolischen Christentum unter dem Zwang der Enteschatologisierung gestellt hat.

wird fortgesetzt


Anmerkungen:


[1] Martin Werner, Die Entstehung des christlichen Dogmas, Bern-Leipzig 1941.

[2] Martin Werner, Die Entstehung des christlichen Dogmas, Stuttgart 1959.

[3] »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen, Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich«.


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