Autoritäre Sprachregime, Tugendterror und identitäre Erregungen

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Bernd Stegemann, Professor für Dramaturgie in Berlin[1], hat es auf sich genommen, den kommunikativen Wahnsinn unserer Tage einer schonungslosen Kritik zu unterziehen. Wie zu erwarten, spielen in seiner Analyse autoritäre Sprachregime, Tugendterror und identitäre Erregungen eine herausragende Rolle. Bereits sein Buch Das Gespenst des Populismus (2017) enthielt längere Passagen über politische Korrektheit und schöne Seelen. In seiner neuesten Publikation Die Moralfalle (2018) wird die system- und diskurstheoretische Analyse dieser Erscheinungsformen postmodernen Irreseins fortgeführt und zugeschärft.

Stegemann versteht seine Untersuchungen als Selbstkritik, deren Ziel es ist, die »soziale Linke« (im Unterschied zur identitären) aus den diskursiven Sackgassen zu befreien, in die sie sich selbst hineinmanövriert hat. Indem große Teile der Linken den antiessentialistischen Versuchungen des postmodernen Denkens erlagen und sich von der großen Erzählung des Widerstreits der Klassen verabschiedeten, die die realen Widersprüche der Gesellschaft zum Ausdruck brachte, verdammten sie sich zur politischen Wirkungslosigkeit. Dass ihm aus dem Milieu, dem er sich selbst zurechnet, der Vorwurf entgegengehalten wird, er sei nach rechts abgedriftet, ist Symptom ebenjenes Wahnsinns, den er zu analysieren versucht. Gehen wir seinen Überlegungen hier in einem interpretierenden Gespräch etwas nach.[2]

Die Political Correctness, so Stegemann in Das Gespenst des Populismus, verdankt sich der Einsicht in die Macht der Sprache. Diese beeinflusst nicht nur Fühlen und Denken des Menschen, sondern auch sein Wollen. Als zentrales Medium der Kommunikation dient sie der Verständigung über Wahrnehmungen des sozialen Raums, in dem sich die Angehörigen dieses Raums bewegen. Da die Interpretation der Wirklichkeit von der Sprache abhängt, mit der sie beschrieben wird, liegt der Kurzschluss nahe, die Wirklichkeit werde durch ihre Beschreibung verändert.[3] Wer also die Herrschaft über die Sprache erringt, durch die die soziale Wirklichkeit beschrieben wird, beherrscht die Wirklichkeit. Wer die Machtverhältnisse verändern will, muss daher die Sprache verändern. Die Folge der Entdeckung, dass Sprache ein Instrument der Herrschaft ist, war, dass eine neue Klasse von Intellektuellen entstand, die sich darauf spezialisierten, Manifestationen der Macht, also Diskriminierungen, durch Worte aufzuspüren. Obwohl sie angetreten sind, Diskriminierungen zu beseitigen, bedienen sie sich mittlerweile umso massiverer Diskriminierungen all jener, die sich ihren Vorschlägen zum Umbau der Sprache nicht anschließen. Im Feld der politischen Korrektheit tat sich ein Abgrund zwischen Hypersensibilität auf der einen Seite und brutaler Bestrafung auf der anderen auf, – wer sich den Regelungen der gerechten Sprache nicht fügt, zieht Shitstorm und Hatespeech, Stigmatisierung und soziale Ächtung auf sich.

Die gesellschaftlichen Gruppen, die den Anspruch erheben, die Sprache nach ihren Vorstellungen politischer Korrektheit zu regulieren, unterscheiden sich nicht von den Propagandatechnikern totalitärer Regime, die ebenfalls wussten, dass das Denkbare beherrscht, wer das Sagbare bestimmt. Sie unterscheiden sich aber insofern von ihnen, als sie ihre Herrschaft über die Sprache nicht mehr wie jene durch die Macht, sondern durch die Ohnmacht begründen. Aus den Trümmern der dekonstruierten Hierarchien erhebt sich als neue Legitimationsinstanz das Opfer. Die politische Korrektheit gibt sich den Anschein, für unterdrückte Minderheiten zu sprechen, etabliert aber zugleich eine neue Hierarchie: jene der Opfer und ihrer Privilegien. »Je mehr die Macht der Sprachregulierungen anwächst«, so Stegemann, »desto wertvoller wird die Position des Opfers.« Nur das Opfer ist von den Regulierungen der Sprache ausgenommen und kann anderen vorschreiben, wie sie zu sprechen haben. Allein das Opfer darf entscheiden, wodurch es sich diskriminiert oder beleidigt fühlt. Das Gefühl des Opfers ist die letzte Instanz, die zwischen Freund und Feind, Gut und Böse entscheidet.

Die politischen und sozialen Folgen dieser Ermächtigung eines Gefühls zur höchsten Instanz sind fatal: »Jeder, der sich durch etwas in seiner Umwelt unangenehm betroffen fühlt, kann mit Hilfe der PC sein Gefühl zur Waffe gegen die Verursacher seines Unwohlseins machen. Die Parallele zu allen Formen der Denunziation ist leicht zu erkennen. Dass jemand eine Hexe, ein Verräter oder ein Feind ist, lässt sich am unwiderlegbarsten mit dem Gefühl begründen, dass einem irgendwie unwohl in dessen Nähe ist. Die Geschichte der Grausamkeiten zeigt, dass immer, wenn das Gefühl der Betroffenheit zur Legitimation einer gesellschaftlichen Ächtung taugte, es zum Freibrief für Willkür wurde: Ich fühle mich verletzt, also muss derjenige, der mich verletzt hat, dafür bestraft werden.«

Die logische Folge dieser Erhöhung des Opfers ist ein Kampf, der um dessen Status und seine Privilegien entbrennt. Aber dieser Kampf muss wiederum mit den Mitteln der politischen Korrektheit geführt werden. »Der Diskurs, der einst dazu führen sollte, die Waffen der Sprache menschlicher zu machen, ist die neue Waffe im Kampf um die begehrtesten Plätze, von denen aus man das Sprechen der anderen überwachen darf.«

Diese Verkehrung eines Instruments der Emanzipation in ein Instrument der Unterdrückung ist laut Stegemann die logische Folge eines Widerspruchs, der der politischen Korrektheit immanent ist. Seit jeher oszilliert sie zwischen einem partikularistischen und einem universalistischen Standpunkt. Sie kann ihre Herkunft aus der Postmoderne nicht verleugnen, die mit der Behauptung auftrat, das Ende alles Universellen sei gekommen und zugleich den Anspruch erhob, diese Behauptung sei universell gültig. Wie die postmoderne Philosophie widerspricht auch die politische Korrektheit sich selbst. Einerseits behauptet sie, jede Identität sei eine kulturelle Konstruktion und die Gewalt der Sprache liege darin, solche Konstruktionen festzumauern. Gleichzeitig schreibt sie aber ihrerseits Identitäten fest, die jenseits der Sprache existieren sollen. Einerseits wird der Essentialismus verneint, andererseits wird er bekräftigt. So sind z. B. Rassisten böse Menschen, sie sind keine kulturelle Konstruktion, sondern die Essenz des Bösen. Und Opfer bleiben Opfer, selbst wenn sie ihre Opferrolle längst dekonstruiert haben. So ist z. B. die Frau als soziale Rolle oder Geschlecht angeblich ein gesellschaftliches (kulturelles) Konstrukt, gleichzeitig darf aber nur als Frau sprechen, wer auch biologisch Frau ist. Rassisten hingegen, die als solche markiert wurden, hilft kein Sprechen mehr, sie sind jenseits aller Sprache böse.

Die Sprachherrschaft wirkt sich laut Stegemann schädlich auf die öffentliche Kommunikation und den sozialen Zusammenhalt aus: »Die intellektuellen Eliten haben die Sprachüberwachung und ihre Codes so hegemonial ausgebaut, dass man sie als die höfische Sprache unserer Zeit bezeichnen kann. Es braucht lange, um sie zu erlernen; sie hat ein fein differenziertes Vokabular für die größten Grausamkeiten und sie dient immer demjenigen, der sie am besten beherrscht. Der Aufstand mit den Mistgabeln der Populisten wirkt so ungeschlacht wie seinerzeit die Sprache der Bauern gegenüber dem Latein der Kirchenfürsten.« Aber wie der einstige, so wird auch der neue Feudalismus an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen. »Im Moment ist die offene Gesellschaft in eine historische Phase geraten, wo ihre größten Siege ihre größten Niederlagen sind. Jedes paradoxe Gerede über die unabsichtliche Arroganz des entwickelten Sprechens und die gegenseitige Bestätigung, dass man doch das Gute gewollt, aber vielleicht nicht immer die richtigen Worte gefunden habe, damit einen das einfache Volk auch versteht, treibt die Menschen scharenweise in die Arme der Populisten. Wenn die Eliten noch etwas tun wollen, um den Liberalismus und nicht nur ihre eigenen Privilegien zu retten, dann sollten sie anfangen, ihre Herrschaftssprache von den Paradoxien der Political Correctness zu befreien. Die anderen sind nicht dumm, nur weil sie nicht im PC-Duktus reden. Und nur weil man es geschafft hat, die Privilegien der Elite zu genießen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen werden zu können, ist man kein guter Mensch. Sprechen bedeutet nicht nur, die Kontrolle über die Sprache des anderen haben zu wollen.«

Aus den Paradoxien der politischen Korrektheit gehen einige ungewollte Folgen hervor: die Hypersensibilität in Fragen der Identität führt dazu, »dass jede dümmliche Provokation« zu einem unverhältnismäßig großen Echo führt. Der gute Wille, die böse Sprache zurechtzuweisen, bewirkt das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt, da die Provokateure den »Pawlowschen Reflex« längst durchschaut haben und ihn für ihren Popularitätsgewinn nutzen. Die Sprachregelungen schüchtern Menschen ein und lassen sie in der Öffentlichkeit verstummen. Da immer mehr Worte und Formulierungen aus dem öffentlichen Sprechen verbannt werden, wird es immer schwieriger, die eigenen Erfahrungen mitzuteilen. Aus Angst vor sozialer Ächtung unterwerfen sich immer mehr Menschen vorauseilend dem inneren Zensor. Das Feld wird den Provokateuren und Sprechpolizisten überlassen, die ihre ritualisierten Kämpfe austragen. Der Raum der Meinungsfreiheit wird immer enger, die öffentliche Meinung immer eindimensionaler. Und eben diese Verarmung des öffentlichen Sprechens, die durch das rigorose Sprachregime der politischen Korrektheit bewirkt wird, bereitet dem Populismus das Feld, auf dem er mit einfacher Sprache gegen Tabuisierung und Zensur agitieren kann.

»Das Projekt der PC«, so Stegemann resümierend, »ist schon lange an einem Punkt angekommen, wo es objektiv das Gegenteil von dem bewirkt, wofür es mal angetreten war. Was Diskriminierung bekämpfen wollte, produziert Ausschluss aus dem öffentlichen Sprechen, und was die Waffen der Sprache zivilisieren wollte, hat zu einer gewalttätigen Sprachpolizei geführt, vor der sich immer mehr Menschen fürchten, und was die Gesellschaft gleicher machen wollte, hat zu einem Diskurs geführt, der die Eliten vor jeder Kritik schützt.«

Was haben nun mit alledem die schönen Seelen zu tun? Die in der Romantik beheimateten schönen Seelen, die an der schlechten Endlichkeit litten und sich deswegen in die noch schlechtere ihrer Subjektivität zurückzogen, waren für Hegel das einzig »absolut Böse«. Denn, wer sich von der Welt zurückzieht, um ihrer Schlechtigkeit zu entgehen, macht sich an ebendieser Schlechtigkeit mitschuldig, er rettet zwar seine eigene Seele, überlässt dafür aber den Rest der Menschheit um so mehr der Brutalität der Mächte dieser Welt.

Wiedergänger der schönen Seele im Zeitalter der Postmoderne ist der »Gutmensch«. Allerdings hat er sich gegenüber jener den strategischen Vorteil verschafft, dass schon seine Benennung den Benenner moralisch diskreditiert, da er sich des politisch unkorrekten Sprechens verdächtig macht. Der Gutmensch ist jedoch ebenso wie seine Vorgängerin mit Widersprüchen behaftet, aus denen er nicht zu entrinnen vermag. Er verdankt seine Existenz einem Paradoxon: alle sozialen Verabredungen sollen eine Konstruktion sein, allein die Theorie, die dies behauptet, nicht. Wer sich dieses Paradoxons zu bedienen versteht, genießt gegenüber allen anderen im Streit der Meinungen einen strategischen Vorteil. Die Nachteile dieses Paradoxons treten jedoch zutage, wenn unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen sich derselben Technik der paradoxen Kommunikation bedienen.

Am Beispiel der Flüchtlingsdebatte arbeitet Stegemann diese Nachteile heraus. Sie führte zu einem Wettbewerb um die vorteilhafteste Paradoxie. Die Vertreter von offenen Grenzen sahen ihren moralischen Vorteil plötzlich von Feministinnen und Homosexuellen in Frage gestellt, die vor der zunehmenden Frauen,- Juden- und Schwulenfeindlichkeit durch die wachsende Zahl muslimischer junger Männer warnten. Im Inneren des zuvor einigen Lagers entstand ein Wettkampf um die überlegene moralische Position. Als 2016 beim Berliner Karneval der Flüchtlinge Palästinenser mit Anti-Israel-Parolen auftraten, begann die gesamte Moralarchitektur des Gutmenschentums zusammenzubrechen. Die Konkurrenz der Opfergruppen überforderte die manichäische Logik der liberalen Gesellschaft.

Dieses Dilemma ließ die Frage aufkommen, ob die Konkurrenz um die beste Opferposition das geeignete Instrument ist, um die wachsenden gesellschaftlichen Widersprüche politisch auszutragen. Die Geschichte belehrt darüber, dass »Moralisierungen oder Theologisierungen von Gegensätzen immer zu gewalttätigen Auseinandersetzungen« führen. Wer sich im Besitz des richtigen Glaubens oder der richtigen Moral wähnt, ist nicht mehr bereit, die anderen anzuerkennen. Der Aufklärung verdankte das Abendland die Technik, moralische oder theologische Konflikte in die Form der Politik zu übersetzen, was ihren Ausgleich auf dem Verhandlungsweg begünstigte.

Diese Funktion der Politik erscheint im Zeitalter der Postmoderne von zwei Seiten bedroht. Immer mehr Entscheidungen werden nicht mehr aufgrund politischer Debatten gefällt, sondern aufgrund von Sachzwängen auf dem Verwaltungsweg. Die getroffenen Entscheidungen werden als alternativlos gerechtfertigt. Politik wird zur Postpolitik, die wie der Markt funktioniert. Lösungen werden nicht mehr vom Souverän ausgehandelt, sondern von einer Nomenklatura, die für sich die alleinige Kompetenz beansprucht, die Sachzwänge zu verstehen und die notwendigen Maßnahmen daraus abzuleiten.

Die zweite Bedrohung geht vom postmodernen Denken aus, das sich weigert, die Existenz von Tatsachen anzuerkennen, die unabhängig von Interpretationen existieren und von den Tabus der politischen Korrektheit, die diese philosophische Position in Politik übersetzt. Auf dem durch diese Haltungen eingeengten Feld bleiben nur zwei mögliche Formen öffentlichen Sprechens übrig: entweder die Identifikation mit einer moderierenden Vernunft, die keine Entscheidungen mehr trifft, sondern lediglich die bereits vom Markt getroffenen Entscheidungen als alternativlos kommuniziert, oder die Identifikation mit der Realitätsverleugnung der Postmoderne, die nur noch »Gender und Race als paradoxe soziale Konstruktionen« zulässt.[4]

Diesem »postfaktischen Sprechen der Postmoderne« stellt sich eine Fundamentalopposition entgegen, die sich ihrerseits auf die Realität des Gefühls beruft. Beide Positionen unterstellen sich gegenseitig, die Realität zu verkennen, und dadurch zur Entstehung der Probleme beizutragen, deren Existenz und Beschaffenheit umkämpft ist.

Am Beispiel der Kölner Silvesternacht 2015/16 verdeutlicht Stegemann die Konsequenzen dieser Frontstellung. Berichte über die Bedrängungen von Frauen durch Muslime wurden als Ausdruck von Rassismus diffamiert, gleichzeitig wurde der mangelnde Schutz von Frauen in der Öffentlichkeit als Gefahr für die Zivilgesellschaft kritisiert. Während die einen die vielen Berichte von Betroffenen mit dem Argument verharmlosten, sie seien Ausdruck rassistischer Vorurteile, beklagten sich die anderen über das Tabu, die problematischen Folgen der Flüchtlingspolitik überhaupt öffentlich zu thematisieren.

Im Verlauf der Debatte gewannen immer mehr Menschen den Eindruck, das Sagbare decke sich immer weniger mit ihren Alltagserfahrungen. Der Verdacht wuchs, das öffentliche Sprechen werde von der unausgesprochenen Regel beherrscht, die Willkommenskultur müsse vorbehaltlos bejaht werden und Kritik an ihr werde »mit dem sofortigen Rauswurf aus der bürgerlichen Gesellschaft« bestraft. Je mehr Medien und Politik die positiven Aspekte der offenen Grenzen hervorkehrten, desto misstrauischer wurden viele. »Immer mehr Menschen« so Stegemann, »fühlten sich bevormundet und in ihrer Moral gekränkt, da ihnen implizit unterstellt wurde, dass sie bei jeder schlechten Nachricht automatisch zum Rassisten werden würden. Die Folge war eine erstickte Debatte, die sowohl dem politischen Klima wie dem Glauben an die liberalen Umgangsformen einen Bärendienst erwiesen hat.«

Die an die Ereignisse der Kölner Silvesternacht anschließende Debatte ließ die Dilemmata des Gutmenschentums, das sich mit der politischen Korrektheit verbündet hatte, offenbar werden. Das Problem war die von vorneherein eingehegte Berichterstattung. Die Medien hatten ein idealisiertes Bild der Flüchtlinge erzeugt, in dem diese als »bessere Ausfertigung des deutschen Arbeitslosen« erschienen, die außerdem durch das Distinktionsmerkmal der Exotik ausgezeichnet waren, das dem mondänen Bürgertum besonders zusagte. »In der Hochphase der moralischen Bevormundung konnte man Texte von Professorinnen in Philosophiemagazinen lesen, die darüber schwärmten, wie toll es doch sei, zwei junge, verwegen aussehende syrische Männer in die inzwischen verwaiste Villa aufzunehmen. Man stelle sich kurz den Aufschrei vor, wenn der Text von einem Mann geschrieben worden wäre, der zwei junge, verwegen aussehende syrische Frauen bei sich aufgenommen hätte, um das Maß an Sexismus und Rassismus darin zu sehen.«[5]

Das Hauptvergehen der jungen Männer in der Silvesternacht bestand darin, dass sie nicht dem von ihnen zuvor gezeichneten idealisierten Bild entsprachen, sondern sich als das entpuppten, was sie waren: traumatisierte und anders sozialisierte Menschen. Ohne Idealisierung keine Enttäuschung. Wäre die kritische Debatte über die Willkommenskultur nicht von Anfang an moralisierend unterbunden worden, hätten die Enttäuschungen vermieden werden können und die mit der Einwanderung »anders sozialisierter Männer« verbundenen Probleme realistisch diskutiert werden können. Die Unterdrückung dieser kritischen Debatte arbeitete dagegen den »willkommensfeindlich gesinnten Rassisten« in die Hände.

»Die Political Correctness«, so Stegemanns Fazit, »ist in der Verbindung, die sie mit dem moralisierenden Sprechen der Gutmenschen eingegangen ist, nicht mehr Teil der Aufklärung und keine Waffe mehr im Kampf der Schwachen gegen die Starken, sondern eine reaktionäre Kraft.«

Die Umrisse dieser Fundamentalkritik werden von Stegemann in seinem neuen Buch Die Moralfalle (2018) ausgebaut und vertieft. In dessen zentralem Kapitel Linke Diskurse und Moral werden die hier vorgestellten Analysen zugespitzt und bis in ihre letzten scholastischen Verzweigungen nachgezeichnet. Auch in diesem Kapitel geht es um Identitätspolitik und politische Korrektheit. Auch auf die Flüchtlingsdebatte kommt Stegemann zurück, in der sich nunmehr linke Moralisten und linke Realisten gegenüberstehen. Das Kapitel ist Gegenstand des folgenden Beitrags.

Berndt Stegemann, Das Gespenst des Populismus, Theater der Zeit 2017, 180 S., 14 Euro


Anmerkungen:


  1. An der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Außerdem ist Stegemann Dramaturg am Berliner Ensemble, sowie zusammen mit Sahra Wagenknecht Mitinitiator und Stratege der linken Sammlungsbewegung »Aufstehen«.
  2. Auffallend ist, wie sehr sich die linke Kritik an Identitätspolitik und political correctness und jene von rechts, die im Buch Mit Linken leben von Lichtmesz und Sommerfeld nicht weniger geistreich vorgetragen wird, überschneiden, auch wenn sie von diametral entgegengesetzten Voraussetzungen ausgehen. 
  3. In Wahrheit wird durch die Veränderung der Beschreibung nicht das Beschriebene verändert, sondern nur die Beschreibung selbst. Der Theorie der Konstruktion der Wirklichkeit durch die Sprache liegt ein Rückfall in die magische Denkform zugrunde, in der Symbol und Gegenstand austauschbar sind.
  4. In diesem aufs Äußerste verdichteten Gedankengang steckt eine der Grundthesen Stegemanns, die hier nicht weiter erläutert werden kann, wonach es lediglich drei Formen des Populismus gibt: einen liberalen, einen rechten und einen linken. Der emanzipatorische Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der gegen Thron und Altar gerichtet war, wurde Ende des 20. unter dem Einfluss des alles zersetzenden postmodernen Denkens vom Neoliberalismus pervertiert. Die ehemals auf die Befreiung des bürgerlichen Individuums gerichtete Parole der Freiheit richtet sich nunmehr auch gegen die Klasse ihrer einstigen Erfinder. Sie dient dem global aktiven Kapital, das alle Grenzen niederreißt und die vollständige Vermarktung der entwurzelten Individuen im Namen der Selbstoptimierung betreibt und dabei die Flüchtlingsströme als Verfügungsmaterial für Lohndumping ausnutzt. Der liberale Populismus ist die Deckerzählung dieser Kapitalinteressen, die sich auch die linke Identitätspolitik zunutze machen, um die Besinnung auf übergreifende Klassengegensätze zu verhindern. Der rechte Populismus wendet sich gegen die Zertrümmerung der traditionellen Ordnung, indem er kollektive Identitäten wie Volk oder Nation beschwört. Der linke, der einst im Namen der Arbeiterklasse gegen das Besitzbürgertum revoltierte, existiert nicht mehr, müsste jedoch reaktiviert werden, um die wahren Interessen der Entrechteten und Ausgebeuteten wieder zum Vorschein zu bringen und der endgültigen Erosion der offenen Gesellschaft Einhalt zu gebieten.
  5. Stegemann verweist an dieser Stelle auf den Artikel Barbara Vinkens »Stellt die Tatsache, dass 80 Prozent der Flüchtlinge (muslimische) Männer sind, aus feministischer Sicht eine besondere Herausforderung dar?«, der in Heft 2/2016 des philosophie magazins erschienen ist.

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