Moral als Falle – die Paradoxien des identitären Diskurses von links

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Bernd Stegemanns neues Buch, Die Moralfalle, nimmt seinen Ausgang von der Analyse paradoxer Kommunikation. Seine Analyse ist kritisch und richtet sich an Leser, die sich als »Linke« verstehen, ist aber für Nichtlinke nicht weniger interessant. Eine salvatorische Klausel darf angesichts des Wagnisses nicht fehlen. »Auch wenn manche Passagen sehr hart mit linken Denkweisen und Argumentationen ins Gericht gehen«, schreibt er, »richtet sich diese Kritik nie gegen das Projekt einer sozialen und offenen Gesellschaft, sondern versucht es zu stärken, indem mögliche Fehlentwicklungen bei seiner kommunikativen Durchsetzung und Verteidigung analysiert werden«. Lassen wir uns, wie bei der vorherigen Besprechung, interpretierend auf einige seiner Gedankengänge ein.

Für die paradoxe Kommunikation steht bei Stegemann die Fabel vom Hasen und vom Igel. Diese verabreden einen Wettlauf. Der schlaue Igel positioniert jedoch seine Frau ans eine Ende der Rennbahn, sich selbst an das andere. Kommt der Hase am Ziel an, befindet sich dort immer schon ein Igel und das tragische Ende ist der Tod des Hasen, der sich vergeblich abhetzt.

Die Verdoppelung des Igels steht für die Verdoppelung einer rhetorischen Position, die es erlaubt, zwei sich widersprechende Standpunkte zugleich einzunehmen. Ein Dritter, der einen der beiden Standpunkte zu widerlegen versucht, wird sogleich mit der gegenteiligen Position konfrontiert und seine Argumentation läuft ins Leere. Diese politische Strategie ist Lesern Rudolf Steiners vertraut. 1916 erläuterte er in Ausführungen über das fiktive Testament Peters des Großen die historische Dialektik, an der sich das Handeln mancher politischer Eliten schon damals orientierte: »Nun handelt es sich, wenn man durch so etwas wirken will, immer darum, dass man nicht bloß eine Strömung erregt, sondern dass man die eine Strömung immer durchkreuzt mit einer andern, so dass sich diese beiden Strömungen in irgendeiner Weise gegenseitig beeinflussen.

Denn man erlangt nämlich nicht viel, wenn man mit einer Strömung gewissermaßen nur geradeaus läuft, sondern man muss manchmal von der Seite her ein Licht werfen können auf diese Strömung, damit sich manches verwirrt, damit sich manche Spuren verwischen, damit sich manches sozusagen in ein undurchdringliches Dickicht hineinverliert. So etwas ist sehr wichtig. Daher kommt es auch, dass sich gewisse okkulte Strömungen, welche das eine oder das andere Ziel verfolgen, zuweilen ganz entgegengesetzte Aufgaben setzen. Aber diese entgegengesetzten Aufgaben wirken so, dass sie gewissermaßen alle Spuren verwischen«.[1]

Ein Beispiel aus der neueren politischen Debatte illustriert diese Dialektik der paradoxen Kommunikation: der CDU-Gesundheitsminister schlug vor, Menschen aus Billiglohnländern anzuwerben, um die Pflegemisere zu beheben, die nicht zuletzt auf die niedrigen Löhne zurückzuführen ist, mit welchen Beschäftigte in sozialen Berufen abgefunden werden. Die Linke kritisierte diesen Vorschlag, da er nicht zu einer Erhöhung der Löhne, sondern möglicherweise sogar zum Gegenteil führen würde. Die Grünen wiederum begrüßten den Vorschlag als Zeichen der Fremdenfreundlichkeit und warfen der Linken Fremdenfeindlichkeit vor. Der Kritik aus sozialer Perspektive wurde eine Entgegnung aus moralischer Perspektive entgegenhalten. Während die CDU die soziale Gerechtigkeit unterminierte, sekundierten ihr die Grünen mit einer moralischen Argumentation, die mit der Kritik der Linken nichts zu tun hatte, aber geeignet war, sie zu diskreditieren. Die beiden Regierungsparteien bildeten ein Bollwerk, das die »Globalisierung des Arbeitsmarktes und die Gewinnchancen des Kapitals steigerte«. Die beiden Igel konnten den linken Hasen zu Tode hetzen.

Das Beispiel illustriert Stegemanns Begriff der »Moralfalle«: er bezeichnet eine Kommunikationsstrategie, die angeblich der moralischen Position nutzt, diese aber in Wahrheit schwächt. Aufgrund der inflationären Anwendung dieser paradoxen Kommunikationsstrategie sieht der Autor die westlichen liberalen Demokratien inmitten eines neuen Kulturkampfes. In diesem stehen sich nicht die einstigen Progressiven und Reaktionäre gegenüber, jene, die sich für eine weltoffene, humane und fortschrittliche Gesellschaft einsetzen, während die anderen die Grenzen schließen wollen, da sie in den Fremden die Ursache aller Probleme sehen und auf den Wiederaufbau einer hierarchisch geordneten Welt hoffen. Denn diese Positionen gibt es längst nicht mehr. Vielmehr haben sich sowohl die Rechte als auch die Linke verdoppelt. Rechts stehen Ressentiment und Nationalismus, rechts steht aber auch der Neoliberalismus, der sich für Weltoffenheit und Diversität ausspricht. Links steht das Engagement für soziale Gerechtigkeit und eine Identitätspolitik, die sich ebenfalls für Diversität und deren Anerkennung stark macht. Dies führt zu bisher für unmöglich gehaltenen Allianzen: Neoliberalismus und Identitätspolitik, aber auch der Einsatz für soziale Gerechtigkeit und das Ressentiment können sich verbünden. Die alten Frontstellungen sind passé.

In der öffentlichen Kommunikation ist ein Streit über die Realität entbrannt. Grund ist die moralische Aufladung dieser Kommunikation. Befeuert wird er durch die Anwendung der genannten Paradoxien. Die Folgen sind fatal: die Vertreter der Moral wiegen sich in falscher Sicherheit, die im Meinungskampf Unterlegenen werden gedemütigt. Die Moralisten werden mit jedem Sieg im Wettstreit der Meinungen arroganter, die Unterlegenen immer wütender, da sie ihre Positionen aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt sehen.

Da immer mehr Menschen und Meinungen durch die moralisierende Kommunikation ausgeschlossen werden, wird am Ende die Realität selbst zur Bedrohung. Die öffentliche Debatte verarmt, die Verteidiger der offenen Gesellschaft werden immer blutleerer und belehrender. Der politische Streit wird durch moralische Gängelung ersetzt, an die Stelle des Widerspruchs tritt die Bevormundung, die das Ansprechen realer Probleme verbietet.

Die Folgen dieser Kommunikationsform illustriert Stegemann anhand der seit 2015 dominierenden Flüchtlingsdebatte. Vor diesem Schicksalsjahr galt in Deutschland die Unterscheidung zwischen Asyl und Migration. Das Fehlen eines Einwanderungsgesetzes machte Arbeitsmigration aus außereuropäischen Ländern nahezu unmöglich, Asyl konnte aufgrund der Verfassung und internationaler Verträge beantragt werden. Durch den Verzicht auf die Anwendung der Dublinvereinbarungen wurde die bis dahin geltende Unterscheidung aufgehoben, die individuelle Überprüfung der Asylberechtigung ausgesetzt.

Jeder, der an der Unterscheidung zwischen Migration und Asyl festhielt, wurde seitdem der Menschenfeindlichkeit, des Nationalismus oder des Rassismus bezichtigt, die vormalige Differenzierung durch die Schöpfung eines neuen Begriffs denkunmöglich gemacht. Statt von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten durfte man nur noch von »Geflüchteten«, später »Schutzsuchenden« sprechen. Die neuen Begriffe unterliefen die bisherige Unterscheidung zwischen berechtigter und unberechtigter Einwanderung, an die Stelle von Realpolitik und Verantwortungsethik war ein moralischer Appell getreten. Wer etwas gegen die Aufnahme von »Schutzsuchenden« einwendete, diskreditierte sich. Wer beteuerte, Flüchtlingen müsse geholfen werden, aber darauf bestand, über den Umfang von Arbeitsmigration solle ein politischer Konsens erzielt werden, sah sich auf verlorenem Posten. Die Vertreter der Moral definierten fortlaufend die Realität um: Asylanten wurden zu Arbeitsmigranten erklärt, Arbeitsmigranten, die vor Armut flohen, durften nicht abgewiesen werden, obwohl es weiterhin keine Einigung über Zuwanderung gab. Ein moralischer Imperativ der Hilfeleistung wurde aufgerichtet. Die Maximalposition fasste der groteske Satz »Kein Mensch ist illegal« zusammen, der zur Forderung führte, alle Grenzen niederzureißen. Ausgeblendet wurden die Kosten für den Wohlfahrtsstaat, die drohenden Verteilungskämpfe in den ärmeren Teilen der Gesellschaft und die Sogwirkung einer solchen Politik auf die Elenden der Welt.

Die Position der Moral verschanzte sich hinter einem wirkungsvollen Paradoxon, das jede rationale Kritik verunmöglichte. Das durch das es verschleierte Dilemma besteht darin, dass die humanistischen Werte Europas es verbieten, Menschen leiden oder sterben zu lassen, dass jedoch die Aufnahme aller Notleidenden das humanistische Europa unweigerlich zerstören würde. »Denn schneller als die Flüchtlinge kämen«, so Stegemann, »entstünden faschistische Bewegungen, die genau dieses verhindern wollten. Und auch die Fähigkeit zur Integration von Menschen, die nicht mit den europäischen Werten vertraut sind, ist in den aufnehmenden Gesellschaften begrenzt. Eine grenzenlose Hilfe für Menschen in Not droht die Gesellschaft zu zerstören, die aufgrund ihrer Werte diese Hilfe gewähren will«.

Die Flüchtlingsdebatte ist jedoch nicht der einzige Schauplatz der Spaltung. Weitaus tiefer greifen laut Stegemann die Paradoxien des Neoliberalismus in den Alltag des Menschen ein. Der paradoxe Zwang zur Freiheit, den er propagiert, lässt sich auf die Formel bringen: »Sei ganz du selbst, aber passe dich vollständig an die Bedingungen des Arbeitsmarktes an«. Die Folge dieses Axioms ist die zunehmende Erschöpfung der Menschen und die Atomisierung der Gesellschaft, der jegliches Verständnis für Solidarität verloren geht, da jeder nur noch für sich selbst kämpft.

Statt jedoch für diesen immer größer werdenden Teil der verarmenden Bevölkerung auf die Barrikaden zu steigen, hat sich die Linke in die »Identitätspolitik« verstiegen – genauso gut könnte man von »identitärer« Politik sprechen, diese ist also kein Privileg der Rechten. Durch ihren Einsatz für ethnische und sexuelle Minderheiten ist sie zu einem für diesen willkommenen Werkzeug des Neoliberalismus mutiert. Sie ist »die moralische Anwendung des neoliberalen Paradoxes«. Marginalisierte Gruppen sollen dadurch Anerkennung erlangen, dass sie in ihrer Besonderheit innerhalb der Gesellschaft sichtbar gemacht werden. Identitätspolitik beruht auf der Voraussetzung, dass die Identität der Mehrheitsgesellschaft eine (soziale) Konstruktion ist, die jedoch nicht auffällt, weil sie als Normalität betrachtet wird. Stegemann hält diese Voraussetzung für »zutreffend«, attestiert der Identitätspolitik aber trotzdem bloß eine »Schieflage«, obwohl diese Schieflage eindeutig eine Konsequenz der genannten Prämisse ist. Das »identitätspolitische Paradox« besteht darin, Gleichberechtigung zu erzeugen, indem Gruppen anhand bestimmter Merkmale – religiöser, ethnischer, geschlechtlicher, sexueller oder kultureller Besonderheiten – aus der Masse herausgehoben werden. Gleichheit soll durch Betonung der Ungleichheit hergestellt werden. Wir kommen weiter unten auf dieses Paradox zurück.

Gemeinsam tragen das identitätspolitische und das neoliberale Paradox zur Spaltung der Gesellschaft bei. Während sie aufgrund des ersteren in Gruppen zerfällt, die Sonderrechte für sich beanspruchen, wird sie durch das letztere bis in ihre kleinsten Bestandteile atomisiert. Die Folge sind immer heftigere Angriffe auf die offene Gesellschaft, weil sowohl die Privilegierung einzelner Gruppen als auch das Zerschneiden des sozialen Bandes durch moralische Narrative gerechtfertigt wird. Wenn die Klage über prekäre Existenzbedingungen mit dem Hinweis darauf abgetan wird, dass die globale Welt keine Grenzen kennt oder der Wunsch nach Heimat als reaktionäre, wenn nicht gar faschistische Sehnsucht verschrien wird, »ist niemandem geholfen«. Die aggressive Moral schürt Konflikte, die sie selbst nicht befrieden kann, denn Menschen lassen sich nicht gerne umerziehen. Immer mehr Menschen dämmert es, dass »mit der herrschenden Moral etwas nicht stimmen kann«.

Angesichts dieser Entwicklung empfiehlt Stegemann die Argumentationsstrategie zu überdenken. Denn inzwischen sind die Kernbegriffe des linksliberalen Denkens, »Freiheit, Selbstbestimmung und Offenheit zu Kampfbegriffen im neoliberalen Arbeitsregime« verkommen. Der Aufwand für die Verteidigung dieser unsozialen Politik wird immer größer, die Argumentation immer verlogener. Aufgabe der Linken wäre es, die Ungerechtigkeit der Gesellschaft anzuprangern. Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, dass sie sich gleichzeitig vom rechten Alarmismus und vom liberalen Konformismus abgrenzen muss. Statt die materielle Ungleichheit zu thematisieren, kollaborieren Teile der Linken mit dem einschläfernden Optimismus der Regierungsparteien, während andere in identitären Erregungswellen versinken. Beide verlieren den entscheidenden Punkt aus den Augen: nicht kulturelle, sondern ökonomische Gründe treiben die Wähler nach rechts. Dieser Diagnose mag man zustimmen oder auch nicht, was uns hier interessiert, ist die Kritik an der identitären Bewegung von links. Wenden wir uns daher dem Kapitel »Linke Diskurse und die Moral« zu.

»Moral« ist für Stegemann eine Form der Kommunikation, bei der es um Zuteilung sozialer Achtung und Anerkennung oder um Missachtung und Verweigerung dieser Anerkennung geht. Identitäre Politik fördert den »moralischen Populismus innerhalb der politischen Kommunikation«. Die identitäre Ausgangsposition hält er – wir haben es bereits erwähnt – für zutreffend: die jeweils herrschende Meinung und Lebensweise betrachten sich nicht als Sonderfall, sondern als Norm. Von dieser Norm abweichende Lebensformen müssen sich dagegen rechtfertigen und werden häufig diskriminiert. Identitäre antworten auf diese Diskriminierung mit einer doppelten Strategie: sie übernehmen die abwertenden Benennungen, durch die sie von der Mehrheit ausgegrenzt werden und deuten sie als Auszeichnung um. »Nigger« und »Kanake« werden so zu Ehrennamen, wenn sie als Selbstbezeichnung benutzt werden. Gleichzeitig sammeln sich die Ausgegrenzten in ihrer Gruppenidentität und bilden eine Binnensolidarität gegen die Mehrheitsgesellschaft aus. Umdeutung der negativen in eine positive Stigmatisierung und Selbstermächtigung sind die beiden Mittel der Wahl, um eine nach außen und innen starke Identität zu schaffen.

Die Postmoderne hat jedoch der Identitätspolitik einen problematischen – paradoxen – Drall verliehen. Seither lautet die an die Mehrheitsgesellschaft gerichtete Parole: »Nimm mich in meiner Besonderheit wahr und zeige mir zugleich, dass dieser Unterschied für dich keinen Unterschied bedeutet.« Man will also als etwas Besonderes anerkannt und zugleich absolut gleichwertig und gleichberechtigt sein. Es ist leicht einzusehen, dass beides nicht zusammen zu haben ist. Sich über sein Anderssein zu definieren und dieses Anderssein gleichzeitig zu leugnen, ist ein logischer Widerspruch.

Die identitäre Handlungsanweisung an die Mehrheit erinnert an eine Double Bind-Situation. In ihr werden widersprüchliche Botschaften ausgesandt, und zu entscheiden, welche der Botschaften gilt, obliegt nicht dem Adressaten, bzw. wenn er es tut, kann er keine richtige Antwort auf die paradoxe Ansprache finden. Er ist also in einem Dilemma gefangen und unfrei. Auch identitäre Gruppen beanspruchen die Entscheidungsmacht darüber, wie die Identitätsmarker, die sie sich selbst zuschreiben, im Einzelfall zu verstehen sind und ob ihre Unterschiede überhaupt als solche benannt werden dürfen oder nicht. Die identitäre Community macht sich durch diese paradoxe Strategie unangreifbar, trägt damit aber auch zur Zersplitterung der Gesellschaft bei. Denn was der einen Minderheit recht ist, ist der anderen billig. Da ihre gegensätzlichen Positionen nicht mehr vermittelbar sind, rufen sie die Mehrheitsgesellschaft als Schiedsrichter an, die sie ansonsten für ihre Diskriminierung verantwortlich machen. Als Beispiel führt Stegemann den islamischen Antisemitismus in Deutschland an. Da die Verurteilung dieses Antisemitismus als Islamophobie gedeutet wird, schadet der Verzicht auf eine solche Verurteilung der angegriffenen (jüdischen) Minderheit, die in diesem Verzicht einen Ausdruck von Antisemitismus sieht. Eine typische Double Bind-Situation. Die Mehrheitsgesellschaft verhält sich immer falsch, »da es immer eine Community gibt, die sich nicht genügend respektiert fühlt oder eine andere zu stark beachtet findet«. Will sie Integration fördern, wird ihr Paternalismus vorgeworfen, wendet sie sich gegen Antisemitismus als Ausdruck partikulärer (islamischer) Identität, wird ihr Islamophobie vorgeworfen.

Das identitäre Paradox fördert »Feindschaft und Gemeinschaft, Ermutigung und Ausgrenzung« zugleich. Und es wendet laut Stegemann ein Argument aus Nietzsches Genealogie der Moral zu seinen eigenen Gunsten: Während dieser die Moral insgesamt zu einer List der Schwachen erklärte, erhebt jenes den Opferstatus zur höchsten moralischen Instanz: »Das Opfer ist nach dieser Logik immer und absolut unschuldig und ihm muss immer und absolut geglaubt werden. Mit dieser doppelten Sonderstellung tritt es aus allen anderen gesellschaftlichen Positionen heraus und wird zu einer unkritisierbaren Instanz. Ist eine solche Position einmal durchgesetzt, so führt sie zu beträchtlicher sozialer Macht.« Die Berufung der Unterlegenen auf die Moral dient nicht mehr nur dazu, den Mächtigen ein schlechtes Gewissen einzureden, sondern die Position des Unterlegenen absolut zu setzen.

Dem Opferstatus kommt in der neueren identitären Diskussion eine zentrale Bedeutung zu. Durch dessen Verabsolutierung hat sich ihre ursprüngliche Intention: die der Emanzipation und des Empowerment jedoch in ihr Gegenteil verkehrt, da die Opferrolle mehr Vorteile verspricht, als der Ausstieg aus ihr. Die Konsequenzen dieser Verabsolutierung des Opferstatus illustriert Stegemann an der Metoo-Debatte.

Ursprünglich angetreten, um männlichen Chauvinismus und sexuelle Gewalterfahrungen anzuprangern, entwickelte sich Metoo zu einer unduldsamen Ideologie, die gegen Kritiker Gewalt ausübte. Frauen, die es wagten, darauf hinzuweisen, dass Frauen nicht nur Opfer seien und einzelne schlechte Erfahrungen nicht das ganze Leben bestimmen müssten, wurde ebenfalls an den Pranger gestellt und sogar aggressiver angegriffen als die männlichen Chauvinisten, um die es ursprünglich ging. Die anfängliche Ermutigung der Opfer wandelte sich in deren Glorifizierung. »Der Gewinn, der aus einer Position gezogen wird, von der aus man gegen alle Welt klagen und dafür absolute Anerkennung verlangen darf, scheint größer zu sein als der einer Befreiung aus der unterlegenen Position. Indem die Opferposition dergestalt absolut gesetzt wird, kann sie dann für andere Interessen instrumentalisiert werden. Wenn in dem einen Diskursfeld kein Erfolg erzielt wird, wechselt die Position ins Feld der Identitätspolitik und greift zum Vorwurf der Diskriminierung.«

Ein weiteres Phänomen der identitären Kommunikation ist der sich selbst immunisierende Sprecher. Wer aufgrund seines Status absolut gesetzt wird, gegen den ist Widerrede nicht mehr erlaubt. Jeder mögliche Einwand erscheint als Relativierung und damit Diskriminierung, als Verteidigung der falschen Position. »Eine soziale Situation, in der nur die eine Seite sprechberechtigt ist, um der anderen Seite, die schweigen muss, Vorwürfe zu machen, erinnert sehr an autoritäre Erziehungsmethoden«, so Stegemann. Das Problem an dieser einseitigen Ermächtigung liegt seiner Auffassung nach jedoch nicht darin, dass mit einer solchen Logik »der umgedrehten Machtverhältnisse schon immer die Grausamkeiten von Revolutionen entschuldigt« wurden, sondern vielmehr darin, dass die Perpetuierung der einseitigen Ermächtigung über den aktuellen Anlass hinaus eine neue Machttechnik etabliert. Die Entgegnung auf diesen Einwand, es liege allein an den Opfern, zu entscheiden, welche Mittel sie zu ihrer Selbstermächtigung nutzen wollten, legt seiner Ansicht nach den Kern des identitären Paradoxons offen: »es will Gleichheit nur als Folge einer Entscheidung, die von der Seite der Opfer aus getroffen wird.« »So bringt sich die Opfergruppe in die Lage, darüber entscheiden zu können, wer Täter und wer Opfer ist, und macht sich damit zum Täter der Unterscheidung« zwischen Gut und Böse und erklärt sich selbst für uneingeschränkt gut.

Die Umwertung der Werte, auf der die Aufwertung des Opferstatus beruht, führt zu einer »doppelbödigen Moral«. »Sie behauptet eine Gruppenidentität aufgrund von Diskriminierung und verlangt zugleich, dass diese Diskriminierung aufgrund einer Gruppenidentität aufhören soll und dennoch ihr Status als Opfer erhalten bleiben muss.« Diese paradox konstruierte Identität erweist sich in der politischen Auseinandersetzung als so vorteilhaft, dass das Interesse daran, sich aus ihr befreien, rapide abnimmt. »So kommt es zu der Pointe, dass die Identität, die aus der Dekonstruktion des Konzepts von Identität hervorgegangen ist und dadurch Unterschiede beseitigen wollte, heute die robusteste und erkennbarste Identität ausgebildet hat: die Opferidentität. Ihre Strategie besteht darin, vollständige Anerkennung für sich zu fordern und jeden als feindselig zu kritisieren, der dieser Forderung nicht folgt.«

Den neuen Fundamentalismus, den dieses paradoxe Konzept der Identität hervorgebracht hat, machen sich laut Stegemann mittlerweile »alle rechten und identitären Bewegungen« zunutze. Warum auch nicht, möchte man entgegen, sind doch die politischen Vorzeichen des verabsolutierten Opferstatus vollkommen nebensächlich. Da immer mehr Gruppen die Vorteile des Opferdiskurses entdecken, zersplittert die Gesamtgesellschaft immer mehr und der Universalismus der Rechte, der allein das Allgemeine konstituiert, gerät in die Defensive. Mit ihm auch die Logik des Klassenkampfes. »Es war eine bittere Ironie, dass im selben Augenblick, als der Staat zu einer Großoffensive gegen die Macht der Arbeiterklasse blies, die Identitätspolitik diese Klasse in immer stärker fragmentierte Teilgruppen zerstückelte. Die Identitäten sind offenkundig von großer Bedeutung, aber sie können nicht zu einer neuen Politik verschmolzen werden, weil die Diversität ihr Wesensmerkmal ist«, zitiert Stegemann Sam Gindin.

Damit ist aber noch längst nicht der Höhepunkt der Eskalationsspirale erreicht, denn nun kommen auch noch die »alten weißen Männer« und die »Intersektionalität« ins Spiel. Der eben genannte Universalismus (der Rechte, der Logik, der Vernunft) wird inzwischen als Erfindung alter weißer Männer denunziert. »Hiermit schließt sich […] der Kreislauf und wird endgültig toxisch.« Identitäre Politik, die ursprünglich angetreten war, die Gleichheit aller zu realisieren, also eine von alten weißen Männern vertretene universalistische Position vertrat, propagierte zunächst die Ansprüche der Ungleichen, z.B. in Form der positiven Diskriminierung. Inzwischen universalisiert sie aber diese Revolte des Partikulären gegen das Universelle, weil sie mehr Vorteile verschafft und lehnt das Universelle ab, das sie einst selbst vertrat. »Die Politik der Antidiskriminierung« so Stegemans Fazit, »zerstört ihr eigenes Fundament, das im Universalismus liegt, und macht sich stattdessen zu einer fundamentalistischen Theorie.«

Dieser Widerspruch blieb nicht unbemerkt. Um zwischen Opferstatus und Solidarität zu vermitteln, wurde daher die Intersektionalität erfunden. Da inzwischen eine Vielzahl von Partikularismen mit denselben Methoden gegeneinander um die vorteilhafteste Position konkurrieren, werden die Konflikte immer unlösbarer. Sie dringen mittlerweile sogar in die einzelnen Subjekte ein und bestimmen deren Selbstbild. Die Folge ist ein Chaos von »Perspektivegozentrikern« (Nils Heisterhagen, Die liberale Illusion), die sich nichts mehr zu sagen haben und einander nicht mehr verstehen. »Wenn jeder nur noch aus seiner hochindividualisierten Perspektive spricht und zuhört, so gerät jeder Dialog zu einem Staatsakt, bei dem die meiste Zeit für die Aushandlung der Gesprächsbedingungen aufgewendet wird. Die ausführliche Schilderung der eigenen Sprecherposition soll, so die Behauptung der Identitätspolitik, den Vorwurf entkräften, dass hier jemand über mehr spricht als nur über sein eigenes Ich. Denn neben allen möglichen Kränkungen steht vor allem das Sprechen für jemand anderen unter schärfstem Verdacht. Die Folge ist, dass das Gespräch, nachdem schließlich alle die Grenzen ihrer Identität abgesteckt haben, meistens erschöpft ist.«[2]

Dieser Sprachlosigkeit aufgrund von Perspektivegozentrik soll die Intersektionalität abhelfen, die das Augenmerk auf sich kreuzende Identitätsmarker und Diskriminierungen innerhalb ein und derselben Person lenkt. Da sie aber auf den Voraussetzungen der Identitätspolitik fußt, vermehrt sie lediglich die Konfusion. Die Kombination der Merkmale schwarz, jung, männlich, homosexuell, christlich, ableisiert[3] in einer Person führt zu einer anderen Identität, als die Kombination weiß, alt, weiblich, heterosexuell, muslimisch und behindert. Aus dieser Komplexitätssteigerung von Merkmalskombinationen, in die der Einzelne aufgelöst wird, ergibt sich eine neue »Scholastik«, die Fragen nachgeht, wie der, welche Identitätsmarker wichtiger als andere sind und zu welcher Stellung sie innerhalb der Opferhierarchie führen. Ironisch bemerkt Stegemann: »Die Bedeutung von Mehrfachdiskriminierungen und die Frage, ob diese addiert werden können oder nicht, führt zu Diskussionen, die nicht nur etwas für Wohngemeinschaften sind, sondern längst alle gesellschaftlichen Debatten beeinflussen. So gerieten zum Beispiel in der MeToo-Debatte einige unterschiedliche Identitätsmerkmale durcheinander, als darauf hingewiesen wurde, dass es sich auch um eine antisemitische Debatte handele. Denn schließlich, so hieß es, sei Harvey Weinstein ein Jude, und dadurch, dass man ihn wegen sexueller Belästigung an den Pranger gestellt habe, werde das Vorurteil des sexuell übergriffigen Juden reproduziert. Spätestens an dieser Stelle«, so sein Stoßseufzer, »möchte man den Diskurs der Identitätspolitik sofort verlassen und in den alten Universalismus flüchten.«

Aber dieser Fluchtweg ist durch die Alleinherrschaft des Nominalismus verbaut. Denn in dem Augenblick, in dem die Validität eines Arguments an die Stellung des Sprechenden in der Opferhierarchie gebunden ist, sind Rationalität und Universalismus außer Kraft gesetzt. Es gibt schlicht keine übergreifenden universellen Maßstäbe mehr, unter die alle Individuen und Gruppen subsumiert werden könnten. »Das führt aber dazu, dass überhaupt die Schwierigkeit besteht, heute in die Menschheit verbindende Wahrheiten hineinzuführen«, wie Steiner bereits 1917 bemerkte (siehe Anmerkung 2).

Die USA bieten laut Stegemann ein Anschauungsbeispiel für die »Selbstzerstörung der politischen Öffentlichkeit« durch Identitätspolitik. Eine Generation von Studenten, die sich auf die Zurschaustellung ihrer Verletzlichkeit und Betroffenheit spezialisiert hat (»Schneeflocken«), dominiert das linke Spektrum der Öffentlichkeit. Ihre Hypersensibilität in Fragen der Identität und ihre grenzenlose Bereitschaft, die eigene Verletzlichkeit absolut zu setzen, torpediert jede vernünftige Diskussion. »Die eigene Fragilität und Opfermentalität geht übergangslos zu boshaften Gruppenattacken über und endet nicht selten in dem Versuch, ›den Ruf und das Leben anderer im gleichen politischen Milieu zu zerstören‹. Diese Mischung aus empörtem Aufschrei und Zerstörungswut wird inzwischen als ›Cry-bullying‹ bezeichnet.« »Die Unkultur der Online-Bloßstellung besteht aus einer Mischung aus performativer Verletzlichkeit, selbstgerechtem sozialpolitischem Bewusstsein und Schikane.« Die Dynamik der sich selbst verstärkenden Hetzkampagnen ist »getrieben von der Sehnsucht eines Priesters, zu exkommunizieren und zu verdammen, von der Sehnsucht eines Akademiker-Pedanten, der erste zu sein, der einen Fehler findet, und von der Sehnsucht eines Hipsters, zu den Coolen zu gehören«, zitiert Stegemann Marc Fisher, der selbst Exponent dieser Bewegung war und von ihr in den Selbstmord getrieben wurde. Auch in Deutschland nehmen die Ausgrenzungsdiskurse und die Härte, mit der alle an den Pranger gestellt werden, die sich auch nur minimal jenseits des Sagbaren aufhalten, nach der Beobachtung unseres Autors zu.

Fortsetzung: Schlachtfeld der Kränkungen – über die Erosion der Vernunft durch political correctness.

Bernd Stegemann, Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik, Berlin 2018, 205 S., 18 Euro

Vorheriger Beitrag: Autoritäre Sprachregime, Tugendterror und identitäre Erregungen


Anmerkungen:


  1. Zeitgeschichtliche Betrachtungen I, 9. Dezember 1916, GA 173a, Dornach 2010, S. 74.
  2. Rudolf Steiner hat bereits 1919 von dieser Tendenz der Verfeindung des Menschen mit sich selbst und allen anderen aufgrund der Zerfalls des Universalismus gesprochen. In seinen Vorträgen über Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis führte er diese Tendenz darauf zurück, dass die abendländische Menschheit im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer stärker dem Einfluss Ahrimans unterliegen werde, der im Gegensatz zu Luzifer – dessen Einfluss in der Vergangenheit größer war –  den Menschen nicht auf den Himmel, sondern auf die Erde ausrichte. »Aber es wäre schlimm, wenn der Mensch nur von dem luziferischen Elemente abkommen würde und nichts anderes an die Stelle treten würde. Es wäre sehr, sehr schlimm. Denn dann würde der Mensch ganz mit der Erde, das heißt mit dem einzelnen Erdenterritorium, auf dem er geboren wird, zusammenwachsen. Er würde sich in seiner Kultur vollständig spezifizieren, vollständig differenzieren. Wir sehen ja heute diese Tendenz  sich herausentwickeln. Besonders veranlagt war die Sache schon seit dem Beginne des 19. Jahrhunderts; aber wir sehen heute, wie aus der Weltkriegskatastrophe die Tendenz sich herausentwickelt, sich in immer kleinere und kleinere Gruppen zu spalten. Der Volkschauvinismus nimmt immer mehr und mehr überhand, bis er dazu führen wird, dass sich die Menschen in immer kleinere und kleinere Gruppen spalten, so dass schließlich die Gruppe zuletzt nur einen einzelnen Menschen umfassen könnte. Dann könnte es dahin kommen, dass die einzelnen Menschen auch in einen linken und rechten sich spalten würden, und in einen Krieg mit sich selbst kommen könnten, wo sich der rechte Mensch mit dem linken in den Haaren liegt. Viele Anlagen dazu zeigen sich ja auch heute schon in der Entwickelung der Menschheit.« Schützen kann vor diesem Absturz in den gruppenbezogenen bzw. individuellen Egoismus, der schließlich zum Krieg aller gegen alle führen muss, allein ein universelles (spirituelles) Weisheitselement, das sich allerdings im Unterschied zum früheren luziferischen nicht von selbst offenbaren wird, sondern von den einzelnen Menschen individuell errungen werden muss: »Dem muss eben das Gegengewicht geschaffen werden. Und dieses Gegengewicht kann nur geschaffen werden dadurch, dass ebenso wie eine Urweisheit die heidnische Kultur durchdrang und durchsetzte, auch eine neue Weisheit, doch nun aus freiem Menschenwillen heraus, errungen wird, eine neue Weisheit der Erdenkultur überliefert werden wird. Diese neue Weisheit muss wiederum eine Initiationsweisheit sein. Diese neue Weisheit muss wiederum über das hinausgehen, was nur im einzelnen gewonnen werden kann.« Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher ErkenntnisGA 191, 15.11.1919, S. 272 ff.
  3. Der Ausdruck stammt aus dem Englischen (to be able) und bedeutet das Gegenteil von »behindert«.

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