Konstruktive Hermeneutik – Hinweis auf eine bemerkenswerte Studie

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

 

Lorenzo Ravaglis umfangreiche Studie vertieft mit Akribie und in konstruktiver hermeneutischer Haltung die durchaus komplexeste Dimension im Werk Rudolf Steiners. Mit dem ihm gewohnten interpretatorischen Mut hat sich der Autor nämlich zugetraut, ausgehend von seiner profunden Kenntnis der Quellen, den Weg nachempfinden zu lassen, der Steiner zu einer immer tieferen Wahrnehmung der Wirklichkeit und Wirksamkeit des Christus führte. Dieser Weg, dessen genaue Beschreibung den Rahmen einer Besprechung sprengt, wird anhand einer beeindruckenden Fülle von Materialien in allen seinen Etappen bis zur Schwelle des 1. Weltkriegs charakterisiert. Sein Anfang ist die philosophische Gnosis der frühen Schriften Steiners, die, in produktiver Kontinuität mit dem Geist von Goethe und vom Deutschen Idealismus, zu einer spirituellen und zugleich fruchtbar weltzugewandten Ich-Erfahrung führt; seine Kulminierung ist die – gleichsam als generative Umstülpung jener Gnosis zu verstehende – Wahrnehmung der weiten makrokosmischen Horizonte, in denen Christus sich als «Person» der jenseits der Hierarchien überragenden Trinität manifestiert. Diese Kulminierung im trinitarischen Horizont wird dadurch hervorgehoben, dass der letzte Teil dieser Studie einer Vertiefung der Trinität in Steiners Werk gewidmet ist (S. 481–558).

Die Produktivität der Arbeit, die Ravagli leistet, liegt darin, dass er auch in dieser Studie die Punkte der Diskontinuität in Steiners Werk nicht als Anlass zu einer steril dekonstruktiven Haltung wahrnimmt. Er versteht diese Punkte als Schwellen, das heißt – es sei eine mathematisch geprägte Formulierung erlaubt – als Ort des Übergangs zu einem Limes, ausgehend von dem der bis zu jenem Ort führende Weg nicht allen Sinn verliert – wobei das Frühere und das Spätere in einem unfruchtbaren Widerspruch gegeneinander stehen würden –, sondern einen bis dahin noch nicht manifesten, tieferen Sinn offenbart. Eine gesunde Mitte zwischen naiver, einseitig devotionaler Verwischung aller Diskontinuität und überheblicher, abstrakter Vernichtung allen tieferen Sinns wird so erreicht. Ausgehend von dieser hermeneutischen Mitte begleitet uns der Autor, durchgehend und präzis aus Steiners Werk referierend, durch einen Weg der progressiven Entfaltung und Enthüllung, in der die Wirklichkeit des Christus in jeder Etappe eine neue Dimension manifestiert, ohne dass die vorherigen Dimensionen jegliche Bedeutung einbüßen würden.

Anthroposophisch ist diese Studie in dem Sinne, dass Steiners Weg zu Christus als Erkenntnisweg charakterisiert wird, auf dem der Mensch, durch das eigene Ich getragen, fortschreitet, als Mensch immer höheren Dimensionen des Geistigen begegnend und in diesen Begegnungen ein immer tieferes Bewusstsein des eigenen Menschseins erreichend. In dieser Fokussierung auf das Wesen – hier auch verbal gemeint – des Menschen besteht die lebendige Kontinuität in Steiners Werk, das als Begleitung des Menschen im Übergang von einem mikrokosmischen zu einem immer mehr makrokosmischen Bewusstsein seines Menschseins betrachtet werden darf. Ravaglis Studie zeigt, wie die Kraft des Christus als entscheidend ermöglichende Instanz in Bezug auf diesen Übergang zu betrachten ist: Der Christus ermöglicht einerseits als Urbild des Ich (vgl. z.B. S. 138–142) jene mikrokosmische Ich-Erfahrung, auf die sich schon Steiners philosophische Schriften konzentrieren und die zur Schwelle des Geistselbst führt; andererseits bewirkt er jene entscheidende Erneuerung der Lebenskräfte, die, ausgehend von Christi Wesen als Lebensgeist, das zunächst rein irdische Selbstbewusstsein des Ich vollkommen selbstlos werden lassen (siehe z.B. S. 119–130), d.h. zu einer makrokosmischen Modalität des Erlebens erheben kann, ohne dass Selbstlosigkeit Vernichtung der Individualität bedeuten würde. In der Hervorhebung der hiermit angedeuteten intimen Beziehung zum Lebensgeist, in der das johanneische Christentum besteht, nehme ich eine der produktivsten Dimensionen dieser Studie wahr. Diese Beziehung erhellt nämlich den tieferen Hintergrund der ätherischen Epiphanie Christi, auf die Steiner ab 1910 hinweist (S. 376–402) und die als Appell zu einer radikalen Verwandlung des Bewusstseins das Wesen der Lebenskräfte betreffend verstanden werden kann.

Ravaglis Studie kann nicht als endgültiges Wort zu den außerordentlich zahlreichen Aspekten betrachtet werden, die sie behandelt. Sie präsentiert sich im Gegenteil wie ein Nachschlagewerk, das konstant mit Anregungen zur persönlichen Vertiefung und zur Reflexion der anthroposophischen Forschungsmethoden beschenken möchte. Sie zeigt, wie Steiners Christologie noch ein Gebiet darstellt, das in vielerlei Beziehung auf Entdeckung und Entfaltung wartet. In dieser Hinsicht ist es zu bedauern, dass ein so kompetenter Autor darauf verzichten wollte, wenigstens manche Hauptmotive der Christologie, die Steiner nach 1914 entwickelt und vertieft, knapp zu skizzieren. Die Zeit nach 1914 offenbart nämlich, nach meiner Empfindung, andere Akzente im Vergleich zur vorherigen Zeit: Die bis 1914 erreichte, grandiose makrokosmische Dimension scheint mit und nach dem Krieg einer tieferen inkarnatorischen Bewegung den Vortritt zu lassen, die ein neues, produktives Gleichgewicht zwischen Mikro- und Makrokosmischem generiert. Der Krieg scheint, anders gesagt, eine Akzentverschiebung zu verlangen, die den makrokosmischen Christus und seine Wirkung durch die Hierarchien als irdische, mikrokosmische Präsenz bis in die menschliche Physiologie immer mehr offenbaren möchte. Als Kulmination in diese Richtung können die Kurse zu den verschiedenen beruflichen Feldern, die «Anthroposophischen Leitsätze» und die Meditationen für die Erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft betrachtet werden. Diese letzten Werke Steiners deuten darauf hin, dass nicht nur das spirituelle Leben, sondern auch die Physiologie und der Sinnesorganismus des Menschen auf eine Durchdringung im Lichte einer fundierten anthroposophischen Christologie warten: Nicht im Lichte eines schwärmerischen Dogmatismus, sondern in der Wärme einer uneingeschränkt selbstlosen Wahrnehmung der Phänomene. In vielen der Stellen aus Steiners Werk, die Ravagli so sensibel hervorhebt, sind wichtige Keime für diese Durchdringung enthalten (siehe z.B. die Ausführungen zu «Die Geheimwissenschaft im Umriss», S. 315–342). Gerade das Hinweisen auf diese Keime darf als einer der zukunftsträchtigsten Aspekte dieser bewundernswerten Studie wahrgenommen werden.

Salvatore Lavecchia, Udine (IT) / Würzburg. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis der Zeitschrift Anthroposophie.

Lorenzo Ravagli, Rudolf Steiners Weg zu Christus. Von der philosophischen Gnosis zur mystischen Gotteserfahrung. Akanthos-Akademie-Edition, Stuttgart 2018, 566 Seiten, broschiert. 30 Euro


Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie den anthroblog durch eine Spende via PayPal!


Oder durch eine Banküberweisung an:
Lorenzo Ravagli, GLS Bank Bochum, GENODEM1GLS, DE18430609678212049400.


Ich will zwei- bis dreimal im Jahr durch den Newsletter über neue Beiträge im anthroblog informiert werden!

Kommentare sind geschlossen.