Das Christentum als mystische Tatsache (3). Von Plato zu den Essäern

Zuletzt aktualisiert am 12. Januar 2024.

Sephirot

Sephirot. Quelle: Anthrowiki

Von Plato zu den Essäern. Der tiefste Kern des esoterischen Christentum existierte bereits Jahrhunderte vor Christi Geburt. – Der 12. Vortrag Steiners leitet zum Christentum über, indem er sich mit dem Einfluss der platonischen Philosophie auf dieses auseinandersetzt. Hier ist erstmals von Christus die Rede. Zugrunde liegt dem Vortrag eine Betrachtung dessen, was Platonismus und Christentum unterscheidet. Die Grundvorstellungen der platonischen Weltanschauung von der Seelenewigkeit und von der Liebe waren laut Steiner jene beiden Ideen, die den größten Einfluss auf die geistige Entwicklung der Menschheit ausgeübt haben. Die Ewigkeit der Seele war Plato zufolge keine Naturgegebenheit, sondern nur durch die philosophische Einweihung zu erreichen, dadurch, dass die Seele sich zur Ideenschau erhebt, indem sie sich vom sinnlichen Leben abwendet. Ein asketischer (oder pädagogischer) Grundzug geht durch Platos Philosophie, die die Seele hinauferziehen will zur Schau des Geistes, zur Teilhabe an dessen Ewigkeit, ein Zug, der dem gesamten antiken Mysterienwesen eigen ist, an dessen Hand sich auch der Weg von Plato zu den Essäern beschreiben lässt. (Näheres zu diesem asketischen Zug auch bei Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern, Stichwort »Vertikalspannung«).

Dieser initiatorisch-pädagogischen Auffassung des Aufschwungs der Seele zum Geist stellte das Christentum die unmittelbare Gewissheit der Erlösung durch eine sinnliche, historische Tatsache gegenüber. Also ein diametraler Gegensatz: auf der einen Seite die Abwendung von der sinnlichen Gewissheit, auf der anderen ihre Affirmation. »Der mit den Sinnen wahrgenommene Erlöser ist es, um den es sich handelt.« Die unmittelbaren Augenzeugen erzählten von dessen Gegenwart, auf sie beriefen sich ihre Nachfolger, das Zeugnis von der historischen Wahrheit lebte in der Kirche fort. »Dies ist die sinnliche Wahrheit, welche im Bewusstsein der ersten Christen lebte.« Diese Wahrheit des sinnlichen Erlösers war für alle Zeiten da. Darin bestand das christliche Mysterium. Demgemäß war auch das Abendmahl kein bloßes Symbol, sondern Realität: wirkliche Kommunion mit der Substanz der Erlösung. Christus wurde jedes Jahr real im Weihnachtsfest geboren. Steiner bezeichnet dies als »mystische Auffassung«. Die Kirche wurde als Institution, als Leib aufgefasst, in dem der lebendige Christus auf mystische Weise weiterwirkte (die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen als Geistleib Christi). Durch die Taufe, die sie spendete, nahm er in seine Gemeinschaft auf. Zwar konnte dieses Fortleben des Erlösers in der Kirche nicht verstanden werden, da es mystisch war – real war es trotzdem. Noch Augustinus bekannte, er hätte nicht glauben können, wenn die Kirche die Wahrheit des Glaubens nicht bezeugt hätte. Die Kirche musste die Verkörperung des Mysteriums, eine mystische Gemeinschaft sein. Der Inhalt des Christentums konnte nicht bewiesen, er musste geglaubt werden. Allerdings, so Steiner, mussten sich auch die Mysten in den Mysterien einem Prozess unterwerfen, der sie zu einem Erlebnis führte. Die Wahrheit dieses Erlebnisses konnte ebensowenig bewiesen werden, wie die Erlösungsgewissheit des christlichen Glaubens. Aber im Prinzip konnte jeder Einzelne durch die Initiation zu diesem Erlebnis gelangen. »Im Christentum« dagegen trat etwas Neues hinzu: »die Stellvertretung durch eine einzelne in der Geschichte lebende Persönlichkeit.«

Auf drei Voraussetzungen ruhte die vorchristliche Erfahrung des Göttlichen: 1. auf dem mythischen Verständnis der Weltentstehung (Kosmogonie), 2. auf dem Initiationsprozess, dem sich jeder unterziehen konnte, der eingeweiht werden wollte, und 3. auf der durch diesen Prozess herbeigeführten Wandlung. Die Auffassung dieser drei Faktoren veränderte sich im Christentum.

1. Die Antike kannte den Abstieg des Göttlichen in die stoffliche Welt und den Wiederaufstieg des in der Welt zerstreuten Göttlichen. Illustriert werden diese Thesen vom Vortragenden an Philo von Alexandrien. Dieser sprach vom Logos als einer rein geistigen Gestalt, die kein Mensch zu erfassen vermöge, obwohl die menschliche Individualität in ihr ruhe. Im Urlogos sah er das Urbild der Weltordnung. Der Mensch, der in der Welt lebte, konnte einerseits auf den Abstieg dieses Logos blicken, der sich in die Welt ausgoss und in ihr die mannigfaltigsten Gestalten annahm, andererseits auf die Kraft ebendieses Logos bauen, die in ihm selbst wirkte und ihn wieder zu jenem Urlogos zurückführte. Gott, der Vater aller Dinge (der Urlogos) und »der Gottessohn«, »die Gotteskinder«, der materialisierte Logos in der Welt, standen einander gegenüber.

2. und 3. Die Initiation rollte die Kosmogonie gleichsam rückwärts auf. Der Weg zu Gott war ein Weg zurück in den Schoß des Vaters. Schrittweise vollzog sich dieser Weg durch aufeinanderfolgende Initiationen. »Diese Initiationen sind dasselbe, was die Principia der Welt sind. Es sind die Grundlagen und die Grundfesten der Welt, die in der Welt zur Entwicklung kommen. Nennen wir die Entwicklungsprinzipien in der Welt Logos. Wenn der Mensch auf dem Weg der Initiation wirklich fortschreiten kann zu den wirklichen Prinzipien der Welt, dann wird er in sich dasselbe antreffen, was er draußen als Prinzip antrifft. So war die Initiation ein wirklicher, realer Prozess, etwas, was der Mensch tatsächlich durchmacht. Er ist nicht von subjektiv menschlicher Bedeutung, sondern von objektiv göttlicher Bedeutung. Der Erkenntnisweg ist ein Rückweg, ein Zusammenschließen des Menschen mit dem Urquell des Daseins. Was er in sich findet, das ist es, womit er im Objektiven der Welt ruht, das ist es, was den Menschen zur Vergottung, zur Vergöttlichung führt. Der Erkenntnisweg ist der Weg zur Vergottung.« (An dieser Stelle sei angemerkt, dass die in Bezug auf die griechischen Götter entwickelte Theorie der unbewussten Projektion konsequenterweise auch auf die Logosvorstellungen angewandt werden müsste. Warum sollten Kronos und Rhea, Uranos und Gäa, Zeus und Hera Projektionen menschlicher Bewusstseinszustände, also etwas vom Menschen – wenn auch unbewusst – Erzeugtes sein, nicht aber der Urlogos und seine mannigfaltigen Entäußerungszustände in der Welt? Wäre das Urwesen, das sich ausgegossen hat, aber »nichts anderes« als das Selbst des Menschen, gäbe es nichts, womit der Mensch seine Identität im Prozess der Selbsterkenntnis erleben könnte. Es besteht ein Unterschied zwischen der Aussage: »Das Urwesen ist nur das menschliche Selbst, das noch kein Bewusstsein von sich erlangt hat« und der anderen: »Das gemeinsame Urwesen, das alles durchdringt, ergreift der Mensch in seinem Denken«. Letztere setzt die Existenz eines Urwesens voraus, das im Denken ergriffen werden kann. Wenn das Denken die »höchste Erscheinungsform« des Weltengrundes ist, dann setzt dies einen Weltengrund voraus, der erscheinen kann, zuvor also existieren muss.)

Das Christentum interpretierte nun nach Steiner den antiken Initiationsprozess um, indem es ihn als einmaligen geschichtlichen Vorgang betrachtete, der von einem einzigen Ur-Initiierten durchlebt wurde, stellvertretend für die gesamte Menschheit. Als solcher wurde Christus verstanden. Die Fleischwerdung des Logos war demnach nicht mehr ein ewiger Vorgang, in dem die Welt durch die Ausgießung des Logos Gestalt annahm, sondern die wirkliche Fleischwerdung des göttlichen Logos in einem einzelnen Menschen. Die alte Kosmogonie und die vorchristliche Initiation wurden durch das Christentum »mit einer geschichtlichen einzelnen Tat verquickt«.

Der Weg des Mysten zum Göttlichen war ein persönlicher Weg. Jeder musste und konnte ihn für sich beschreiten. Vom Eros gezogen, schwang er sich auf zur Ideenschau. Im Christentum trat an die Stelle der persönlichen Initiation die einmalige stellvertretende Initiation eines Einzelnen. Während Platos philosophischer Initiationsprozess zur Ideenschau führte, wurde diese Schau dem einzelnen Menschen durch das Christentum entzogen. »Ein Weg wurde verschlossen, den der alte Myste erreichen wollte«, der nun nicht mehr gegangen werden konnte. Den platonischen Eros ersetzte die Kirche durch den Glauben. »Der Glaube ist dasjenige, was nur offenbart werden kann, was verbürgt werden muss durch den Augenschein. Der Christ kann glauben, aber nicht nach dem Inhalte des Unendlichen streben […], weil in jedem Einzelnen der mystische Initiationsprozess umgestempelt wurde zu einem einmaligen geschichtlichen Ereignis.« »Den Christus hat man ganz ausgeschaltet«, lesen wir in der Fragenbeantwortung zu diesem Vortrag (S. 192).

Die beiden folgenden Vorträge (13. und 14.) über die Mystik Philos und jene der Essäer versuchen weiter, die ideellen oder bewusstseinsgeschichtlichen Voraussetzungen des Christentums zu ergründen. Was Jesus gelehrt hat, so Steiner, lässt sich am besten aus Philos Mystik verstehen. Im 13. Vortrag wird erneut die Projektionstheorie thematisiert. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus traten Philosophen auf, die mit der Feuerbachschen These gegen die Idee des Göttlichen polemisierten. Der Mensch ist es, der diese Idee schafft, der seine eigenen Eigenschaften idealisiert in den Himmel projiziert. Gilt diese These, dann, so Steiner, »entfällt die objektive Bedeutung der göttlichen Idee« und hat nur den Wert, dass sie vom Menschen überwunden wird. Diese Anschauungsweise beruht aber, wenn aus ihr ein Einwand gegen die göttliche Idee abgeleitet wird, auf einer Verkennung des menschlichen Erkenntnisprozesses. Denn jede gedankliche Interpretation der Welt, auch die einfachste, entsteht auf genau die gleiche Art. »Wenn wir sagen: Die Kugel stößt, so ist das etwas, was wir nur aus uns selbst entnehmen können.« »Wenn wir also sagen nach dem Rezept derjenigen, welche sagen, die Gottesvorstellung habe keine Berechtigung, so müssten wir unser ganzes inneres Leben streichen.« »Umgekehrt aber sagen diejenigen, welche sich auf den Standpunkt der Mystik stellen: Ja, gerade das, was wir im Inneren erleben, ist das Allerwirklichste, und was die Außenwelt uns zu sagen hat, verrät sie nur auf dem Umwege durch unser Inneres. Daher ist es nur eine Fortsetzung des gewöhnlichen Denkens, dass wir auch die höchsten Ideen, die höchsten Vorstellungen, durch die wir uns die Welt erklären, nur in uns erleben. Durch diese geistig in uns erlebten Elemente können wir die Welt erklären.« Auf diese Weise vermochte Plato die Ideenwelt, die sich seinem Geist erschloss, als Grundlage des ganzen Universums, als »das Urwesen der Welt« anzusehen.

Philo ging nun laut Steiner einen Schritt über Plato hinaus, indem er die Ideenwelt nicht als das Höchste betrachtete, sondern jene Tätigkeit, durch die diese Ideenwelt im menschlichen Bewusstsein in Erscheinung tritt. Aus Philos Perspektive erscheint die Ideenwelt lediglich als »Abglanz des Urewigen«, das »hinter der Ideenwelt lebt«. Dieses über den Ideen stehende Urewige findet sich als freier Wille im Menschen. Der Wille, der sich im Denken betätigt und die Ideen hervorbringt, ist der Kern der menschlichen Persönlichkeit. »Dieses Persönlichste, Individuellste in sich zu gleicher Zeit als Göttliches vorzustellen, es nicht nur als Ideenwelt, nicht nur als Geist als solchen, sondern das unmittelbarste innere Erleben als göttlich zu denken, das ist der Schritt, welchen Philo über Plato hinaus gemacht hat.« »Plato konnte nur in seinen Ideen das Wirkliche finden«, Philo suchte das Göttliche nicht mehr im Ideellen, »sondern im Leben«, das den Ideen vorausgeht oder zugrunde liegt. (Nebenbei bemerkt: auch Plato kennt dieses Eine, mit sich selbst Identische, das seiner Vervielfältigung in den Ideen vorausliegt. Er bezeichnet es als »agathon«, als »das Gute«, das noch über dem Sein [ειναι] und dem Wesen [ουσια] steht und somit beidem als »Urwesen« zugrunde liegt. An seiner Identität mit sich selbst haben alle Ideen teil, unterscheiden sich aber durch ihr Unterschiedensein voneinander von ihm. Das Gute steht zur Vielheit der Ideen in derselben Beziehung, wie das Ich, das denkt, zu den Ideen, die es denkend zur Erscheinung bringt. Es ist nicht nur Quell aller Erkenntnis, sondern auch des spezifischen Seins des Verschiedenen und des Wesens, das diese Verschiedenheit begründet. Siehe Politeia, 509a.)

Das Urwesen im Allerpersönlichsten anzuerkennen, das war laut Steiner Philos »größte Tat«. Steiner sieht in dieser Tat ein »tieferes Heruntersteigen in die materielle Welt«. Ebenso gut könnte man allerdings sagen, er sei noch höher hinaufgestiegen. Wie dem auch sei, – genau darin erkennt Steiner den Sinn aller Mystik: »Nicht erkennen im Geistigen, sondern leben im Geistigen, im Geistigen sich eine Aufgabe stellen, sich bewusst sein, dass Gott sich in unendlicher Liebe im Materiellen verloren hat und wiedergeboren werden muss, aber nur wiedergeboren werden kann, indem der Mensch den Weltprozess aus einem materiellen in einen geistigen Prozess verwandelt, sodass tatsächlich der Mensch untertaucht in das Materielle, indem er gleichzeitig die Mission übernimmt, den Ur-Logos hineinzusenken in die materielle Welt und dadurch diese wieder heraufzuentwickeln in die geistige Welt.«

Noch einmal wird betont: »Die jüdische Mystik war – wie jede Mystik – durchdrungen davon, dass, wenn der Mensch in sich schaut, er den Urgrund der Welt in sich findet. Aber ebenso war sie überzeugt, dass das, was der Mensch in sich findet, zugleich der wahre Ursprung, der Kern der Welt ist. Und so findet der Mensch im tiefsten Menschlichen auch das tiefste Göttliche.« Ausgedrückt wird dies im Symbol: »Vater rechts, Mutter links, Kind in der Mitte.« Dieses Ursymbol ist zugleich der Anfang der Bibel (Adam, Eva, Kain). Dieses Symbol ist »einer der Wege« des Menschen, zu einem höheren Bewusstsein zu gelangen.

Richtet der Mensch nun den Blick nicht auf das Männliche und das Weibliche, sondern auf das Kind zwischen beiden, so entwickelt sich daraus das christliche Ursymbol, das Symbol auf dem Kreuzberg: der Erlöser in der Mitte, links und rechts Vater und Mutter. So verwandelt sich im Spiegel des Symbols die jüdische Mystik in die christliche. Das Johannes-Evangelium ist nur eine andere Interpretation der philonischen Weltanschauung, so Steiner, ohne die jüdische Mystik ist das Christentum nicht zu verstehen. Philo bildet den Übergang von ersterer zum letzteren. Und er zeichnet sich auch noch durch etwas anderes aus. Er ist nämlich »der erste«, der die »Auslegungsmethode« des Mythos, die in den griechischen Mysterien praktiziert wurde, auf den »alttestamentlichen Mythos« anwandte.

Worum ging es bei dieser Methode? Darum, zu beschreiben, was im Menschen vorgeht. »Es ist nicht so zu verstehen, als wäre es [das, was im Menschen vorgeht] ein allegorischer Ausdruck, sondern man fühlt es als objektive, geistige Gesetzmäßigkeit, deren sich der Geist bedient, um den Mythos hervorzubringen. Man erfasst den Mythos und verhält sich ihm gegenüber so, wie sich der Naturforscher der Natur gegenüber verhält.« In den tiefsten Triebkräften der Menschenseele, »welche dadurch ein äußeres Dasein sich schaffen, dass sie sich in Mythen umsetzen, sich in der mythologischen Welt [ausleben], sodass in der äußeren Welt nicht mehr sichtbar ist, was in ihnen gewaltet hat an tieferen Kräften, sieht [Philo] den im Menschengeist waltenden Logos, den ewigen Weltengeist. Und diesen im Menschengeist waltenden Weltengeist, den er als Logos bezeichnet, der, insofern er sich im Menschen auslebt, nicht eine bloß abstrakte Begriffswelt ist, sondern etwas unmittelbar Lebendiges, diesen Weltengeist bezeichnet er mit dem Wort ›Sophia‹ – ›Vernunft‹ möchte ich es übersetzen –, ›das Wort‹ und ›die Weisheit‹.« Was im griechischen Mythos auf mannigfaltige Göttergestalten verteilt ist, »was der griechische Myste mehr oder weniger zusammenfügen konnte in der Dionysos-Gestalt«, wird von Philo in der Gestalt des Logos zusammengefasst. »Das, was früher in der Mannigfaltigkeit der Welt gesucht wurde, das führt Philo auf einen einzigen Urgeist als eine einzige Göttlichkeit zurück und bezeichnet sie als ›Logos‹.« Diesem männlichen Logos tritt die weibliche Sophia zur Seite – das Männlich-Weibliche als Ursymbol des Göttlichen. Wo sich im Alten Testament Gott offenbart, hat man es stets mit dem Logos, dem erscheinenden Gott zu tun. Nicht der unendliche Gott selbst ist es, der erscheint, sondern das Göttliche in mehr oder weniger menschlicher Gestalt. »Um es nicht herunterzuziehen in das Irdisch-Weltliche […] setzt Philo dem höchsten Göttlichen das Göttlich-Menschliche gegenüber. Und dieses Göttliche-Menschliche stellt er dem ›Vater‹ als ›Sohn‹ gegenüber.« »Im [Logos] haben die Juden nach Philo den Mittler zwischen Vater und Welt begriffen […] Solche Sekten wie die Therapeuten [und die Essäer] betrachtete Philo als die Pflegestätte von menschlichen Persönlichkeiten, die hinaufsteigen wollten zu jener erhöhten menschlichen Wesenheit, in der das Gottmenschliche in ihrem Innern zum Dasein kommen konnte […] als eine Vorbereitung für das Erscheinen des Gottessohnes in der menschlichen Natur.« Der Logos, »der dazu bestimmt war und der selbst gesucht hat, sich im Menschlichen auszuleben, der sollte Gestalt annehmen, wirklich im Menschengeist leben.« Die Essäer suchten nach dem esoterischen Kern der alttestamentlichen Mythe. »Es ist der Logos, der eigentlich Gott in der Welt darstellt. Der Logos ist der Vermittler zwischen dem Vater und den Menschen. Der Logos ist der Sohn Gottes. Das ist essenische Lehre, Philo hat diese Lehre bloß vertieft.«

Innerhalb der Essäer-Gemeinde lebte ein Stifter, so darf man laut Steiner annehmen, der alle mystischen Ausdeutungen des tiefsten Wesens der Mythologie zusammenfasste in einer Zentralgestalt des gott-menschlichen Logos, der lehrte, »dass dieser Logos dasjenige ist, von dem alle Erkenntnis, alle Wahrheit abhängt.« »Die einzige Art und Weise, wie der Mensch Gott anschauen kann, ist die: ›Ich und der Vater sind eins.‹ In dieser Erkenntnis ist der tiefste Kern der Essäer-Lehre beschlossen.«

»So sehen wir«, fährt Steiner fort, »den tiefsten geistigen Kern des esoterischen Christentums in groben Linien skizziert zwei Jahrhunderte vor Christi Geburt in der Essäer-Gemeinde sich ausprägen.« Der Apostel Johannes gibt uns – »vom Standpunkte der [philonischen] Philosophie aus – nach praktischen esoterischen Methoden die Lebensgeschichte des Gottmenschen. Er übersetzt uns den innerlichen Gottmenschen […] Er zeigt uns das Herauswachsen der christlichen Idee aus der Philosophie Philos, der Therapeuten und der Essäer-Sekte.« »Deshalb können wir die Sache so auffassen, dass wir ein esoterisches Christentum Jahrhunderte vor Christus [in der Esoterik des Judentums! Zu dieser siehe: Magie und Kabbala in der Renaissance] finden und dass wir in dem Evangelium Johanni die exoterische Auslegung davon haben.«

Das erste Mal kommt Steiner im 15. Vortrag auf die Evangelien zu sprechen. Der Vortrag eröffnet mit einer schockierenden These. »Ich werde versuchen zu zeigen, dass die Erzählung die uns vorliegt in den […] Evangelien […] und in den verschiedenen christlichen Glaubensbekenntnissen […] nichts anderes ist als ein Ergebnis der sogenannten ägyptischen Initiation, des ägyptischen Initiationsvorganges […].« Diese Initiation, die nicht bloß eine Allegorie war, wie Steiner – gegen Leadbeater gewendet – betont, wurde »zusammengefasst und als einzelnes geschichtliches Ereignis beschrieben, als das Leben, Leiden und Sterben eines Einzelnen, eines Heilandes, nicht als ein Vorgang, dem jeder Mensch unterworfen wird.«

Wir sind dieser These bereits im 12. Vortrag begegnet. Allerdings führt sie Steiner im 15. Vortrag nicht weiter aus. Er spricht lediglich über den Unterschied zwischen den drei synoptischen und dem vierten Evangelium, zwischen Johannes und den übrigen Evangelisten. Im Unterschied zu den Synoptikern, die im traditionellen Judentum lebten und wiedergaben, was sie vom Meister gehört hatten, war Johannes (in Gestalt des Lazarus) vom Meister selbst auferweckt worden. Da er die Auferstehung (durch die Initiation) erlebt hatte, sprach er in seinem Evangelium vom Himmelreich als einer realen Erfahrung, nicht als einer Prophetie. »Er brauchte nur zu sagen: Dasjenige, was Jesus vorausgesagt hat, ist an mir in Erfüllung gegangen; ich habe in mir erlebt das neue Reich und die Auferstehung.« Aufgrund dieser Erfahrung hatte er begriffen, was es heißt, Christus nachzufolgen, dass die Voraussetzung dieser Nachfolge das Erlebnis der Auferstehung im Geiste ist. Johannes hatte durch seinen Meister die essenische Einweihung an sich erlebt. Die Essäer waren die ersten Christen, Essenismus und Christentum waren zu jener Zeit ein und dasselbe.

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Band 87 der Gesamtausgabe: Antike Mysterien und Christentum, Dornach 2019, 460 S., geb. 63,– Euro.


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