Das Christentum als mystische Tatsache (4). Von der ägyptischen Einweihung zum christlichen Mysterium

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Ägyptischer Eingeweihter. Kuppel des Ersten Goetheanum

Ägyptischer Eingeweihter. Kuppel des Ersten Goetheanum

Erst im 16., 17. und 18. Vortrag unternimmt Steiner den Versuch, die »schockierende« These zu begründen, von der im vorherigen Beitrag die Rede war, die These nämlich, dass die Gründungsurkunden des Christentums – ja sogar dieses selbst – ein Ergebnis der ägyptischen Initiation waren. Der geistes- oder mysteriengeschichtliche Weg der Menschheit führte also von der ägyptischen Einweihung zum christlichen Mysterium. Wenn es sich beim Nachweis für diese These um mehr handeln soll, als um eine bloße motivgeschichtliche oder philologische Rekonstruktion von Abhängigkeiten, dann muss dieser Weg als Vorgang der Bewusstseinsgeschichte, ja zuletzt als ontologischer Prozess ausgewiesen werden. Mit diesem Nachweis beginnt Steiner im 16. Vortrag, indem er von Erleuchtungserfahrungen bei Fichte und Goethe – im weiteren Sinn von der gegenwärtigen mystischen Erfahrung – ausgeht, um von ihr aus zu gleichartigen oder vergleichbaren Erfahrungen der Vergangenheit vorzudringen. Solche Erleuchtungserfahrungen eröffnen im Menschen einen Ausblick auf das Ewige. Der Vortragende selbst reiht sich hier ein: »Wenn ich nicht so sehr überzeugt wäre, dass in einem bestimmten Momente etwas aufleuchtet, das es möglich macht, das Ewige, das Göttliche zu erkennen, so könnte ich nicht so sprechen.«[1]

Wer die Tiefen des Christentums verstehen wolle, dürfe daher nicht beim geschichtlichen Standpunkt stehenbleiben. Er müsse eine Betrachtungsweise finden, »welche das Göttliche auf einer höheren Stufe sieht, wo es sich als Leben in den initiierten Persönlichkeiten zum Ausdruck bringt.« In der einzelnen Menschenseele stelle sich dies als Bewusstsein des Ewigen dar, und »ich kann auf keine andere Weise den tieferen Grund im Christentum zeigen, als dieses Bewusstsein zu verfolgen […] in der Zeit der alten ägyptischen Religionslehren, und Ihnen dann zeigen, wie diese Lehren der alten Ägypter in den Lehren der Essäer aufleuchten, um beweisen zu können, dass in dem Augenblicke, als der Gottmensch den Menschen erschien, […] nur in einer solchen Bruderschaft Menschen da sein konnten, die genügend vorbereitet waren, um das zu verstehen, was sich da ereignen sollte.«

Das Motiv von Tod und Auferstehung tritt zuerst in den Briefen des Paulus in Erscheinung, noch vor der Abfassung der Evangelien. Tod und Auferstehung , wie sie bei Paulus auftreten, sind laut Steiner nur aus dem ägyptischen Mysterienleben zu verstehen. Der gesamte Erkenntnispfad der ägyptischen Mysterien (wie auch jener der griechischen) zielte darauf ab, den Schüler geistig auf das Erlebnis des Todes vorzubereiten. Mysterien-Übungen wurden in den ägyptischen Priesterschulen praktiziert, die den Einzuweihenden dazu befähigen sollten, zu Osiris zu werden, zu jenem Gott, den die Ägypter als Mittler ansahen zwischen dem höchsten Gott Ra, dem unendlichen Geist, und der irdischen Welt, dem menschlichen Geist. Osiris entspricht also dem philonischen Logos. Osiris, der Sohn des höchsten Gottes, musste sterben, um auferstehen zu können (er entspricht somit auch Dionysos). Der Mensch war berufen, diese Entwicklung des Gottes nachzuerleben und selbst zu Osiris zu werden. Das Osiris-Sein war das Ziel, das in den Priesterschulen angestrebt wurde, ein jeder war berufen, zu Osiris zu werden. Wer wie Osiris geworden war, der hatte auch die Fähigkeit erlangt, »als ein Gott auf der Erde zu erscheinen« (die paradigmatische Verkörperung dieser Idee war der Pharao) und konnte von den Eingeweihten als solcher erkannt werden.

Diese Vorstellung eines Gott gewordenen Menschen, der als Mensch unter Menschen wandelt, um sie zu belehren, war jedoch, wie Steiner ausführt, auch in Indien bekannt. Ein »Osiris« sollte zu den Menschen hinuntergeschickt werden, Menschengestalt annehmen und als Erlöser, als Heiler unter ihnen wirken. Es handelte sich um Buddha. Was nun folgt, ist eine ganze Reihe von Parallelen zwischen dem Leben Buddhas und dem Leben Jesu, angefangen mit den Wunderzeichen bei ihrer Geburt, der Darbringung von Gaben durch Könige und Priester, über die Darstellung des Zwölfjährigen im Tempel, die Seligpreisungen, die Anwerbung von Jüngern, das Motiv des Feigenbaums, die Versuchung in der Wüste, über die Pfingstpredigt bis zur Verklärung. All diese Parallelen werden angeführt, um zu zeigen, dass die Idee eines Gott gewordenen Menschen, der als Mensch unter Menschen wandelt, auf eine reiche Vorgeschichte zurückblickte, ja dass in Indien eine ganze Reihe solcher wandelnder Götter bekannt waren, von welchen Buddha nur als der vorerst letzte erschien. »Bei den Christen ist dieser Gedanke verloren gegangen, da sie nur den einen kennen«, so Steiner zu Beginn des 17. Vortrags. Auch bei den Ägyptern lebte der »Ewigkeitsgedanke«, der darin besteht, dass der Mensch sich auf den Pfad zur Ewigkeit begeben kann. Die Frage ist nun, wie dieser Ewigkeitsgedanke – also der Gedanke von der Vergöttlichung des Menschen – »dieser in der ägyptischen Religion lebende Christusgedanke sich umgewandelt hat zu einem historischen Ereignis.«

»Der ägyptische Christusgedanke«, so Steiner weiter, »tritt uns in der Form entgegen, dass jeder, welcher von der ägyptischen Priesterschaft geeignet befunden wurde und durch seine Begabung die Fähigkeit erwecken konnte, den Aufstieg zu unternehmen, von den ägyptischen Priestern, den tief Eingeweihten, dem Prozess der Initiation unterzogen wurde.«

Der Grundgedanke der Initiation bestand darin, in die tiefsten Geheimnisse des Daseins einzuführen, die sorgfältig vor der Menge verborgen wurden. Eine Umwandlung des ganzen Menschen war dazu erforderlich, eine Umwandlung seiner Seele, ja sogar seines Leibes, die über verschiedene Stufen erfolgte. Unter fortlaufender Bezugnahme auf Parallelen in Griechenland (Eleusinisches Drama – Dionysos) erläutert Steiner das Osiris-Drama der Initiation. »Es handelte sich darum, Körper und Geist so umzubilden, dass der Mensch die höchsten Erkenntnisse nicht nur logisch, abstrakt verstehen konnte, sondern dass er das tiefste [Leben] der Welt miterleben konnte.« Die Einweihung führte aber nicht nur zu einer Umwandlung des Menschen, zu erlebter Erkenntnis, sondern auch zu einer erhöhten Verantwortung: der Initiierte sollte die Taten der Götter weiterführen. »Nichts anderes«, als eine Wiederholung des Osiris-Schicksals, war die Initiation. Dieser wurde von seinem Bruder Seth ermordet, zerstückelt und in der Welt zerstreut. Seine Schwester Isis setzte die Stücke wieder zusammen und belebte ihn. Sie wurde vom Strahl seines Lichtes befruchtet und gebar den Horus, einen jungfräulich geborenen Sohn, der an die Stelle seines Vaters trat, der wiederauferstandene Vater war.

»Horus erscheint uns als derjenige, welcher in geistiger Art die ganze Welt durchdringt und nach der Anschauung der ägyptischen Priester die Seele der Welt ausmacht.« Er ist »nichts anderes, als die göttlich-menschliche Seele, die ausgegossen ist in die Materie und die Materie wieder zurückbringen soll in ihr Urdasein. Diese kosmologische und auf den einzelnen Menschen bezügliche Wahrheit wurde dem Schüler überliefert.«

Diese Erkenntnis musste ins Leben überführt werden, gemäß dem Grundsatz aller Mystik, nicht nur zu wissen, sondern das Wissen zu erleben. Dies geschah durch einen Kult, in dem der Mythos von Osiris, Seth, Isis und Horus dramatisch inszeniert wurde. In diesem Kult spielte ein Kreuz eine Rolle, auf das sich die Personen des Dramas legen mussten. »Im Kreuz haben wir dieselbe Vorstellung, wie wir sie bei der platonischen Philosophie haben, in welcher Gott, der Allgeist, gekreuzigt ist. Hier wird es Symbol und zu gleicher Zeit der Erwecker. Durch das Kreuz hindurchgehend, am Sarge des Osiris wird [der Einzuweihende, der zu Osiris-Horus werden soll] auferstehen und dann von neuem Herrscher sein.«

Tatsächlich, versichert Steiner, wurde eine solche Kreuzigung mit den Einzuweihenden durchgeführt. Sie wurden in einen dreitägigen, todähnlichen Schlaf versetzt. Auf einem Holzkreuz liegend musste der Schüler drei Tage verharren. Sein Geist befand sich außerhalb des Körpers und sollte danach wieder Besitz von ihm ergreifen. Sein Körper wurde verwandelt, vergeistigt. Die aufgehende Morgensonne erweckte den dem Leben Abgestorbenen nach drei Tagen wieder. Er war durch die Pforte des Todes durchgegangen und konnte in die tiefsten Geheimnisse eingeweiht werden. Als ein anderer konnte er nun den Weg der Vergottung, der Osiriswerdung weiter beschreiten. Die ägyptischen Priester, die den Prozess des Abstiegs zu den Toten durchlebt und sich in den Gefilden der Ewigen aufgehalten hatten, waren keine gewöhnlichen Menschen mehr. Solche Initiationsriten waren auch den Essäern bekannt.

Aus denselben – initiatorischen – Grundlagen wuchs in Indien »ein Buddha« hervor, wie später »ein Christus« aus dem Essäertum. Das gesamte jüdische Geistesleben war aus dem ägyptischen herausgewachsen. Davon zeugen laut Steiner die Übereinstimmungen zwischen den Geboten des Totenbuches mit dem Dekalog. Moses war ebenfalls ein Initiierter, der andere Initiierte schaffen sollte. In der ägyptischen Religion steht Seth-Typhon, der seinen Bruder umbringt, neben Osiris, in der Genesis Kain neben Abel. In der Genesis lässt sich die ägyptische Priesterreligion wiedererkennen.

Noch einmal holt Steiner weit aus, um die Entstehung der »Christus-Figur« zu erklären. Schon in den Veden findet sich die Sage von Adhima und Heva (Adam und Eva) im Paradies. Zu ihnen tritt die Schlange und verheißt ihnen, sie würden sein wie Brahma, wenn sie das Paradies verließen und in das angrenzende Land gingen. Allerdings erweist sich dieses Land als Fata Morgana und sie finden sich in öden Gefilden wieder. Brahma tröstet sie damit, dass er ihnen Vishnu als Erlöser senden werde. »Es ist dasselbe, was wir in der Genesis finden als die Weissagung Gottes, der das Kommen des Christus vorhersagt[2] […] Dieser Adam-und-Eva-Mythos ist im tiefsten Einklang mit der Lehre, welche bis herauf zum Buddhismus sich fortgepflanzt hat und in Buddha zum Persönlichen geworden ist […].« »Gott selber hat sich zum Menschen gemacht, das ist der Sinn der alten Mythen. Brahma schafft nach seinem Bilde den ersten Menschen. Es ist Brahma, welcher sich im Urmenschen inkarniert. Das Urmenschenpaar steigt dann weiter herunter […]«. Er muss absteigen, »um zu seinem wahren, großen Leben zu gelangen.« Die Nichtigkeit, die bloße Scheinbarkeit der Welt, war eine jener Erkenntnisse, die den Initiierten beigebracht werden sollten. »Dass Gott selbst zu Staub geworden ist, das ist die Schuld der Schlange … Das Staubgeborene ist nichts anderes als die in der Materie sich inkarnierende und wieder aus ihr herausstrebende Gottheit.« Dass die Gottheit Staub werden muss, ist jedoch nicht nur ein Abfall, ein Herabsinken, sondern auch ein Opfer. »Die Gottheit selbst gießt sich aus, um wieder erlöst werden zu können.« Die Schlange ist das Gegenbild der Gottheit, die Gottheit in anderer Gestalt. (Das Böse ist demnach eine andere Gestalt der Gottheit). Deshalb ist sie »in allen Religionen das Symbol für den Initiationsvorgang.« Dieser besteht darin, nicht nur zu erkennen, sondern erkennend die Materie zu erlösen und umzuwandeln in den Geist. Der Sündenfall ist die Voraussetzung der Vergottung.

Das gilt auch für die ägyptische Initiation. »Dieses Gottwerden war die Aufgabe, welche mit der dreitätigen Grablegung und dem Auferstehungsvorgang symbolisiert werden sollte. Diesen Vorgang sehen wir in der Christus-Geschichte als geschichtliches Ereignis wiederaufleben. Wir sehen das, was jeder, der in die ägyptischen Geheimmisse eingeweiht werden wollte, durchmachen musste, das Lebendigwerden nach der Aufnahme des Kreuzsymboles, in aller [Öffentlichkeit] an einem Einzelnen hervortreten.«

Auch im Essäertum lebte der Glaube, dass der Mensch göttlich werden könne. »Diese höchste Aufgabe, welche sich der Mensch stellt, einmal als geschichtlichen Vorgang zu haben als etwas Bleibendes, das ist es, was uns aus dem Grunde des Essäertums entgegentritt.« (S. 258-259)

Was »in dem ägyptischen Priester vor Jahrhunderten vorgegangen ist, was sich abspielte bei unzähligen Menschen«, das spielte sich »in einem einzelnen Vorgang« ab, aber so, dass wir darin genau den Plan des ägyptischen Ewigkeitsgedankens wiedererkennen.« (S. 259)

Nur noch einen Schritt müssen wir vollziehen, um die Metamorphose des vorchristlichen in das christliche Mysterium verstehen zu können. Dieser folgt im 18. Vortrag, in dem Steiner auf das Matthäus-Evangelium eingeht. Die Brücke bilden die 42 Geschlechter, die laut Matthäus Jesus vorangehen. Diese 42 Geschlechter entsprechen der 42 Totenrichtern, von welchen im ägyptischen Totenbuch die Rede ist. Wer zum Osiris-Dasein aufsteigen, also Gott werden will, muss vor diese 42 Totenrichter treten und vor ihrem Urteil bestehen. Dabei handelt es sich um 42 Stufen der Initiation, die auch den Essäern bekannt sind: »Jeder Mensch, der auf dem Pfade der Gottwerdung ist, ist im Begriffe, diese 42 Stufen zu durchlaufen.« Wer auf der 43. Stufe angelangt, ist im Begriff, Osiris zu werden. In die jüdische Vorstellungswelt übertragen bedeutet dies, wer die 42 Vorfahrengenerationen zurückschreitet und über sie hinausgeht, kommt zum göttlichen Ursprung. Aber erst, wer diese 42 Stationen passiert hat, »kann in die Welt eintreten als Buddha oder Christus.« Auch Buddha hat 42 Vorfahren oder Inkarnationen durchlaufen, ehe er zu Buddha wurde. »Es ist also so, dass wir nicht bloß eine tiefe Ähnlichkeit zwischen Jesus und Buddha zu verzeichnen haben, sondern dass wir auch in der transzendenten Jesus-Natur dasselbe vor uns haben, was in der Buddha-Natur ist.« Buddha gleich Christus. Wer die 42 Glieder durchlaufen hat, ist auch von der Notwendigkeit weiterer Inkarnationen befreit, er ist ein schicksalloser Gott geworden, um mit Hölderlin zu sprechen. »Wir haben es also bei den Essäern mit einem Christus, bei den Buddhisten mit einem Buddha, mit einer Wesenheit zu tun, welche […] innerhalb der Menschen als ein Gott gewordener Mensch erscheint. Es ist uns also damit nichts anderes gesagt, als die Anschauungsweise der Ägypter und auch die der Buddhisten. Wir haben es also hier zu tun mit einem wirklichen Buddha und mit einem wirklichen Christus« – und einem wirklichen Osiris, könnte man ergänzen.

Aus all diesen Überlegungen erklärt sich auch der merkwürdige Widerspruch, der darin besteht, dass Matthäus zweiundvierzig Vorfahren des Jesus anführt, um unmittelbar darauf zu erklären, er sei unmittelbar vom Heiligen Geist empfangen. Es handelt sich um eine zweifache Geburt: die physische Abstammung existiert, aber was empfangen wird, ist ein Wesen, das in das Osiris-Dasein eingetreten ist, ein Gott, der Mensch wird, nachdem er zuvor ein Mensch war, der Gott geworden ist.

Sehen wir uns die Zusammenfassung dieser Erörterungen an, die Steiner im 18. Vortrag gibt (S. 272 f.).

»Die christliche Anschauung sieht in der Christus-Persönlichkeit einen vergöttlichten Menschen in genau derselben Weise, wie der Mysterienkult immer wieder diese [vergöttlichten] Menschen gesehen hat […] Wer die Evangelien […] zu lesen vermag, der sieht [in ihnen] einen ausführlicheren Bericht des Rituals, welches dazu bestimmt war, die Mysten in die Mysterien einzuweihen. Und wenn wir uns vergegenwärtigen […], warum er, der Einzuweihende, der Myste, auf ein Kreuz gelegt worden ist, so müssen wir uns sagen, […] dass es sich um die Erweckung einer höheren Lebenskraft handelt, dass es sich darum handelt, ihn am dritten Tage wieder zum Auferstehen zu bringen.« Bei der Einweihung handelt es sich darum, »dass der einzelne Mensch durchzumachen hat den ganzen Schöpfungsprozess in seinem eigenen Leibe. Das wurde dargestellt als eine Rückkehr zur Gottheit, als eine fortwährende Vergottung der Welt.« »Alles, was der Myste durchzumachen hatte, hatte zum Ziele das [Auferstehen] mir einem geistigen Leib, mit einem wiedergeborenen Leib.«

Die Initiation ist eine Wiederholung der Kosmogonie in umgekehrter Richtung. »Dem Mysten sollte klargemacht werden, dass der eigene Prozess [also der Prozess seiner geistigen Entwicklung] seine Begründung hat im kosmischen Weltprozess, dass der Gott mit Hilfe des Schöpferwortes, des Logos, den Weltprozess vollzogen hat, dass dieser Gott er selbst ist, und dass der Weltprozess in Realität in dem Mysten vollzogen wird, dass der Prozess, welchen der Mensch durchzumachen hat, wie der Weltprozess ist. Der Weltprozess ist gleichbedeutend mit der Beschreibung des Weges, den die mystische Individualität durchzumachen hat.« »Deshalb war auch jedes Ritual in derselben Weise abgefasst, wie die Beschreibung der Weltschöpfung.« Die Initiation ist der makrokosmische Entwicklungsprozess, ins Mikrokosmische übersetzt.

Daher stellt das Johannes-Evangelium (insbesondere dessen Prolog) auch »nichts anderes« dar, als eine »individualisierte Kosmogonie«. Der Prolog entspricht der Genesis.

Jesus aber war eine Persönlichkeit, die »im höchsten Grade« jene mystische Erfahrung in sich verwirklicht hatte, die ihn als Menschen über alles Menschliche hinaushob. Er war ein Initiierter. Er umfasste »mit einem einzigen Blick« alle Lehren und Erfahrungen der Vergangenheit. Die Verklärung auf dem Berge, die Vision des Moses und des Elias neben Jesus bringt den realen Inhalt der Persönlichkeit zum Ausdruck, die zum Gründer des Christentums wurde. In einer einzigen Vision strahlt der gesamte Inhalt des Weltmysteriums, das im Symbol von Vater, Mutter und Kind zusammengefasst wird, aus ihm heraus. »Nur von dieser Erscheinung aus kommt man zu einem Verständnis dessen, was diese Persönlichkeit war […] Wir können nun verstehen, was vorgegangen war, und haben wir das verstanden, dann kommen wir zu einer mystischen Auffassung des Christentums.« (S. 276).

Dass es sich bei Jesus um einen Initiierten handelte, bezeugte er dadurch, dass er die Initiation an Lazarus vollzog, in aller Öffentlichkeit. Es handelte sich bei ihm um einen auf höchster Stufe der Reinkarnation stehenden Menschen, um einen Buddha oder Christus. Das Bewusstsein von der Gegenwart Gottes im Menschen wollte er in jedem Menschen erwecken. Dadurch unterschied er sich von den Mysterienpriestern, die dieses Bewusstsein letzten Endes doch nur einigen wenigen Auserwählten vermittelten. Die Auferweckung des Lazarus veränderte die Wahrnehmung Jesu in der Öffentlichkeit. Von nun an war er als der große Geheimlehrer bekannt, der aller Welt das Evangelium von der Ankunft des Reiches Gottes predigen – also die Initiation demokratisieren – wollte. Die einen wandten sich ihm bedingungslos zu, die anderen begannen, ihm als einem Verräter der Mysterien nachzustellen. (»Das war das große Verbrechen, dass Jesus den Initiationsprozess gelehrt hat, öffentlich«).

Ein letzter Hinweis. Im 22. Vortrag geht Steiner auf die zwei grundverschiedenen Christusbilder des Paulus und des Johannes sein. Paulus sah in Christus, gemäß der jüdisch-antiken Tradition, einen vergöttlichten Menschen, Johannes dagegen einen Mensch gewordenen Gott – die Mensch gewordene »zweite Gestalt Gottes«. Aus der Schule des Johannes leitet Steiner in diesem Vortrag das Apostolische Glaubensbekenntnis her, dessen in den Mysterienkulten gepflegte Urform er vorstellt.

Es bestand aus drei Sätzen:

1. Gott ist der Vater aller Dinge, der tief verborgene Ursprung von allem.

2. Dieser Vater war der erste Logos, der einzog in alle Dinge und damit zum zweiten Logos, zum Sohn wurde. Der zweite Logos war ein Ebenbild, ein Spiegelbild des ersten. Er stieg herunter und nahm materielle Form an, die Welt war dieser materialisierte zweite Logos, der sich durch die Materie hindurch entwickelte, um im Menschen zu sich selbst und seinem Ursprung zurückzufinden. Zweiter Satz: Ich glaube an den materiell gewordenen Logos.

3. Gott hat das Opfer seiner Materialisierung gebracht, um die Welt zu ermöglichen. Ohne seinen Abstieg gäbe es keine Welt, keine Entwicklung. Der Logos ist herabgestiegen und befindet sich wieder im Aufstieg.

Dieser makrokosmische Prozess wiederholte sich mikrokosmisch in jedem einzelnen Menschen, der sich einer Initiation unterzog. Die entsprechenden Kulte veranschaulichten dies. Häufig wurde der Abstieg des Logos in die Materie durch das Untertauchen des Einzuweihenden in Wasser symbolisiert. Diesen gesamten Vorgang beinhaltet das »Urapostolikum«: das Bekenntnis zum weltlosen Gott, zu seiner Weltwerdung und zu seinem Wideraufstieg in den Himmel. Drei Tage Todesschlaf, Abstieg in die Hölle, Wiederaufstieg als Eingeweihter.

»Da besteht aber nun die Schwierigkeit«, fährt Steiner fort, »dass wir auf der einen Seite den zweiten Logos, den Christus Jesus haben – das Johannes-Evangelium identifiziert Jesus geradezu mit dem zweiten Logos –, und auf der anderen Seite die Persönlichkeit Jesu, sodass wir annehmen können, dass wir es [im Glaubensbekenntnis] zu tun haben mit einer Umdeutung des zweiten Logos in die Persönlichkeit Jesu. Man hat [den zweiten Logos] also christianisiert.« (S. 318).

Also auch hier wieder dasselbe Problem, dem wir bereits an früheren Stellen begegnet sind: die Vergeschichtlichung eines zeitlosen Vorgangs, die Konzentration einer allgemein-menschlichen Erfahrung auf eine einzige Person, die Versiegelung des geistigen Entwicklungsprozesses der allmählichen Gottwerdung des Menschen in einer historischen Gestalt, Jesus als das Siegel der Initiation (zur islamischen Idee eines Siegels der Initiation siehe den Beitrag: Esoterik des Islam – V – Der verborgene Imam und die letzten Dinge). Das Apostolische Glaubensbekenntnis ist ein umgeprägter Initiationsritus, heißt es kurz darauf. »Der zweite Logos ist zur Persönlichkeit umgewandelt.« Von dieser Auffassung der Umdeutung des zweiten Logos zu einer Persönlichkeit, die als Problem, als Schwierigkeit bezeichnet wird, bis zur späteren Christologie Steiners, die auf der Wesensdurchdringung des Göttlichen und des Menschlichen in Jesus Christus als Tatsache ausging, war ein Weg zurückzulegen.

Dass Steiner 1901/02 in dieser Wesensdurchdringung – in der johanneischen Auffassung, der zweite Logos sei in Jesus Mensch geworden – ein Problem sah, ist umso merkwürdiger, als ihm in der gnostischen Christologie eine Folie vorlag, die dieses Problem hätte lösen können. Bemerkenswerterweise schildert er im 21. Vortrag über »Gnosis und Apokalypse« genau diese gnostische Christologie, die einen himmlischen Christus auf der einen Seite und einen Menschensohn Jesus auf der anderen unterschied, die miteinander eine Verbindung eingingen. Auch die Gnostiker suchten den Weg, der die Menschenseele zurück zu ihrem Ursprung zu führen vermochte. Auch bei ihnen gab es das Motiv der Einweihung als einer inversen Rekapitulation der Kosmogonie: »Die Rückkehr des Menschen zu Gott wurde von den Gnostikern so vorgestellt […], dass er im Verlauf der verschiedenen Leben nach und nach sich dem Göttlichen annähern kann. Wenn der Mensch so weit gekommen ist, dass er die Erinnerung so weit ausgebildet hat […], dass er rückblickend die ganze kosmologische Entwicklung […] überschauen kann, […] dann ist er derjenige, welcher imstande ist, die Wasser des Nil aufwärtsströmen zu lassen.« »Solche Menschen kannten die Gnostiker. Das sind die Messiasse.«

Aus Sicht der Gnostiker kommt – laut Steiner – im Begründer des Christentums »eine Verbindung auf halbem Weg zustande zwischen Jesus und Christus. Es ist in Jesus eine Persönlichkeit verkörpert, die sich mit dem Christus der oberen Region zu verbünden in der Lage ist. So sahen die Gnostiker die Entstehung des Menschensohnes – und auch die Entstehung des Buddha – auf der einen Seite; und auf der anderen Seite das Herabgelangen des Christus, des Weltengeistes, und seine Verbindung mit diesen von unten herauf sich entwickelnden Göttern. […] In Ihrem Wesen besteht die Gnosis darin, dass der Mensch im Laufe seiner verschiedenen Widerverkörperungen diesen hohen Entwicklungsgrad erreichen kann, und dass er den höchsten erreicht hat […], wenn das Gedächtnis so weit ausgebreitet ist, dass er alle Verkörperungen im Gedächtnis zu umfassen vermag. So weit war Jesus, der sich herausgebildet hat aus dem kleinen Nebenlicht-Tröpfchen [der gnostischen Sophia]. Er ist reif, als Vahan, als Gefäß, den Christus aus den oberen Regionen aufzunehmen. Der Mensch wird Träger des Christus. So haben wir den aus der geistigen Welt herausgeborenen Christus und den Jesus Christus der Gnostiker.« (S. 307-308).

Ich glaube, es ist aus all dem Angeführten deutlich geworden, warum das Christentum als mystische Tatsache im Titel dieses Beitrags als Forschungsaufgabe bezeichnet worden ist. Die Werkgeschichte Steiners – die Interpretationsgeschichte des Christentums von den hier referierten Vorträgen, über die erste Auflage des gleichnamigen Buches bis zu den großen Evangelienvorträgen, schließlich auch die Revisionen des Christentums als mystische Tatsache in den folgenden Auflagen – zeigen deutlich, wie sich Steiner dieser Forschungsaufgabe unterzogen hat. Sie dokumentiert (bzw. dokumentieren) den Wandel seiner Auffassungen aufgrund eines Wandels seiner Erkenntnisse zwischen 1901 und den folgenden Jahren, in denen das Mysterium von Golgatha sich immer deutlicher als jenes gnostische Mysterium herausschälte, in dem Gott und Mensch zu einer Offenbarung ihrer vollständigen Wesensdurchdringung gelangt waren. Die weiteren Entwicklungen sind hier nicht zu verfolgen, sie stellen uns jedoch erneut vor eine Forschungsaufgabe, die Aufgabe nämlich, den sukzessiven Erkenntnisgang Steiners aus den Zeugnissen zu rekonstruieren und auf diese Weise zu einer intimeren Erkenntnis dessen zu gelangen, was Geistesforschung ist. Sie ist, wie jede Erkenntnis, ein Prozess fortschreitender Erweiterung und Revision und nicht nur aus diesem Grunde unabschließbar, sondern auch deswegen, weil ihr Ziel nicht die Anhäufung von Informationen ist, sondern das Erleben des Wissens, die Transformation des Menschen durch seine Erkenntnis. Und diese Aufgabe stellt sich für jeden Menschen von neuem, sie kann nicht für andere gelöst werden.

Vorheriger Beitrag: Das Christentum als mystische Tatsache (3). Von Plato zu den Essäern

Hinweis: Wenn Sie bis hierher gelesen haben, dann scheint sie dieses Thema zu interessieren. Einen Versuch, die zuletzt angesprochene Forschungsaufgabe für uns – die Rekonstruktion der Entwicklung der Christologie Rudolf Steiners zumindest in Grundzügen – durchzuführen, finden sie in folgendem Buch: Lorenzo Ravagli, Rudolf Steiners Weg zu Christus. Von der philosophischen Gnosis zur mystischen Gotteserfahrung.

Der Fortschritt der Erkenntnis spielt sich im sozialen Kontext stets auch in Form von Auseinandersetzungen mit anderen Ansichten ab. Diese vollzieht sich in Form eines kritischen Diskurses. Wenn Sie sich für diesen interessieren, seien Ihnen folgende Beiträge empfohlen:

Bei der Weltschöpfung darbey gewesen | Vom »kosmogenetischen Grundgesetz« | Metamorphose und Rekapitulation | Fast alles ist subjektiv | Von der Schrumpfung des Weltgeistes


Anmerkungen:

  1. Es sei an Steiners ältesten erhaltenen Brief erinnert, den er als 19-Jähriger verfasste, in dem er sich dazu bekannte, jenes von Schelling beschriebene »geheime, wunderbare Vermögen« in sich entdeckt zu haben, das es dem Menschen erlaube, sich aus dem Wechsel der Zeit in sein »innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige« anzuschauen. Schelling hatte diese Anschauung als die »innerste, eigenste Erfahrung des Menschen« bezeichnet, »von welcher allein alles« abhänge, »was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben«. »Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben«, kommentierte Steiner am 13. Januar 1881.
  2. Gemeint ist 1 Mos 3,15, ein Vers der in der christlichen Literatur traditionell als Christus-Prophetie gedeutet wurde. Jahwe spricht zur Schlange: »Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.« Der Nachkomme des Weibes Eva ist Jesus der Christus.

Band 87 der Gesamtausgabe: Antike Mysterien und Christentum, Dornach 2019, 460 S., geb. 63,– Euro.


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