Das Christentum als mystische Tatsache – eine Forschungsaufgabe (2)

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Wagenlenker von Delphi

Wagenlenker von Delphi. Ausschnitt aus einem Foto von David Monniaux. CC-BY-SA-1.0 wikipedia.

Von den Pythagoräern zu Plato. Zu ähnlichen Anschauungen wie Heraklit und die Orphiker gelangten die Pythagoräer, nur dass bei ihnen die Mathematik im Zentrum stand (4. Vortrag). Auch sie pflegten Einsichten, die sich in Steiners philosophischen Werken wiederfinden. »Kein Mensch kann […] irgendetwas von einem mathematischen Gebilde, von einem Raumgebilde geometrischer Figuren in der Welt und in der Wirklichkeit finden, wenn er nicht diese mathematischen Figuren erst in seinem Geiste ausgebildet hat.« »Das was ich draußen sehe, muss auch in gewisser Weise in meinem Geiste enthalten sein. Das, was aus dem Quellpunkt meiner Seele hervorgeht, ist dasselbe, was ich draußen als Urgrund der Welt selbst wahrnehme.« Die Ellipse, die ich in mir wahrnehme und die Ellipse, die draußen als Bahn eines Sternes vorhanden ist, sind nicht zwei Ellipsen, sondern eine. Auch an dieser Stelle verweist Steiner auf Schelling, diesmal auf dessen Naturphilosophie, dessen Interpretation der Schwere bzw. Anziehung. »Wenn ein Körper auf der Erde wirkt [durch die Anziehungskraft] so ist er auf der Erde. Ein Körper ist da, wo er wirkt. Die Lichtgrenze ist nicht die Grenze der wirklichen Sonne. Die Sonne ist in dem ganzen Raum, wo sie ihre Anziehungskraft ausübt. Der Raum, den die Erde ausfüllt, gehört mit zum Sonnenraum.« Übertragen auf den menschlichen Geist: »Der Menschengeist füllt den ganzen Weltenraum aus. Er ist nicht eingeschlossen in einen einzelnen Organismus. Der Geist ist da, wo er wahrnimmt.« Deshalb darf der Pythagoräer zu Recht behaupten: Wenn der Geist des Menschen eine Ellipse im Weltraum wahrnimmt, dann ist er geistig im Weltraum anwesend. Dasselbe Gesetz beherrscht einen Himmelskörper, der eine elliptische Bahn vollzieht, wie den menschlichen Geist, der diese Ellipse denkt. Die gesamte pythagoräische Lehre beruht auf der Anerkennung der Produktivität des Menschengeistes: »Wer keine Intuition hat, wer nicht aus dem Quellpunkt seines Geistes heraus wirklich das hat, was er den Dingen entgegenzuhalten hat, wer steril und unfruchtbar ist, wer seine Seele nicht mit geistigen Wirklichkeiten ausfüllen kann, der glaubt, dass er nichts weiter hat, wenn er über [die Sinneswelt] hinausgeht, als Worte.« (Man denke an die weiter oben zitierten Sätze über Spiegelbilder aus den Grundlinien …).

Besonders interessant für naturwissenschaftlich Interessierte dürfte der 5. Vortrag sein, der ebenfalls von den Pythagoräern handelt. Die »ganze Naturwissenschaft« ist nämlich laut Steiner dabei, den alten Satz der Pythagoräer zu bestätigen, dass alles, was im Raum existiert, auf Zahlenverhältnisse zurückführbar ist. Illustriert wird dies durch die Verbindungen chemischer Elemente, die sich nach Zahlenverhältnissen bilden. Wir kennen heute zwar erheblich mehr Tatsachen, als die Alten, aber die zugrundeliegende Denkform ist dieselbe. Ja, die Naturwissenschaft »widerlegt von Tag zu Tag mehr den Materialismus«. Illustriert wird dies am Auge des Tintenfischs und dem menschlichen Auge, die zwar ähnlich gebaut sind, aber auf völlig unterschiedliche Weise entstehen; die Folgerung daraus: nicht der Stoff ist es, der die Formen bildet, sondern der Geist, der den Stoff organisiert. Erneut kommt das Unbegrenzte, das sich selbst begrenzt zur Sprache. Indem das Unbegrenzte (der Geist), sich selbst begrenzt, wird es sichtbar, es wird zum Stoff, zur Materie. »Um die Wesenheiten aus der Materie herauszubilden, atmet der Geist Materie ein und atmet sie wieder in den Weltenraum aus. Daher [wirkt] der Geist [in ] einem fortwährenden Ein- und Ausatmen, in einem Atmungsprozess.« Davon habe auch Goethe gesprochen.

Und nun folgt Goethes Beitrag zur Klimatheorie. »Goethe denkt sich, dass die Erde mit dem Luftraum sich selbst von außen her beeinflusst, sich förmlich in sich selbst zusammenzieht, einatmet, was sie an Weltenraum braucht, und dann wieder ausatmet, was sie in sich selbst verarbeitet hat. Es ist ein verschiedener Luftdruck, wenn man einatmet und ausatmet, ein Stärker-Werden und auch ein Schwächer-Werden. Man hat diesen Weg verlassen, weil man nicht glauben wollte an so regelmäßige Vorstellungen […] In den scheinbar unregelmäßigen Vorgängen kann man Regelmäßigkeit sehen, die davon herrührt, dass die Erde Luft einatmet und dann sie wieder ausatmet, eine Regelmäßigkeit, die dann regelmäßige Schwankungen hervorbringt.«

Der Pythagoräer, so Steiner im 6. Vortrag, war sich klar darüber, dass er Gott nicht außerhalb der Welt in einem »Ding an sich« suchen musste, »sondern da, wo er einzig zu finden war, in der Welt als solcher. Er war sich klar darüber, dass Gott in der Welt ist.« Daher betrachtete er diese Welt auch nicht als Schöpfung, sondern als Dasein Gottes. »Wer in der Welt lebt, der lebt in Gott.« (Philosophie der Freiheit: »Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit, ist zugleich das Leben in Gott«).

Im 7. Vortrag wird der Blick erstmals nach Ägypten geworfen und über das Totenbuch gesprochen. Steiner interessiert sich vornehmlich für die Verpflanzung der Lehren dieses Buches nach Griechenland und ihre Umwandlung in Mythen. Von diesen handelt auch der 8. Vortrag, der sich mit den Arbeiten des Herakles als einer symbolischen Darstellung des Initiationsprozesses beschäftigt.

Die folgenden drei Vorträge bilden den Gipfel der gesamten Kette, sie beschäftigen sich mit Platos Philosophie vom Standpunkt der Mystik, dem Phaidros und dem Phaidon, schließlich dem Symposion. Steiner wählt als Zugang zur platonischen Philosophie das dialogische Prinzip. Schon im siebten Vortrag heißt es: »Wir können nicht begreifen, was die Platonischen Gespräche für einen Sinn haben sollen, wenn wir sie nicht auffassen als ein gedankliches Abbild einer mystischen Unterweisung und ein Hinaufführen von den untersten zu den höchsten Stufen der Erkenntnis.« Eine zentrale Rolle spielt in diesen Unterweisungen Sokrates, aber nicht der geschichtliche Sokrates, sondern Sokrates als »Meister« einer Schule philosophischer Mystik. Der Sinn seiner Unterweisungen besteht nicht darin, Beweise zu führen, die den Verstand befriedigen, sondern über die Verstandeserkenntnis hinaus zur geistigen Erfahrung zu führen. Sokrates, das ist sein sophistisches Erbe, führt die Verstandeserkenntnis ad absurdum. Das sophistische Schwert ist zweischneidig. Einerseits war Protagoras der »Begründer der Phrase«. Die Sophisten hatten die Grenzen des Verstandes erkannt. Sie demonstrierten ad oculos, dass von jedem Ding mit gleichem Recht oder gleicher Plausibilität zwei entgegengesetzte Wahrheiten ausgesagt werden konnten. Wer fühlt sich dabei nicht an die Kantischen Antinomien erinnert? Oder aktueller an die Sophisten der Gegenwart, die Postmodernisten und Dekonstrukteure der Wahrheit? Aber Steiner kann den antiken Sophisten sogar etwas Positives abgewinnen: sie wollten nämlich, wie gesagt, das rein aus dem Verstande fließende Wissen ad absurdum führen, die »Wertlosigkeit der Logik« aufzeigen.

Wenn aber die Gesetze der Logik und die Beweise des Verstandes nicht zur Wahrheit führen – was dann? Die geistige Erfahrung. Sokrates führte über die Sophistik und damit über die Verstandeserkenntnis hinaus, »er erlöste seine Schüler vom Glauben an den Verstand«, indem er sie zu einer Erfahrung geistiger Tatsachen führte. Tatsachen lassen sich nicht beweisen. »Niemand wird einen Beweis dafür suchen, dass eine Blume existiert. Es genügt, wenn wir ihr Dasein erleben […] Man kann niemals ein Ding beweisen, das man absolut nicht wahrgenommen hat. Es handelt sich also gar nicht darum, logisch etwas zu beweisen, sondern das Feld der Erfahrung zu erweitern […] in ein Metaphysisches hinein«. »Nicht logisch soll erschlossen werden, sondern geistig soll erlebt werden. Nicht bewiesen soll werden, sondern erlebt soll werden.« So will Sokrates beispielweise nicht beweisen, dass es eine unsterbliche Seele gibt, sondern seine Schüler dazu führen, das Seelische ebenso zu erleben wie das Körperliche. Er wird von der Überzeugung geleitet, »dass jeder Mensch zu solchen höheren Erkenntniskräften geführt werden kann. Und das Führen zu solchen Kräften in der sokratischen Methode ist das Gespräch.« Dies ist übrigens ein Gesichtspunkt, der nicht nur für Steiners Verständnis des spirituellen Schulungsweges gilt, sondern für sein gesamtes Werk.

Das Interessante an Plato ist für uns (für mich als Leser), dass er Steiner dazu zwingt, sich von jener als Gefahr stets präsenten Deutung des Mythos zu lösen, die in ihm bloß eine Allegorie oder Personifikation, eine handgreifliche Veranschaulichung von Verstandeswahrheiten für die Minderbemittelten sieht. Eine der Fragen, die Plato umtrieb und auch Steiner, von ihm angeregt, umtreibt, ist die, »wie sich der Mythos zu dem verhält, was man im gewöhnlichen Sinne Wahrheit nennt […], zu unserem abstrakten Wahrheitsstreben«. Schon Sokrates stand der rationalistischen Auslegung der Mythen ablehnend gegenüber. Mehr noch Plato, der sich »in ganz entschiedener Weise verhält gegen jede rationalistische Auslegung des Mythos.« Ja, er greift dort, wo er von den »endlichen zu den unendlichen Wahrheiten« – also von den beweisbaren des Verstandes zu den bloß erfahrbaren der Vernunft oder des Geistes – vorstößt, selbst zum Mythos! Wenn er von etwas spricht, was sinnlich nicht wahrnehmbar, sondern nur geistig fassbar ist, drückt er sich, wie Steiner sagt, »symbolisch-allegorisch« aus. Lassen wir einmal das Problem beiseite, das in der Verwechslung oder Gleichsetzung von Symbol und Allegorie liegt, – jedenfalls betont Steiner, dass Plato die entschiedene Empfindung davon hat, dass alles, was über die Sinnes- und Verstandesbeobachtung hinausgeht, »unmöglich anders für den Menschen auszusprechen ist, als durch den Mythos.« Beispiel dafür ist der Phaidros, der den Weg von untergeordneten zu höheren Stufen des Bewusstseins aufzeigt. Diesem Phaidros haftet ein gewisser Mangel an: er ist nämlich, laut Steiner, »eine mehr ins Logische herübergezerrte«, »dem Verstande genäherte Betrachtung« im Vergleich zu jenen, »welche die Mysterien geübt haben«. Dies hat den unbestreitbaren Vorteil, dass sie den einseitig Verstandesbegabten, den logisch Denkenden entgegenkommt. Allerdings ist dieses Entgegenkommen mit dem Nachteil verbunden, dass eben diese Klientel den Boden unter den Füssen verliert, wenn sich Plato aus der Ebene des Verstandes in die Wolkenhöhen des »wahren Mythos« erhebt. »Unter einem wahren Mythos«, heißt es im Text, »verstehe ich nicht einen solchen, welcher ein Wunder einschließen muss, sondern einen solchen, welcher getragen wird von jenem höheren Wahrheitsbegriff, den wir als Träger der Mythologie, als den Träger des Mythos kennengelernt haben.« (S. 140) Der »Kern dieses höheren Wahrheitsbegriffs« bestand für Steiner darin, dass in den Mysterien »die äußere Göttervorstellung« als »innerer Bewusstseinszustand« erkannt wurde. (S. 38) Das bedeutet allerdings nicht, dass sie (die Göttervorstellung) Verstandes- oder Naturbegriffe allegorisierte, sondern dass das in der Natur ausgebreitete und durch sie hindurch sich entwickelnde Bewusstsein des Weltgeistes sich im menschlichen Bewusstsein in Gestalt der Göttervorstellung spiegelte und ihm scheinbar von außen entgegenkam. Das ist der Unterscheid zwischen einem Symbol und einer Allegorie. Der Schmetterling, der aus der Raupe schlüpft, ist das von der Natur selbst erzeugte Realsymbol der Menschenseele, die sich dem Leib entringt. Der griechische Gott ist eine symbolische Gestalt des Urwesens, das als Naturmacht im menschlichen Bewusstsein auftritt und handelt, die Erzählung über seine numinosen Wirkungen ist ein »wahrer Mythos«.

Die Kraft, die die Menschenseele durch verschiedene Stufen der sittlichen Entwicklung vorantreibt, wird im Phaidros als Eros bezeichnet. Sie führt den Menschen von der Empfindungsseele zur Bewusstseinsseele (die Ausdrücke verwendet Steiner nicht, aber er beschreibt die Phänomene, für die er später diese Ausdrücke prägte: von der begierdenbeherrschten über die besonnene zur geisterfüllten Seele). Die Seele, die sich vom Endlichen, Vergänglichen zum Unendlichen, Ewigen erhebt und von diesem mit Enthusiasmus erfüllt wird, ist nicht nur des Gottes voll, sondern hat auch Teil an seiner ontologischen Qualität. Und hier, wenn Plato von der Grenze spricht, an der das Endliche das Unendliche berührt, verfällt er in eine »Darstellungsform«, die wir als eine »mystische, symbolische, allegorische bezeichnen müssen«. (Auch diese Gleichsetzungen sind, nebenbei gesagt, problematisch).

Plato glaubt, »dass es sich um etwas handelt, wo es unmöglich ist, sich in Verstandesformen über dieses Gebiet auszudrücken.« Und nun deutet Steiner selbst den Unterschied zwischen Symbol und Allegorie an: »Hier dichtet er nicht so, wie man aus dem Verstand heraus dichtet, sondern wie einer, der sich hineinversenkt hat in das Meer des Unendlichen. Er dichtet nicht wie einer, der nur die logische Form wiedergeben kann, sondern er dichtet wie einer, der eine neue, höhere Darstellungsform hat, die nichts anderes darstellt, als eine neue, höhere Wahrheit gegenüber der logischen Wahrheit.« Wenn man dies so betrachtet, dann gelangt man zu einer überraschenden Einsicht, zu der Einsicht nämlich, »dass Plato – im Gegensatz zu seinen Vorgängern – das war, was man einen Initiierten nennt, das heißt, er war ein Mensch, der imstande war, die tieferen Wahrheiten, die sich ihm enthüllt haben, im Bilde wiederzugeben.« (Gemeint ist der Mythos vom Wagenlenker, der seine Bahnen über das Himmelsgewölbe zieht). In der paradoxen Ordnung der Symbole gibt es offenbar welche, die unter dem Verstand und welche, die über dem Verstand stehen. Jene, die über dem Verstand stehen, bringt der Eingeweihte hervor, die anderen werden von der Natur – vom Gott, der in die Natur ausgegossen ist – hervorgebracht. »Derjenige, welcher das Geheimnis dieses Bildes, dieses Mysteriums zu enthüllen imstande ist«, fährt Steiner fort, »der kann auch wissen was Plato will […] Jedenfalls ist es aber eine Symbolik, die tieferen Wahrheiten damit auszudrücken, weil es nicht darauf ankommt, sie brutal äußerlich vor den Verstand hinzustellen. Eine solche brutal hingestellte Wahrheit wird nicht in ihrer ganzen Tiefe erkannt und kann nicht in ihrer ganzen Tiefe erkannt werden. […] Der, welcher eine Ahnung von der unendlichen Tragfähigkeit solcher [symbolisch ausgedrückten] Wahrheiten hat, wird finden, dass es nötig ist, den Inhalt dieser Wahrheiten zu durchleben, der wird finden, dass es unmöglich ist, dass dieser Inhalt logisch ausgedrückt werden kann. Deshalb wird Plato an den tiefsten Stellen immer mystisch, allegorisch.« (S. 142)

Daher liefert Sokrates im Phaidros auch keinen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele, sondern einen Mythos. »Die Erhebung zu der eigentlichen Geisteswelt oder der Erkenntnis der Seele ist für Plato nicht ein logischer Prozess, sondern ein wirklicher Seelenprozess. Der Mensch wird ein anderer, er steigt auf und erobert sich seine Seele […] Wer den Prozess der Entwicklung nicht durchmachen will, sondern etwas erkennen will, was er schon in sich trägt, der bleibt im Sinnlichen, im Verstandesmäßigen stecken. […] Das ist der Krebsschaden unserer modernen Erkenntnistheorie. Dieses Unheil hat die Kantsche Philosophie angerichtet, welche von dem Gesichtspunkte ausgeht, dass alle Wahrheit fertig ist, dass alle Wahrheit schon da ist und der Mensch die Wahrheit nur zu entdecken hat … «. Dem gegenüber steht Plato, der weiß, »dass die Gottheit ebenso auf den Menschen angewiesen ist, wie der Mensch auf die Gottheit, und zwar deshalb, weil es die Gottheit nicht zur Vollendung bringen könnte, wenn der Mensch nicht mit tätig wäre […] Was der Mensch im Geiste entwickelt, das gehört zum Weltprozess.«

»Der Mensch, welcher die Sinnlichkeit nicht bloß zergliedert und interpretiert, dessen Erkenntnisprozess ein wirklicher ist, der erkennt nicht bloß im Erkenntnisprozess, sondern der tut etwas, der gestaltet seine Seele um, verwandelt sie aus einer zeitlichen in eine göttliche Seele …«. Und die Kraft, die dieses Göttliche in der Seele hervorzaubert, ist der Eros. Wer sich dank des Antriebes, den ihm Eros verleiht, zur Schau der Ideenwelt aufschwingt, springt aus dem Zeitlichen in das Ewige und wenn er von dieser Erfahrung berichtet, dann muss er »die Sprache der Unendlichkeit« ins Zeitliche zurückübersetzen. Eben dieser Prozess vollzieht sich bei Plato, »der Prozess, der sich bei aller Mythenbildung vollzogen hat, der uns immer verhindern wird, die Mythen in realistischer Weise auszudeuten. Es vollzieht sich der Prozess, der bei jedem Menschen sich ausbilden muss, wenn er von dem Logischen Abstand nehmen muss. Hier sind die Grenzen der Logik.« (S. 147-148).

Hat aber Plato, als er den Mythos vom Seelenumschwung auf den Pferdegespannen im Kosmos dichtete, »so gemeint, wie er ihn aussprach?« Glaubte er wirklich, die Seelen würden nach dem Tode auf Pferdewagen im Himmel herumsausen? (Müssen wir glauben, dass Engel Flügel haben?) Die – etwas ausweichende – Antwort Steiners auf diese Frage: »Nun, er will gerade, dass man in sein Symbol mehr hineinlegen kann, als er selbst vielleicht darin zu erblicken vermochte. Das ist die exoterische und die esoterische Auffassung des Symbols. Der Esoteriker ist sich bewusst, dass jeder Mensch, mag er auch eine noch so hohe Stufe der Erkenntnis erreichen, doch nur wieder eine individuelle Erkenntnis hat, und dass es möglich ist, dass durch den menschlichen Geist hindurch er den Zugang zu dem findet, was das einzelne Bewusstsein nicht ausschöpfen kann. Er ist sich bewusst, dass der Mensch dichtend Wahrheiten aussprechen kann, ohne zu wissen, was alles in diesen Wahrheiten liegt. Und es kann so sein, dass ein anderer, der nachher kommt, das, was darin enthalten ist, erst herausschälen kann.« (S. 150) Auch diese Ausführungen stellen eine Stufe auf einem Weg dar, der vom »wahren Mythos« zur »wahren Imagination« führte. »Die platonischen Schriften«, heißt es am Ende des Vortrags, »sollen nicht interpretiert werden, sie sollen Reisebeschreibungen sein im Reiche des Geistigen und vor die Sachen selbst hinführen. Dann aber wird gerade die Sprache des Mythos, welche gewisse Dinge in einer Art Unbestimmtheit verschwinden lässt, angebracht sein …«.

Der 10. Vortrag behandelt den Phaidon, das Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele, das außer dem Timaios »vielleicht allerwichtigste der platonischen Gespräche«. Es liefert »im eminentesten Sinne« den Beweis, dass wir es bei Platos Werk mit »wahrer Mystik«, ja mit »wahrer Theosophie« zu tun haben. Steiners Ausführungen zum Höhlengleichnis übergehen wir hier. Hier finden sich über Platos Bilddichtung die Sätze: »Wenn die Weisheit anschaulich gemacht werden soll, dann leitet Plato in den Mythos über. Er lässt eine höhere Sprache eintreten. Das ist die Sprache des Mythos.« Der Mythos als höhere Sprache. Auch das Symposion, auf das Steiner im 11. Vortrag eingeht, das Sokrates »im Angesichte der höchsten Lebensbejahung«, inmitten von lauter Zechern zeigt, sei den interessierten Lesern zu näherem Studium überlassen.

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Band 87 der Gesamtausgabe: Antike Mysterien und Christentum, Dornach 2019, 460 S., geb. 63,– Euro.


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