Das Christentum als mystische Tatsache – eine Forschungsaufgabe (1)

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Das Christentum als mystische Tatsache

Das Christentum als mystische Tatsache, GA 87

Nun sind sie endlich erschienen, jene 24 Vorträge, die Rudolf Steiner zwischen Oktober 1901 und April 1902 in der theosophischen Bibliothek zu Berlin unter dem Titel Das Christentum als mystische Tatsache hielt. Schon lange kursierten Fotokopien der Mitschriften in anthroposophischen Kreisen, die als exklusives Gut gehandelt wurden, fast wie Geheimdokumente. Im Jahr 2005 veröffentlichte der Archiati-Verlag sie das erste Mal in Buchform.[1] Schon diese erste Buchausgabe zeichnete sich durch eine willkürliche Titelei aus: aus den Vorträgen über das »Christentum als mystische Tatsache« wurden solche über das »Christentum und die Mysterien des Altertums«, das Ganze außerdem zu einem »Grundkurs in Geisteswissenschaft« – obwohl in den 24 Vorträgen nirgends von »Geisteswissenschaft«, sondern höchstens von Theosophie die Rede ist. In diese Tradition der willkürlichen Titelumdeutungen stellt sich nun auch der Rudolf Steiner Verlag (verantwortlich für die Ausgabe: David Marc Hoffmann und Hans-Christian Zehnter). In seinem Fall tritt an die Stelle der mystischen Tatsache ebenfalls eine rein äußerliche Verknüpfung: Antike Mysterien und Christentum – von mystischer Tatsache ist keine Rede mehr. Bewogen wurden die Herausgeber zu dieser Titelei angeblich, um Verwechslungen zwischen dem 1902 von Rudolf Steiner herausgegebenen Buch und den von ihnen herausgegebenen Vorträgen vorzubeugen. Man hält die Leser offenbar für unfähig, zwischen zwei GA-Bänden mit unterschiedlichen Nummern zu unterscheiden, zwischen der Nummer 7 und der Nummer 87.

Während der Originalbuchtitel Rudolf Steiners einen Weg andeutet, der vom Christentum als mystischer Tatsache, einer Erfahrungstatsache also, auf die Mysterien des Altertums zurückverwies, führt der Weg laut dem Titel der nunmehr offiziellen Ausgabe der Vorträge von den antiken Mysterien zum Christentum – und damit in umgekehrter Richtung; die Vorträge Steiners handelten ursprünglich schlicht vom Christentum als einer mystischen Tatsache. Dieser von Steiner gewählte Titel legt den Gedanken nahe, dass dieses Christentum als mystische Tatsache für ihn nicht das Ergebnis einer historischen Abfolge oder ein einmaliges historisches Ereignis war, sondern immer schon präsent, auch in den alten Mysterien. Deswegen ist im 17. Vortrag z. B. auch vom »ägyptischen Christusgedanken« die Rede.

Damit doch wenigstens die Andeutung eines Zusammenhangs der Vorträge mit dem Buch aufscheint, versehen die Herausgeber Band 87 mit einem Untertitel: »Vierundzwanzig Vorträge über das Christentum als mystische Tatsache, gehalten in Berlin vom 19. Oktober 1901 bis 26. April 1902, herausgegeben nach zum Teil bruchstückhaften stenografischen Mitschriften von Franz Seiler« – barocker geht es kaum noch. Warum nicht einfach: »Das Christentum als mystische Tatsache – 24 Vorträge, 1901-1902«?

Wie der Untertitel schon sagt, handelt es sich nicht um exakte stenografische Mitschriften, sondern um Bruchstücke von Mitschriften, eine interessante Lage, der man auch bei manchen Mitschriften von Vorlesungen Hegels begegnet. Mit dieser prekären Überlieferung hängt auch die zögerliche Handhabung des Textbestandes zusammen, dessen Geschichte im Anhang des Buches erzählt wird. Es existieren die Original-Stenogrammhefte Franz Seilers, maschinenschriftliche Übertragungen der Stenogramme, die er im unmittelbaren Anschluss an die Vorträge anfertigte und eine weitere Übertragung, die er in den 1950er Jahren vornahm. Schon um 1975 wurde ein erster Versuch unternommen, aus diesem Textmaterial einen veröffentlichungsfähigen Text herzustellen, ein weiteres Mal bemühte sich Hella Wiesberger zu Beginn der 1980er Jahre darum. Es folgten Karl-Martin Dietz und Caroline Wispler, die sich an einer »Redaktion« versuchten, Ende der 1980er Jahre Ulla Trapp und David Marc Hoffmann, schließlich um 2010 erneut Ulla Trapp – stets mit dem Ergebnis, eine Veröffentlichung sei nicht vertretbar. Schließlich folgte doch der Entschluss, die Vortragsreihe im Zuge der Vollendung der Gesamtausgabe bis 2025 herauszugeben. Pietro Archiati hatte weniger Bedenken, als er 2005 seinen »Grundkurs in Geisteswissenschaft« veröffentlichte, aber seine Ausgaben von Steinertexten zeichnen sich ohnehin durch höchst eigenwillige Eingriffe aus. Und die Bedenken, die so lange eine Publikation verhinderten, sind unangebracht. Selbstverständlich liegt uns nicht ein authentisches Meisterwort vor, aber was überliefert wurde, ist gehaltvoll genug – ja von geradezu ungeheurem Gehalt, so dass die Vermutung naheliegt, dieser Gehalt sei der wahre Grund für das jahrzehntelange Zögern.

Nun also die vierundzwanzig Vorträge, die in GA 87, obwohl zum Teil nur in »Bruchstücken« festgehalten, immerhin 346 Seiten füllen – während GA 7, das von Steiner selbst herausgegebene Buch, lediglich 180 Seiten stark ist. Sie zeugen von einer geradezu anarchischen Freiheit der Interpretation, des Umgangs mit dem traditionellen Material, das fast zwei Jahrtausende hin und her gewendet wurde, um schließlich in den Händen berufener Philologen zu Staub zu zerfallen. Dass »wissenschaftliche Kritik« vor allem zu einem führt: zur Auflösung, ja Zerstörung des Gegenstandes, dem sie sich zuwendet, die Geschichte der protestantischen Theologie legt davon Zeugnis ab. Nicht so Steiner, der sein Unterfangen durchaus als wissenschaftlich versteht, aber mit einer Freude an geistrealistischer Deutung in das Füllhorn der Überlieferung greift, als sei er kein Genosse des 20. Jahrhunderts, sondern ein Gnostiker zur Zeit des Urchristentums. Er spannt in diesen Vorträgen einen gewaltigen Gedankenbogen, der von Heraklit bis Scotus Eriugena reicht und von einer einzigen kontinuierlichen Erfahrung zusammengehalten wird: der mystischen Erfahrung, dass Gotterkenntnis (Theosophie) Selbsterkenntnis ist, dass Selbsterkenntnis (Anthroposophie) zur Gotterkenntnis führt. Damit knüpfte er an die Vorträge des vorangegangenen Jahres und die im Anschluss an sie erschienene Schrift über die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens an, die es unternahmen, jene Kontinuität – ausgehend vom Fundament der philosophischen Mystik (oder Gnosis) seiner eigenen Erkenntnisphilosophie – in der Gotteserfahrung der anbrechenden Neuzeit aufzuweisen. Der vollständige Titel des ersten Buches setzt nicht umsonst die mittelalterliche Mystik ins Verhältnis zu »modernen Weltanschauungen« (zur modernen Weltanschauung« ab der zweiten Ausgabe): denn es ging darum, zu zeigen, dass die theosophische Vertiefung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisform – die auf Erfahrung und Beobachtung beruht – in der Selbsterkenntnis auch bereits von den neuzeitlichen Mystikern praktiziert wurde, dass jene also »Naturwissenschaftler« avant la lettre waren und letztere »Mystiker« sein könnten, wenn sie nur die Konsequenzen aus ihrer Methode zögen.

Was Steiner in seiner Vortragsreihe über das »Christentum als mystische Tatsache« aufsucht, sind »die Keime zu allem«, was die mittelalterliche Mystik hervorgebracht hat. Und diese Keime liegen in den Mysterien des Altertums. Genauer gesagt: in der Selbsterkenntnis, zu der sie den Menschen führten. Von jenem »Weltengrund« der Grundlinien … ist die Rede, der sich in die Welt »vollständig ausgegossen« hat und der »in seiner höchsten Form« im »Denken« des Menschen erscheint, wenn dieser die Kraft hat, es als solchen zu erkennen. »Wenn der eine, der ein reiches Seelenleben hat, tausend Dinge sieht, die für den geistig Armen eine Null sind, so beweist das sonnenklar, dass der Inhalt der Wirklichkeit nur das Spiegelbild unseres Geistes ist und dass wir von außen nur die leere Form empfangen. Freilich müssen wir die Kraft in uns haben, uns als die Erzeuger dieses Inhaltes zu erkennen, sonst sehen wir ewig nur das Spiegelbild, nie unseren Geist, der sich spiegelt«, heißt es in den Grundlinien … . Deswegen münden Steiners philosophische Gedankengänge regelmäßig in jener gnostischen Urerfahrung, der Selbsterkenntnis Gottes im Menschen, des »gemeinsamen Urwesens«, das der Mensch in seinem Denken ergreift, des »Lebens in Gott«, das darin besteht, gedankenerfüllt in der Wirklichkeit anwesend zu sein. Deswegen hebt die Mystik im Aufgang … auch mit dem höchsten Erlebnis an, zu dem es die philosophische Entwicklung gebracht hat: mit Hegel, der die »Kabinettsordres des Weltgeistes« protokollierte, mit Spinozas intuitiver Anschauung des Wesens Gottes, Fichtes Entdeckung eines höheren Sinnes, der den geistigen Grund der Dinge zu schauen vermag, mit der Selbsterweckung und der geistigen Wiedergeburt der Natur in der Selbsterkenntnis. Diese Selbsterkenntnis eröffnet dem menschlichen Erkennen eine »unendliche Perspektive«, sie führt zur Einsicht, dass sich im Menschen »die ganze Welt offenbart«. Aus ihr wird die Welterkenntnis geboren. Das Weltgeschehen stellt sich im menschlichen Erkennen sein eigenes geistiges Wesen gegenüber, darin besteht die »Urtatsache des Innenlebens«, die sich in einer damit verbundenen »Umwandlung« des Menschen ausdrückt, die »das Göttliche in ihm erweckt«, das nicht als etwas Äußerliches vorhanden ist, um »bildlich« in ihm wiederholt zu werden, sondern in der Selbsterkenntnis aufzuleben. Denn »das Erleben der Selbsterkenntnis«, so Steiner in der Mystik …, ist »Weben und Wirken innerhalb des Weltenkernes.«

Statt von einem Gedankenbogen könnte man auch von einer Gebirgskette sprechen, über die der Vortragende in der theosophischen Bibliothek eine Höhenwanderung zurücklegt, aus der einzelne Gipfel hervorragen, wie Heraklit, Pythagoras, vor allem Plato, Philo von Alexandrien, die namenlosen ägyptischen Initiierten, Buddha und Jesus, schließlich Augustinus und Scotus Eriugena. Erwandert werden Mysterienkulte, Mysterienlehren, die Volksreligionen (griechische Mythologie und Götterlehre, ägyptische Mythen, das Judentum, das Christentum), die mystische Erfahrung, die überall als höhere Erfahrung in der Erfahrung präsent ist. Und diese Mystik führt den einzelnen Menschen zu einer Erfahrung des Ewigen, jener ewigen Erfahrung, die wie in jeder perennialistischen Erzählung, die den Wahrheitskern in allen Religion sucht, um sie miteinander zu versöhnen, sich selbst gleich bleibt. Aufschlussreich auch, was in diesem Gebirge nicht angetroffen wird: Aristoteles kommt (von nebensächlichen Erwähnungen abgesehen) ebensowenig vor, wie der Islam. Und was ebenfalls nicht vorkommt, ist eine Affirmation der Ansicht, in Jesus habe sich der Sohn Gottes, die zweite Person der Trinität inkarniert.

Darin liegt auch die Bedeutung dieser Vorträge für das Verständnis der Erkenntnisentwicklung Rudolf Steiners, das Verständnis der Ausbildung seiner Christologie. Wir kommen darauf zurück.

Tauchen wir ein wenig in den Text ein und greifen einige Motive heraus. Heraklit, heißt es, gehörte zu den Eingeweihten von Eleusis. »Er war eingeweiht in die alten Kulte, in denen man die tiefsten Grundlagen der griechischen Mythologie […] kennenlernte.« Was den Eingeweihten enthüllt wurde, »war der Mensch, die Selbsterkenntnis«. Er war »die erste große Persönlichkeit, welche erkannt hat, dass Selbsterkenntnis höchste Welterkenntnis ist.« Aber diese Selbsterkenntnis »lieferte nicht das Selbst des Menschen, sondern das Wesen, das allem zugrunde liegt.« Der zweite Vortrag geht auf die griechische Mythologie, auf das Götterbewusstsein der Griechen ein. Was Steiner hier vorträgt, ist eine Interpretation vom Standpunkt der Schellingschen Philosophie der Mythologie mit all ihren Ambivalenzen. Von Dionysos und Hades und ihrer von Heraklit postulierten Identität ist die Rede. Die Mysterien lehrten, das größte Geheimnis sei der Mensch. Diese Lehre war eine verderbenbringende Wahrheit, sie zertrümmerte den Volksglauben an die Götter. Warum? Weil ihr Ursprung der Mensch war, der nicht ahnt, wie anthropomorphisch seine Weltsicht ist. Dieser Anthropomorphismus, der den Göttern die Gestalt des Menschen gibt, herrscht auch in den heutigen Naturwissenschaften. Der Naturforscher bemerkt nicht, »dass er auf der Stufe der heidnischen Mythologie steht«. Wenn er davon spricht, dass sich die Atome im Raum stoßen, dann überträgt er die subjektive Erfahrung der Kraft in die Außenwelt. Die Naturwissenschaft beruht ebenso auf Anthropomorphismen, wie die Mythologie. Wie aber verhält es sich mit den vom Menschen scheinbar unabhängigen Gestalten der griechischen Götterwelt? »Der Inhalt des griechischen Götterbewusstseins verhält sich zu dem inneren Erleben der Mythen umgekehrt wie die äußeren Tatsachen zu den inneren. Während die äußeren Tatsachen [in die Erkenntnis] heraufgehoben werden, sodass sie mit den geistigen verschmelzen, entstehen [die Mythen] dadurch, dass das alles allmählich [ins Bewusstsein] heraufkommt und nur hinausprojiziert wird in die Welt und dass dann in den Göttererlebnissen nichts anderes sich spiegelt, als die inneren Erlebnisse.« Die Göttergeschlechter sind Bewusstseinszustände des Menschen, der im Durchlaufen dieser Zustände zu sich selbst kommt und bevor er so weit ist, sie aus sich heraussetzt. »Wer nur in der äußeren Projektion lebt, der kann sie für Wirklichkeit halten. Und mit Recht. Wer sie aber durchschaut hat und sieht, dass sie nichts anderes sind als Projektionen, der wird sie nicht mehr für Wirklichkeiten halten.« Daher ist die Götterwelt für den Mysten tot. »Die äußere Göttervorstellung ist« für ihn »innerer Bewusstseinszustand«. Nun lässt sich am Bewusstsein der Inhalt unterscheiden, den es aufnimmt und es selbst, das ihn aufnimmt. Diese Dualität personifiziert sich in der griechischen Götterwelt in den männlichen und weiblichen Gottheiten: das Weibliche repräsentiert in der Mythologie das aufnehmende Bewusstsein, das Männliche das, was von ihm aufgenommen wird. Die höchste Stufe des Bewusstseins stellt der Mensch dar, der weder männlich noch weiblich, sondern eingeschlechtlich ist. Auf dieser Stufe ist kein Unterschied mehr zwischen dem Aufnehmenden und dem Aufgenommenen, was sieht und gesehen wird, ist ein und dasselbe, das Urwesen sieht sich selbst. Die Entzweiung ist aufgehoben, die Gegensätze sind versöhnt.

Der dritte Vortrag, über Heraklit und Pythagoras, kommt auf das Motiv »Selbsterkenntnis ist Gotteserkenntnis« zurück. In dieser Einsicht – oder besser Erfahrung – bestand »das Wesen der Mysterienlehren«. Aber das Selbst, das sich in dieser Selbsterkenntnis findet, ist nicht jenes, das eingeschlossen ist zwischen Geburt und Tod, kein endliches Selbst, sondern ein solches, das sich zum Universum erweitert. Daher, da das Selbst des Menschen das Universum umfasst, stellen auch die Kosmogonien, die Weltentstehungslehren, die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins dar. »Wenn das Selbst wirklich das letzte Wesen der Welt ist, so muss man sagen: Dieses Selbst ist tatsächlich bei dem, was man Weltentstehung, Weltentwicklung nennt, dabei gewesen.« Im Bewusstsein des Menschen spiegelt sich nicht etwa eine Wirklichkeit ab, die außer ihm liegt. Vielmehr hört dieses Spiegelbildliche auf, wenn das Selbst nicht mehr als Einzelwesen erscheint, sondern »als Urwesen«, »das bei dem ganzen Prozess dabei gewesen ist«. Das Erkennen ist demnach »keine Wiederholung des Weltprozesses« (und damit dessen Spiegelbild), »sondern ein Zurückvertiefen in das Urwesen der Welt, in das, was der Welt zugrunde liegt.« »Wer also überzeugt ist, dass er nicht bloß aufnimmt, sondern seine eigene Wesenheit hinausgießt, mit der Wesenheit draußen verbindet, der erkennt in der Welt […] sich selbst.« Aus dieser Überzeugung – oder Erfahrung – ergibt sich die andere von der »Unendlichkeit der Erkenntnis«, eine »Grundüberzeugung aller Mystik«. (Vgl. das Kapitel Gibt es Grenzen des Erkennens? in der Philosophie der Freiheit). »Es gibt keine Grenzen der Erkenntnis«, so Steiner, »weil die Selbsterkenntnis nicht stehen bleiben kann. Ein Gott, der alles erkannte [erkennen würde], der alles wüsste, würde für den Mystiker ein Hindernis sein. Daher kann es einen allwissenden und allweisen Gott nicht geben. Es muss für die Mystiker ein Unvollendetes da sein, es muss die Möglichkeit da sein, noch göttlicher und immer noch göttlicher zu werden …« Auch an der Kosmogonie der Orphiker, die die Welt aus dem sich selbst begrenzenden Unbegrenzten hervorgehen lassen, illustriert Steiner diese These. Die einzelnen Stufen der Weltentstehung müssen in »innere Bewusstseinsvorgänge übersetzt« werden. Aus dem Unbegrenzten entsteht das Begrenzte, durch das jenes hindurchgeht, um wieder zu sich selbst zu finden. Die Welt ist eine ewige Metamorphose solcher sich abwechselnden Zustände. In Wahrheit ist das Verschiedene aber dasselbe, wie das Samenkorn und die ausgewachsene Pflanze, was Goethe lehrt. Bereits im Samen ist die ganze Pflanze in geistiger Form enthalten, im Anfang das Ende, wenn auch in impliziter Form. »In unserer Welt der Sinne ist eine fortwährende Mannigfaltigkeit des Geistes, der sich verbirgt, sich zurückzieht in einen Punkt der Materie und dann sich wieder ausbreitet und sichtbar wird, sodass das, was er früher unsichtbar gehalten, sichtbar vor uns hinstellt.« Selbst der menschliche Geist – das menschliche Bewusstsein – ist dieser Metamorphose unterworfen: »Die ganze Wesenheit des Geistes kann nur durch geistige Arbeit in der Selbsterkenntnis wahrgenommen werden, sodass das, was im Samenkorn [dieses Geistes] ruht, zuletzt in seiner wahren unverhüllten Gestalt als eigene geistige Wesenheit vor der Selbsterkenntnis steht, und das Bewusstsein, das sich selbst beschaut, die Seele, die sich selbst gegenübersteht. erkennt nichts anderes als auf offenbare Weise das, was im Allgemeinen verborgen ist. Der Geist, der im Samen ist, ist derselbe Geist, der selbstbewusst dem anderen Wesen gegenübersteht, das männlich-weibliche Wesen, das in der Mannigfaltigkeit der Welt auftaucht.« Die ganze Kosmogonie ist ein Bild der Selbstentfaltung des Menschen, des ursprünglichen Selbstes, das seinen Inhalt durch Ausdehnung und Zusammenziehung in der Zeit auseinanderlegt. Die Mysten sind der Überzeugung, dass die Erkenntnis nichts ist, was zur Welt hinzukommt, sondern dass es das Wesen der Welt selbst ist, das sich erkennt. Daher kann das Urwesen auch nicht in der Vergangenheit gesucht (oder gefunden) werden: es steht, wie bei Hegel, nicht am Anfang, sondern am Ende des Weltprozesses. Oder: Was am Anfang steht, ist lediglich das abstrakte Absolute, das Absolute an sich; um zu seinem Fürsichsein, zu seinem Anundfürsichsein zu gelangen, muss es aus jener Abstraktion heraustreten, sich konkretisieren, vermannigfaltigen, es muss die in ihm potentiell, aber unentwickelt enthaltene Allheit aus sich herauswickeln, um im Durchgang durch die Entzweiung zu jenem konkreten Absoluten zu werden, das sich in seiner Fülle als solches begreift. »Die Kosmogonie [der Griechen] ist nicht so aufgebaut, dass das Urwesen als Schöpfer dasteht«, vielmehr wird es »als Stufe der Erkenntnis zuletzt erklommen«, »sodass der Erkenntnisprozess innerhalb der griechischen Mystik nicht eine Art Kommunion […] des Menschen mit dem ewigen Weltwesen ist, sondern ein tatsächliches Hervorbringen […].« In der Tat erscheint für den griechischen Mystiker »das Vollkommenste als eine sinnliche Schöpfung in der Welt […]« (Man erinnere sich, dass Steiner in seinem philosophischen Werk vom »Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit« als der »wahren Kommunion des Menschen« spricht.)

Folgender Beitrag: Das Christentum als mystische Tatsache – eine Forschungsaufgabe (2)

Band 87 der Gesamtausgabe: Antike Mysterien und Christentum, Dornach 2019, 460 S., geb. 63,– Euro.


Anmerkungen:


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Ein Kommentar

  1. Kritiken in dieser Form erheitern mich. Da einfach wirklich fundiert und gut geschrieben.

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