Heilige und profane Zeit – oder warum Jesus jedes Jahr von neuem geboren wird

Zuletzt aktualisiert am 15. Januar 2016.

Sieger Köder, Fenster in der Heilig Geist Kirche, Ellwangen

»Man sagt, die Zeit sei gekommen, um eine gewisse positive historische Kritik ins Werk zu setzen … Was uns hier aber interessiert, ist eine unbestreitbare spirituelle Tatsache: die Art und Weise, wie das Heilige Buch von der spirituellen Elite des Islam seit 14. Jahrhunderten gelesen und gelebt wurde. Und wenn es auch wahr ist, dass eine spirituelle Tatsache die positive historische Kritik nicht zu entwaffnen vermag, so ist doch nicht minder wahr, dass keine historische Kritik eine spirituelle Tatsache entkräften kann.« Henry Corbin

Das Folgende stellt einen erstmals ins Deutsche übersetzten, an manchen Stellen leicht vereinfachten Auszug aus Corbins Werk »En islam iranien« (I, 5.4) dar.

Das Ereignis der Reformation im 16. Jahrhundert wurde höchst unterschiedlich interpretiert. Einerseits wurde behauptet, es habe den Aufschwung des historischen Bewusstseins gefördert, das zur Entstehung einer säkularisierten, nachchristlichen Zivilisation führte, andererseits soll sie aber auch ein Heilmittel enthalten haben, – nichts Geringeres nämlich, als die Wiederaufrichtung, die Wiedereröffnung der prophetischen Inspiration, die seit den ersten christlichen Jahrhunderten verschlossen war.

Es ist wohl wahr, dass Martin Luther von seiner Zeit als Mönch sagte, er habe damals »alles allegorisiert«, während sein Anliegen später allein darin bestand, die Schrift simplici sensu (im schlichten Wortsinn) zu übersetzen. Gleichzeitig darf man jedoch nicht vergessen, dass die große Entdeckung seiner Jugend: die significatio passiva, die sich im Wesen des Gläubigen vollzieht – das Ereignis der »Rechtfertigung« durch den Glauben allein –, seiner mystischen Phase angehört. Der buchstäbliche Sinn vermischte sich von da ab mit dem tropologischen (moralischen). Wenn dennoch der vierfache Schriftsinn und seine künstliche Technik überwunden wurden, dann nur dank einer Verinnerlichung, deren Bedeutung die spätere Orthodoxie vergaß, deren wahre Erben jene waren, die von der Geschichte des Protestantismus als »Spiritualisten« bezeichnet werden (Sebastian Franck, Valentin Weigel, Caspar Schwenkfeldt, die ganze Schule Jacob Boehmes, und nicht zu vergessen, der Rosenkreuzerorden, der durch die Schriften Johann Valentin Andreaes bekannt wurde, dessen Hoffnungen jedoch der Dreißigjährige Krieg gänzlich zunichte machte).

In ebendiese Tradition gehört auch die »divinatorische Hermeneutik« des großen romantischen Theologen Friedrich D.E. Schleiermacher (1768-1834). Sein Name gibt Anlass, zwei Tatsachen anzusprechen, die für unser Vorhaben von großer Bedeutung sind.

Einerseits gelangte unter seinem Einfluss der philosophierende Historiker Wilhelm Dilthey zur Idee einer hermeneutischen Methode als »verstehender Interpretation«. Bedauerlicherweise verlor sich die Hermeneutik Diltheys, ohne Hoffnung auf Orientierung oder einen festen Anhaltspunkt, in den Untiefen des Historizismus. So wie der Ausdruck »Hermeneutik« heute in den Geisteswissenschaften gebraucht wird, geht er auf Dilthey zurück, letztlich jedoch auf das »Phänomen des Heiligen Buches«.

Andererseits ist in unseren Tagen eine theologische Hermeneutik entstanden, die eine schreckliche Reaktion gegen den Geist Schleiermachers darstellt und zwar jeglichen Historizismus bekämpft, sich jedoch in einer anderen Sackgasse verfängt. Der Muslim dürfte kaum etwas von dieser Lage der Dinge gehört haben, aber es ist notwendig, über sie einige Worte zu verlieren, denn ihre Kenntnis ist Voraussetzung für jede Auseinandersetzung mit der theologischen Situation im Islam, ebenso wie für jede vergleichende Theologie oder Philosophie.

Wenden wir uns dem Historizismus zu. Das »historische Bewusstsein« ist Ausdruck einer Inflation, die dem Philosophen alle Hoffnung nimmt, sich außerhalb der Geschichte zu verorten, weil alle Momente, sein eigener eingeschlossen, historisch bedingt und bestimmt sind. Daher bleibt nichts anderes übrig, als – wie Dilthey es getan hat – das persönliche und historische Leben zu untersuchen, das in dauerhaften, allgemein zugänglichen Dokumenten seinen Ausdruck gefunden hat, um den inneren Sinn zu verstehen, der in ihnen zum Ausdruck kommt. In den Rang einer Wissenschaft erhoben, ist die Hermeneutik die »verstehende Deutung«, der Akt, durch den der innere Sinn erfasst wird, der sich nur unter bestimmten Bedingungen enthüllt. Die erste dieser Bedingungen ist, dass es im Leben selbst einen Zusammenhang zwischen dem Interpreten und der Sache gibt, von der ein Text spricht; die zweite ist ein »Lebenszusammenhang«, ein impliziter Zusammenhang zwischen dem Interpreten und dem Autor, der von dieser Sache in seinem Text spricht. Die Hermeneutik ist, so gesehen (wie bei den Stoikern), die »Wissenschaft des Individuellen«; durch ihre Technik soll man jedoch zu objektiv gültigen Deutungen gelangen.

Aber setzt dies nicht eine Verankerung in etwas Transhistorischem voraus? Gewiss versteht Plato nur, wer in seiner Gesellschaft philosophiert; um dies zu tun, muss man daher den Sinn des Platonismus verstehen. Man kann sich aus dem Dilemma herausziehen, indem man vielleicht sagt, dass es sich »um einen Moment der Geschichte der Philosophie« handelt, dass dieser Moment seinerseits das Bild einer vergangenen Zeit ist, oder dass es sich um eine »Quelle« handelt, die erlaubt, dieses Bild zu rekonstruieren.

Sehr gut –, aber um ein Werk als Quelle aufzufassen, muss man es bereits auf eine gewisse Weise verstehen, man muss sich für ein bestimmtes Verständnis von »Sinn« entscheiden, mehr noch, man muss etwas voraussetzen, aufgrund dessen man es als Quelle betrachten kann. Man kann sich also entweder ohne Ende im »hermeneutischen Zirkel« herumbewegen, oder aber vor der Perspektive eines endlos ausgedehnten Horizonts resignieren, der sich in dem Maß entzieht, als sich die Zeitlinie der Chronologie in die Vergangenheit erstreckt, die Zeitlinie der einförmigen, linearen, orientierungslosen Zeit nämlich – und man wird nicht weniger resignieren, als eine gewisse Metaphysik, die sich nicht mehr als solche zu bezeichnen oder den wahren Namen ihrer Eschatologie auszusprechen wagt, die das (politische, soziale, kulturelle) Geschehen nicht mehr definiert, stattdessen eine »Dialektik der Geschichte« postuliert, die sich wie eine säkularisierte Paraphrase der »Abhandlung über die universelle Geschichte« Boussets liest, und dabei vergisst, dass ihr eigener Standpunkt unausweichlich historisch bedingt ist, ebenso wie alle anderen. Kurz, soweit sich der Philosoph diesem Diktat der äußeren materiellen Geschichtlichkeit unterworfen hat, das eine abgeschlossene, »überholte« Vergangenheit ohne mögliche Wiederkehr etabliert, kann er nur noch konstatieren, dass es »keinen gemeinsamen Maßstab mehr gibt, der die Geschichte und die Wahrheit, das Individuum und die Idee, den Augenblick und die Ewigkeit miteinander verbindet«. Aber die Frage bleibt: »In welchem Sinn ist die Wahrheit historisch und in welchem Sinn ist die Geschichte wahr?« Das ist genau die Frage, die ein beliebiger Gnostiker jedem stellen könnte, der die Idee der Gnosis im Namen der Geschichtlichkeit verwirft.

Genauer gesagt, ist es die Frage, durch welche die Gnosis von vorneherein die agnostische Position widerlegt, die das Dilemma erst erzeugt. Außerdem kann dort, wo der prophetische Geist der Gnosis fortwirkt, wie in der Esoterik des Islam, mit ihrer Idee der heilenden Erkenntnis und den Theophanien des Pleroma, die »Inflation des historischen Bewusstseins« gar nicht erst auftreten oder wenn doch, dann wird sie wenig Aussicht auf Akzeptanz haben. Seit geraumer Zeit ist es üblich, sich vom »ahistorischen« Geist des Hellenismus oder einem Verständnis von Geschichte abzugrenzen, das eine Religion des Heils voraussetzt; aber in Wahrheit ist der Begriff der »Geschichtlichkeit« vieldeutig. Das eigentliche Problem besteht darin, dass »Zeitlichkeit« nicht gleichbedeutend ist mit dem, was wir derzeit unter »Geschichtlichkeit« verstehen. Auch in bezug auf diesen Punkt werden wir sehen, dass der iranische Islam die entscheidende Differenzierung vorgenommen hat. Die Intuition seiner prophetischen Mystik scheint eben jenes Problem gelöst zu haben, das uns die gegenwärtigen philosophischen Modethemen stellen: es gibt eine andere Zeit als jene der Geschichte, eine reale, sakrale Zeit, die Zeit der Ereignisse der unsichtbaren Welt, deren »Ort« die Seele ist.

Seit Hegel sind wir daran gewöhnt, Natur und Geschichte einander gegenüberzustellen und die Geschichte als Welt des Menschen aufzufassen. In den Augen der islamischen Theosophen und Mystiker gehören Natur und Geschichte jedoch einer gemeinsamen Welt, der Welt des Werdens an und unterstehen damit dem Reich der Physis. Aus diesem Grund ist auch die historische Zeit, welche die posthegelianische Philosophie dem Werden der Natur gegenüberstellt, aus der Sicht der Theosophie des Schīismus und Sufismus lediglich eine Naturalisierung der Zeit. Es ist unangemessen, von einem Fall des Geistes in die Zeit zu sprechen, wenn man darunter einen »Fall in die Geschichte« versteht: man muss vielmehr von einem Fall der Zeit in die Geschichte sprechen. Nur so kann man verstehen, inwiefern die Verinnerlichung des Sinnes auch eine Umwendung der Zeit, eine Revision des Zeitbegriffs zur Folge hat.

[Für an Anthroposophie interessierte Leser dieses Beitrags sei hier die Anmerkung angefügt, dass Steiner bereits 1886 davon sprach, Goethes Entwicklungsidee mit der zentralen Kategorie des »Typus«, mache eine »Revision des Zeitbegriffs« erforderlich. »Der Typus«, so Steiner in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung«, »ist der wahre Urorganismus; je nachdem er sich ideell spezialisiert: Urpflanze oder Urtier. Kein einzelnes, sinnlich-wirkliches Lebewesen kann es sein. Was Haeckel oder andere Naturalisten als Urform ansehen, ist schon eine besondere Gestalt; ist eben die einfachste Gestalt des Typus. Dass er zeitlich zuerst in einfachster Form auftritt, bedingt nicht, dass die zeitlich-folgenden Formen sich als Folge der zeitlich-vorangehenden ergeben. Alle Formen ergeben sich als Folge des Typus, die erste wie die letzte sind Erscheinungen desselben. Ihn müssen wir einer wahren Organik zugrunde legen und nicht einfach die einzelnen Tier- und Pflanzenarten auseinander ableiten wollen. Wie ein roter Faden zieht sich der Typus durch alle Entwicklungsstufen der organischen Welt. Wir müssen ihn festhalten und dann mit ihm dieses große, verschiedengestaltige Reich durchwandern. Dann wird es uns verständlich. … Ja selbst wenn wir glauben, Späteres, Komplizierteres, Zusammengesetzteres auf eine ehemalige einfachere Form zurückzuführen und in dem letzteren ein Ursprüngliches zu haben, so täuschen wir uns, denn wir haben nur Spezialform von Spezialform abgeleitet.

Friedrich Theodor Vischer hat einmal in bezug auf die Darwinsche Theorie die Ansicht ausgesprochen, dass sie eine Revision unseres Zeitbegriffes notwendig mache. Wir sind hier an einem Punkt angekommen, der uns ersichtlich macht, in welchem Sinne eine solche Revision zu geschehen hätte. Sie hätte zu zeigen, dass die Herleitung eines Späteren aus einem Früheren keine Erklärung ist, dass das Zeitlich-Erste kein Prinzipiell-Erstes ist. Alle Ableitung hat aus einem Prinzipiellen zu geschehen und höchstens wäre zu zeigen, welche Faktoren wirksam waren, dass sich die eine Wesensart zeitlich vor der anderen entwickelt hat«.]

In der arabischen Sprache gibt es ein Schlüsselwort von besonders fruchtbarer Doppeldeutigkeit: das Wort hikayat, das »Geschichte«, »Erzählung« und gleichzeitig »Wiederholung« bedeutet –, so als würde die Kunst des Historikers der Kunst des Mimen entsprechen. Denn da in Wahrheit jede Geschichte, die sich in dieser sichtbaren Welt abspielt, eine Nachahmung von Ereignissen ist, die zuvor in der Seele, »im Himmel«, stattfinden, ist der Ort der Tatsachen der Heiligen Geschichte für die Sinne nicht wahrnehmbar, weil ihr Sinn auf eine andere Welt verweist. Diese Intuition geht aus der Ahnung jener vielfältigen Räume, jener »Oktaven des Universums« hervor, von denen weiter oben die Rede war, und insofern aus der Ahnung, dass die Wahrheit eines jeden Ereignisses auf der Ebene jener Realität erfasst werden muss, auf der es real seinen Ort hat. Allein die spirituelle Hermeneutik sichert die Wahrheit des hikayat, die Wahrheit der prophetischen Geschichten der Bibel und des Koran, weil sie den spirituellen Sinn auf jener Ebene erfasst, auf der sich das Ereignis abspielt, in jener Zeit die ihm eigen ist, in der Zeit der Metageschichte. Wer auch immer das verstanden hat, wird niemals mehr die Notwendigkeit einer »Entmythologisierung« der Erzählungen der Bibel oder des Koran empfinden, weil diese Erzählungen, auch wenn sie keine Geschichte sind (wie jene Cäsars), deswegen ebensowenig bloße Mythen sind.

Daher empfindet man um so mehr die Tragik einer zeitgenössischen Schule der Theologie (R. Bultmann), die – obwohl sie sich der Sackgasse des Historizismus vollkommen bewusst ist – nichtsdestoweniger fortfährt, seine Widerlegung zu bekämpfen, die in dem einzigen Horizont angesiedelt ist, der vor jeder Form des Agnostizismus schützt – seine frömmsten und orthodoxesten Formen eingeschlossen. Der Theologe gerät so in die Falle; wir sehen ihn zum Opfer des Historizismus werden, während er vorgibt, diesen zu bekämpfen. Er spricht von der Notwendigkeit, das Christentum zu »entmythologisieren«, unter dem Vorwand, die Bibel und ihre Erzählungen beruhten auf einem Bild der Welt, das »überholt« sei.

Die Verwirrung ist so groß, dass diese Theologie dem mythischen Denken sogar Vergehen zuschreibt, die nichts mit ihm zu tun haben, sondern vielmehr dem rationalen dogmatischen Denken zuzurechnen sind, wie zum Beispiel die Vergegenständlichung des göttlichen Handelns auf der Ebene der Ereignisse dieser Welt. Man versichert uns, der Mythos müsse existentiell und nicht kosmologisch interpretiert werden. Aber inwiefern schließt die zweite Deutung die erste aus? Und warum der Gnosis etwas unterstellen, was diese in Wahrheit ablehnt? Nicht anders ist es, wenn man der gnostischen Idee der Erlösung vorwirft, sie reduziere das Wesen des Gläubigen auf eine Gegebenheit der diesseitigen Welt, während das Wesen des Gläubigen im Neuen Testament außerhalb dieser Welt angesiedelt sei. Es ist befremdlich, wie sehr die gnostische Idee des Pleroma und der Ereignisse dieses Pleromas, die Idee der Präexistenz der Seelen und der Grenze, des Kreuzes, die unsere Welt vom Pleroma trennt, hier missverstanden werden.

Darf man hoffen, dass die Gegner der Gnosis anders sprechen werden, wenn man diese im allgemeinen etwas weniger missversteht? Während wir noch darauf warten, sehen wir, dass dieselbe agnostische Theologie das Ereignis der Kreuzigung als historische Tatsache dem Ereignis der Auferstehung gegenüberstellt, dem es diese Historizität abspricht, weil die einzigen historischen Zeugnisse für letztere die Visionen der Jünger gewesen seien. Dieses Beispiel ist eine Bankrotterklärung, das Eingeständnis der totalen Unfähigkeit, zu begreifen, dass die Visionen die vollumfängliche Realität von Ereignissen hatten – von Ereignissen, deren Realität, Zeit und Ort nicht der profanen Geschichte angehören, sondern dem, was die islamischen Theosophen als achte Klimazone bezeichnen.

Sagen wir nur soviel: Wenn man die Spuren der Auferstehung vergeblich auf der Ebene der materiellen Geschichte sucht, weil diese Geschichte das Reich der Toten ist, dann muss auch der Leidensweg Christi, genauso wie die Auferstehung, ein Ereignis sein, das sich der materiellen Geschichtlichkeit der äußeren Geschichte entzieht. Sollte dies nicht der Fall sein, dann muss man alle Konsequenzen aus Nietzsches Ausruf »Gott ist tot« ziehen, und ohne Zweifel hat die zur Rede stehende Theologie dies getan.

Dagegen könnten wir uns hier auf den Vers 4:156 des Koran berufen (»Sie sagen: ›Wir haben den Messias, Jesus, den Sohn der Maria, den Gesandten Allahs, getötet‹, während sie ihn doch weder erschlagen noch gekreuzigt haben, sondern dies wurde ihnen nur vorgetäuscht; und jene, die in dieser Sache uneins sind, sind wahrlich im Zweifel darüber; sie haben keine Kenntnis davon, sondern folgen nur einer Vermutung; und sie haben ihn nicht mit Gewissheit getötet. Vielmehr hat Allah ihn zu Sich emporgehoben …«).

»Doketische« Christologie sei dies, so sagt man – ohne genau zu wissen, was »Doketismus« ist; jedenfalls besteht er nicht im Glauben an ein Phantasma oder ein Phantom, sondern darin, die Realität eines caro spiritualis (spirituellen Fleisches) zu akzeptieren, dessen Vision, dessen Erscheinung (doke) nur durch geistige Sinnesorgane wahrgenommen werden kann. Für den einfachen Glauben ist die theologische Kritik der Erkenntnis »Doketismus«. Eine solche Haltung finden wir auch in den Johannesakten und anderen vergleichbaren Büchern. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass diese »gnostischen« Bücher nicht die Frucht theoretischer Spekulationen von Gelehrten waren; sie waren Ausdruck des gelebten Glaubens einfacher Menschen, für welche die Theophanien und Visionen die Qualität von Ereignissen besaßen. Wenn die Theologie unserer Tage diese zurückweist, dann vielleicht deswegen, weil die eschatologischen Auffassungen, die sie bevorzugt, auf eine rein dialektische Konstruktion hinauslaufen.

Nun, sobald uns der Prozess der Verinnerlichung als Antwort auf den gebieterischen Anspruch der Historisierung erscheint, können wir der durch die vorherigen Ausführungen aufgeworfenen Frage nicht mehr ausweichen. Sie kehrt dergestalt zurück, dass wir uns fragen müssen, ob die Historisierung der Offenbarung inhärent ist, oder ob sie nicht nur eine unter vielen möglichen Sichtweisen ist. Man kann die Frage nur zurückweisen, wenn das Vorurteil bereits darüber entschieden hat, was der Fall ist.

Was der Fall ist, geht jedoch aus der unwiderleglichen Tatsache hervor, dass es seit den Anfängen Christen gegeben hat, die das Christentum erlebt und gelebt haben, ohne dass dessen zentrales Ereignis aus ihrer Sicht von der materiellen Welt der äußeren Geschichte abhing. Die historische Form stellt eine legitime Ausdrucksform von seelischen Ereignissen dar, weil diese Ereignisse eine »Geschichte des Heils« erzählen. Aber diese »Geschichte des Heils« wird entweder allein dort wahrgenommen, wo sie sich tatsächlich ereignet, im Raum und in der Zeit der Seelenwelt, dann handelt es sich um eine symbolische Geschichte mit der ganzen unwiderleglichen Kraft ihrer Wahrheit, deren Symbole man zwar nicht verstehen mag, die man aber auf keinen Fall widerlegen kann. Oder aber, die »Geschichte des Heils« wird in das Feld der äußeren Ereignisse projiziert, als handle es sich einfach um ein solches. Was auch immer der Wille zur Historisierung auf diese Weise »materialisiert« haben mag, die Dialektik des »historischen Materialismus« kann es leicht überwinden und für »überholt« erklären.

Und so finden wir uns erneut im Herzen der Tragödie. Im theologischen Unvermögen werden wir für dieses Problem keine Lösung finden, denn wenn die Theologie zu Recht behauptet, dass auf der historischen Ebene der materiellen Tatsachen keine Spur der Auferstehung vorhanden ist, dann muss sie auch – und zwar bevor sie von »Entmythologisierung« spricht –, anerkennen, dass es eine spirituelle Geschichte, Ereignisse und eine Zeit gibt, die auf einer höheren oder mehreren höheren Oktaven vollkommen real sind, wenn auch in einem ganz anderen Sinn, als jene, denen wir das Prädikat »historisch« verleihen.

Dies bedeutet, dass wir verstehen müssen, auf welcher Ebene des Seins sich das reale Ereignis abspielt. Es genügt, ein wenig gnostisch zu sein, um dies zu wissen oder es aus den Johannesakten zu lernen. Es bedeutet, die Realität der spirituellen Zeit zu entdecken, jener Zeit der Seele, in der Ereignisse sich stets von neuem abspielen, selbst dann, wenn der Zyklus der gesetzgebenden Prophetie bereits abgeschlossen ist. Wir werden weiter unten davon sprechen, was für den Schīismus daraus folgt, dass dieser Zyklus abgeschlossen ist. Weil der Horizont weiterhin offen ist, in dem sich für die Inspiration die prophetische Hermeneutik des Heiligen Buches vollzieht, ereignen sich stets dieselben Tatsachen, offenbaren sich dieselben Berufungen.

Gewisse eindrucksvolle Parallelen lassen sich zwischen den Tatsachen der spirituellen Geschichte des Christentums und des Islam beobachten. Man erinnere sich nur an den Fall Joachim von Fiores im 12. Jahrhundert, dem in der österlichen Morgenröte die Erleuchtung des inneren Sinns der Hl. Schrift zuteil wurde, und der den Schatz dieser Offenbarung, die intelligentia spiritualis, in drei großen Abhandlungen enthüllte. Durch einen merkwürdigen Synchronismus befand sich der »prophetische Abt« in Gesellschaft der gleichzeitigen ismailischen Proklamation der »großen Auferstehung« in Alamut im Iran (8. August 1164), die den rein spirituellen Islam begründete und die ihrerseits viel eher ein »liturgisches Mysterium« darstellt, als ein »historisches Faktum« (denn die Auferstehung ist kein historisches Faktum, sondern ein liturgisches Mysterium).

Die Offenbarung Joachim de Fiores rief im Schoß der Kirche eine schwere Krise hervor, während andere nach ihm versucht haben, aus ihr eine »Tatsache der Geschichte« zu machen. Aber seine reine Idee, die sich durch die Jahrhunderte hindurch auswirkte, hat alle Philosophien und Theologien des Parakleten befruchtet. Sie hallte in vergleichbaren prophetischen Inspirationen in den pietistischen Milieus Deutschlands wieder, von ihr zeugten auch die Spiritualisten, die am Anfang der Reformation standen. Bei Jacob Boehme (1575-1624) entwickelte sich aus hellsichtiger Erfahrung eine prophetische Exegese der biblischen Erzählung der Schöpfung, des Mysterium magnum. Ein Johann-Albrecht Bengel (1687-1752) verstand unter dem Eindruck einer plötzlichen spirituellen Erleuchtung intuitiv den gesamten inneren Sinn der Hl. Schrift. Schließlich ist ein nicht minder bedeutendes Beispiel für die prophetische Berufung, zu der eine Vision führt, Emmanuel Swedenborg (1688-1772) und sein monumentales Werk einer prophetischen Hermeneutik des spirituellen Sinns.

Wichtig ist die Beobachtung, dass die Hermeneutik des inneren, esoterischen Sinns, sowohl bei den Spirituellen des Christentums als auch jenen des Islam, durchgehend von einer dreifachen Konstante beherrscht wird:

1) Einem rigorosen Gesetz der Korrespondenzen, d.h., der Idee eines »Symbolismus der Welten«, die natürlich die Existenz dieser Welten und eine Pluralität von Ebenen der Wirklichkeit voraussetzt, – kurz, all jenen Charakterzügen, die den gnostischen Kosmologien eigen sind.

2) Der Idee, dass die himmlischen, pleromatischen Realitäten, die sich in den realen Erscheinungen (apparentiae reales) ausdrücken, in jedem einzelnen Fall eine Gestalt annehmen, die dem spirituellen Entwicklungszustand des Menschen entspricht, dem sie erscheinen.

3) Der Idee, dass alle Ereignisse, die so wahrgenommen oder berichtet werden, als würden sie sich außerhalb der Seele abspielen, aufgrund der Transparenz, die ihnen das Gesetz der Korrespondenzen aufprägt, ebensosehr symbolische Ausdrucksformen von Ereignissen sind, die sich im Innern der Seele abspielen und dass die Seele nur dank dieser Transparenz ihrer Symbole von ihnen Kenntnis erlangt.

All dies ist ebenso weit von der allegorischen Methode der alten Exegeten entfernt, wie von jener, die lange von der modernen Wissenschaft der Religionen praktiziert wurde, um die Mythologien zu »erklären« (einer Methode, die Götter zu Allegorien von Natur- oder Seelenkräften reduzierte).

Diese Konstanten erlauben uns, gewisse Beziehungen näher zu bestimmen, die sich etablieren, sobald das Bewusstsein, befreit von den Ketten der materiellen Geschichtlichkeit, die es selbst geschmiedet hat, sich für die Perspektiven der prophetischen Hermeneutik öffnet und die »prophetische Philosophie« die gegebenen Tatsachen aus ihrer Umklammerung befreit.

Es gibt eine historische Hermeneutik, die dem toten Gewicht der »irreversiblen« Vergangenheit nicht entkommt, die sie selbst geschaffen hat, indem sie der Geschichte, von der sie spricht, den alleinigen Sinn zugewiesen hat; und es gibt eine prophetische Hermeneutik, welche die reale, aber immer noch verborgene Geschichte auf eine Ebene zurückführt oder emporhebt, die unsere materielle Realität vollkommen transzendiert und mit ihnen jene »gegebenen« Tatsachen und ihre materiellen Evidenzen, seien sie positiv oder gesellschaftlich, die für uns Moderne die privilegierten Evidenzen darstellen. Es gibt eine historische und eine prophetische Wahrheit; es gibt einen historischen und einen prophetischen Sinn; es gibt eine Historisierung von Ereignissen, die ihrem Wesen nach metahistorisch sind, und um diese Historisierung auszugleichen oder richtigzustellen, gibt es eine Verinnerlichung äußerer Ereignisse. Es gibt eine kontinuierliche kosmische Zeit, die quantitativ und gleichförmig ist, eine Zeit, die äußerlich durch die Bewegungen der Sterne gemessen wird, und es gibt eine seelisch-geistige Zeit, die den Ereignissen der Seele eigen ist, eine rein qualitative und diskontinuierliche Zeit (deren Vorahnung bereits die mittelalterliche Angelologie mit ihrem Begriff des tempus discretum formulierte).

Ohne den Begriff dieser Zeit, die anders ist, anders, als die äußere Zeit der Chronologie, die durch die Umläufe der Planeten gemessen wird, ist es zweifellos unmöglich, die Perspektiven der schīitischen Prophetologie zu begreifen. Die Periodisierung der Heiligen Geschichte der Propheten, sei es nun im Zwölfer-Schīismus (jedem großen Propheten folgen zwölf Imāme, die in der Mehrzahl in der Bibel vorkommen) oder im Ismailismus (jeder Prophet wird von sieben Imāmen begleitet, die Proklamation der großen Auferstehung 1164 in Alamut, als Ereignis, das sich inmitten unseres Aions vollzieht) – diese ganze Periodisierung erscheint jedem, der nicht wahrgenommen hat, was sie von der spezifischen Zeit der Heiligen Geschichte offenbart, wie eine willkürliche Konstruktion. Und sie erscheint als solche leicht (wenn auch zu Unrecht) mit Hilfe eines Handbuchs der Geschichte oder der Archäologie widerlegbar, während man in Wahrheit zwar dieselben Namen verwendet, aber doch von völlig unterschiedlichen Dingen spricht.

Denn die Ereignisse der Heiligen Geschichte sind jene, deren Möglichkeit einzutreten bestehen bleibt, wie der Prophet selbst in einem berühmten hadith bekräftigt, der von den sieben esoterischen Tiefen des Koran spricht. Geradezu die Grundlegung des Schīismus, richtet diese Bekräftigung die gesamte Spiritualität in eine Richtung aus, die jener analog ist, die im Christentum die Idee des Parakleten vorgibt, da der »verborgene Imām«, nach dem Erscheinen des Propheten, den Namen und die Funktion des Parakleten annimmt. Das schīitische Bewusstsein bleibt offen für Erwartungen und Vorahnungen, während die Mehrheit im Islam aufgrund der Evidenzen eines Gesetzes lebt, das eindeutig festgelegt und ausgesprochen wird. Der Imām wird keine neue Scharia, kein neues Gesetz bringen, das wäre kontradiktorisch, sondern er wird die intelligentia spiritualis »eröffnen«, d.h. die esoterische Auslegung der mohammedanischen und aller vorangegangenen Offenbarungen. Aber seit zehn Jahrhunderten befindet sich das Imāmat nun schon in der Verborgenheit. Man vermag die Imāme nur im Traum oder in der ekstatischen Intuition eines vertraulichen Gebetes zu sehen. Auf diese Weise können die Imāme einen geheimen Sinn oder ein Gebet enthüllen, und dies genügt, um ihre Vertrauten mit einer Sicherheit zu erfüllen, die allen irdischen Mächte widersteht.

Gewiss, es ist möglich, von der Autorität des Imām und der Imāme zu sprechen, aber es handelt sich um eine rein spirituelle Autorität, nicht um eine Macht, die unter einem anderen Namen mit den weltlichen Mächten rivalisiert. Denn es ist eben jene prophetische Bekräftigung, die jeder Erscheinung einen verborgenen, inneren Sinn verleiht, welche die Autorität des Imām begründet, und es ist diese Bekräftigung, die ausreicht, um die Würdenträger der Mehrheitsreligion in einen Alarm zu versetzen, der jenem vergleichbar ist, in den ein Montanus oder Joachim von Fiore das Christentum versetzten. Aber im Islam geht diese Bekräftigung, noch bevor der Prophet sie ausgesprochen hat, auf die Zeit seiner eigenen Initiation und seiner prophetischen Berufung zurück, d.h. bis zu der mysteriösen Gestalt Salman des Persers und der Rolle, die er gegenüber dem Propheten gespielt hat. Und dieser Salman ist es, der aus seiner einzigartigen Höhe den Horizont des persischen Islam beherrscht. Von daher können wir diesen Sohn eines mazdäischen Ritters, der auf der Suche nach dem wahren Propheten war, besser verstehen, der diesen Propheten in Arabien fand und ihn in seine prophetische Berufung eingeweiht hat, indem er ihm dabei half, ein Bewusstsein der spirituellen Zustände der vorausgegangenen Propheten zu erlangen und diese in sich selbst zu reproduzieren. Aus diesem »Engelsdienst«, den Salman dem Propheten als Gefährte seiner Initiation erweist, folgt, dass der tawil, die Rückführung zum verborgenen Sinn, bis zu den Ursprüngen des Islam zurückgeht, wie dies auch die schīitische Esoterik lehrt und bekennt. Salman stellt in Gestalt eines Menschen das Band dar, das die Theosophie zwischen dem Propheten und dem »höchsten Namus« (Nomos), d.h. dem Engel der Offenbarung herstellt, der den Propheten als Parakleten einsetzt, jenes Band, das im Islam am Ursprung des »Phänomens des Heiligen Buches« steht.

Wenn der Sinn der mystischen Berufung darin besteht, den spirituellen Zustand des Propheten in sich zu reproduzieren, wenn die prophetische Berufung des Mystikers insoweit auf dem esoterischen Sinn der Offenbarung gründet, dann setzt dies voraus, dass neben dem Mystiker ein Salman steht, oder besser gesagt, dass er zum »Salman seines Wesens« zurückgeführt wird (zum »Salman des Mikrokosmos«, wie es ein sehr alter ismailischer Traktat ausdrückt), denn auf diese Weise wird seine innere Beziehung zum Imām geschaffen, der Quelle und dem Bürgen des esoterischen Sinns.

Dies ist auch der Grund, warum die Idee des Imām jede ihrer irdischen Manifestationen transzendiert; der gegenwärtig sichtbare Imām, diese oder jene Gestalt des Pleromas der Zwölf, ist lediglich der irdische Pol eines ewigen Imām und die Schwelle, die zu diesem den Zugang ermöglicht. Der Imām ist als solcher die ewige Theophanie, die Gestalt der göttlichen Anthropomorphose (und der Name Melchisedeks, der ihm in gewissen ismailischen Traktaten gegeben wird, offenbart beredt, um welche Vorstellung es geht und wo diese herstammt).

Aufgrund dieser »himmlischen« Seinsform wird der Imām auch als unsichtbarer innerer Meister des spirituellen Menschen betrachtet. An all dies muss man denken, wenn man richtig verstehen will, von welchem Sufismus Haydar Amoli redet, wenn er vom Sufismus als dem »wahren Schīismus« spricht, denn eine solche Identifikation legt Zeugnis von der gesamten spirituellen Geschichte des Iran ab.

Wenn also die Möglichkeit einer prophetischen Inspiration unter anderem Namen bestehen bleibt, wenn der Zugang zur »kontemplativen Prophetie« des Zyklus des walāyats (der Initiation durch den Imām) den Höhepunkt der mystischen Erfahrung darstellt, und wenn diese in der radikalen Verinnerlichung mündet, die von der spirituellen Hermeneutik ermöglicht wird, deren Führer und Symbol der Imām ist, dann ist es die Idee des Imām, die erlaubt, gleichzeitig daran festzuhalten, dass Mohammed das »Siegel der Prophetie« ist und dass man trotzdem zu etwas Neuem gelangen kann, und dass der spirituelle Mensch, der Mystiker, dieses Neue wird. Mit anderen Worten: Auf das Dilemma »Historisierung oder Verinnerlichung« wird man aus schīitischer Sicht antworten, dass die Zeit der Heiligen Geschichte durch die Verinnerlichung fortdauert bzw. der «Zyklus des walāyats« zur Vollendung kommt. …

Der Begriff der Geschichte und der historischen Forschung ist von einer gewissen Zweideutigkeit. Man gesteht zu, dass der Historiker, wenn er sich über die Lehren eines Philosophen ausspricht, diesen als solchen gerecht werden muss. Wenn man diese Lehren kritisiert, sie als falsch zu erweisen sucht, ist man kein Historiker mehr, sondern Philosoph. Kurioserweise treffen wir ausgerechnet bei jenen Forschern, die sich als Historiker verstehen, auf Kritiken, die anzweifeln, dass dieser oder jener Imām bestimmte Aussagen gemacht hat, und zwar deswegen, weil diese Aussagen eine Begrifflichkeit voraussetzen, die erst durch Übersetzungen griechischer philosophischer Werke ins Arabische oder Syrische eingeführt wurde. Auch wenn man die Gültigkeit dieses Argumentes akzeptiert, bleibt die Tatsache bestehen, dass es die Stimme seiner Imāme ist, die das schīitische Bewusstsein seit mehr als dreizehn Jahrhunderten durch eben diese Aussagen hindurch vernimmt. Zu behaupten, diese Aussagen stammten nicht von diesem Imām, bedeutet, eine Tatsache zu bestreiten, die das schīitische Bewusstsein als solche erlebt hat, sein Recht anzuzweifeln, sie als solche zu erleben, und folglich seine Wahrheit zu bestreiten.

Das in unseren Tagen angerufene philosophische Argument vermag jedoch nichts an der Tatsache zu ändern, dass es die Stimme seiner Imāme war, die das schīitische Bewusstsein während dreizehn Jahrhunderten in ihren Aussagen vernommen hat, und dass es eben diese Stimme ist, die seine Geschichte konstituiert, in der diese oder jene Aussage als Kundgebung eines Imām aufgefasst wird, denn da es diese Aussagen gibt und da es auch die Imāme gibt, können sie tatsächlich nur von ihnen stammen. Das Argument, das man dem schīitischen Bewusstsein heute entgegenhält, zielt auf nichts anderes ab, als diese Stimme zum Verstummen zu bringen, und damit diese Geschichte zu unterbrechen, ihr ein Ende zu setzen.

Sollte dies das paradoxe Ergebnis einer historischen Wissenschaft sein, die sich einem historischen Gegenstand (res historica) nur wie einem toten Gegenstand (res mortua) annähern kann, und nicht bemerkt, dass sie, indem sie dies tut, dennoch die Geschichte dieses Gegenstandes fortsetzt, aber so, als ob man einem Leichenzug folgte (der von dieser Wissenschaft organisiert wurde), während der Gläubige die Geschichte dieses Gegenstandes fortsetzt, weil sie sein inneres Leben ist, das ihn belebt? Deswegen haben wir uns hier auch der phänomenologischen Methode verschrieben. Phänomenologie heißt einfach, im Sinne des berühmten griechischen Satzes (sozein ta phainomena), die »Phänomene zu retten«, d.h. den verborgenen Intentionen Rechnung zu tragen, die ihnen zugrunde liegen, indem sie diese aufdeckt, jene Intentionen, welche die Phänomene erst Gestalt werden lassen.

Dem Phänomenologen wächst daher die Aufgabe zu, die Geschichte zur Sprache zu bringen, die dem Bewusstsein immanent ist, dessen Intentionen er zu erfassen versucht. Er stellt das Phänomen so dar, wie es sich diesem Bewusstsein zeigt. Die historische Kritik beginnt damit, dass sie den religiösen Gegenstand in die Geschichte eintreten lässt; sie zwingt diesem Gegenstand eine Geschichte und eine Zeit auf, die nicht die seinige ist. Der Phänomenologe lässt den religiösen Gegenstand selbst seine Geschichte erzählen, seine eigene Geschichte, dessen Zeit die Zeit des Bewusstseins ist, in dem dieser Gegenstand lebt. Er weiß, dass die lebendige und gelebte Realität des Imām in den Zeugnissen jener gesucht werden muss, die sie erleben oder erlebt haben, bei jenen, für die die Person des Imām ihre eigene Geschichte ist, während sie selbst, die Imāme, die Hermeneutik sind. Diese Zeugenschaft zu bezweifeln, kann zu Resultaten führen, die man als wissenschaftlich bezeichnen wird, aber man kann leicht sehen, dass wir, indem wir dies tun, den religiösen Gegenstand gewaltsam in eine Geschichte und Zeit einfügen, die nicht die seinigen sind, und dass wir dadurch seinen Sinn und seine Erscheinung radikal verändern. Wir benötigen eine Methode, die es uns in aller Exaktheit erlaubt, diesen Sinn und diese Erscheinung in ihrer Authentizität, d.h. in ihrer Ursprünglichkeit zu retten. Ich spreche hier von Phänomenologie, aber ich erinnere mich an die Äußerung eines bedeutenden iranischen schīitischen Schaichs, der, obwohl er nie von der Phänomenologie gehört hat, genau den richtigen Gesichtspunkt traf. Es ging um Kritiken, welche die Authentizität eines Teils des corpus der Zeugnisse, Überlieferungen und Briefe des ersten Imām betrafen, der unter dem Namen Nahj al-balagha bekannt ist. Der Schaich sagte: »Ja, ich kenne die Kritiken an diesem Buch; aber ich weiß: Wer auch immer der Mensch war, der die Feder in der Hand hielt, die aufschrieb, was wir heute lesen, in jenem Moment war es der Imām, der sprach.«

Wenn also der Forscher den Imām hören will, statt ihm das Reden zu verbieten, indem er ihn in eine Geschichte hineinzwingt, die nicht die seinige ist, dann muss er ebenso auf jenen Moment hören. Nun, »dieser Moment« kann nicht in den Daten der kontinuierlichen Chronologie der gewöhnlichen Geschichte gefunden werden, dafür zeigt er sich aber beim Erscheinen des Phänomens im Bewusstsein, in einer qualitativen Zeit, die diesem Bewusstsein eigen ist.

Warum ist der Inhalt dieses Bewusstseins keine res historica, die in die Geschichte hineinfällt, sondern vielmehr seine eigene Geschichte konstituiert? Und dies in einem solchen Ausmaß, dass selbst dann, wenn die Philologie eindeutig bewiesen hätte, dass die Aussage des Imām einer viel späteren Zeit angehören muss, dieser Beweis absolut nichts an dieser Geschichte ändert? Dies ist deswegen der Fall, weil der Imām durch seine Zugehörigkeit zum Pleroma der  Haqiqat mohammadiya (der präexistentiellen mohammedanischen Realität) und durch den Inhalt seiner Lehre mit spirituellen Realitäten und Universen, sowie mit Ereignissen eigener Art verbunden ist, die sich in jenen Universen abspielen; es handelt sich nicht um eine äußere Geschichte wie bei Julius Cäsar. Weder die wahre Person des Imām, noch der Inhalt seiner Lehren gehören – so wie die Person und die Handlungen Cäsars – jener Ebene an, die wir als den »Schauplatz der Ereignisse« bezeichnen. Die Person des Imām (ob sichtbar oder nicht) ist selbst der »Schauplatz der Ereignisse«, sie ist dies aber nur und kann dies nur im Bewusstsein jener sein, denen sich der Imām als Imām offenbart. Wenn wir ihn woanders suchen, und wenn wir den Anspruch erheben, den Gläubigen vorzuschreiben, was sie glauben und sehen sollen, damit sie so wie wir ein kritisches Bewusstsein haben, dann zerstören wir das Phänomen und bleiben mit leeren Händen zurück.

Gewiss, in der umfangreichen Literatur des Schīismus stellen sich gewisse Überlieferungen (hadith) so dar, dass der Imām die Form, die Kategorie der ganzen theosophischen Erfahrung, der gesamten Hierognosis ist, und dass daher der Prozess der Niederschrift »in jenem Moment« die Sätze oder die wahrgenommene Vision spontan dem Imām zuschreibt. Dabei handelt es sich um eine tiefe innere Wahrheit, die der Kategorie der inspirierten Erzählung (hadith qodsi) zuzuordnen ist. Sie ist es, die den Imām zur Geschichte des schīitischen Bewusstseins macht und diese zur Hermeneutik der Imāmologie, und dies stimmt mit der hermeneutischen Situation überein, die der fünfte Imām beschrieben hat. Die Phänomenologie des schīitischen Bewusstseins, die dies verstehen und zum Verständnis bringen muss, sieht sich daher genötigt, die Vorurteile der Schule der Formgeschichte zurückzuweisen.

An erster Stelle muss man also den Unterschied zwischen dem begreifen, was historisch wahr im gewöhnlichen Sinn dieses Wortes sein kann, und dem, was phänomenologisch wahr ist und wahr bleibt, d.h. wahr im Sinne jener Ereignisse, die obwohl vollkommen real, doch nicht in die »Sphäre« der gewöhnlichen Geschichte eintreten.

Allein diese Methode erlaubt es uns, die große Menge an Texten zu verstehen und zu bewerten, welche die Person des zwölften, des verborgenen Imām betreffen, ohne aus diesem einen Mythos oder eine Legende zu machen, oder ihn der Geschichte im gewöhnlichen Wortsinn zuzuordnen; sie erlaubt es, jene Realität zu retten und zu bewahren, die den Ereignissen jener Welt eigen ist, in welcher der zwölfte Imām lebt. Ein anderes Beispiel: der Fall Suhrawardīs, der für die Phänomenologie des iranischen Bewusstseins von herausragender Bedeutung ist. Da Suhrawardī seinen Willen zum Ausdruck bringt, die Theosophie der Weisen des alten Persien zu erneuern, und für seine Lehre die spirituelle Vaterschaft dieser Weisen beansprucht, ist es der modernen Kritik erlaubt, diese Vaterschaft in Frage zu stellen. Aber abgesehen davon, dass Suhrawardī zweifellos gewisse authentische Kenntnisse der vorislamischen persischen Theosophie besaß, kann keine historische Kritik etwas an der hermeneutischen Tatsache ändern: aus der Sicht Suhrawardīs gibt es für die Denker des islamischen Persien etwas Neues und Bedeutsames im alten Iran zu entdecken. Und Suhrawardī hat seine spirituelle Abstammung bewiesen, indem er etwas zum Leben erweckte, das sich bei seinen Schülern als essentiell für das philosophische und spirituelle Bewusstsein des Iran herausstellen sollte – was auch immer die moderne historische Dialektik über diese Abstammung denken mag.

Diese Schüler werden als »Theosophen des Lichtes«, Ishraqiyun, bezeichnet. Die Verschmelzung der Theosophie des Ishraq (der »orientalischen« Theosophie) mit dem Imāmismus im Iran (noch vor der Schule von Ispahan im 16. Jahrhundert) stellt eine besonders bedeutsame spirituelle Tatsache dar.

Die neuplatonischen Theosophen nahmen den Prozess der Erkenntnis selbst als Fortsetzung der Heiligen Geschichte wahr, denn der Akt der Erkenntnis, so wie sie ihn meditierten und erklärten, setzt die Identität des Engels der Offenbarung (Gabriel) und des Engels der Erkenntnis, die »personale« Identität der »wirkenden Intelligenz« (intellectus agens) und des Heiligen Geistes voraus.

Diese Identifikation stellt keineswegs eine Rationalisierung des Geistes dar, wie man allzu schnell behauptet hat, weil man a priori die persische Situation mit dem vermischte, was sich im Westen entwickeln sollte. In Wahrheit fand eine gegenteilige Entwicklung statt, es entstand nicht eine »Philosophie der Geschichte«, die unter dem ganzen Einsatz der Dialektik den Sinn der großen Geistesströmungen konstruierte, sondern eine Theosophie des Heiligen Geistes, die offen blieb für die Wiederkehr einer prophetischen Hermeneutik, die sich in konkreten Individualitäten ereignet. Und diese Theosophie des Heiligen Geistes ist es auch, die durch ihre Verwandtschaft mit den Theosophien des Westens, die ebenfalls durch die Idee des Parakleten inspiriert und geleitet waren, die Möglichkeit eines Dialoges zwischen Orient und Okzident mit unabsehbaren Konsequenzen eröffnet.

Siehe auch: Historisches und gnostisches Bewusstsein | Das Phänomen der Spiegel

3 Kommentare

  1. Very interesting article. But I wonder how the following Steiner quote, GA 316, page 262, can be interpreted: (1) who was that angel that inspired Mohammed, according to Steiner, ‘but which wasn’t a splendid angel’, ‘although this angel was very wise’; (2) was archangel Gabriel (partial(?)) mistaken for this angel, that rejected trinity for one only God, or not?; (3) how you can see ‘arabism in mohammedism’ in this context?

    Steiner, GA 316, page 262:
    […] Denken Sie nur, wie abstrakt, wie schlächtermäßig heute Untersuchungen gemacht werden über diese Dinge, wie gedankenlos! Dann bekommen Sie das, was heute fehlt, was trotz aller wunderbaren Konservierung alter Weisheit, alter Tugend, alten Könnens im Arabismus eben dadurch totgeschlagen worden ist, daß dasjenige, was als Trinitat da war – Mond, Sonne, Saturn -, kaschiert, maskiert erschien als Vater, Sohn und Geist, und daß diese Trinitat verschwunden ist und daß der Arabismus im Mohammedanismus
    einfach das alles abgelehnt hat mit den Worten –
    ich meine den Vordersatz, den Mohammed nicht ausgesprochen hat, den aber durchaus der Engel ausgesprochen hat, von dem er inspiriert wurde, der nicht gerade ein vorzüglicher Engel war, trotzdem er sehr weise war -: Ach was, alle Trinitat! – Es ist nur ein Gott, den Mohammed verkündigen sollte. Darauf wird man gewiesen, auf das Verschwindenlassen aller Differenzierungen in der Welt. Dadurch sind die Dinge, die eigentlich gewußt werden sollten, verdunkelt worden und unsere Medizin ist eigentlich geworden eine arabisch-mohammedanische. […]

    • Lieber Herr Wervenbos,

      Danke für Ihre Frage. Das Zitat, das Sie anführen, ist ein typisches Killer-Zitat, das geeignet ist, jede Erkenntnisbemühung um die spirituelle Tiefe und Bedeutung des Islam im Keim zu ersticken. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass man aus einigen hingeworfenen Sätzen Steiners eine Erkenntnis dieses ungeheuer komplexen und vielschichtigen Phänomens gewinnen kann. Wenn man sich für Steiners Ansichten interessiert, sollte man jedenfalls die drei Vorträge vom 11.-13. Oktober 1918 (GA 184) mit berücksichtigen, in welchen davon die Rede ist, dass durch den Islam, der mit dem »Christus-Impuls« »zusammenhing« – obzwar er zugleich »eine Art Gegensatz« zu ihm gebildet habe –, der Einfluss von Gondishapur »abgedämpft« wurde. Aber auch diese drei Vorträge bieten keine ernsthafte Würdigung der islamischen Spiritualität. Steiner hat sich mit dieser Religion kaum auseinandergesetzt. Mehr als oberflächliche Stichworte wie »Monotheismus«, »Fatalismus« und »Phantastik« findet man bei ihm nicht. Das ist bedauerlich, aber unbestreitbar. Erklärbar ist dieses Erkenntnisdefizit damit, dass Steiner eben kein islamischer, sondern ein christlicher Esoteriker war.
      Dass im Islam die Trinität als lebendige Erfahrung durchaus ihren Platz hat, zeigt das Werk Ibn Arabis, eines der größten Mystikers aller Zeiten, der Steiner nicht einmal dem Namen nach bekannt gewesen zu sein scheint. Siehe dazu den Beitrag »Der leidende Gott« hier im Blog.

      • Dear mister Ravagli,

        Your welcome and thank you for your reaction and a following article about this subject.

        I know the other Steiner literature you are refering to, and also other Steiner literature about islam and Mohammed. It is not my purpose and intention to use this Steiner Quote as a killer. It wrote it down just to stimulate scientific questions about a very difficult subject. In the given quote Steiner is talking about Mohammedism in relation to Arabism. GA 316 contains a set of lectures from Steiner about medical subjects spoken for physicians and medical students in 1924. The quote is part of a lecture in that set of Steiner lectures that starts on page 190 and ends on page 205.

        I realy doubt that Steiner had no deeper knowledge of the essence of Mohammed and mohammedism. And his remarks and information on that subject deserve deep understanding and accurate investigation I believe.

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