Historisches und gnostisches Bewusstsein – vom Hintersinn des Terrors

Zuletzt aktualisiert am 11. Dezember 2015.

Lawrence of Arabia

T. E. Lawrence, ein Agent des britischen Geheimdienstes, avancierte 1916 zu einer der Schlüsselfiguren des arabischen Unabhängigkeitskampfes gegen die osmanische Herrschaft. Nach dem Waffenstillstand 1918 zog er sich, von schweren Schuldgefühlen geplagt, vom Schauplatz des Geschehens zurück. Hatte er doch die ganze Zeit über gewusst, dass der nördliche arabische Raum nach dem Krieg gemäß dem geheimen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 – einer Verschwörung auf höchster Ebene – in britische und französische Einflusszonen aufgeteilt werden sollte.

Die historische Kritik, die nur als wirklich gelten lässt, was durch schriftliche Zeugnisse verbrieft und durch »unabhängige« Zeugen bestätigt ist, die nur als »geschichtlich« betrachtet, was sich auf diesem Wege als »historische Tatsache« beweisen lässt, und die ihr verwandte Textkritik, die schriftliche Zeugnisse spiritueller Erfahrungen als durch eifrige Kopisten und Imitatoren erzeugtes Oberflächenphänomen betrachtet, dessen Wahrheitsansprüche eine konsequente Überlieferungsgeschichte als Fiktion zu entlarven vermag, beruhen auf einer petitio principii. Sie setzen das Ergebnis, das sie zu beweisen versuchen, voraus. Sie sind Kinder der Neuzeit und ihres verengten Verständnisses von Wirklichkeit, das auf ebenso willkürlichen Postulaten beruht.

Warum werden vor dem »Richterstuhl der Vernunft« nur die Zeugnisse der äußeren Sinne zugelassen, wo doch die Vernunft selbst für diese Sinne gar nicht wahrnehmbar ist? Wer hat diesen parteiischen Richter inthronisiert, dessen Ontologie ganze Klassen von Zeugen von der Anhörung ausschließt und das Urteil kennt, bevor die Verhandlung begonnen hat? Warum trägt Iustitia eine Augenbinde und wer hat sie ihr umgelegt?

Die Waffen der Aufklärung wurden von der Inquisition geschmiedet, erstere vollendete den Kampf, den letztere begonnen hatte, indem sie die Häresie zum Irrationalen umdefinierte. Das »Irrationale« wurde an die Ränder des Bewusstseins, an die Ränder der aufgeklärten Gesellschaft und des Abendlandes verdrängt, wo es mit »wissenschaftlichen« – medizinischen und militärtechnologischen – »Methoden« domestiziert werden konnte. Den Kampf der Kirche gegen die Häretiker führten Kolonialismus und Imperialismus im Namen der »Zivilisierung« gegen die »Wilden« und »Barbaren«, gegen die »Primitiven« und »Unaufgeklärten« fort; er wird heute im Namen der »Liberalisierung« des Welthandels und der »Demokratisierung« ausgetragen, neuerdings auch als »Krieg gegen den Terror«.

Schon die christliche Häresiologie fußte auf einer falschen Alternative, auf einer Kampfdefinition der Rationalität, die gegen die spirituelle Erfahrung der Gnosis gerichtet war, einer Definition, die bis ins 20. Jahrhundert nachwirkte, in dem Autoren wie Lukacs und Voegelin versuchten, die religiöse in eine politische Häresie umzudeuten. Aber, was die Ungeheuer dieses »dunkelsten« aller Jahrhunderte zeugte, war der »Schlaf der Vernunft«, die Selbstverblendung der Aufklärung, die ihre Augen vor ihrer eigenen Ungeheuerlichkeit verschloss. Das Dämonische, das die Rationalität von sich abgestoßen hatte, schlug in Gestalt einer dämonisierten Rationalität zurück, mit deren gespenstischem Wiedergänger wir in unseren Tagen konfrontiert werden. In der Hydra des islamistischen Terrors tritt uns das inverse Spiegelbild unserer eigenen amputierten Rationalität entgegen. Mit kriegerischen Mitteln lässt er sich nicht »ausrotten«, wir müssen einen spirituellen Dschihad gegen ihn führen, der in uns, im Herzen unserer eigenen Gesellschaften ausgetragen werden muss, einen Dschihad der Gefühle, der Worte und der Ideen. Es ist derselbe Kampf, den spirituelle Muslime gegen den Iblis in ihrem Herzen austragen.

Die scheinbar akademischen Überlegungen des französischen Esoterikforschers Henry Corbin über das »historische« und das »gnostische« Bewusstsein, die hier erstmals ins Deutsche übersetzt werden (siehe: Corbin, En islam iranien, I, 4), erhalten vor diesem Hintergrund eine ganz neue »esoterische« Bedeutung.

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Das historische Bewusstsein hält heute jeder für selbstverständlich. Wenn wir dem gnostischen Bewusstsein gerecht werden wollen, müssen wir dagegen die theologischen Strömungen unserer Tage gegen den Strich kämmen und manche Vorurteile über Bord werfen, sofern wir es nicht ebenfalls bloß als »historisches Phänomen« betrachten, was unser Vorhaben schlicht zunichte machen würde. Die erste Aufgabe sollte darin bestehen, bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, auf die verbreitete Verwechslung von Allegorie und spirituellem Sinn hinzuweisen.

Gewiss, es ist nicht zu leugnen, dass die Kenntnis der im Christentum entwickelten Techniken des Studiums der heiligen Schriften, die in ihren Ursprüngen auf die beiden unterschiedlichen Schulen von Antiochia und Alexandria zurückgehen, für alle Untersuchungen, die sich mit den Anfängen der koranischen Hermeneutik befassen, von großem Nutzen ist. Wir können hier nur im allgemeinen auf die Forschungen zur alten christlichen Exegese verweisen und an die klassische Formel erinnern, die den vierfachen Schriftsinn in sich fasst: »littera (sensus historicus) gesta docet; quid credas, allegoria; moralis, quid agas; quid speras, anagogia. »Der Buchstabe (die historische Bedeutung) lehrt, was geschehen ist; die Allegorie (typologische Bedeutung), was du glauben sollst; die moralische (tropologische) Bedeutung, was du tun sollst; die Anagoge (die eschatologische Bedeutung), was du hoffen darfst.«

Diese Formel genießt heute kein großes Ansehen; ihre bloße Erwähnung genügt manchmal, um die zeitgenössischen Philologen und Theologen zu irritieren, die darin etwas Künstliches sehen, ein Mittel, um den Text zu entstellen und zu vergewaltigen, dessen sich die Theologen einst bedient haben, um ihm etwas aufzuzwingen, was allein in ihrem Kopf existierte. Man muss zugeben, dass der Missbrauch, der mit dieser Technik getrieben wurde, sie zurecht dem Vorwurf aussetzte, den Inhalt zugunsten einer allgemeinen Allegorisierung aufzulösen. Aber man muss auch anerkennen, dass die frommen Exegeten, die während Jahrhunderten diese Technik anwandten, ihre Schwierigkeiten damit gehabt hätten, jene Bedeutung anzuerkennen, die wir heute einzig als »natürlichen und historischen Sinn« betrachten. Unter ihren Ungeschicklichkeiten, ihren künstlichen und irritierenden Vorgehensweisen, gilt es die tiefere Intention ihres Denkens zu entdecken, und vielleicht verfallen wir unsererseits in eine andere Verwirrung, weil wir die grundlegende Frage ignorieren: Welches sind die Bedingungen des Verstehens, d.h. der Hermeneutik? In was für einem Raum ereignet sie sich? In welcher Zeit vollzieht sie sich?

Von der Antwort auf diese Fragen hängt es ab, ob wir die Allegorie mit dem Symbol verwechseln oder nicht. Wenn wir diesem Problem die nötige Aufmerksamkeit entgegenbringen, können wir bei allen »Gemeinschaften des Buches« jene unterscheiden, die nach der allegorischen Bedeutung suchten und diese nicht zu überwinden vermochten – die man immer in den offiziellen religiösen Gemeinschaften findet – und jene, die den spirituellen Sinn suchten und ihn wirklich praktiziert haben – die man nahezu immer an den Rändern jener Gemeinschaften findet. Der Grund liegt darin, dass die Allegorie nicht anstößig ist, während die spirituelle Deutung revolutionär sein kann.

Wenn die allegorische Methode künstlich erscheint, dann nicht zuletzt deshalb, weil sie sich innerhalb definierter Grenzen bewegen muss, die nicht nur die Wiederkehr jeglicher persönlichen, spontanen, prophetischen Inspiration verhindern, sondern auch die Anwendung einer prophetischen Hermeneutik. Jedenfalls war ihr all das, was als »häretisch« ausgeschlossen wurde, nicht zugänglich; und damit die gesamte Wahrnehmung des Pleroma, der Ereignisse, die sich in ihm abspielen, alles dessen, was sich dem Bewusstsein nur in der Form von Symbolen zeigen kann. Die Allegorie ist lediglich eine Umschreibung von Inhalten, die vollkommen bewusst sind und die man jederzeit auch anders ausdrücken kann, was in der Tat überflüssig und gekünstelt ist. Sie vermag sich in unterschiedliche Richtungen zu bewegen, aber all diese Richtungen liegen in ein und derselben Ebene des Bewusstseins und des Seins.

Im Unterschied dazu strebt die symbolische Exegese danach, gleichzeitig den buchstäblichen und den verborgenen Sinn zu betrachten, denn nur unter dieser Bedingung wird die buchstäbliche Erscheinung durchsichtig für eine andere Welt. Aber diese Durchsichtigkeit setzt den Buchstaben voraus, durch den man hindurchsehen kann. Wenn der Buchstabe des Textes zum Symbol erhoben wird, dann stellt er sich als der einzige und bestmögliche Ausdruck unausgesprochener Wesen und Ereignisse dar, als Ankündigung erahnbarer Dinge, die noch nicht in Erscheinung getreten sind oder sogar niemals auf die Ebene des Bewusstseins herauf- oder herabsteigen werden. Das Symbol verbleibt zwangsläufig unterhalb des Geheimnisses stehen, auf das es verweist. Wenn man ein Symbol erklärt, heißt dies daher auch nicht, dass es unnütz wird: es muss stets von neuem entschlüsselt werden; es bleibt immer noch eine Bedeutung, die erfasst werden kann. Die Wahrnehmung des Symbols kommt nur zustande, wenn wir auf andere Ebenen des Seins hinauf- oder herabsteigen, wenn wir uns in die Tiefen des Bewusstseins versenken oder auf die Höhen des Überbewusstseins erheben.

Aus diesem Grund enthüllt beispielsweise die Hermeneutik Swedenborgs den spirituellen Sinn und verweigert sich gleichzeitig der allegorischen Methode; sie verwirft nicht den buchstäblichen Sinn, die realen Erscheinungen, sondern lässt diese durchsichtig, zu Bildern werden, die eine Welt ankündigen und bedeuten, die weit konsistenter als sie selbst ist, die sich jedoch nur durch diese Symbole mitteilen kann. Ebensowenig ist die Schriftdeutung der alten Gnostiker allegorisch. Und abgesehen von allen Unterschieden zwischen der alten Gnosis und jener des Islam: die Hermeneutik, die von letzterem praktiziert wird, ist ebensowenig allegorisch. Man müsste dieser wirklich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die unmittelbare Wahrnehmung der ursprünglichen Tatsachen der Metageschichte tritt eo ipso in Begleitung einer Form der gnostischen Erkenntnis auf; man würde dieser Gewalt antun, wenn man ihr jene Evidenzen aufzwingen wollte, die unser historisches Bewusstsein charakterisieren. Denn, was dieses letztere einschließt, wurde, wie wir gesehen haben, vom fünften Imām verworfen, da es den Tod des heiligen Buches mit sich bringt, weil es die spirituelle Bedeutung an ihrer Entfaltung hindert.

Daher ruft es schmerzliches Erstaunen hervor, wenn man von den »Irrtümern« der Gnosis reden hört. Jene, die sich so ausdrücken, beziehen sich implizit auf Dogmen, deren begriffliche Ausdrucksform im Verlauf der Jahrhunderte zur Vorherrschaft gelangte. Der Interpret, der die unterschiedlichen Erscheinungsformen des religiösen Phänomens der Gnosis Ernst nimmt, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Er muss zu verstehen suchen, was hinter dem Eifer der ersten Jahrhunderte der christlichen Geschichte steht, der bestrebt war, die Gnosis auszurotten, einem Eifer, der jedes Mal wieder entfacht wird, wenn der Geist der Gnosis wirksam wird. Das Maß der Aufregung kann man u.a. an den zahlreichen Kommentaren ermessen, die Origenes veranlasst hat, jener Gelehrte, den man zitiert, obwohl oder weil sein Name nicht ausgesprochen werden darf, ohne dass von der Gnosis die Rede ist, da es schwierig ist, die Auffassung jener zu entkräften, die in ihm nichts als einen christlichen Gnostiker sehen. Nun, man hat ihm vorgeworfen, dass er das Evangelium weniger als historische Offenbarung, denn als rein spirituelles Gebilde betrachtet hat; aber seine Gegner müssen sich den umgekehrten Vorwurf gefallen lassen.

Man hat als entscheidendes Symptom seiner Denkart die unübersteiglichen Schwierigkeiten genannt, die ihm die historische Tatsache der Inkarnation bereitet. Aber könnte es nicht sein, dass der Begriff der historischen Tatsache dem christlichen Bewusstsein der damaligen Zeit noch völlig fremd war, und dass sich die »Historizität« diesem Bewusstsein nicht als Kriterium der Wahrheit aufdrängte, oder vielmehr, dass die Historizität für es in etwas gänzlich anderem bestand? Ohne Zweifel brachte der historische Christus, der Christus der Inkarnation und der Passion, Origenes in Verlegenheit. Aber anders herum: Warum riefen das Pleroma, dessen Geschichte die Gnostiker erzählten, der »Aion Christos« und die Sophia, in den Gegnern der Gnostiker einen solchen Zorneseifer hervor?

Statt den Antagonisten einen Glauben vorzuwerfen, der ihr Lebenssinn war, sollte man besser ihre unausgesprochenen Beweggründe zu verstehen suchen, von denen es abhängt, ob die spirituelle Bedeutung zugänglich bleibt oder nicht. Die Verlegenheit des Origenes wurde durch die ganze Geschichte des Christentums hindurch von Geistern empfunden, die eine gewisse Familienähnlichkeit aufwiesen, die eine verwandte Haltung gegenüber religiösen Fragen verbindet. Zweifellos zeigt sich diese Haltung in gewissen Ansprüchen, die jenen Kriterien entgegengesetzt sind, die heute die Religionsgeschichte und unser Verständnis der historischen religiösen Tatsachen bestimmen. Man muss berücksichtigen, dass ohne das Dogma der Inkarnation, das schließlich von den Konzilen festgelegt wurde, ohne die Vorstellung der hypostatischen Union, der zentrale Inhalt des christlichen Glaubens nicht »in die Geschichte eingetreten« wäre. Aber es gab auch Menschen, die wirkliche Christen waren, die diese Notwendigkeit dennoch nicht empfunden haben. Damit es diese Notwendigkeit gab, musste es zuvor das Postulat des historischen Bewusstseins geben; es musste jenes Kriterium der Wahrheit und der realen Tatsachen geben, die dieses Bewusstsein postuliert, bevor der Gegenstand des christlichen Glaubens in den Rahmen der sogenannten Geschichte eintreten konnte.

Darf man sagen, dass es das christliche Bewusstsein war, das die Ankunft des historischen Bewusstseins, so wie wir es heute kennen, postulierte? Selbst wenn wir dieser These zustimmen, bleibt die Tatsache bestehen, dass es Christen gab, die diese Notwendigkeit zurückwiesen und sich seiner Evidenz nicht unterwarfen. Das Kreuz des Lichtes z.B. ist keine geschichtliche Tatsache, im Gegensatz zur Inkarnation, wie sie von den Konzilen definiert wurde. Für die Gnostiker der Johannesakten ist das Kreuz des Lichtes nicht weniger real oder wahr, als das Kreuz auf Golgatha; ja es ist sogar noch realer, weil es das wirkliche Kreuz ist. Auch dieses Kreuz ist real, aber es gehört einer Realität an, die nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, nicht von Augenzeugen, deren innerer spiritueller Zustand bedeutungslos ist; es handelt sich um eine Realität, die sich nicht in die materiellen Tatsachen der Geschichte einfügt, die für die historische Kritik von Bedeutung sind. Und genau dies ist der Unterschied, der thematisiert werden muss: der Unterschied zwischen der Idee der Epiphanie und der Idee der Inkarnation, der den Unterschied zwischen dem gnostischen und dem historischen Bewusstsein wiederspiegelt.

Im Pleroma gibt es reale Ereignisse; ihre Eigenart, ihr Ort und ihre Zeit sind anders, als die der Ereignisse, die das offizielle, rationale Dogma postuliert, das sich so sehr an die Evidenzen der äußeren Geschichte klammert, dass es uns scheint, eine religiöse Gegebenheit werde gänzlich unwirklich, wenn es seine historisch-materielle Realität »verliert«. Aber verschanzt man sich vor der Gnosis, indem man das Pleroma ins Lächerliche zieht, indem man die Gestalten, die es bewohnen und die Ereignisse, die sich in ihm abspielen, verwirft, dann vergisst man zugleich, dass man in den Augen eines Gnostikers die eigentliche Idee des Christentums naturalisiert und säkularisiert. Noch schlimmer, man raubt auch den irdischen Ereignissen jegliche Konsistenz, wenn man sie auf die Bedingungen der historischen Realität reduziert und sogar den Sinn der Erlösung »säkularisiert.« Wenn man die Gnostiker anklagt, sie seien die allergrößte Gefahr für das Christentum der ersten Jahrhunderte gewesen, vergisst man geflissentlich, dass es die Gegner der Gnostiker waren, die in den Augen der ersteren dieses Christentum in Todesgefahr brachten.

Die Tiefe dieser Gegensätze erklärt, warum am Ende der spirituelle, himmlische, pleromatische Sinn (die Quelle der Gnostiker) mit der frommen Allegorese verwechselt oder durch sie verdrängt wurde, jener Allegorese, die jene praktizierten, die sich darum bemühten, den Abgrund zwischen dem historischen und dem inneren Christentum zu überbrücken, ohne in die Gefahr der »Häresie« zu geraten. Aber indem wir die Gnosis im Islam wiederfinden, finden wir den Sinn des Ereignisses wieder, dessen Realität erlebt wird, ohne dass es in die materielle Geschichte »eintreten« muss. Im ersteren ist die Ausgangssituation, wir haben es bereits bemerkt und wiederholen es hier, eine andere; die prophetische Berufung gründet auf theophanen Erfahrungen; die Christologie des Koran befindet sich hier in Übereinstimmung mit jener der Johannesakten; die Erscheinung bleibt hier das reale Ereignis, das mit einer herausragenden Realität ausgestattet ist. Das bedeutet keineswegs, dass den Spirituellen im Islam die Schwierigkeiten erspart blieben, die ihre mystischen Brüder in anderen geistigen Regionen erlebt haben. Aber die Situationen waren unterschiedlich. Wir haben diesen Unterschied zu verdeutlichen versucht, indem wir darstellten, was im spirituellen Ringen des Schīismus auf dem Spiel steht. Und es ist dieser Unterschied, der uns auferlegt, darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn unser »historisches Bewusstsein« mit seiner Geschichtsphilosophie in ein religiöses Bewusstsein einbricht, dem jenes Bewusstsein fremd war, da es nicht an diese Welt glaubte, ohne ihr Ende mitzudenken, und zwar in einem doppelten Sinn: in einem räumlichen und einem zeitlichen Sinn (finitude, finalité).

Es wurde bereits angedeutet, dass die vorsichtigen Grenzen, die der friedlichen Technik der Allegorese auferlegt wurden, mit der vollständigen Unterdrückung jeder prophetischen Hermeneutik einhergehen. Aus dieser Sicht kann man nicht glauben, dass jene übertreiben, die behaupten, die Unterdrückung des Montanismus im 2. Jahrhundert stelle einen entscheidenden Wendepunkt für das Christentum dar. Da Montanus und seine Schüler (https://de.wikipedia.org/wiki/Montanismus) eine neue Offenbarung ausriefen, die ihnen durch die Engel zuteil wurde, stieß man sie als Häretiker von sich, die einen Anschlag gegen die apostolische Überlieferung begingen. Seit jener Zeit ist jede Erneuerung, jede Wiederkehr der freien Äußerung des Geistes in Form einer prophetischen Botschaft oder Vision oder als prophetische Hermeneutik früher offenbarter Texte verboten. An die Stelle der freien prophetischen Inspiration traten die Institution und das dogmatische Lehramt der Kirche. Kann man sagen, dass es sich um die Fortsetzung der ersteren in einer anderen Form handelt? Ist es nicht angemessener, offen zuzugestehen, dass es der Kirche nicht möglich war, sich mit einer »freischweifenden Prophetie« und spontanen Offenbarungen des Geistes abzufinden? Das Ende der prophetischen Inspiration, die Auslöschung der Gnosis, der Ausschluss oder die Zerstörung aller Texte, die als Apokryphen bezeichnet wurden und in gnostischen Milieus entstanden waren, das sind die vollkommen logischen und kohärenten Manifestationen der »Vorzüge« des historischen gegenüber dem gnostischen Bewusstsein.

Und es traten weitere Konsequenzen ein. Die Geschichte der Dogmen wird als »irreversibel« betrachtet. Eine vom Lehramt verdammte »Häresie« gehört der Vergangenheit an; sie entsprach nicht dem »Sinn der Geschichte«, d.h. dem Sinn der Dogmenentwicklung; sie ist »überholt«, man kann also nicht zu ihr zurückkehren, so als stellte die durch sie repräsentierte Interpretation immer noch eine aktuelle Option dar. Bestenfalls bleibt die Möglichkeit, eine Lehre der Vergangenheit zu untersuchen, die »häretisch« geworden ist, ohne dass man dabei seine Rechtgläubigkeit gefährdet, denn für diese, die allein von einem historischen Augenblick abhängt, gibt es keinen Grund, eine Lehre, die häretisch geworden ist, zu verurteilen, indem man sich auf eine Orthodoxie beruft, die in den Jahrhunderten seit ihrer Verurteilung bestimmend geworden ist. Die Dogmengeschichte muss keine »Zeichen« untersuchen oder sammeln, die heute verstanden werden müssen und das Ganze in Frage stellen könnten. Man braucht die Texte, die dieses Prädikat tragen, dem heutigen Leser nur mit einer züchtigen »Objektivität« vorzustellen, um diese Lehren so sichtbar zu machen, »wie sie sich zeigen«. Zweifellos; aber wem zeigen sie sich? Man hat ein gutes Recht, diese Frage zurückzuweisen, aber man muss zugestehen, dass man das eigentliche Problem der Hermeneutik dann nicht einmal erahnt; es gibt keinen Begriff des Sinns, keinen Sinn, der gefunden werden könnte, ohne Bezug auf jemanden, dem sich dieser Sinn zeigen würde. Welchen Sinn aber könnte eine spirituelle Geschichte heute für jemanden haben, der diese Geschichte als »überholt« betrachtet?

Solche Erscheinungen gibt es im traditionellen Islam nicht. Wir wissen, dass der Schīismus mit dem Abschluss des Zyklus der gesetzgebenden Prophetie einen neuen Zyklus, den Zyklus der Initiation in den verborgenen Sinn der göttlichen Offenbarungen beginnen lässt: den Zyklus des walāyats, das, wie wir von unseren Autoren lernen, tatsächlich unter diesem Namen im Islam als geheime prophetische oder esoterische Funktion fortbesteht, als eine gewisse »kontemplative Prophetie«, durch die eine auf spezifischen Bedingungen beruhende Inspiration andauert. Außerdem begreifen die Spirituellen die Berufung und Erfahrung des Mystikers nach dem Vorbild der prophetischen Erfahrung, als Erneuerung des prophetischen Charismas. Das walāyat der Imāme, ihre Einsetzung als »Gottesmenschen« (Freunde und Geliebte Gottes) kann nicht mit dem Amt des hohen Klerus verglichen werden; zumal das Imāmat sich heute in der Verborgenheit befindet. Die Häresiologen sind keine Dogmenhistoriker in unserem Sinn (und ein takfir – ein Urteil, das jemanden des Abfalls vom Glauben bezichtigt – hat nie mehr als lokale Bedeutung). Es ist wichtig, zu bemerken, wie aktuell für einen islamischen Denker all die unterschiedlichen Schulen und Denkformen sind – so als würden sie heute gerade entstehen. Die Bedeutung einer Lehre wird nach der »polarischen Dimension« bemessen, sie wird nicht in eine Dogmenentwicklung eingeordnet. Schulen und Denkformen sind für den islamischen Betrachter »Zeichen« und er reagiert auf diese nach Maßgabe seiner individuellen Empfänglichkeit. Ihm stellen sie sich dar, nicht irgendeiner abstrakten Person einer überholten Vergangenheit, die man sich höchstens vorstellen kann.

Man kann sich in Reflektionen ergehen, die sich stets von neuem mit den philosophischen Vorurteilen unserer Zeit auseinandersetzen, aber noch wichtiger ist es, sich von den Meditationen über diese Gegenstände im Islam leiten zu lassen. Die Idee einer »wissenschaftlichen« Kritik religiöser Fragestellungen, die für Menschen, die mit einem religiösen Organ begabt sind, die gleiche Bedeutung haben soll, wie für jene, denen es fehlt, ist vielleicht ebenso realitätsfern, wie die Idee eines Instrumentes, das sowohl die Musiker als auch jene benutzen können, denen das musikalische Gehör fehlt. Aber auch die Frage stellt sich: Hat das Wort »wissenschaftlich« nur einen einzigen Sinn? Ist eine Hermeneutik des inneren, spirituellen Sinns nicht mit der Idee der Strenge, der Methode und der Gültigkeit vereinbar?

Siehe auch: Die esoterische Bedeutung von Raum und Zeit – das Phänomen der Spiegel

2 Kommentare

  1. Did you text T.E. and say “Fixed That For You”
    Lorenzo of Arabia

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