Der leidende Gott – Trinitarisches im Islam

Zuletzt aktualisiert am 15. Januar 2016.

Laila und Madjnun.

Laila und Madjnun. Imagination mystischer Liebe

Der Hinweis eines Lesers auf eine Bemerkung Rudolf Steiners, Mohammed sei durch den Engel, der ihn inspirierte, zur Ablehnung der Trinität bestimmt worden,  ist Anlass für die Veröffentlichung dieses Beitrags. In ihm beschreibt Henry Corbin, der bedeutendste europäische Erforscher der islamischen Esoterik, wie sich für Ibn Arabi (*1165 Murcia  / gest. 1240 Damaskus), einen der größten Mystiker der Geschichte, der angeblich starre Monotheismus des Islam in einer von Sehnsucht und Liebe erfüllten kosmogonischen Bewegung entfaltet und in die geschöpfliche Welt aushaucht, um aus ihr und durch sie, von Mitleid und Liebe erfüllt, wieder in sich selbst zurückzukehren – der klassische Dreischritt einer trinitarischen Schöpfungs- und Erlösungstheologie. Der Text Corbins stammt aus seinem Buch »Allein mit dem All-Einen«* und erscheint hier erstmals in deutscher Übersetzung.

Die negative Theologie schließt die Möglichkeit eines Dialoges zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht aus, im Gegenteil, sie ist die Bedingung für einen solchen Dialog. Dies zeigt die islamische Gnosis. In jeder Gnosis gibt es einen unbestimmten Schöpfer. Jenseits des Seins, das existiert, gibt es den Gott, der nicht existiert, das heißt, den unbekannten, unerkennbaren und unaussagbaren Gott. Und es gibt den offenbaren Gott, Gottes »Nous«, der denkt und handelt, den Träger der göttlichen Eigenschaften, zu dem eine Beziehung möglich ist. Damit aber ein Übergang zwischen beiden denkbar ist, gibt es auch einen leidenden Gott, einen Gott, der eine innere Bewegung vollzieht, um aus seiner schweigenden Leere, die jenseits alles Sagbaren liegt, hervorzutreten, um Gestalten zu schaffen, die als solche erkennbar und aussagbar sind.

Die ismailische Gnosis sieht das ähnlich wie Ibn Arabi. Sie schlägt für den Namen Gottes Al-Lah eine Etymologie vor, die das Wort »ilah« von der Wurzel »wlh« ableitet, die »traurig sein«, »von Trauer überwältigt sein«, »auf etwas hin seufzen«, »voller Bangigkeit zu etwas hinfliehen« bedeutet. Das Wesen Gottes ist danach Sehnsucht, Seufzen, Mitleiden.

Der wahre Gottesname, der seine verborgene Tiefe zum Ausdruck bringt, ist nicht »Unendlichkeit« oder »Allmacht«. Die ismailische Etymologie führt in das Herz der mystischen Gnosis. Aus der Sicht dieser Gnosis ist es unmöglich, das höchste göttliche Wesen zu erkennen, ja es ist nicht einmal möglich, es als Gott zu benennen. Der Name »Al-Lah« wird nicht für diesen höchsten Gott verwendet, sondern für ein geschaffenes Wesen, das ihm am nächsten steht, für den allerheiligsten Erzengel, den Protoktistos oder Logos-Erzengel. Sein Name drückt Traurigkeit aus, eine ewige Sehnsucht nach der Erkenntnis des höchsten Grundes seines eigenen Wesens, die Sehnsucht des offenbar gewordenen Gottes, der danach verlangt, dereinst wieder in das Jenseits seines offenbarten Seins zu gelangen. Dies ist ein unergründliches, innergöttliches Geheimnis, über das sich nur in Andeutungen sprechen lässt. Wir aber können in unserer Meditation erkennen, dass das Verlangen des Engels, das Verlangen des offenbarten Gottes, der sich nach der Erkenntnis jenes Gottes sehnt, den er offenbart, im ersten und höchsten aller Geschöpfe identisch ist mit der Trauer des unerkannten Gottes, der danach verlangt, durch ebendieses Geschöpf und in ihm erkannt zu werden. Das innergöttliche Geheimnis bleibt verschlossen, wir können von ihm nur soviel erkennen, als es in uns von sich offenbart. Wie auch immer: durch die Tätigkeit einer auf ewig unvollständigen Erkenntnis, die auf ein ewig ungestilltes Verlangen, erkannt zu werden antwortet, erfassen wir einen Hauch jener Erfahrung, die für Ibn Arabi zum Ausgangspunkt seiner Theosophie wird.

Worin liegt die Bedeutung der Trauer dieses leidenden Gottes? Es gibt einen hadith, in dem die Gottheit das Geheimnis ihres Leidens offenbart. Er lautet: »Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich danach, erkannt zu werden. So schuf ich Wesen, auf dass ich in ihnen zum Gegenstand meiner Erkenntnis werde.« Die Sehnsucht Gottes, sich in Wesen zu offenbaren und sich selbst in ihnen zu erkennen, indem er von ihnen erkannt wird, liegt einer ganzen Kosmogonie zugrunde, welche die Ewigkeit des göttlichen Lebens ausfüllt. Diese Kosmogonie ist keine Emanation im neuplatonischen Sinn, noch viel weniger ist sie eine Schöpfung aus dem Nichts. Sie ist vielmehr eine Aufeinanderfolge von Manifestationen des Seins, die durch ein zunehmendes Licht zustande kommen, das sich in der ursprünglich undifferenzierten Gottheit ausbreitet, sie ist eine Aufeinanderfolge von Theophanien. Dieser Gedanke ist die Grundlage der Lehre Ibn Arabis von den göttlichen Namen.

Die Namen sind das Wesen Gottes. Auch wenn sie nicht mit dem Wesen als solchem identisch sind, sind die Eigenschaften, die sie benennen, doch nicht von ihm verschieden und haben von Ewigkeit her existiert. Diese Namen werden als »Herren« bezeichnet und haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Hypostasen, auch wenn sie keine solchen sind. Wir kennen sie nur durch unsere Selbsterkenntnis. Gott bezeichnet sich selbst für uns durch sich selbst. Das heißt, die göttlichen Namen sind ihrem Wesen nach Ausdruck der Wesen, die sie aussprechen, da diese Wesen sie in ihrem eigenen Sein entdecken und erfahren. Daher werden diese Namen auch als »Vergegenwärtigungen« bezeichnet, das heißt, als die Zustände, durch die sich die Gottheit selbst jenen offenbart, die an sie glauben, und zwar in der Form des einen oder anderen ihrer zahllosen Namen. Die göttlichen Namen haben Bedeutung und volle Realität nur durch und für Wesen, die ihre epiphanen Formen sind, das heißt, durch die Formen, in denen sie sich manifestieren. Auch diese Formen, welche die Grundlage der göttlichen Namen darstellen, haben von Ewigkeit her im Wesen Gottes existiert. Und es sind diese latenten Individualitäten, die sich von Ewigkeit her danach gesehnt haben, wirklich zu existieren. Ihre Sehnsucht ist nichts anderes, als die Sehnsucht der göttlichen Namen, offenbar zu werden. Und diese Sehnsucht der göttlichen Namen ist nichts anderes, als die Trauer des unoffenbaren Gottes, die Bangigkeit, die er in seiner Unerkanntheit und Verborgenheit erlebt.

Aus den unergründlichen Tiefen der Gottheit ruft diese Trauer nach einem »Seufzer des Mitgefühls«. Dieser Seufzer stellt die Erlösung der göttlichen Trauer dar, die mit der Bangigkeit und Trauer ihrer göttlichen Namen mitfühlt, die bisher unerkannt geblieben sind, und in diesem Vorgang der Erlösung strömt der Seufzer aus und wird zur Vielzahl der konkreten individuellen Wesen, durch die und für die diese göttlichen Namen offenbart werden. Daher ist jedes Geschöpf in den Tiefen seines Wesens ein Atemzug des schöpferischen göttlichen Mitgefühls und der göttliche Name Al-Lah wird zu einem Synonym für »al-Rahman«, »der Barmherzige«, »der Mitempfindende«. So beginnt die mystische Gnosis mit dem unerkannten Gott der negativen Theologie und eröffnet einen Pfad zum leidenden Gott. Auf der einen Seite drückt der Seufzer göttlichen Mitgefühls das göttliche Leiden aus und offenbart die göttlichen Namen, das heißt, er befreit Wesen aus der bloßen Möglichkeit ihres Seins, in der sie, geängstigt von ihrer latenten Kraft, eingeschlossen waren, und diese Wesen befreien den Gott, dessen Namen sie sind, von seiner Einsamkeit des Unerkanntseins. Hier, in der Vorewigkeit, wird der Bund des Zusammenfühlens geschlossen, der auf immer die Gottheit und ihre Getreuen, den Verehrten und die Verehrenden, in einem miteinanderfühlenden Dialog vereinigt.

Diese Idee eines göttlichen Mitleidens ist weit entfernt von jener Vorstellung des Mitleids, die die exoterische Theologie als Erbarmen, als Nachsicht oder Vergebung gegenüber den Sündern kennt. Der mystische Begriff des Mitgefühls ist kein moralischer Begriff, sondern ein metaphysisches Konzept, der Gründungakt einer Metaphysik der Liebe. Der Atemhauch des Mitempfindens ist als Phänomen einer ursprünglichen Liebe zugleich aktiv, schöpferisch, befreiend und empfangend, er ist die Substanz, die immaterielle Stofflichkeit, aus der alle Wesen geschaffen sind, von den Engelsgeistern bis zu den Wesen der sublunaren Welt. Diese zweifache Natur tragen alle Wesen in sich, weil bereits die göttlichen Namen auf der einen Seite aktiv sind, insofern sie die Eigenschaft darstellen, die sie der konkreten Form mitteilen, nach der sie sich sehnen, und auf der anderen Seite passiv, insofern sie in dieser Form und durch sie bestimmt werden, die sie gemäß ihrer ewigen Seinsbedingung offenbart. Und es ist ebendiese Grundstruktur, welche die Bedingungen eines Verstehens setzt und erfüllt, das kein theoretisches Verstehen ist, sondern ein Leiden, das mit dem verstandenen Gegenstand erlebt und geteilt wird – ein Mitleiden, ein Mitgefühl. Denn die göttlichen Namen sind nicht Eigenschaften, die vom theoretischen Intellekt dem göttlichen Wesen zugeteilt werden, sie sind ihrem Wesen nach die Spuren ihrer Wirksamkeit in uns, einer Wirksamkeit, die ihr Sein durch unser Sein erfüllt, und die in uns den Charakter einer passivischen Bedeutung annimmt. Mit anderen Worten: wir erkennen sie nur, insofern sie uns widerfahren und in uns Gestalt annehmen, durch das, was sie aus uns machen, insofern sie zu unserem Leiden werden. Gott ist es, der sich durch sich selbst in uns mit seinen Namen benennt.

In Bezug auf diese Vorgänge erklärt Ibn Arabi: »Jene, denen Gott verschleiert bleibt, beten zu einem Gott, der in ihrem Glauben ihr Herr ist, auf dass er mit ihnen Mitleid haben möge. Aber die unmittelbar erkennenden Mystiker beten darum, dass das göttliche Mitleid durch sie erfüllt werden möge.« Also: das Gebet des Gnostikers sucht nicht eine Veränderung in einem Wesen hervorzurufen, das außerhalb seiner selbst liegt und infolge des Gebetes mit ihm Erbarmen haben könnte. Vielmehr strebt sein Gebet danach, dieses göttliche Wesen in sich hervorzurufen, so wie es selbst danach verlangt, durch den Betenden und für ihn zu sein, für den Betenden, der durch sein Gebet das Werkzeug Seines Mitleids ist. Das gnostische Gebet sagt: »Lass uns Mitleidende sein«, das heißt, »werde durch uns, was Du seit Ewigkeiten gewünscht hast, zu sein.« Denn der Mystiker hat erkannt, dass die Substanz seines Wesens ein Atemzug jenes unendlichen Mitgefühls ist: dass er die epiphane Form eines göttlichen Namens ist. Daher besteht sein Gebet auch nicht aus einem Verlangen, sondern aus seinem Sein. Es hat die Funktion, den Grad des spirituellen Vermögens zu offenbaren, das er erlangt hat, das Ausmaß, in dem er sich für Gott empfänglich gemacht hat. Aber dieses Maß seiner Empfänglichkeit ist wiederum durch seine ewige Seinsbedingung, seine archetypische Individualität, bestimmt. »So wie du in der Vorewigkeit warst, das heißt, in deiner ewigen Möglichkeit, so wirst du in deinem gegenwärtigen Sein offenbart. Alles was im offenbaren Sein gegenwärtig ist, ist eine Erscheinungsform seiner ewigen Möglichkeit.« Man darf diesen Gedanken nicht mit einem Determinismus verwechseln, er ist viel eher verwandt mit der prästabilierten Harmonie von Leibniz.

Mit Ibn Arabi kann man also von einem Gott sprechen, »der im Glauben geschaffen wird«: »Das göttliche Mitempfinden schließt auch den Gott ein, der im Glauben geschaffen wird.« Zu einem mitfühlenden Wesen zu werden heißt, zu einem Abbild jenes mitfühlenden Gottes zu werden, der unendliche Trauer über die unerfüllten Möglichkeiten empfindet, es heißt, in einer allumfassenden religiösen Sympathie die Theophanien dieser göttlichen Namen in allen Glaubensformen zu umfassen. Aber diese Sympathie gibt sich nicht mit der Begrenztheit der Namen zufrieden, vielmehr befähigt derjenige, der sich ihnen zuwendet, diese Namen zu jener Erweiterung, die die ursprüngliche göttliche Sympathie von ihnen erwartet. Das aber heißt wiederum, dass wir ihr göttliches Licht, so weit es uns möglich ist, verstärken, dass wir sie befreien – so wie das göttliche Mitgefühl es in der Vorewigkeit getan hat – dass wir sie aus ihrer Möglichkeit befreien und dem Nichtwissen, das mit ihrer Beschränktheit einhergeht. Das religiöse Mitgefühl versetzt sie in die Lage, der Sackgasse, das heißt der Sünde der Götzenanbetung, zu entkommen. Denn allein diese Sympathie befähigt ein Wesen dazu, das Licht der göttlichen Theophanien in sich aufzunehmen. Die Menschheit zeigt alle Formen der Zurückweisung der göttlichen Namen: vom puren Atheismus bis hin zu allen möglichen Formen des Fanatismus. All diese Zurückweisungen stammen aus der Ignoranz gegenüber der unendlichen göttlichen Trauer, die sich danach sehnt, mitfühlende Diener ihrer göttlichen Namen zu finden. Die Schülerschaft des Gnostikers besteht darin, dass er lernt, seinem eigenen Herrn die Treue zu halten, jenem göttlichen Namen, mit dem er in seinem Wesen ausgestattet wurde, aber gleichzeitig den Vorbehalt Ibn Arabis zu hören: »Lass die Seele Stoff für alle Formen des Glaubens sein.« Jemand, der diese Fähigkeit erlangt hat, ist ein »arif«, ein Adept, »einer, der mit dem Auge Gottes durch Gott in Gott hineinschaut.« Jene, die annehmen und jene, die sich verweigern, sind ein und derselben Autorität unterworfen: der Gott, in dessen Nachfolge Du lebst, ist jener, für den Du Zeugnis ablegst, und Dein Zeugnis ist auch das Urteil, das Du über Dich selbst sprichst.

Der Grundgedanke, der Ibn Arabis mystischer Theosophie und daher auch seinem Verständnis des Gebets zugrunde liegt, ist folgender: sichtbare, äußerliche Zustände, kurz, Phänomene, können nie Ursachen anderer Phänomene sein. Das Mitempfinden wirkt und bestimmt, es ruft Dinge ins Dasein und veranlasst sie, sich ihm anzugleichen, weil es ein spiritueller Zustand ist – aber seine Wirkensform ist nicht mit physikalischer Kausalität vergleichbar, seine Wirkensform ist die Sympathie, das Mit-Leiden. In jedem einzelnen Fall kann dieses Mit-Leiden durch das Wesen näher bestimmt werden, um dessen Leiden es dabei geht: im Falle der Sonnenblume, die zu ihrem himmlischen Herrn betet, handelt es sich um eine Heliopathie, ein Leiden an der Sonne und im Falle des Mystikers um reine, einfache Theopathie, um ein Leiden an Gott und mit Gott.

Sein Gebet ruft in einer der beiden Seiten seines Wesens, auf der Seite seines offenbaren Wesens eine Antwort, ein aktives Leiden hervor. Das Gebet selbst wird von seinem unsichtbaren Wesen hervorgerufen, dem himmlischen Gegenstück seines irdischen Wesens, seiner ewigen Individualität, also letztlich vom Atemzug jenes göttlichen Mitgefühls, das einen der göttlichen Namen ins Dasein gerufen hat. Ibn Arabi nennt diese beiden Seiten eines Wesens seine göttliche und seine menschliche oder geschaffene Natur. Wenn der Prophet als Urbild der mystischen Erfahrung betrachtet wird, dann deswegen, weil er diese beiden Aspekte des menschlichen Wesens in seiner Person auf vorbildliche Weise verbunden hat. Diese Verbindung ist keine hypostatische Verbindung zweier Naturen im Stile von Konzilsentscheidungen, sondern eine theophane Vereinigung, die Vereinigung eines göttlichen Namens und der sinnlichen Form, in der dieser Name sichtbar wird. Beide zusammen, nicht einer allein, bilden die Ganzheit eines göttlichen Namens, der eine als der Herr dieses Namens, der andere als sein Diener. Der eine ist dem anderen durch einen Lehensschwur oder einen Bund des Minnedienstes zugesellt, der beide zu Antwortenden in einem Dialog macht und dieser Bund tritt mit dem ursprünglichen Akt der göttlichen Liebe ins Dasein, mit dem ersten Seufzer der Trauer, der die Sehnsucht der göttlichen Namen mitempfindet, die nach den Wesen verlangen, die sich ihnen in Liebe zuwenden. All dies hat nichts mit Inkarnation eines höheren in einem niederen Wesen zu tun, sondern mit Theophanie. Und aus Sicht dieser Theophanie erscheint die unio mystica als die wahre Verwirklichung der unio sympathetica.

Die Dialektik der Liebe

Ibn Arabi ist von allen Sufimeistern am tiefsten in das Geheimnis der Liebe eingedrungen. Die Frage ist: Was heißt es eigentlich, Gott zu lieben? Und wie ist das überhaupt möglich? Zwar scheint die Aussage, man müsse Gott lieben, ohne weiteres verständlich, aber Ibn Arabi macht auf gewisse Schwierigkeiten aufmerksam: »Wenn wir uns allein auf die rationale Argumentation der Philosophie stützen, die uns zwar zu einer Erkenntnis des göttlichen Wesens führt, aber nur auf dem Weg der Negation, dann würde kein einziges Geschöpf jemals die Liebe Gottes erfahren … Die positive Religion lehrt uns, Gott sei dieses und jenes, die exoterische Form dieser Eigenschaften erscheint der Philosophie absurd, aber gerade wegen dieser Eigenschaften lieben wir ihn.« Aber dann ist es für die Religion unausweichlich, festzustellen, dass nichts ihm gleicht. Andererseits können wir Gott nur insoweit erkennen, als wir ihn erfahren, so dass »wir ihn uns vorstellen und zu einem Gegenstand unserer Kontemplation machen können, nicht nur im Innersten unseres Herzens, sondern auch vor unseren Augen und in unserer Imagination, so als würden wir ihn sehen, oder besser, damit wir ihn wirklich sehen … Er selbst ist es, der in jedem geliebten Wesen dem Blick des Liebenden erscheint … und niemand anders als er wird angebetet, denn es ist unmöglich, ein Wesen anzubeten, ohne Gott in diesem Wesen wahrzunehmen … So ist es mit der Liebe: jedes Wesen liebt in Wahrheit immer nur Gott.«

Aber wenn der Eine Geliebte immer nur in einer bestimmten Erscheinungsform sichtbar wird, wenn er in der Tat in jedem Fall für jedes Individuum einzigartig ist, dann deswegen, weil die jeweilige Erscheinungsform, die ihn offenbart, ihn zugleich verbirgt, weil er jede seiner Erscheinungsformen transzendiert. Wie also kann er sich in einer bestimmten Form zeigen, wenn diese Form ihn zugleich verbirgt und sich offenbaren, ohne in einer bestimmten Form zu erscheinen? Welche Beziehung besteht zwischen dem eigentlichen Gegenstand der Liebe und der konkreten Form, die ihn sichtbar macht? Zwischen beiden muss es ein Mit-Atmen, ein Mit-Leiden geben. Und was für eine Liebe ist dieser Erscheinungsform zugewandt? Wann ist es wahre Liebe und wann irrt sie, weil sie sich in der Form verliert? Und schließlich: Wer ist wirklich der Geliebte, aber auch: Wer ist in Wirklichkeit der Liebende?

Das gesamte Werk Ibn Arabis ist eine aus der Erfahrung geschöpfte Antwort auf diese Fragen. Die göttliche Liebe besitzt zwei Aspekte. Einerseits das Verlangen Gottes nach den Geschöpfen, den leidenschaftlichen Seufzer im Wesen Gottes, der sich danach sehnt, in seinen Geschöpfen offenbar zu werden, damit er ihnen und durch sie erscheine. Andererseits ist die Liebe Gottes das Verlangen der Geschöpfe nach Gott, genauer, der Seufzer Gottes selbst, der in den Geschöpfen erscheint und sich danach sehnt, zu sich selbst zurückzukehren. In Wahrheit ist das Wesen, das in Sehnsucht seufzt, gleichzeitig das Wesen, nach dem seine Sehnsucht seufzt, auch wenn es sich in seiner konkreten Bestimmtheit von Ihm unterscheidet. Es sind nicht zwei unterschiedliche Wesen, sondern es ist ein Wesen, das sich selbst begegnet. Ein und derselbe leidenschaftliche Wunsch ist die Ursache des Erscheinens und der Rückkehr in den Grund. Wenn Gottes Sehnsucht intensiver ist, dann deswegen, weil er beide Aspekte erlebt, während dem Geschöpf nur die zweite Seite bewusst ist. Denn es ist Gott, der in der bestimmten Form des Getreuen der Liebe nach sich selbst seufzt, weil er die Quelle und der Ursprung ist, der sich nach genau dieser bestimmten Form, nach seiner Anthropomorphose sehnte. Daher existiert die Liebe ewig als Wesenstausch zwischen Gott und dem Geschöpf: leidenschaftlicher Wunsch, mitleidvolle Sehnsucht und Begegnung existieren ewig und machen das Sein aus. Jeder versteht dies nach Maßgabe seiner Seinsform und seinem spirituellen Vermögen. Einzelne Menschen, wie Ibn Arabi, haben diese Begegnung über längere Zeiträume schauend erlebt. Für alle, die sie erlebt und verstanden haben, ist sie ein Verlangen nach Schau der göttlichen Schönheit, die in jedem Augenblick der Zeit in neuer Form erscheint und es ist dieser ewige Wunsch, auf den Abu Yazid Bastami anspielt, wenn er sagt: »Ich habe vom Getränk der Liebe getrunken, Kelch um Kelch. Es erschöpft sich nie und der Durst wird nie gestillt.«

Da in beiden Aspekten, ob bewusst oder nicht, die Liebe, deren Beweggrund die Schönheit ist, allein Gott zum Gegenstand hat, da Gott ein wunderschönes Wesen ist, das die Schönheit liebt, und das, indem es sich selbst für sich selbst offenbart, die Welt als Spiegel geschaffen hat, in dem es sein eigenes Bild, seine eigene Schönheit betrachten kann, und da es – aufgrund des Schriftworts »Gott wird dich lieben« – Gott selbst ist, der sich in dir liebt, könnte jede Form der Liebe beanspruchen, göttlich zu sein. »Könnte«, ohne Zweifel – aber zu meinen, dies entspräche der Realität, käme der Annahme gleich, es gäbe eine ideale Menschheit, die einzig aus Getreuen der Liebe, aus Sufis besteht.

Daher muss man mit Ibn Arabi drei Formen der Liebe unterscheiden, die drei Formen des Seins entsprechen.

  1. Eine göttliche Liebe, die Liebe des Schöpfers für das Geschöpf, in dem er sich selbst erschafft, eine Liebe, die eine Form hervorbringt, durch die er sich selbst offenbart und zugleich die Liebe dieses Geschöpfs zum Schöpfer, die nichts anderes ist, als der Wunsch des offenbarten Gottes im Geschöpf, zu sich selbst zurückzukehren, nachdem er als verborgener Gott das Verlangen empfand, von den Geschöpfen erkannt zu werden – dies ist das ewige Zwiegespräch der gott-menschlichen Syzygie.
  2. Eine spirituelle Liebe, die ihren Sitz im Geschöpf hat, das immerzu auf der Suche nach jenem Wesen ist, dessen Bild es in sich entdeckt oder das entdeckt, dass es selbst das Bild jenes Wesens ist, eine Liebe im Geschöpf, die kein anderes Ziel hat, als sich dem Geliebten anzugleichen, mit allem übereinzustimmen, was er mit und durch seinen Getreuen zu tun wünscht.
  3. Die natürliche Liebe, die zu besitzen wünscht und nach Befriedigung ihrer eigenen Wünsche sucht, ohne Rücksicht auf die Befriedigung der Geliebten. »Und so«, sagt Ibn Arabi, »verstehen die meisten Menschen die Liebe.«

In Bezug auf das Geschöpf betrachtet, hat Liebe eine andere Bedeutung, als wenn sie in Bezug auf den Schöpfer betrachtet wird, der zugleich Subjekt und Objekt der Liebe, Liebender und Geliebter ist. In Bezug auf uns nimmt Liebe, der Beschaffenheit unseres Wesens gemäß, das sowohl geistig als auch leiblich ist, eine zwiefältige Dimension an: sie ist geistig und physisch. Beide Formen unterscheiden sich erheblich voneinander. Das erste Problem ist, die geistige mit der physischen Liebe zu versöhnen. Erst wenn sie miteinander versöhnt sind, kann man fragen, ob eine Verbindung zwischen der kreatürlichen und der göttlichen Liebe, der Liebe in ihrer reinen Essenz möglich ist. Und ob es uns möglich ist, Gott mit dieser zwiefältigen, geistigen und physischen Liebe zugleich zu lieben, wo Gott doch immer nur in einer konkreten Form sichtbar ist, die ihn zur Erscheinung bringt. Zwischen dem geistigen und physischen Aspekt unseres Wesens muss ein Band des Mitfühlens entstehen, wenn in uns eine Liebe aufgehen soll, die der Theopathie entspricht, dem göttlichen Verlangen, erkannt zu werden, wenn also die Zwei-Einheit, die Vereinigung durch Mitleid, zwischen dem Herrn und dem Getreuen der Liebe realisiert werden soll.

Zuerst muss gefragt werden: Lieben wir ihn um seiner selbst willen oder um unseretwillen? Oder um seinet- und unseretwillen zugleich? Oder weder um seinetwillen noch um unseretwillen? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn zuvor eine andere beantwortet wird: Durch wen lieben wir ihn? Wer ist das wirkliche Subjekt der Liebe? Aber diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man den Ursprung und das Ziel der Liebe untersucht.

Aus der Antwort auf die erste Frage ergibt sich eine Versöhnung des geistigen und sinnlichen Aspekts der Liebe. Ibn Arabi stellt fest, die vollkommensten mystisch Liebenden seien jene, die Gott zugleich um seinetwillen und um ihrer selbst willen liebten, weil dies die Vereinigung ihrer zwiefältigen Natur beinhalte. Wer sich zu einer solchen Liebe befähige, vermöge mystische Erkenntnis und Schau zu verbinden. Aber in der mystischen Erfahrung ist jede Schau eine Erkenntnis, die voraussetzt, dass das Objekt eine bestimmte Form annimmt, und diese Form, die ihrerseits zusammengesetzt ist, entspricht der Zusammensetzung des Liebenden. Denn da die Seele selbst zwiefältig ist, geht ihre Liebe zu Gott oder jedem anderen Wesen, insofern sie inspiriert ist von der Hoffnung, sich selbst zu finden, von der physischen Natur aus; während eine Liebe, die darauf abzielt, die Geliebte zu befriedigen, aus der spirituellen Natur der Seele entspringt.

Um diese zwiefältige Natur der Seele und die zwei Formen der Liebe zu versöhnen, erscheint die göttliche Geliebte – die keine Teilung duldet, und wünscht, dass die Seele allein Sie um Ihrer selbst willen liebt –, in der physischen Form einer Theophanie. Und sie schickt dem Liebenden ein Zeichen, das ihm klar macht, dass Sie es ist, die sich der Seele in dieser Form offenbart, ein Zeichen, das die Seele nicht ignorieren kann. Dieses Zeichen wird nicht durch die Sinne erkannt, sondern durch ein anderes Organ, es führt eine unmittelbare, nicht aus der Erfahrung abgeleitete Evidenz mit sich. Die Seele nimmt die Theophanie wahr, sie erkennt, dass die Geliebte diese physische Form ist (ob sinnlich oder geistig, erkannt wird sie durch die aktive Imagination) und sie wird gleichzeitig in ihrer geistigen und physischen Natur von dieser Form angezogen. Die Seele »sieht« den Herrn (die Herrin), sie ist sich der Tatsache bewusst, dass sie ihn in dieser ekstatischen Schau sieht, die ihr zuteil geworden ist, und sie vermag ihn nur um seiner selbst willen zu lieben. Diese Liebe ist physisch, weil sie ein konkretes Bild wahrnimmt und anschaut, und sie ist zugleich geistig, weil sie vom Bild nicht Besitz ergreifen will, sondern vielmehr ganz von diesem Bild ergriffen wird. Diese Vereinigung der geistigen Liebe und der natürlichen Liebe, die von ihr umgewandelt wird, macht das Wesen der mystischen Liebe aus.

Aber der Mystiker muss auch erkennen, wer das reale Subjekt der Liebe ist, die ihn bewegt, wer wirklich der Liebende ist – eine Erkenntnis, die zur Beantwortung der Frage führt: Wer ist der Geliebte oder die Geliebte? Die Seele wird sich der Tatsache bewusst, dass sie Gott nicht durch sich selbst sieht, sondern durch Ihn, sie liebt allein durch Ihn, nicht durch sich, sie schaut Gott in allen anderen Dingen nicht durch ihr eigenes Auge , sondern durch das Auge, durch das Gott sie sieht, durch Gottes Auge; der Herr der Liebe, der in der Seele wirkt, ist das Bild, das in ihr wirkt, das Organ, durch das sie wahrnimmt, während gleichzeitig die Seele selbst das Organ ist, durch das Er, der Herr ihrer Liebe, sie wahrnimmt. Die Schau des göttlichen Herrn in der Seele ist die Schau, die er von der Seele hat. Sein Mitleiden mit einem Wesen ist das Leiden an Gott, das dieses Wesen in sich erlebt, die Leidenschaft, die Seine Anwesenheit in ihr erweckt und die für die Seele Seine Anwesenheit in ihr bezeugt. Folglich schaut und liebt die Seele nicht durch sich selbst oder nicht einmal in Verbindung mit Ihm, sondern allein durch Ihn. Da die Seele Sein Wahrnehmungsorgan ist, das Organ jenes Wesens, das vollständige Demut in Mitleid mit sich verlangt, wie könnte sie da etwas anderes lieben, als Ihn allein? Er ist es, der sucht und gesucht wird, er ist der Liebende und der Geliebte.

Diese Identität ruft die Sehnsucht des »verborgenen Schatzes« in Erinnerung, der sich nach dem Erkanntwerden sehnt, jene Sehnsucht, die das Geheimnis der Schöpfung ist. Mit sich selbst litt das göttliche Wesen, indem es mit der Trauer der göttlichen Namen litt, mit der Trauer unserer eigenen latenten Existenzen, die danach verlangten, jene Namen offenbar zu machen, und dies ist die erste Quelle seiner Liebe für uns, die wir seine eigenen Wesen sind. Umgekehrt ist die Liebe, die diese Wesen für ihn empfinden, manchmal sogar, ohne es zu wissen, nichts anderes als das Schwingen seines Wesens in ihnen, das durch seine Liebe in Gang versetzt wurde, als er sie aus ihrem Möglichsein ins Dasein rief.

Man wird diese Vergemeinschaftung zwischen der physischen und der geistigen Natur missverstehen, wenn man sie nicht als Theophanie auffasst. Man wird auch nicht begreifen, warum Maria eine Trägerin der Offenbarung für den Mystiker sein kann, solange man diese Vergemeinschaftung in Begriffen der Inkarnation zu erfassen versucht. Zwischen dem theologischen Doketismus der islamischen Esoterik und der Idee der Theophanie gibt es eine strukturelle Beziehung. Das »Subjekt der Inkarnation« lässt sich auf der Ebene physischer Existenz oder historischer Ereignisse nicht finden, aber jederzeit auf der Ebene der Theophanien, denn die wahre Wirklichkeit liegt in den inneren Ereignissen, die in jeder einzelnen Seele durch Erscheinungen hervorgerufen werden. Ein solches Verständnis von Wirklichkeit setzt eine Wahrnehmungsfähigkeit und Form der Meditation voraus, die sich erheblich von der historischen oder logischen Beweisführung unterscheidet, die sich allein auf sinnliche und begrenzte Daten stützt und aufgrund rational festgelegter Glaubenssätze oder äußerlich belegbarer Ereignisse urteilt. Die vermittelnde Fähigkeit bringt die theophane Vereinigung zwischen göttlicher und menschlicher Natur nicht in einer gegebenen und abgeschlossenen Wirklichkeit zur Erscheinung. Was die Versöhnung zwischen dem spirituellen und physischen Aspekt der menschlichen Existenz ermöglicht, ist die aktive Imagination, die Ibn Arabi als »Gegenwart« oder »imaginative Würde« bezeichnet. Am ehesten träfe die Eigenart dieser Fähigkeit ein Begriff wie »Imaginatrix«, der den schöpferischen Aspekt des Bildes und die Bildekraft der Kreativität zugleich erfasst.

Durch diese Imaginatrix, die bildgestaltende Fähigkeit der Seele, gelangt die Dialektik der Liebe zu ihrer höchsten Entfaltung, nachdem sie erkannt hat, wer in Wahrheit der Liebende ist. Nun vermag sie auch zu erkennen, wer in Wahrheit der Geliebte ist.

Der spirituelle Aspekt, der Geist, muss sich in einer physischen Form manifestieren. Es kann sich um eine sinnliche Form handeln, die von der Imagination in eine theophane Gestalt umgewandelt wird, oder um eine Erscheinung, die allein für die Imagination wahrnehmbar ist. In dieser theophanen Gestalt offenbart sich der Geliebte selbst, er vermag dies nur durch eine Gestalt, die ihn zugleich offenbart und verhüllt, ohne die er jedoch jeglicher konkreten Existenz, jeder Beziehungsfähigkeit beraubt wäre. Daher muss der reale und unsichtbare Gegenstand der Liebe durch die Imagination in einer konkreten Gestalt verbildlicht werden, durch sie erlangt er eine Existenzform, dank derer er für diese besondere Fähigkeit wahrnehmbar ist. In diesem Sinne wird die konkrete Gestalt, auf die sich das Wollen der Liebe richtet, als Geliebter bezeichnet, aber sie wird auch als Geliebter bezeichnet, insofern diese Gestalt als Bild auf etwas anderes als sich selbst verweist, auf etwas, das nicht realiter existiert, trotz der Illusion der schlichten natürlichen Liebe, die nur an sich interessiert ist und nur nach dem Besitz eines Objektes verlangt, das es als gegeben voraussetzt.

Aber natürlich ist dieses Nichtexistierende kein bloßes Nichts, es ist kaum vorstellbar, dass ein Nichts eine konkrete Wirkung hervorrufen könnte, und noch weniger, dass es eine theophane Funktion übernehmen könnte. Es ist etwas, das noch nicht in der konkreten Form des Geliebten existiert, etwas, das noch nicht Wirklichkeit geworden ist, etwas, von dem der Liebende mit aller Intensität seiner Liebe wünscht, dass es Wirklichkeit werde. An dieser Stelle nimmt die höchste Funktion der menschlichen Liebe ihren Ausgang, jene Funktion, die die beiden Formen der Liebe zur Verschmelzung bringt, die als »ritterliche, höfische« und »mystische« Liebe bezeichnet worden sind. Denn die Liebe neigt dazu, die geliebte irdische Gestalt in einem Licht zu sehen, das all ihre übermenschlichen Qualitäten zum Leuchten bringt und sie auf diese Weise verwandelt und mit der theophanen Funktion eines Engels ausstattet. Ibn Arabi geht sogar noch weiter: denn ob der Liebende nun die Geliebte anzuschauen oder sich mit ihr zu vereinigen oder ihre Gegenwart zu verewigen trachtet, seine Liebe strebt stets danach, etwas ins Dasein zu rufen, was in der Geliebten gerade noch nicht existiert. Das reale Objekt ist nicht das, was er erhalten hat, sondern Dauer, Fortdauer oder Verewigung; aber Dauer, Fortdauer oder Verewigung sind etwas, das nicht existiert, sie sind noch nicht wirklich, sie sind noch nicht ins Dasein getreten. Der Gegenstand der Umschlingung im Augenblick der liebenden Vereinigung ist wiederum etwas, das nicht existiert, nämlich wiederum die Fortdauer und Verewigung dieser Vereinigung. Wie der Koranvers »Er wird sie lieben und sie werden ihn lieben« Ibn Arabi nahelegt, hört das Wort Liebe niemals auf, etwas vorwegzunehmen, was selbst dann noch abwesend ist, etwas, das noch des Seins entbehrt. So wie wir von einer künftigen Auferstehung sprechen, kann man auch von der »zukünftigen Erfüllung der Liebe« sprechen.

Das Erlebnis der mystischen Liebe, das die sinnliche und geistige Seite der Wirklichkeit »zusammen atmen« lässt, setzt die aktive Imagination voraus. Als Vermögen der Umwandlung des Sinnlichen besitzt sie die Macht, die engelhafte Dimension des Seienden zur Erscheinung zu bringen. Wenn sie dies tut, vollbringt sie zweierlei: sie veranlasst unsichtbare geistige Wesen dazu, in die Wirklichkeit des Bildes herabzusteigen (aber nicht weiter, denn für die Sufimystiker sind die Bilder die äußerste Stufe der Verdichtung geistiger Wesenheiten); und sie bewirkt zugleich die einzig mögliche Form einer Angleichung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Auf diese Weise beantwortet sie die anfangs gestellten Fragen: Was heißt es, Gott zu lieben? Wie kann man einen Gott lieben, der nicht sichtbar ist? Denn es ist genau dieses Bild, das es dem Mystiker erlaubt, der Anweisung des Propheten zu folgen: »Liebe Gott, so als ob Du ihn sähest.« Andererseits ist das Bild, mag es auch von der sinnlichen Realität unterschieden sein, ihr nicht völlig fremd, denn die Imagination verwandelt die sinnliche Welt, indem sie diese in ihre geistige, unvergängliche Daseinsform erhebt. Diese zweifache Bewegung, in der das Göttliche herab und das Sinnliche hinauf steigt, entspricht dem, was Ibn Arabi an anderer Stelle als »gemeinsamen Herabstieg« bezeichnet. Die Imagination ist der Schauplatz einer Erfahrung, durch die das übersinnlich Göttliche und das Sinnliche in ein und dieselbe Wohnstätte »eintreten«.

Die aktive Imagination bindet das Sinnliche und Nichtsinnliche, das Sichtbare und Unsichtbare in Sympathie, im Mit-Fühlen zusammen. Die Imagination macht es, wie Ibn Arabi sagt, möglich, »ein Wesen der sinnlichen Welt zu lieben, in dem wir die Erscheinung der göttlichen Geliebten lieben; denn wir vergeistigen dieses Wesen, indem wir seine sinnliche Form in ein unvergängliches Bild umwandeln, ein Bild, das für uns zur Offenbarung des Göttlichen wird, indem wir es mit einer Schönheit ausstatten, die höher ist, als seine sinnliche, und es mit einer Gegenwärtigkeit versehen, die dieses Wesen niemals verlieren oder abstreifen kann, so dass der Mystiker niemals aufhört, mit der Geliebten vereint zu sein.« Aus diesem Grund hängt die Höhe der spirituellen Erfahrung vom Seinsgrad der Realität ab, den das Bild in sich aufnimmt und umgekehrt. In diesem Bild schaut der Mystiker die Vollkommenheit der Geliebten an und erlebt ihre Gegenwart in sich. Ohne diese Vereinigung durch das Bild, ohne die Umwandlung, die es mit sich bringt, ist die physische Vereinigung eine bloße Verirrung, ein Grund oder Symptom geistiger Störung. Reine Beschauung des Bildes hingegen vermag eine solche Intensität zu erreichen, dass jede materielle oder sinnliche Gegenwart sie nur stören würde. Dies war der Fall beim berühmten Madschnun, und dies, so Ibn Arabi, ist die geistigste Erscheinungsform der Liebe.

Diese Erfahrung setzt auf Seiten des Getreuen der Liebe die Erkenntnis voraus, dass sich das Bild nicht außerhalb seiner, sondern in ihm befindet. Ja, mehr noch, dass es sein Wesen ist, die Form des göttlichen Namens, den er selbst mitgebracht hat, als er ins Dasein trat. Und so schließt der Gang der Dialektik der Liebe mit dieser grundlegenden Erfahrung: »Die Liebe ist dem Liebenden näher als seine Halsschlagader.« So nah ist diese Nähe, dass sie sich zuerst wie ein Schleier ausnimmt. Daher wird der unerfahrene Novize, obwohl das Bild von seinem ganzen Wesen Besitz ergriffen hat, außerhalb seiner selbst nach ihm suchen, in einer verzweifelten Suche, die ihn von Form zu Form in der sinnlichen Erscheinungswelt treibt, bis er schließlich zum Heiligtum seiner Seele zurückfindet und erkennt, dass der wirkliche Gegenstand seiner Liebe im tiefsten Grund seiner Seele ruht, und von diesem Augenblick an sucht er die Geliebte nur noch durch die Geliebte. In dieser Suche, ebenso wie in der Rückkehr, bleibt das aktive Subjekt das innere Bild einer unrealen Schönheit, eine Spur des transzendenten oder himmlischen Gegenstücks seines eigenen Wesens, es ist dieses Bild, das es ihm ermöglicht, jede sichtbare Gestalt, die ihm gleicht, zu erkennen, denn auch bevor er sich dessen bewusst ist, hat dieses Bild mit seiner theophanen Kraft in ihm gewirkt. Daher ist es wahr, zu sagen, die Geliebte befinde sich im Liebenden und sie befinde sich nicht in ihm, dass sein Herz im geliebten Gegenstand sei oder dass der geliebte Gegenstand in seinem Herzen sei. Diese Paradoxie drückt nur wieder die Erfahrung des »Geheimnisses der göttlichen Herrschaft« aus, jenes Geheimnis, das Du bist, das den Minnedienst des Getreuen der Liebe in seiner Vereinigung durch Demut bestehen lässt, das heißt, darin, dass er sein ganzes Wesen in der theophanen Wirkung aufgehen lässt, mit der er eine sichtbare Form ausstattet. Daher hängen die Qualität und Treue eines mystischen Liebhabers von der »Kraft seiner Imagination« ab, denn wie Ibn Arabi sagt: »Der göttliche Liebhaber ist Geist ohne Körper, der rein körperliche Liebhaber ist Körper ohne Geist, der mystische Liebhaber dagegen besitzt Geist und Körper.«

* L’imagination créatrice dans le Soufisme d’Ibn Arabi, Paris 1958; Alone with the Alone. Creative Imagination in the Sufism of Ibn Arabi, Princeton 1969.

Ein Kommentar

  1. „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Der Fuchs zum Kleinen Prinz

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