Zuletzt aktualisiert am 5. März 2017.
Wenn man heute von der »Esoterik des Islam« hört, dann denkt man zuerst an den Sufismus und seine Mystik. Dass es aber in Gestalt des Schīismus, der zweitgrößten islamischen Gemeinschaft, eine philosophisch-theosophische Esoterik des Islam gibt, die sich als solche versteht und bezeichnet, ist weitgehend unbekannt. Den Schīismus kennt man heute vornehmlich unter anderen, weniger erfreulichen Aspekten. Man denkt an die islamische Republik Iran mit ihrer eigenartigen Verfassung, die in keine politologische Schablone passt, an Mahmud Ahmadineschad und seine unseligen Verlautbarungen sowie an das iranische Atomprogramm. Oder man verweist auf die Hisbollah, um den Schīismus insgesamt zu diskreditieren. Laut Henry Corbin ist die Zwölfer-Schīa jedoch, im Unterschied zur Gnosis der Siebener-Schīa, die Esoterik des Islam. Im folgenden das Kapitel über den Schīismus aus Corbins »Geschichte der islamischen Philosophie« (1964) in erstmaliger deutscher Übersetzung.
Esoterik
Dass der Schīismus seinem Wesen nach die Esoterik des Islam ist, geht schon aus dem Koran selbst hervor. So findet sich in der 33. Sure der Vers: »Wir haben den Schatz unserer Geheimnisse dem Himmel, der Erde und den Bergen angeboten; alle haben sich geweigert, ihn anzunehmen, alle haben davor gezittert, ihn zu empfangen. Der Mensch allein hat sich seiner angenommen; wahrlich, er ist gewaltig und unwissend.« Über die Bedeutung dieses großartigen Verses, von dem im islamischen Denken die Reflexion über die Würde des Menschen ausgeht, besteht unter schīitischen Exegeten kein Zweifel. Er spielt auf die »göttlichen Geheimnisse« an, auf die Esoterik der Prophetie, die von den heiligen Imāmen ihren Adepten weitergegeben wurde. Diese Deutung kann sich auf eine Erklärung des sechsten Imām berufen, die besagt, in ihm sei von der esoterischen Wahrheit (walāyat) die Rede, deren Quelle der Imām sei. Die schīitischen Exegeten (von Haydar Amoli bis zu Mollā Fathollah im 19. Jahrhundert) bemühen sich, zu zeigen, dass die »Gewaltigkeit« und »Unwissenheit« des Menschen nicht zu seiner Schande gereichen, sondern zu seinem Lob, da es eines Aktes des sublimen Wahnsinns bedurfte, um den Schatz der göttlichen Weisheit anzunehmen. Solange der Mensch, durch Adam symbolisiert, nicht weiß, dass es etwas anderes als Gott gibt, besitzt er die Kraft, diese zweifelhafte Gabe zu tragen. Wenn er aber das Bewusstsein erlangt, dass es auch noch etwas anderes als Gott gibt, verliert er den Schatz: oder besser, er weist ihn und das Buch zurück, das von ihm redet, oder er verneint schlichtweg dessen Existenz. Im letzteren Fall hält er sich an der wörtlichen Bedeutung der Offenbarung fest. Im ersteren begrüßt er jene »Arkandisziplin«, die von den Imāmen gelehrt wird, dem Vers gemäß: »Gott weist euch an, die euch anvertrauten Schätze an jene weiterzugeben, denen sie gehören« (4:61) – gemeint sind die Schätze der Gnosis. Der gesamte Vorstellungskomplex einer Weisheit als spirituelles Erbe ist in diesen wenigen Sätzen bereits enthalten.
Aus diesem Grund erklärte der fünfte Imām, Mohammad Bāqir (und jeder Imām hat es seither wiederholt): »Unser Ziel ist schwer zu erreichen; es auferlegt uns eine harte Arbeit; allein ein Engel von hohem Rang vermag es zu erringen, ein gesandter Prophet (nabī morsal) oder ein treuer Adept, dem Gott ein Herz gegeben hat, das zu glauben vermag.« Und der sechste Imām, Dscha’far al-Sādiq, fügte hinzu: »Unsere Sache ist ein Geheimnis in einem Geheimnis, ein Geheimnis, das verschleiert bleibt, ein Geheimnis, das lediglich durch ein anderes Geheimnis angedeutet werden kann; sie ist ein Geheimnis in einem Geheimnis, das hinter dem Schleier eines Geheimnisses verborgen ist.« Oder anders: »Unsere Sache ist die Wahrheit und die Wahrheit der Wahrheit, es gibt die Exoterik und die Esoterik der Exoterik, und die Esoterik der Esoterik. Es gibt das Geheimnis, und ein Geheimnis, das verschleiert bleibt, ein Geheimnis, das sich mit dem Geheimnis begnügt.« Von diesem Geheimnis sprechen auch einige Zeilen eines Gedichtes des vierten Imām, ’Alī Zaynol-’Abidin: »Mit Bedacht verberge ich die Juwelen – Aus Furcht, ein Unwissender, der die Wahrheit sieht, könnte sie zerstören … O Herr! Wenn ich auch nur eine Perle meiner Gnosis offenbaren würde – dann würde man fragen: Du betest also doch Götzenbilder an? – Und es fänden sich Muslime, die es für gerechtfertigt hielten, mein Blut zu vergießen! – Sie finden das Schönste, das man ihnen zu geben vermag, verabscheuungswürdig.«
Viele weitere Zitate ließen sich anführen. Die wenigen aber zeugen schon vom Ethos des Schīismus, von seinem Bewusstsein, die Esoterik des Islam zu sein, und es ist historisch unmöglich, bei der Suche nach den Quellen der Esoterik des Islam weiter zurückzugehen, als zu den Lehren der Imāme. Von daher verstehen sich die wahren Schīiten als diejenigen, die sich zu den Geheimnissen der Imāme bekennen. Im Unterschied dazu bringen all jene, die versuchen oder versucht haben, die Lehren der Imāme auf die Exoterik, auf Fragen des Rechtes und des Rituals zu beschränken, das eigentliche Wesen des Schīismus zum Verstummen. Die Betonung der Esoterik bedeutet nicht einfach, dass die Scharī’a, der Buchstabe und das Exoterische verworfen werden; sie bedeutet vielmehr, dass eine positive Religion, die der spirituellen Realität und der Esoterik beraubt wird, Dunkelheit und Knechtschaft ist; sie ist nichts mehr als ein Katalog von Dogmen oder ein Katechismus, statt dass sie offen für die Enthüllung neuer, unvorhersehbarer Bedeutungen bleibt.
Nach einer Aussage des ersten Imām kann man drei Gruppen von Menschen unterscheiden: 1. es gibt die Theosophen par excellence, d.h. den Propheten und die heiligen Imāme. 2. Es gibt jene, die sich ihrer Heilsbotschaft öffnen und andere für sie zu gewinnen suchen. In jeder Generation stellen sie stets nur eine Minderheit dar. 3. Es gibt die Mehrheit derjenigen, die keinen Zugang zu dieser Botschaft finden. »Wir (die Imāme) sind die Weisen, die lehren; unsere Schiiten, sind diejenigen, die durch uns belehrt werden. Der Rest ist der Schaum, der – leider! – von den Wellen davongetragen wird.« Die Esoterik bewegt sich zwischen den beiden Polen hin und her: der Scharī’a und der Geheimlehre, der Religion des Gesetzes, der sozialen Religion und der mystischen Religion, die sich auf den spirituellen Sinn der koranischen Offenbarung stützt. Deshalb schließt sie ihrem Wesen nach eine Prophetologie und eine Imāmologie ein.
Prophetologie
Die ältesten Überlieferungen, die eine islamische Prophetologie begründen, sind in den Lehren der Imāme enthalten. Wenn man nach den Gründen dafür fragt, kann man sagen, dass das schīitische Milieu genau jenes Milieu war, in dem die Prophetologie meditiert werden und sich entwickeln musste. Mehr als jede andere Denkform, die sich im Islam entwickelt hat, ist es die »prophetische Philosophie«, die ihrem Wesen nach der Stimmung einer prophetischen Religion entspricht, weil die »göttliche Wissenschaft« unaussprechbar ist; es handelt sich nicht um eine »Wissenschaft« im gewöhnlichen Wortsinn; zu ihrer Offenbarung bedarf es eines Propheten. Die Bedingungen ihrer Mitteilung und ihres weiteren Wachstums nach dem Ende der Prophetie (mit Mohammed), stellen den eigentlichen Gegenstand der prophetischen Philosophie dar. Ihre Idee fällt mit der Idee des Schīismus zusammen, deswegen darf dieser in einer Geschichte der islamischen Philosophie nicht fehlen.
Das erste, was auffällt, ist die bemerkenswerte Parallele zwischen der Lehre vom Geist (’aql, Intellekt, Intelligenz, nus) bei den Philosophen, die an Avicenna anschließen und der Lehre vom Geist (Rūh) in den Texten der Imāme. Daher geht das erste Kapitel einer prophetischen Philosophie, deren Thema die Notwendigkeit der Propheten ist, auf beiden Seiten aus vergleichbaren Überlegungen hervor. Ein hadīth des sechsten Imām, der von Ibn Bābūyeh überliefert wurde, spricht von fünf Geistern, oder genauer, von fünf Stufen oder Zuständen des Geistes, die den Menschen ausmachen; an der Spitze steht der Geist des Glaubens oder der Heilige Geist. Diese fünf Zustände sind vollständig nur bei den Propheten, den Gesandten und den Imāmen ausgebildet; die wahren Gläubigen haben vier entwickelt; die übrigen Menschen drei.
Ebenso sagen die Philosophen, von Avicenna bis Mollā Sadrā, die diese fünf Zustände, vom stoffgebundenen Geist, dem Geist im Möglichkeitszustand, bis hin zum Heiligen Geist untersuchen, dass dieser Geist in der Mehrheit der Menschen nur als Möglichkeit existiert; die Bedingungen, die ihn zu einem wirklichen und wirkenden Geist machen, sind nur bei einer kleinen Zahl von Menschen gegeben. Wie soll sich also eine Masse von Menschen, die ihren ungeläuterten Begierden ausgeliefert ist, in einer Gemeinschaft zusammenschließen, die einem einzigen Gesetz folgt? Für Bīrūnī ist das Naturgesetz das Gesetz des Dschungels; die Gegensätze zwischen den Menschen können nur durch ein göttliches Gesetz ausgeglichen werden, das durch einen Propheten, einen göttlichen Gesandten verkündet wird. Nun, diese pessimistischen Auffassungen Bīrūnīs und Avicennas geben nahezu wörtlich die Lehre der Imāme wieder, wie sie von Kolaynī zu Beginn seines Kitāb al-Hoddschat überliefert werden.
Daher geht die schīitische Prophetologie nicht bloß aus einer soziologischen Betrachtung hervor; vielmehr geht es um das spirituelle Schicksal der Menschheit. Der schīitischen These, die (gegen die Karramiten und die Asch’ariten) die Möglichkeit verneint, Gott in dieser und der jenseitigen Welt zu sehen, entspricht bei den Imāmen die Entwicklung einer Wissenschaft oder Erkenntnis des Herzens, die, indem sie alle gedanklichen und übergedanklichen Fähigkeiten in sich fasst, bereits das Fundament für eine Gnoseologie (Erkenntnislehre) der prophetischen Philosophie legt.
Einerseits hat die Notwendigkeit der Prophetie zur Folge, dass es inspirierte Menschen, »Übermenschen« gibt, von denen man sagen kann, sie seien »göttliche Menschen oder der göttliche Herr in einer menschlichen Form«, ohne dass dies die Idee einer Inkarnation einschließt. Andererseits hebt sich die schīitische Prophetologie deutlich von den primitiven Denkschulen der islamischen Sunna ab. Die Asch’ariten lehnen die gesamte Idee einer hierarchisch geordneten Welt mit ihren vermittelnden Ursachen ab, und zerstören damit das Fundament der Prophetie. Die extremistischen Mu’taziliten (Rationalisten) erheben folgenden Einwand: entweder befindet sich die Prophetie in Übereinstimmung mit der Vernunft oder nicht. Ist das erste der Fall, ist sie überflüssig, im zweiten Fall muss man sie verwerfen. Der Rationalismus der Mu’taziliten vermag sich die Ebene des Seins und des Bewusstseins, auf der sich sein Dilemma verflüchtigt, überhaupt nicht vorzustellen.
Der Vermittler, dessen Notwendigkeit die schīitische Prophetologie aufzeigt, wird mit dem technischen Ausdruck Hoddschat (Hojjat) bezeichnet (der Beweis, der Garant Gottes unter den Menschen). Die Idee und Aufgabe eines solchen sprengen die Grenzen einer geschichtlichen Epoche; die Gegenwart des Hoddschat muss andauern, auch wenn es sich um eine unsichtbare Gegenwart handelt, die von der Masse der Menschen unbemerkt bleibt. Der Ausdruck wird auf den Propheten angewendet, er trifft aber noch mehr und im eigentlichen Sinn auf die Imāme zu. Die Idee des Zeugen schließt bereits den unauflösbaren Zusammenhang zwischen Prophetologie und Imāmologie ein; und da die Zeugenschaft die Zeiten transzendiert, entspringt sie aus einer metaphysischen Realität, die uns zum gnostischen Motiv des himmlischen Menschen zurückführt.
Eine Unterweisung Imām Dscha’fars lautet: »Die menschliche Form ist das höchste Zeugnis, durch das Gott seine Schöpfungsmacht bezeugt. Sie ist das Buch, das er eigenhändig geschrieben hat. Sie ist der Tempel, den er durch seine Weisheit errichtet hat. Sie fasst alle Formen des Universums in sich zusammen. Sie ist das Kompendium der Erkenntnisse, die aus der tabula secreta (der geheimen Schreibtafel) hervorgetreten sind. Sie ist der sichtbare Zeuge, der von allem zeugt, was unsichtbar ist. Sie ist der Garant, der Beweis gegen alle Leugner. Sie ist der rechte Pfad, der zwischen dem Paradies und der Hölle liegt.«
Damit ist das Thema angedeutet, das die schīitische Prophetologie ausgebaut hat. Diese menschliche Form in ihrer Herrlichkeit vor aller Schöpfung wird als wahrer Adam bezeichnet (Adam Haqīqī), als Adam maximus, höchster Geist, erste Intelligenz, höchster Kalām, höchster Kalif, als Pol der Pole. Dieser himmlische Anthropos ist mit der ewigen Prophetie (nobowwat bāqiya) begabt und deren rechtmäßiger Besitzer, der Besitzer der primordialen, sein ganzes Wesen erfüllenden Prophetie, jener Prophetie, die vor aller Zeit im göttlichen Pleroma aufleuchtet. Er ist außerdem die ewige mohammedanische Wesenheit (Haqīqat mohammadīya), das Licht der mohammedanischen Herrlichkeit, der mohammedanische Logos. Auf ihn spielt der Prophet an, wenn er sagt: »Gott schuf Adam (den Anthropos) nach dem Bild seiner eigenen Form«. Als irdische Epiphanie dieses Anthropos sagt der Prophet in der ersten Person: »Das erste, was Gott schuf, war mein Licht« (oder die Intelligenz, der Kalām, der Geist). Und noch ein anderes Wort deutet auf ihn hin: »Ich war bereits ein Prophet, als Adam (der irdische Adam) sich noch zwischen dem Wasser und dem Ton befand« (d.h. noch nicht geschaffen war).
Nun, diese übersinnliche prophetische Wesenheit ist eine Zwei-Einheit. Sie besitzt zwei »Dimensionen«: eine äußere oder exoterische und eine innere oder esoterische. Die initiatorische Aufgabe der Imāme (das walāyat) ist die Esoterik dieser ewigen Prophetie (nobowwat); sie ist die Verwirklichung all ihrer geheimen Vollkommenheiten vor aller Zeit und ihre Fortdauer durch alle Zeiten hindurch. Ebenso wie ihre exoterische Dimension ihre endgültige irdische Manifestation in Gestalt des Propheten Mohammed sein wird, ebenso wird auch ihre esoterische »Dimension« ihre irdische Manifestation haben. Diese nimmt in der Person jenes Menschen Gestalt an, der dem Propheten am nächsten steht: in Alī ibn Abī Tālib, dem ersten Imām. Deswegen konnte dieser sagen: »Ich war bereits ein walī (ein Eingeweihter), als Adam (der irdische Adam) sich noch zwischen dem Wasser und dem Ton befand«.
Zwischen dem Propheten und dem Imām existiert, vor aller irdischen Verwandtschaft, eine spirituelle Beziehung, die in ihrer Präexistenz gründet: »Ich und Alī sind ein und dasselbe Licht«. »Ich war mit Alī ein und dasselbe Licht, vierzehntausend Jahre bevor Gott den irdischen Adam schuf«. Der Prophet deutet im selben hadīth auch an, wie dieses einige Licht von einem Propheten zum nächsten übergegangen ist, bis es sich in zwei Samen aufgespalten und in ihnen beiden manifestiert hat; und er schließt, an den Imām gewandt: »Wenn ich glauben würde, dass eine Gruppe aus meiner Gemeinschaft dir etwas antun könnte, das dem, was die Christen Jesus angetan haben, vergleichbar ist, würde ich über dich Dinge sagen, die dazu führten, dass man den Staub unter deinen Füßen aufsammeln würde, um darin ein Heilmittel zu suchen. Aber es genügt, dass du ein Teil von mir bist, und ich ein Teil von dir. Dein Erbe soll auch mein Erbe sein, weil du für mich bist, was Aron für Moses war, mit dem einzigen Unterschied, dass es nach mir keinen Propheten mehr geben wird.« Und es gibt noch ein weiteres eindeutiges Zeugnis: »Alī wurde mit jedem Propheten insgeheim mitgesandt; mit mir ist er offenbar geworden«. Dieses letzte Wort lässt nichts zu wünschen übrig. Das mohammedanische Imāmat, die Esoterik des Islam, ist eo ipso die Zusammenfassung der Esoterik aller vorangegangenen prophetischen Religionen.
Durch die wenigen kurzen Andeutungen wird klar, worum es den schīitischen Denkern bei ihren Betrachtungen über die Prophetie und die initiatorische Aufgabe der Imāme (das walāyat) ging. Es gibt eine absolute, allgemeine oder universelle Prophetie, und es gibt eine begrenzte oder partikuläre Prophetie. Jene ist die Prophetie der absoluten, vollständigen und erstursprünglichen mohammedanischen Wesenheit, die der Ewigkeit vorausgeht und nach ihr bestehen wird. Diese besteht aus den partiellen Realitäten der ersteren, d.h. den partikulären Epiphanien der Prophetie, in deren Besitz sich die ganze Reihe der Nabī oder Propheten befand, deren Siegel der Prophet des Islam war, der die Epiphanie der ewigen mohammedanischen Prophetie (Haqīqat mohammadīya) darstellt. Dasselbe gilt von der Esoterik (walāyat) der ewigen Prophetie: es gibt eine absolute und allgemeine Esoterik und eine begrenzte oder partikuläre Esoterik. Ebenso wie die Prophetie jedes einzelnen vorangegangenen Propheten eine teilweise Epiphanie der absoluten Prophetie war, ebenso ist die Esoterik aller Freunde oder Menschen Gottes (Awliyā) eine teilweise Epiphanie der absoluten Esoterik, deren Siegel der erste Imām ist, während das Siegel der mohammedanischen Esoterik der Mahdi, der zwölfte oder verborgene Imām ist. Das mohammedanische Imāmat, d.h. das Pleroma der Zwölf, ist so das Siegel der Initiation (des walāyats). Die Gesamtheit der Nabī verhält sich zum Siegel der Prophetie wie dieses sich zum Siegel der Gottesfreunde verhält.
Von daher lässt sich verstehen, dass das Wesen des Siegels der Propheten und des Siegels der Gottesfreunde ein und dasselbe ist, aber das eine Mal nach seiner exoterischen Seite betrachtet (Prophetie), das andere Mal nach seiner esoterischen Seite (walāyat). Die heutige Situation ist die folgende. Jedermann in der islamischen Welt bekennt, dass der Zyklus der Prophetie mit Mohammed, dem Siegel der Propheten, beendet wurde. Aber für den Schīismus hat mit der Beendigung des Zyklus der Prophetie der Zyklus der spirituellen Initiation (des walāyats) begonnen. Tatsächlich kam laut den schīitischen Autoren lediglich die »gesetzgebende Prophetie« zum Abschluss. Was die Prophetie im allgemeinen anbelangt, so deutet dieser Begriff auf den spirituellen Status jener, die sich vor dem Islam als Nabī (Propheten) bezeichneten, und die man seit seinem Erscheinen Freunde Gottes (Awliyā) nennt; der Name hat sich geändert, die Sache ist die gleiche geblieben. Dies ist die für den schīitischen Islam charakteristische Auffassung, aus dem er die Erwartung einer Zukunft schöpft, für die er offen bleibt. Diese Vorstellungen fußen auf einer Klassifikation der Propheten, die ihrerseits in einer prophetischen Erkenntnislehre verankert ist, die von den Imāmen gelehrt wurde. Sie legt eine Rangordnung zwischen Wali, Nabī und Rasūl fest, die sich bei der Zwölfer-Schīa und dem Ismaīlismus unterscheidet.
Bei der Prophetie (nobbowat) werden zwei Formen unterschieden: eine lehrende, gnostische Prophetie und eine gesetzgebende Prophetie. Letztere ist das risālat, die prophetische Mission des Gesandten (Rasūl), dessen Aufgabe darin besteht, den Menschen die Scharī’a zu offenbaren, das göttliche Gesetz, »das himmlische Buch, das in sein Herz hinabgestiegen ist«. Es gab viele gesandte Propheten, aber es gab nur sechs große Propheten, deren Aufgabe die Verkündigung einer Scharī’a war: Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus, Mohammed – oder in bestimmten Traditionen, die David und seinen Psalter hinzurechnen, sieben.
Die durch diese Prophetologie umrissene Situation kommt in der Definition des Zusammenhangs zwischen der Initiation, der Prophetie und der Mission des Gesandten zum Ausdruck und damit auch im Zusammenhang zwischen der Person des Eingeweihten, des Propheten und des gesetzgebenden Gesandten. Wenn man die drei Begriffe durch drei konzentrische Kreise darstellt, dann bildet der innerste Kreis die Initiation (das walāyat) ab, weil sie die Esoterik der Prophetie ist; diese wird durch den mittleren Kreis abgebildet, weil sie die Esoterik oder der innere Sinn der Mission des Gesandten ist; diesen wiederum bildet der äußerste Kreis ab. Jeder gesetzgebende Gesandte ist sowohl Prophet (Nabī) als auch Initiator (walī). Jeder Prophet (nabī) ist auch Initiator (walī). Der Initiator kann ausschließlich Initiator (walī) sein. Paradoxerweise folgt daraus, dass die Ordnung des Vorrangs zwischen den Funktionen umgekehrt ist, als die zwischen den Personen. Die schīitischen Autoren erklären diese Tatsache wie folgt.
Die Initiation – das Herz und die Esoterik – ist bedeutender als die exoterische Erscheinung, weil die letztere ihrer bedarf: ebenso setzt die Mission des Gesandten den spirituellen Status des Nabī voraus, dieser wiederum setzt die Initiation (das walāyat) voraus. Je näher etwas der inneren Realität steht, um so mehr genügt es sich selbst und um so größer ist seine Nähe zu Gott, die von der inneren Realität eines Wesens abhängt. Daraus folgt, dass das walāyat, die Funktion des Gottesfreundes, des spirituell Initiierten und Initiators, bedeutender ist als die Funktion des Nabī, und diese wiederum bedeutender als die Funktion des Gesandten (der äußeren Realität des Glaubens). Die schīitischen Autoren sagen: die Gesandtschaft ist wie die Schale, das Prophetentum wie die Mandel und die Initiation wie das Öl dieser Mandel. Mit anderen Worten: Die Mission des Gesandten ohne den Status des Propheten, ist wie die Scharī’a, die positive Religion, die ihres mystischen Pfades beraubt ist, wie die Exoterik ohne Esoterik, wie die leere Schale ohne Mandel. Und der Prophet ohne die Initiation ist wie der mystische Pfad, der seiner spirituellen Verwirklichung beraubt ist, wie eine Esoterik ohne die Esoterik der Esoterik, wie die Mandel ohne das Öl. In der Erkenntnislehre werden wir einer analogen Beziehung zwischen drei verschiedenen Erkenntnisarten begegnen, die zu diesen drei Gestalten des spirituellen Lebens in Beziehung stehen.
Während sie also die Überlegenheit der Initiation betonen, behaupten die Zwölfer-Schiiten trotzdem nicht, dass die Person des Initiierten jener des Propheten und des Gesandten überlegen sei. Im Propheten des Islam nämlich, der alle drei Funktionen in seiner Person zusammenfasst, nimmt die Initiation die hervorragendste Stelle ein, weil sie die Quelle, das Fundament und die Stütze der beiden anderen ist. Daher das offensichtliche Paradox: Obwohl die Initiation den Vorrang genießt, hat doch im konkreten Fall der gesandte Prophet den Vorrang, weil er alle drei Funktionen in sich vereint, weil er Initiator-Prophet-Gesandter ist. An dieser Stelle unterscheiden sich, wie Haydar Amoli bemerkt, der Zwölfer-Schīismus und der Ismaīlismus, genauer gesagt, der reformierte Ismaīlismus von Alamūt, der vielleicht nichts anderes tat, als dass er die tiefere Intention des ursprünglichen Schīismus wiederherstellte. Die Ismaīliten von Alamūt waren rigoros: Weil die Initiation der Funktion des gesandten Propheten überlegen ist, weil die Initiation des Imām auf die Esoterik hingeordnet ist, so wie die Prophetie des Gesandten (des Gesetzgebers) auf die Exoterik, weil schließlich die Esoterik der Exoterik überlegen ist, muss man auf die grundlegende Überlegenheit des Imām gegenüber dem Propheten schließen, und auf die Unabhängigkeit der Esoterik von der Exoterik. Umgekehrt bemüht sich die Zwölfer-Schīa darum, ein Gleichgewicht zu wahren; jede Exoterik, die sich nicht auf eine Esoterik stützt, ist in der Tat Unglaube, aber umgekehrt ist jede Esoterik, die nicht zugleich die Existenz der Exoterik bejaht, Zügellosigkeit. Wie man sieht: Je nachdem, ob man die Auffassung der Imāmiten (der Zwölfer-Schīa) oder jene der Ismaīliten (der Siebener-Schīa) akzeptiert, wird die Beziehung zwischen Prophetologie und Imāmologie eine unterschiedlich Bedeutung annehmen.