Zuletzt aktualisiert am 11. Dezember 2015.
Der doppelte Aspekt der ewigen mohammedanischen Wesenheit zieht die Idee des Imām nach sich und schließt unter anderem ein, dass auf den Zyklus der Prophetie ein Zyklus der Initiation folgt. Die Imāme betonen, dass es nach dem Erscheinen des gesetzgebenden Propheten eines »Pflegers oder Wahrers des Buches« bedarf. Dieses Thema gibt Anlass zu sehr lebendigen Dialogen in ihrem Umkreis, insbesondere zu Diskussionen mit gewissen Mu’taziliten, bei denen der junge Hischām ibn al-Hakam herausragt, ein vom sechsten Imām bevorzugter Schüler. Die These, die man den Gegnern entgegenhält, ist, dass der Text des Koran alleine nicht ausreicht, weil es verborgene Bedeutungen, esoterische Tiefen und offensichtliche Widersprüche gebe. Die wirkliche Wissenschaft dieses Buches geht über die Möglichkeiten einer gewöhnlichen Philosophie hinaus. Man muss den Text auf jene Wirklichkeitsebene zurückführen (ta’wīl), auf der sich erst sein wahrer Sinn erschließt. Das ist nicht die Aufgabe der Dialektik, des Kalām; man vermag den wahren Sinn nicht mit Hilfe von Syllogismen zu erfassen. Dazu bedarf es eines Menschen, der zugleich spiritueller Erbe und inspiriert ist, der die Esoterik und die Exoterik besitzt. Dieser ist der Zeuge (Hoddschat) Gottes, der Pfleger des Buches, der Imām oder spirituelle Führer. Das Denken konzentriert sich daher darauf, zu untersuchen, was das Wesen des Imām in den zwölf Imāmen ausmacht.
Mollā Sadrā, der die Texte der Imāme zu dieser Frage kommentiert, verdeutlicht die philosophischen Voraussetzungen: Was keine Ursache hat, kann nicht erkannt werden; das Wesen kann nicht definiert werden; aus irgendetwas anderem vermag kein Beweis geschöpft zu werden, weil es selbst der Beweis ist. Man kann Gott nur durch Gott erkennen, nicht aus den Geschöpfen, wie es die Theologen des Kalām versuchen, und auch nicht aus dem Kontingenten, wie es die Philosophen versuchen. Zum höchsten Wissen gelangt man nur durch göttliche Offenbarung oder Inspiration. Nachdem der Prophet, der Zeuge Gottes erschienen ist, kann die Erde unmöglich ohne Zeugen bleiben, der ihnen an seiner Stelle antwortet, damit diese sich ihm nähern können. Er kann entweder öffentlich bekannt sein, oder aber von der Menge ignoriert werden, weil er sich hinter einem Schleier des inkognito verbirgt. Er ist der unverzichtbare Führer zu den verborgenen Geheimnissen des Buches, die eines göttlichen Lichtes, einer inneren Schau, eines geistigen Hörens bedürfen, um enthüllt zu werden. Die Imāmologie ist ein wesentliches Postulat der prophetischen Philosophie. Die erste Frage ist daher: Wer vermag nach dem Propheten die Rolle des Pflegers des Buches zu übernehmen?
Die Zeugen sind sich einig. Einer der berühmtesten Gefährten des Propheten, Abdollah ibn Abbas, berichtet vom tiefen Eindruck, den Alī in jedem hinterlassen hat, als er die Fātiha (die erste Sure des Koran) kommentierte. Und es gibt das Zeugnis des ersten Imām: »Kein einziger Vers des Koran ist zum Gesandten Gottes herabgestiegen, ohne dass er ihn mir anschließend nicht diktiert hätte und ich ihn rezitieren musste. Ich habe sie alle von Hand geschrieben, und er lehrte mich die wörtliche Auslegung ebenso wie die spirituelle Deutung, die aufhebenden und die aufgehobenen Verse, das Sichere und das Zweideutige, das Besondere und das Allgemeine. Und er betete zu Gott, mein Verständnis und meine Gedächtniskraft zu steigern. Anschließend legte er seine Hand auf meine Brust und bat Gott, mein Herz mit Weisheit und Verständnis, mit Urteilskraft und Licht zu erfüllen«.
Es ist genau dieses Motiv des Herzens, auf das unsere Texte sich beziehen, um die Rolle des Imām verständlich zu machen: er ist für die spirituelle Gemeinschaft, was das Herz für den menschlichen Organismus ist. Der Vergleich kann als Stütze für die Verinnerlichung der Imāmologie dienen. Wenn z.B. Mollā Sadrā von »jener himmlischen Realität« spricht, »die das Imāmat im Menschen darstellt«, deutet er an, wie die Imāmologie für die mystische Erfahrung fruchtbar wird. Ebenso wohnt der verborgene Imām bis zum Tage der Auferstehung im Herzen seiner Schiiten. Von der tiefen Bedeutung der Verborgenheit, dem göttlichen inkognito, das für eine prophetische Philosophie zentral ist, wird noch zu sprechen sein, bewahrt sie doch das Göttliche davor, zum Objekt zu werden oder zum Gegenstand gesellschaftlicher Interessenkämpfe. Die Autorität des Imām ist etwas völlig anderes als das dogmatische Lehramt, das eine Kirche lenkt. Die Imāme sind in den verborgenen Sinn der Offenbarungen eingeweiht; sie sind die Erben, die über das Erbe zugunsten jener verfügen, die imstande sind, es aufzunehmen. Ein zentraler Begriff der Gnoseologie ist jener des ’ilm irthī, der Wissenschaft als spirituelles Erbe. Daher kann man den Schīismus nicht als eine »autoritative Religion« bezeichnen, so wie eine christliche Kirche. In Wahrheit haben die Imāme ihre irdische Aufgabe erfüllt; sie weilen nicht mehr physisch in dieser Welt. Ihre fortdauernde Gegenwart ist rein geistig; sie ist außerdem eine »spirituelle Autorität« im wahren Sinne des Wortes. Ihre Lehre lebt fort und sie ist die Grundlage jeder Hermeneutik des Buches.
Der erste dieser Imāme wird als der Begründer des Imāmats betrachtet. Aber das schīitische Denken vermag ihn nicht von den elf anderen zu trennen, die mit ihm zusammen das Pleroma des Imāmats bilden, weil das Gesetz der Zwölfzahl, dieser symbolischen Chiffre der Totalität, durch alle Perioden der Prophetie hindurch gültig ist (es gibt diverse Analogien: die zwölf Zeichen des Tierkreises, die zwölf Quellen, die aus dem Felsen hervorsprudelten, den Moses berührte usw.). Jedem der zwölf großen Propheten, der eine Scharī’a verkündet hat, standen seine zwölf Imāme zur Seite. Der Prophet selbst hat gesagt: »Dass Gott sich nach meinem Hinscheiden Alīs und der Erben, die auf mich folgen, annehmen wird, weil sie die Führer sind. Gott hat ihnen mein Verständnis und meine Wissenschaft gegeben, was bedeutet, dass sie den selben Rang einnehmen wie ich, weil sie meiner Nachfolge und des Imāmats würdig sind.« Und Haydar Amoli sagt: »Alle Imāme sind ein und dasselbe Licht, ein und dasselbe Wesen, das sich durch zwölf Personen manifestiert. Was für einen von ihnen gilt, gilt für alle.«
Diese Vorstellungen fußen auf einer Metaphysik der Imāmologie, die eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen hat, sowohl in der ismailischen Theosophie, als auch im Zwölfer-Schīismus, insbesondere aber in der Schule der Schaichi. Die Grundlagen dieser Metaphysik sind in den Texten der Imāme enthalten. Um ihre Bedeutung zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass sich die Imāmologie vor die selben Probleme gestellt sieht, wie die Christologie, aber stets nach Lösungen gesucht hat, die sich gnostischen Auffassungen annäherten und vom offiziellen Christentum verworfen wurden. Wenn von der Verbindung des Göttlichen und des Menschlichen im Imām gesprochen wird, dann handelt es sich nie um etwas, das der hypostatischen Union zweier Naturen (der göttlichen und der menschlichen in Christus) vergleichbar wäre. Die Imāme sind göttliche Epiphanien, Theophanien. Die spezifischen Ausdrücke (zohūr, mazhar) verweisen auf das Phänomen des Spiegels: das Bild, das sich im Spiegel zeigt, ist nicht in der Substanz des Spiegels inkarniert oder ihm auf andere Art immanent. Als göttliche Epiphanien verstanden, sind die Imāme die Namen Gottes, und als solche schützen sie vor der doppelten Gefahr des Anthropomorphismus und des Agnostizismus. Ihre Präexistenz als Wesen des Lichtes wurde bereits vom vierten Imām gelehrt: »Gott hat uns aus dem Licht seiner Erhabenheit geschaffen und aus dem Ton (unseres Lichtes) hat er die Seelen unserer Schiiten geschaffen.« Aus diesem Grund standen ihre Namen in flammenden Lettern auf der smaragdenen Tafel geschrieben, die sich im Besitz Fātimas befand, von der die Reihe der Imāme ausgegangen ist.
Ihre Eigenschaften kann man nur verstehen, wenn man die Imāme als Lichtwesen, als Wesen begreift, die bereits vor der Erschaffung des Kosmos existierten. Diese Eigenschaften haben sie selbst bezeugt, während sie auf Erden lebten. Kolaynī hat eine Menge solcher Zeugnisse in seiner umfangreichen Sammlung überliefert. Auch die einzelnen Stufen des berühmten Verses vom Licht (24:35) werden auf die vierzehn äußerst Reinen (den Propheten, Fātima und die zwölf Imāme) bezogen. Sie sind die einzigen »Unbefleckten«, die vor jedem Schmutz gefeit sind. Der fünfte Imām erklärt: »Das Licht des Imām im Herzen des Gläubigen ist strahlender als das Licht der Sonne, das den Tag erhellt.« In der Tat sind es die Imāme, die das Herz des Gläubigen erleuchten, während die Herzen derjenigen, vor denen Gott dieses Licht verhüllt, verfinstert sind. Die Imāme sind die Säulen der Erde, die Zeichen, von denen Gott in seinem Buch spricht, jene, denen die Weisheit eingegossen wird. Sie sind die Kalifen (Stellvertreter) Gottes auf Erden, die Schwellen über die man zu ihm eintritt, die Auserwählten und die Erben der Propheten. Der Koran führt zu ihnen (als theophane Gestalten, sind die Imāme nicht mehr bloß die Führer zum verborgenen Sinn, sondern sie sind selbst dieser esoterische Sinn). Sie sind das Schatzhaus der Gnosis, der Baum der Prophetie, der Ort, an dem die Engel erscheinen, die Erben der göttlichen Weisheit. Sie tragen die Gesamtheit der Bücher in sich, die von Gott herabgestiegen sind. Sie kennen den höchsten Namen Gottes. Sie entsprechen der Arche des Bundes bei den Israeliten. Auf ihren Abstieg zur Erde spielt der Abstieg des Geistes und der Engel in der Nacht des Schicksals an (Sure 97). Sie kennen alle Geheimnisse, welche die Engel den Propheten und den Gesandten mitgeteilt haben. Ihr Wissen umfasst alle Zeitalter. Sie sind die mohaddathūn, »jene, die mit den Engeln geredet haben«. Weil sie das Licht im Herzen der Gläubigen sind, bedeutet der berühmte Vers »wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn«, dass er »seinen Imām kennt« (das heißt das Antlitz, das Gott ihm zuwendet). Umgekehrt stirbt jeder, der seinen Imām nicht kennt, den Tod der Unwissenden, d.h. jener, die sich selbst nicht kennen.
All diese Aussagen gipfeln in der berühmten »Predigt der großen Erklärung«, die dem ersten Imām zugeschrieben wird, in der sich in Wahrheit der ewige Imām ausspricht: »Ich bin das Zeichen des Allmächtigen. Ich bin die Gnosis seiner Geheimnisse. Ich bin die Schwelle der Schwellen. Ich bin der Vertraute des Glanzes der göttlichen Herrlichkeit. Ich bin der Erste und der Letzte, der Offenbare und der Verborgene. Ich bin das Antlitz Gottes. Ich bin der Spiegel Gottes, der höchste Kalām, die geheime Schreibtafel. Ich bin jener, der im Evangelium Elias genannt wird. Ich bin jener, der das Geheimnis des Gesandten Gottes bewahrt.« Die Predigt geht in diesem Stil weiter, und fügt 70 weitere, ebenso außerordentliche Prädikate hinzu. Aus welcher Zeit sie auch stammt, sie zeigt uns das Weiterwirken des gnostischen Motivs des himmlischen Anthropos oder der »ewigen mohammedanischen Wesenheit« in der schīitischen Imāmologie. Die Aussagen sind aufgrund des bereits Ausgeführten vollkommen verständlich. Weil ihre Initiation die »Esoterik der Prophetie« ist, sind die Imāme am Ende auch der Schlüssel aller koranischen Sigeln, d.h. jener geheimnisvollen Zeichen, die den Titeln oder dem Beginn mancher Suren voranstehen.
Und weil sie alle ein Wesen, ein Licht sind, gilt, was vom Imām im allgemeinen gesagt wird, von jedem einzelnen. Auf historischer Ebene gehören sie alle dem 7.-8. Jahrhundert an und folgen in dieser Reihe aufeinander: 1. Alī, das Oberhaupt der Gläubigen (gest. 661), 2. al-Hasan al-Modschtabā (gest. 669), 3. al-Hosayn Sayyed al-schohadā’ (gest. 680), 4. ’Alī Zaynol-’Abidīn (gest. 714), 5. Mohammad Bāqir (gest. 733), 6. Dschafar al-Sādiq (gest. 765), 7. Mūsā al-Kāzim (gest. 799), 8. ’Alī Rezā (gest. 818), 9. Mohammad Dschawād al-Taqī (gest. 835), 10. Alī al-Naqī (gest. 868), 11. al-Hasan al-’Askarī (gest. 874), 12. Mohammad al-Mahdī, al-Qā’im, al-Hoddschat.
Sie alle haben wiederholt beteuert, sie seien die Erben der Weisheit des Gesandten Gottes und der vorangehenden Propheten. Die Gnoseologie wird die Bedeutung dieses Erbenstatus näher erläutern. Jedenfalls können wir aufgrund des Gesagten bereits ein Vorurteil oder Missverständnis entkräften. Niemals hat die leibliche Abstammung vom Propheten ausgereicht, um jemanden zum Imām zu machen (dazu bedarf es der Einsetzung und der vollkommenen Reinheit). Nicht aus ihrer irdischen Verwandtschaft mit dem Propheten resultiert ihr Imāmat. Im Gegenteil: ihre irdische Verwandtschaft ist das Zeichen ihrer pleromatischen Einheit mit dem Propheten.
Der Begriff der Initiation (des walāyats) ist so sehr im Schīismus verwurzelt, dass er nicht ohne Verlust von ihm losgelöst werden kann. Die gesamte Geschichte des nicht-schīitischen Sufismus beruht auf einer solchen Loslösung. Die Initiation verliert dadurch ihre Grundlage, ihre Quelle, ihren Kontext; man überträgt auf den Propheten, was sich auf den Imām bezieht. Ist die Initiation erst einmal von der Imāmologie getrennt, kommt es zu einer weiteren gravierenden Konsequenz. Als Erben der Propheten und des Propheten dürfen dann auch die vier »Imāme« gelten, die im sunnitischen Islam die vier Rechtsschulen gegründet haben (Hanbalīsmus, Hanafīsmus, Mālikismus, Schāfi’ismus). Das organische Band, die lebendige Polarität von Scharī’a und Esoterik ist zerstört, und dadurch verfestigt sich die Gesetzesreligion, die rein juristische Interpretation des Islam. Hier, an ihrer Quelle, kann man eine höchst charakteristische Laisierung und Sozialisierung beobachten. Die von der äußeren Lehre zurückgewiesene Esoterik: das ist die Situation der Philosophen und Mystiker, die durch die falsche Tür gegangen sind und sich auf einem Weg fortbewegten, der sie zunehmend kompromittiert. Dieses Phänomen illustrieren deutlich die Proteste jener Schiiten (allen voran Haydar Amoli), die die erste Ursache dieser Reduktion des Islam auf eine Gesetzesreligion sehr wohl erkennen, und den »vier Imāmen« daher das Recht absprechen, sich als Erben des Propheten zu bezeichnen. Erstens, weil ihre vollkommen exoterische Wissenschaft nichts mehr von einem spirituellen Erbe an sich hat. Zweitens, weil die Initiation die Imāme zu Erben der Esoterik macht. Die schīitische Gnoseologie lässt uns verstehen, was hier auf dem Spiel steht.
Dieser Text stellt eine Fortsetzung der erstmaligen deutschen Übersetzung aus Corbins »Geschichte der islamischen Philosophie« (1964) dar.
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