Die achte Klimazone der Erde

Zuletzt aktualisiert am 14. Dezember 2015.

Lucas Cranach, Hurqalya

Fortsetzung von »Fatima, die Tochter des Propheten«

Der Historiker Tabari erzählt im neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung laut Corbin von einer geheimnisvollen Region, der »Erde der smaragdenen Städte«. Zwei Städte gibt es dort: Jabarsa und Jabalqa, zu denen die schiitische Theosophie eine dritte Stadt hinzufügt: Hurqalya. Hurqalya bezeichnet aber auch die mystische Region als Ganzes.

Tabari sagt, die beiden Städte lägen unmittelbar jenseits des Berges Qaf. Wie das himmlische Jerusalem, sind auch diese beiden smaragdenen Städte nach dem Muster der Vierheit, dem Urbild der Vollkommenheit, aufgebaut. Ihre Grundfläche bildet ein Quadrat, dessen Seiten je 12.000 Parasang betragen. Ihre Bewohner wissen nichts von der Existenz Adams, auch nichts von seinem Versucher Iblis – sie sind Präadamiten. Sie ernähren sich nur von Pflanzen und benötigen keine Kleider, denn ihr Glaube macht sie den Engeln gleich. Da sie nicht in zwei Geschlechter getrennt sind, haben sie kein Verlangen, Nachkommen zu zeugen. Das Licht, in dem sie leben, strahlt vom Berg Qaf aus, aber die Mineralien des Bodens und die Mauern der Stadt strahlen – wie das archetypische Paradies Yimas – ebenfalls Licht aus.

Tiefer betrachtet, gibt es eine Identität zwischen diesen beiden Städten und dem kosmischen Berg. Vom Berg Qaf heißt es, in ihm gebe es weder Sonne, Mond, noch Sterne. Es ist eine Eigentümlichkeit der neunten Sphäre im ptolemäischen System, die alle anderen Sphären einschließt und diese auf ihre tägliche Umlaufbahn sendet, dass es in ihr keinerlei Sternkonstellationen gibt. Andere Erzählungen berichten, der Berg Qaf umschließe unser Universum und bestehe vollständig aus Smaragden, deren Spiegelung den Himmel grün erscheinen lasse. Es heißt auch, er sei ein Fels, der den Schlussstein des Himmelsgewölbes bilde, der ganz aus Smaragden bestehe und einen Widerschein auf den Berg Qaf werfe. Was die smaragdene Vision hier erblickt, ist der kosmische Berg, der unsere irdische Wohnstätte überwölbt und umschließt. Von diesem kosmischen Berg heißt es, er bilde den Horizont des heiligen Iran, der dort liege, wo die Chinvatbrücke beginne, und wer ihn besteige, trete in die Welt des unendlichen Lichtes ein.

Ein arabischer Geograph, Yaqut, behauptet, der Berg Qaf sei früher Elburz genannt worden. Er ist der Mutterberg aller Berge; sie sind alle durch interirdische Adern mit ihm verbunden. Und er ist auch jener Berg, der von den Pilgern des Geistes erklommen wird, die jenen smaragdenen Fels erreichen wollen, der ihnen wie ein durchsichtiger mystischer Sinai entgegenleuchtet. Und dort, am Beginn der Chinvatbrücke, findet auch das Treffen jener archetypischen Gestalten statt, aus deren Begegnung das himmlische Ich geboren wird. Der Berg Qaf bezeichnet nach all dem die Grenze zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. Der Pilger, der zu jenen mystischen Städten gelangen will, muss die Welt der Sinne und der gesellschaftlichen Normen hinter sich lassen, er muss die Prüfungen bestehen, die ihn in der langen Nacht erwarten, die zwischen der irdischen Welt und der Welt der smaragdenen Städte ausgebreitet ist.

Der mystische Berg Qaf ist ein Urbild, das auf irdische Berge und Landschaften projiziert wurde, in denen sich Wiederholungen jener mythischen Ereignisse abspielten, die ursprünglich den kosmischen Berg zum Schauplatz hatten. Als archetypisches Bild bezeichnet er die Grenze der sinnlichen Welt und bleibt für den Menschen unerreichbar. Um ihn zu erreichen, müsste man vier Monate in der Finsternis wandern. Aus diesem Grund ist die Wanderung Alexanders in Avicennas Erzählung über Hayy ibn Yaqzan auch die Wanderung eines archetypischen, spirituellen Helden. Jenseits von Orient und Okzident beginnt eine Region, die noch viele andere Städte und Landschaften der Seele enthält. Wer in diese Region vordringt, erlangt Zugang zur mittleren Welt der himmlischen Seelen, die die Sphären bewegen, deren Bewusstsein aus reinen Imaginationen besteht, die nicht leiblichen Sinnen entstammen. Es ist die »achte Klimaregion«, in die man, wie in den »heiligen Iran«, nicht mit gewöhnlichen Sinnen eintritt, sondern allein dadurch, dass man die Quelle des Lebens, das Zentrum des Seelenkosmos durchschreitet.

Die Kosmologie Avicennas gibt über den Aufbau dieser Region Aufschluss. Avicenna unterteilt die Summe alles Denkbaren in einen kosmischen Orient und einen kosmischen Okzident. Der kosmische Orient ist aber nicht im geographischen Osten, sondern im Norden zu suchen. Der kosmische Orient ist der Himmelspol, das Zentrum aller denkbaren Orientierung. Er muss im kosmischen Norden gesucht werden, dort, wo die »Erde des Lichtes« liegt.

Der »Okzident« Avicennas repräsentiert die sinnlich sichtbare Welt und ist seinerseits zweigeteilt: in die Region der sublunaren stofflichen Welt, die Entstehen und Vergehen unterworfen ist, und die Region der himmlischen Stofflichkeit, der Sphären, die aus einer ätherischen Substanz bestehen, die durchsichtig und unzerstörbar ist, aber immer noch mit der physischen Welt in Verbindung steht.

Der »Orient« dagegen beginnt dort, wo die Region der Seele anfängt, am Himmelspol, am smaragdenen Felsen. Dort geht dem Pilger die spirituelle Sonne auf und ihr Aufgang offenbart dem Suchenden ein völlig neues Universum. Dieses Universum wird von unterschiedlichen Seelen bewohnt: (1) von Seelen, die zeitweise die Körper von Menschen bewohnen, (2) von Seelen, deren Aufgabe darin besteht, durch ihre Liebe und ihr Begehren die himmlischen Sphären zu bewegen (»himmlischen Engelwesen«), und schließlich (3) den Intelligenzen, den cherubischen oder rein geistigen Engeln, auf die sich die Liebe und das Begehren der untergeordneten Engel richtet.

Die Kosmologie Avicennas unterscheidet sich von jener des Averroes dadurch, dass der erstere im Gegensatz zum letzteren diese Welt der himmlischen Seelen kennt. Die Menschenseele ist ein Abbild dieser Seelen, aber sie verfügt, im Unterschied zu jenen, über leibliche Sinne. Die himmlischen Seelen dagegen besitzen die Fähigkeit der »aktiven Imagination«. Diese Fähigkeit ist bei ihnen so vollkommen ausgebildet, dass sie, unabhängig von den trügerischen Sinnen des Leibes, unzweifelhaft wahr ist und in ihrer Wirksamkeit niemals nachlässt. Die Bilder, die diese Engel in ihrer Imagination vom Universum hervorrufen, entsprechen den Bildern jener menschlichen Imagination, die vollkommen gereinigt und ausgereift ist, und sich zur »imaginatio vera«, zur »wahren Imagination« entwickelt hat.

Was der Seele in diesen Bildern erscheint, ist – wie im Fall des mazdäischen Bildes der Erde –, ihr eigenes Bild. Die Erde als Bild der Seele, ist die Erscheinung einer reinen Erde, in der sich das Bild spiegelt, das die Seele gestaltet hat. Das auf diese Weise imaginierte Universum ist frei von allen trügerischen Sinnesdaten, ein Ergebnis der reinen, transzendentalen Einbildungskraft oder Imagination und hängt allein von den dieser Einbildungskraft eingeborenen Kategorien ab, bei denen es sich a priori um archetypische Bilder handelt. Daher wird dieses Universum auch »alam al-mithal«, die Welt der archetypischen Bilder, der selbstständigen imaginativen Formen genannt. Sie heißt auch »Welt der Korrespondenzen und Symbole«, denn ihre Bilder symbolisieren sowohl die sinnliche Welt, die aus ihr hervorgeht, als auch die geistige Welt, aus der sie ihrerseits hervorgeht. Es ist eine gemischte Welt, die zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen vermittelt, sie ist das Zentrum der Welten, oder der »vermittelnde Orient«, zwischen dem »nahen Osten«, in dem die Seele zu ihrem Selbstbewusstsein gelangt, und dem »fernen Osten«, der aus dem Pleroma der cherubischen Intelligenzen besteht.

Dieser »mittlere Orient« ist das Königreich zwischen der bloßen Materie und dem reinen Geist. Ohne diese Zwischenwelt können die Ereignisse der visionären Geschichte, die Dramen der Seele, in denen sie sowohl Subjekt als auch Schauplatz ist, nicht verstanden werden. Alles, was die sinnlichen Wahrnehmungen nicht erfassen oder bewerten können, und dem der Skeptizismus des rationalen Bewusstsein ablehnend gegenübersteht: es wird verständlich, wenn es durch das Licht dieses »mittleren Orients« erleuchtet wird.

Die Voraussetzungen und Strukturen dieses mittleren Universums, dieser Welt der Archetypen, wurden bisher, wie Corbin mit Bedauern feststellt, noch nie einer näheren Untersuchung unterzogen. Aber sie ist aus der Weltsicht und inneren Erfahrung der iranischen spirituellen Traditionen nicht wegzudenken, weder aus der Theosophie Suhrawardis, der die Philosophie des Alten Persien wieder erneuerte, noch aus der mystischen Imamologie der iranischen Schiiten des 18. Jahrhunderts, die noch heute im Iran, insbesondere in Kirman, in dessen Südosten, gepflegt wird.

Die Tradition der Scheichs hält folgende Erzählungen bereit. Die sichtbare Welt besteht aus sieben Klimazonen. Daneben gibt es aber eine achte. Die alten Weisen spielten auf diese Zone an, wenn sie davon sprachen, es gebe außer der sichtbaren Welt noch eine andere, die sich zwar auch im Raum ausdehne, aber in einem ganz anderen Raum. Zwar gebe es Analogien zur sinnlichen Welt in jener anderen, aber ihre Realität sei nicht die der sinnlichen, sondern der »urbildlichen, imaginativen Ausdehnung«.

Von einem dreifältigen Universum wird berichtet: einem rein geistigen, einem sinnlichen und einem dritten, das zwischen diesen beiden liegt, und das mit gewöhnlichen Worten schwer zu beschreiben ist. Diese mittlere Welt bloß als »vorgestellt« zu bezeichnen, würde ihrem Realitätscharakter nicht gerecht. Sie verfügt über ihre eigenen Gegenstände, die der imaginativen Wahrnehmung zugänglich sind, ebenso wie das Sinnliche den Sinnen und das Geistige dem Denken. »Imaginativ« ist der adäquate Ausdruck, vorausgesetzt, dieser Begriff wird so verstanden, dass er sowohl das Subjekt bezeichnet, das imaginiert, als auch das Bild, das imaginiert wird. Ferner ist das Bild das Abbild des imaginierenden Subjektes: die imaginative Welt ist die Welt der Seele, die durch das imaginative Organ dieser Seele zum Bild wird, die sich auf diese Weise das Bild ihrer selbst offenbart. Das ist die Auffassung, die die iranischen Theosophen von der Imagination und ihrer Welt haben.

Die Welt der Imaginationen steht sowohl zur sinnlichen als auch zur geistigen Welt in einer symbolischen Beziehung, weil sie einerseits über Ausdehnung, Gestalt und Form verfügt, andererseits essentiell aus Licht besteht. In ihr wird das Geistige stofflich und das Stoffliche geistig. Sie ist die Grenze, welche die beiden anderen Welten voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet. Daher heißt sie in der Theosophie des Sufismus auch »Grenze, Zwischenwelt, Hülle«. Neben anderen Wundern finden sich in dieser Welt auch die drei Städte Jabalqa, Jabarsa und Hurqalya, die von unzählbaren Lebewesen bevölkert sind.

Aufgrund der Homologie, welche die drei Welten in symbolische Beziehung zueinander setzt, enthält die imaginative Welt auch eine Zweiheit, die dem zweifachen Okzident der physischen Welt entspricht: Jabarsa und Jabalqa entsprechen der physischen Welt der Elemente und Hurqalya den Himmeln der physischen Welt. Wie die Himmel der physischen Welt vermittelt Hurqalya ihrer eigenen Erde die Einflüsse ihrer eigenen Himmel. Die Welt von Hurqalya enthält also Himmel und Erde, aber nicht eine sichtbare Erde oder einen sichtbaren Himmel, sondern die Urbilder beider. Die Erde von Hurqalya enthält auch die Urbilder aller individuellen Wesen und körperlichen Dinge. Die »achte Klimazone«, diese subtile Welt mit vielerlei Abstufungen, die den körperlichen Sinnen unzugänglich ist, stellt den realen Schauplatz aller seelisch-geistigen Ereignisse dar (den Schauplatz von Visionen, Gnadengaben, Wunderwerken, die die Gesetze der Physik aufheben), die solange als bloße Einbildungen betrachtet werden, als man im Dualismus befangen bleibt, der nur Materie oder Geist, Mythos oder Geschichte gelten lässt.

Scheich Ahmad Ahsa’i beschreibt die Topografie dieser Welt von Hurqalya im Detail.  Sie beginnt auf der konvexen Oberfläche der neunten Sphäre – ein subtiler Hinweis, dass sie nicht mehr dem physischen Kosmos angehört, da es im ptolemäischen System jenseits der neunten Sphäre, der Sphäre aller Sphären, weder Richtung noch Orientierung noch Raum gibt. Die andere Erde, die jenseits des smaragdenen Felsens oder des mystischen Sinai liegt, wird von Scheich Ahsa’i auch auf dem »Gipfel der Zeit« angesiedelt oder am tiefsten Punkt der Ewigkeit. Sie ist auch aus diesem Grund eine Zwischenwelt, die Zeit und Ewigkeit, Raum und Überraum trennt und zugleich verbindet. Diese Verbindung ist – genauso wie die »geistige Stofflichkeit« und die »himmlische Erde« – Zeichen einer coincidentia oppositorum, einer Vereinigung des Sinnlichen und Geistigen im reinen Raum der Archetypen.

Scheich Sarkar Agha, der zur Zeit Corbins der spirituelle Leiter der iranischen Schule des esoterischen Islam war, sprach von einer Hierarchie des Seins, die sich in einer Kaskade von Universen entfaltet, die in unserer physischen Erde ihren Abschluss findet. Diese unsere Erde ist laut Sarkar Agha wie ein Grab, in dem alle anderen Universen verborgen sind und aus diesem Grab müssen sie wieder auferstehen. Aber diese Auferstehung kann nur begreifen, wer den Abstieg der ewigen Formen auf diese Erde richtig versteht. Ebensowenig, wie der »Astralleib der Sonne« auf die Erde herabsteigt, steigt das Geistige auf die Erde herab oder verkörpert sich im Irdischen, eine Vorstellung, die von der »orientalischen Philosophie« laut Agha zurückgewiesen wird.

Stattdessen ist für diese Philosophie die Idee der »Epiphanie« zentral, die der Begriff der Spiegelung zum Ausdruck bringt. Menschliche Seelen, die ewig sind, vermischen sich danach nicht mit der materiellen, der Zeit unterworfenen Welt. Es ist ihr Umriss, ihr Bild, ihr Schatten, der in diese Welt hineinprojiziert wird. Jede dieser Seelen besitzt ihre eigene Aktivität und ihre individuelle Vollkommenheit, die auf den Einfluss und die universelle Aktivität der Weltseele zurückgeht. Und diese universelle Aktivität der Weltseele wird als »Welt« bezeichnet, die unterhalb der Seele liegt, deren Wirkung sie ist, und oberhalb des irdischen Geschehens, das von den Sinnen wahrgenommen wird. Als absolute seelische Aktivität ist diese Welt ein »Zwischenraum«.

Verstehbar ist all dies am Beispiel des Spiegels. Die materielle Substanz oder die Form eines Spiegels bilden nicht die Materie oder die Form des Bildes, das sich in ihm spiegelt und wahrgenommen wird. Der Spiegel ist nur der besondere Ort, an dem dieses Bild erscheint. Ebenso ist auch die sinnliche Welt lediglich der epiphane Ort, an dem die Formen erscheinen, die von der absoluten Aktivität der Seele hervorgebracht werden. Es wäre ein Fehler, den Spiegel für den Inhalt und die Beschaffenheit der Bilder verantwortlich zu machen, die in ihm erscheinen. Der Spiegel kann verschwinden oder zerbrechen, aber die Formen der Seele, die weder dem Spiegel innewohnen, noch mit ihm ihre Substanz teilen, existieren fort.

Um die Bilder in ihrer absoluten Realität zu erfassen, unabhängig vom Sinnesspiegel, in dem sie erscheinen, ist es nötig, das »Auge der jenseitigen Welt auszubilden«, ein Organ, das seinerseits Teil der absoluten Aktivität der Seele ist und der »wahren Imagination« entspricht. Das bedeutet, Dinge nicht als abstrakte Ideen oder philosophische Konzepte, sondern in Gestalt individualisierter Bilder zu erfassen, wie sie von der Seele in der Meditation aufgrund der ihr innewohnenden Archetypen geschaffen werden. Daher gibt es in dieser mittleren Welt Himmel und Erde, Pflanzen, Tiere, Minerale, Städte und Wälder. Wenn wir auf unserer physischen Erde all diese Dinge mit unseren physischen Sinnen sehen, dann nur deswegen, weil sie alle Spiegelungen ihrer Urbilder in der Seelenwelt sind – deswegen gibt es laut Corbin auch keine reine Physik, da Physik immer die Spiegelung einer bestimmten seelischen Aktivität ist. Wer sich dieser Tatsache bewusst wird, beginnt die Welt der Seele zu sehen, und er beginnt alles zu sehen, wie es auf der Erde von Hurqalya, der Erde der smaragdenen Städte existiert. Es ist die »visio smaragdina«, die smaragdene Schau, in der die Welt der Seele sich erhebt und aufersteht. Daraus folgt, dass die »Realität« des gewöhnlichen Bewusstseins in Wahrheit Ausdruck der »visionären Realität« der Seele ist.

Nun ist auch verständlich, warum die mystische Erde von Hurqalya als Erde in ihrem absoluten Zustand bezeichnet wird. Sie ist unabhängig von den empirischen Erscheinungen, die den Sinnen zugänglich sind, sie ist ihre wahre Erscheinung, die allein durch die transzendentale Imagination wiederhergestellt werden kann. Auf dieser Erde existieren alle Realitäten in Gestalt von Bildern und diese Bilder sind a priori oder urbildlich, mit anderen Worten: sie laufen der Meditation der Seele, deren Welt sie sind, voraus, sie sind das Maß dieser Seele, verleihen ihr Struktur und Energie. Die Erweckung des Bewusstseins von Hurqalya kündigt eine neue Art von Beziehung der Seele zur Ausdehnung, zu allem Körperlichen und Räumlichen an, eine Beziehung, die nicht mehr eine solche von Behälter und Inhalt ist. Die neue Art, die Erde zu sehen, entspricht der neuen Art, wie die Seele sich selbst sieht, es ist eine Schau, in der die Seele sich selbst erblickt – sie kann daher auch zu ihrem Paradies oder zu ihrer Hölle werden.

Die achte Klimazone ist die Klimazone der Seele, von der auch schon Ibn Arabi spricht. Vom Lehm, aus dem Adam geschaffen wurde, sagt Ibn Arabi, sei etwas übrig geblieben. Aus diesem Überrest sei eine Erde geschaffen worden, deren arabischer Name als »Erde der wahren Realität« oder »Erde der wirklichen Wahrheit« übersetzt werden kann. Es ist eine gewaltige Erde, die Himmel und Erden, Paradiese und Höllen umfasst. Eine Vielzahl von Dingen, von denen zweifelsfrei bewiesen wurde, dass sie in unserer Welt unmöglich existieren können, existiert ebenso zweifelsfrei auf dieser Erde, die zu betrachten die Theosophen niemals müde werden. In der Gesamtheit der Universen dieser »Erde der Wahrheit« hat Gott für jede einzelne Seele ein Universum erschaffen, das dieser Seele entspricht. Wenn der Mystiker sich kontemplativ in dieses Universum versenkt, dann versenkt er sich in seine eigene Seele.

Das heißt, bei Ibn Arabi ist das Bild der Erde das Bild der Seele, das Bild, durch das die Seele sich in sich selbst, in ihre Kräfte und Fähigkeiten, ihre Hoffnungen und Ängste versenkt. Das ist der Grund, warum auf dieser »Erde der Wahrheit« alle Bilder, welche die Seele auf ihren Horizont projiziert, real existieren und für sie den einen oder anderen Zustand ihrer selbst offenbaren. Rationalistische Argumente richten gegen diese Tatsache nichts aus. Die »Erde der Wahrheit« ist die Erde, auf der die Symbole erblühen, die vom rationalen Verstand nicht durchdrungen werden können, der glaubt, er mache ein Symbol überflüssig oder bringe es zum Verschwinden, indem er es erklärt. Auf dieser »Erde der Wahrheit« existiert das gesamte verzauberte Universum der Seele als Realität, weil die Seele auf ihr zu Hause ist, und weil sie ihre eigenen Urbilder für sie durchsichtig macht, ohne sie überflüssig zu machen, da jederzeit durch sie ihr esoterischer Sinngehalt hindurchscheinen kann.

Ohne diese Bilder würde die Seele weder die Rituale, noch die Ikonographien, noch die Dramaturgien hervorbringen, deren Ort der Verwirklichung die Erde von Hurqalya ist. Daher ist diese Erde auch der Ort, auf den die Visionserzählungen verweisen oder an dem das Zwiegespräch des Gebets stattfindet: sie ist nicht der Ort mystischer Verneinung, der Abgründe der negativen Theologie, sondern die Stätte göttlicher Epiphanien, welche die Seele weder verflüchtigen, noch von der Anschauung ihrer selbst wegziehen, sondern sie vielmehr dabei unterstützen, bei sich selbst und in sich selbst zu bleiben. Jede denkbare Form, in die sich diese Epiphanien kleiden, jede Form, in der sich der Mensch selbst im Traum oder im Zwischenzustand zwischen Wachen und Schlafen oder in der aktiven Meditation erscheint, in dem die Sinne schlafen, während das Bewusstsein wacht – all diese Erscheinungsformen gehören zum Leib, zum Körper dieser »Erde der Wahrheit«. Aber man betritt diese Erde nicht mit einem Leib aus grober Stofflichkeit. Wenn der Adept dort mit seinen Augen irgendein geistiges Wesen erblickt, dann deswegen, weil er so weit ist, sich selbst in jene Form zu kleiden, die die Engel annehmen, wenn sie für die nichtsinnliche Wahrnehmung sichtbar werden.

Ein Satz des Philosophen Muhsin-Fayz aus dem siebzehnten Jahrhundert fasst all diese Motive zusammen: »Diese mittlere Welt nimmt im Makrokosmos denselben Ort ein, wie die Imagination im Mikrokosmos.« Und deswegen ist sie es, »durch die geistige Wesen leibliche Gestalt annehmen und Körper sich vergeistigen«. Diese mittlere Welt ist allein der aktiven Imagination zugänglich, die ihr eigenes Universum hervorbringt und sinnliche Wahrnehmungen in Symbole umwandelt. Durch diese Umwandlung findet die Auferstehung stofflicher Körper in geistiger Form statt. Diese Erde von Hurqalya, die vom Adepten mit seiner eigenen Seelensubstanz erfüllt wird, ist zu gleicher Zeit die Erde, aus der seine Meditation die feinen Elemente herauszieht, aus denen sich sein Auferstehungsleib bildet. Und aus diesem Grund kann man die Erde von Hurqalya, die Erde der smaragdenen Städte, zugleich als Erde der geistigen Schau und als Erde der Auferstehung bezeichnen.

Fortsetzung: Hurqalya, die Erde der geistigen Schau

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