»Weiß-Sein« als Problem

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

WhiteshiftEric Kaufmann, Professor für Politik am Birkbeck College in London, hält eine Diskussion über »weiße Identität« für überfällig. Offenbar sieht er sich durch die ideologiebefrachtete »kritische Weißseinsforschung« in Bedrängnis gebracht. Daher möchte er die »weiße Identität« auch nicht als »Konstrukt« verstehen, das dem »Machterhalt« dient, sondern als eine »ethnische Identität« wie jede andere auch, als ein Konvolut von Mythen und Symbolen, das Menschen eint und dem sie sich verbunden fühlen. Seine Wortmeldung[1] im Online-Magazin Quillette liest sich wie der Versuch einer Antwort auf Yascha Mounks These, der Westen wage mit der exzessiven Liberalisierung von Einwanderung aus islamischen Ländern »ein historisch einzigartiges Experiment«, nämlich die »Umwandlung einer monoethnischen und monokulturellen Demokratie in eine multiethnische«.[2] Kaufmann übersieht allerdings das Grundproblem, dass jede Identitätszuschreibung aufgrund von Hautfarben nicht nur rassistisch ist, sondern auch das Prinzip der Identität, dessen Fundament die Individualität ist, aufhebt. Es gibt keine »weiße« Identität, ebensowenig, wie es eine »schwarze« oder gelbe gibt. Die kritische Weißseinsforschung, die angeblich antritt, die Folgen des Kolonialismus und Rassismus zu beseitigen, ist eine Neuauflage des Rassismus unter anderen Vorzeichen.

Der Autor meint, dass die Zukunft des Westens bunt (»ethnisch gemischt«) sein werde. Dafür sorge die Zahl der Mischehen, die in vielen westlichen Ländern zunehme (also der Ehen zwischen »Weißen« und »Nichtweißen«). Eine raschere Einwanderung könne diesen Prozess zwar verlangsamen, weil sie die Anzahl der nicht gemischten Individuen zunächst vermehre, aber in einem Jahrhundert dürften die Gemischten die größte Gruppe in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten ausmachen. In 200 Jahren dürften nur noch wenige Menschen, die in den westlichen Agglomerationen lebten, keine »gemischten« Vorfahren mehr haben. Einwanderer oder Angehörige »antimoderner religiöser Gruppen«, wie etwa ultraorthodoxe Juden – sofern sie dann noch existieren –, dürften zu diesem Zeitpunkt zu letzteren gehören.

Die Frage ist, wie man diese Entwicklung interpretiert. Die Neigung sei verbreitet, so Kaufmann, sie positiv zu sehen und als Zunahme von Diversität oder als Heraufkunft eines »neuen Menschen« zu preisen. Wenn man sich allerdings an der Geschichte orientiere, könne man die Konsequenzen auch anders sehen. Denn viele Menschen im Westen sehnten sich nach Wurzeln, schätzten Traditionen und wünschten sich, den Zusammenhang mit ihren Vorfahren, die ein historisches Gebiet besiedelt hätten, zu bewahren.

Für wahrscheinlicher hält er es deshalb, dass es zu einem »Wandel des Weißseins« (»whiteshift«) kommen werde, bei dem weiße Mehrheiten unterschiedliche Einwanderergruppen durch Mischehen absorbierten, sich aber weiterhin an den in ihrer Kultur etablierten Mythen der Abstammung, an ihren Symbolen und Traditionen orientierten. Zwar werde diesem Vorgang der Absorption durch »Kosmopoliten« Konkurrenz gemacht, die das Exotische priesen (gemeint sind die Universalisten und Globalisten der »offenen Grenzen« und des »Multikulturalismus«), aber die meisten Menschen in den westlichen Einwanderungsländern tendierten dazu, die Spuren ihrer vielschichtigen Herkunft zugunsten einer europäischen zu retuschieren.

Solche Prozesse selektiven Vergessens und Erinnerns kämen unter ethnischen Gruppen häufig vor. So seien etwa in der Türkei viele Gruppen, die Spuren in der ethnischen DNA der Mehrheitsbevölkerung hinterlassen hätten, der Vergessenheit anheimgefallen. Stattdessen würden die meisten Türken ihre Herkunft in Zentralasien verorten, ungeachtet der Tatsache, dass viele byzantinische Christen unter ihren Vorfahren hätten oder Einwanderer aus anderen Gebieten des osmanischen Reiches.

Die Abnahme des Anteils der Weißen an der Bevölkerung der westlichen Länder führt laut Kaufmann zu einer existentiellen Verunsicherung der weißen Noch-Mehrheiten, die durch das Maß der Einwanderung zusätzlich verstärkt wird. In den meisten großen Städten Nordamerikas stellten sie bereits eine Minderheit dar. Um 2050 werden sie, glaubt man den Rechnungen der Demografen, in ganz Nordamerika zur Minderheit gehören, ebenso wie in Neuseeland; Westeuropa und Australien werden am Ende des Jahrhunderts folgen. Dass durch die Einwanderung hervorgerufene Sorgen zu den wichtigsten Gründen für die Attraktivität sogenannter rechtspopulistischer Bewegungen gehörten, werde, so Kaufmann, von niemandem bestritten, der sich ernsthaft mit der Entwicklung der Einstellungen der weißen Mehrheitsbevölkerung beschäftige. In der Regel stünden aber bei diesem wachsenden Zuspruch nicht wirtschaftliche Sorgen im Vordergrund, sondern solche der Identität. Mit diesem und weiteren Befunden beschäftigt sich der Autor in seinem Buch Whiteshift. Populism, Immigration and the Future of White Majorities (New York 2019).

Die Erosion des »weißen, ethnisch-kulturellen Selbstbewusstseins« zeigt sich laut Kaufmann vor allem in einer zunehmenden Ablehnung der »antiweißen Ideologie« der kulturellen Linken. Wenn Weiße die überwältigende Mehrheit darstellten, könnten empirisch nicht haltbare Verallgemeinerungen über Weiße als amüsante oder ungeschickte, aber letztlich harmlose Vorurteile abgetan werden. Je mehr sie aber zur Minderheit würden, um so weniger seien sie bereit, solche Angriffe zu tolerieren. Gleichzeitig bestärke der weiße »Niedergang« die kulturelle Linke in ihrem Traum vom radikalen sozialen Wandel.

Am Ende des 19. Jahrhunderts, als in den USA ebenfalls ein ethnischer Wandel stattgefunden habe, der als kulturelle Herausforderung wahrgenommen worden sei, habe sich die Strömung, die dem weißen, angelsächsischen Protestantismus (WASP) ablehnend gegenüberstand, auf den kleinen Kreis der intellektuellen Bohème beschränkt. Heute habe die kulturelle Bewegung, die der Mehrheitsgesellschaft feindselig gegenüberstehe, weit umfassendere Dimensionen angenommen, sie durchdringe große Institutionen und werde sogar Konservativen durch soziale und rechte Medien nahegelegt. Dies führe zu einer Polarisierung im Kulturkampf zwischen zunehmend verunsicherten weißen Konservativen und selbstsicheren weißen Liberalen.

Die westliche Tradition der kulturellen Selbstkritik führt der Autor auf die sogenannte lyrische Linke[3] zurück, die Ende des 19. Jahrhunderts die bürgerlichen Werte verspottet habe. Nach dem Ersten Weltkrieg habe sie sich gegen die Idee der Nation gewandt, was 1930 zu der Kritik des Liberalen George Orwell geführt habe, »in linken Kreisen« sei es »immer etwas anrüchig, sich als Engländer (»Englishman«) zu bezeichnen«. In den damals bereits multiethnischeren USA habe die Kritik der lyrischen Linken die Gestalt eines Angriffs auf die eigene ethnische Gruppe, die angloprotestantische Mehrheit, angenommen, der vorgeworfen worden sei, sie würde die europäischen Einwanderer unterdrücken und ihnen puritanische Gesetze wie das Alkoholverbot aufzwingen. In den 1960er Jahren wiederum habe diese gegenkulturelle Bewegung eine Theorie der weißen ethnisch-rassischen Unterdrückung entwickelt. Ende der 1960er Jahre habe sie die logisch und empirisch fundierte Bürgerrechtsbewegung verdrängt und sich in ein milleniaristisches (endzeitliches) Projekt verwandelt, das auf die Idee eines rückwärtsgewandten weißen »Anderen« fixiert sei. In der Gegenwart seien die fanatischsten Vertreter des Linksmodernismus jene, die versuchten, Universitäten zu Orten umzubauen, die die Mission verfolgten, »Weißsein« durch »Diversität« zu ersetzen.[4]

Die Berechtigung der Selbstkritik von Gruppen stellt der Autor nicht in Abrede. Daniel Bell habe »Gegenkulturen« die Funktion zugeschrieben, Mehrheitstraditionen mit denen sie kollidierten, zu Reformen und schöpferischer Kreativität anzustacheln. Was aber, wenn die Kritiker selbst die Hoheit über den Diskurs erlangen? Nach 1960 sei die linksmodernistische Ideologie in einer sanfteren Form in die Hochkultur und politischen Institutionen des Westens eingedrungen. Dies habe bedauerlicherweise zur Festsetzung von Normen geführt, die eine demokratische Diskussion über nationale Identität und Einwanderung verhindert hätten. Die Ächtung solcher Fragen im Namen des Antirassismus habe das demokratische Leben blockiert und die Anpassung des politischen Angebots an die politische Nachfrage verhindert. An die Stelle vernünftiger Kompromisse zwischen jenen, die für oder gegen ein höheres Maß an Einwanderung waren, sei die Verdrängung der gesamten Frage getreten, was einen Druck bei jenen aufgebaut habe, deren Sorgen die führenden Parteien ignoriert hätten. Dies habe zu einer Marktsituation geführt, die »rechtspopulistische« Unternehmer für sich zu nutzen wüssten.

Im selben Zeitraum, in dem die dominante Ideologie die multikulturelle Vision einer immer weiter zunehmenden Diversität feiere, finde nahezu unbeachtet ein rapider ethnokultureller Wandel statt. Liberale schmähten die Sehnsucht nach Homogenität und Stabilität als Ausdruck von Engstirnigkeit und Rassismus. Aber Diversität sei vielen egal, weil eben nicht alle gleich seien. Der «rechte Populismus«, der die kulturellen Interessen gruppenorientierter Weißer vertrete[5], habe den zwischen 1960 und Ende 1990 vorherrschenden multikulturellen Konsens gebremst und zu einer Umbesinnung geführt. Das Ergebnis sei eine Polarisierung zwischen jenen, die die Ideologie der Diversität ablehnten und jenen, die sie befürworteten. Benötigt werde daher eine neue Vision, die konservativen Mitgliedern der weißen Mehrheit die Hoffnung gebe, ihre Gruppe habe eine Zukunft und die gleichzeitig Kosmopoliten die Freiheit lasse, die Diversität zu feiern.

Kaufmann hält sowohl den Kosmopolitismus, als auch das »ethno-traditionelle Nationalbewusstsein« für gültige Weltsichten. Sie entsprächen unterschiedlichen psychischen Konstitutionen und somit anthropologischen Konstanten. Eine dieser Weltsichten der gesamten Bevölkerung aufzuzwingen, schaffe Unfrieden, da Wertorientierungen von einer Generation auf die andere übergingen und durch Predigten nicht verändert würden. Versuche, konservative, ordnungsliebende Menschen zu Kosmopoliten umzuerziehen, riefen nur Widerstand hervor (wobei Kosmopolitismus und Ordnung ja kein Widerspruch sein müssen).

Unterschiede müssten respektiert werden. Beim Wandel des »Weiß-Seins« gehe es nicht nur darum, wie sich die »weiße Identität« an den demografischen Wandel anpasse, sondern auch um eine positive Vision, die imstande sei, den »Rechtspopulismus« zurückzudrängen und die Kluft zwischen Nationalisten und Globalisten zu überbrücken, die die westliche Politik ins Unglück stürze.

Dem Westen, glaubt Kaufmann, stehe eine Phase der kulturellen Instabilität bevor, die den Übergang von einem früheren in ein späteres gesellschaftliches Gleichgewicht markiere. Die Grundlage des ersteren sei »weiße ethnische Homogenität« gewesen, jene des letzteren werde »beige Ethnizität«, d.h. »ethnisch gemischte« Mehrheit sein. Dazwischen liege ein stürmisches »multikulturelles Interregnum«. Der Westen entferne sich von der Homogenität Islands und nähere sich der »gemischten« Homogenität Turkmenistans an. Aber auf dem Weg vom einen zum anderen werde sich die westliche Gesellschaft durch einen Zustand hindurchbewegen, der jenem des multikulturellen Guyana oder Mauritius gleiche. Die Herausforderung bestehe darin, konservativen Weißen aufzuzeigen, dass der Wandel des Weißseins, die Vermischung vieler Nichtweißer mit der Gruppe der Weißen durch freiwillige Assimilation, auch ihnen eine Zukunft biete.

Kaufmann behandelt auch die Unterschiede zwischen west- und osteuropäischem »Rechtspopulismus«. Beim ersteren geht es seiner Ansicht nach nicht um die Erhebung aus nationaler Demütigung oder die Sehnsucht nach einem Zustand vor der Ankunft der Demokratie, als ein starker Führer der Gesellschaft eine klare Richtung gegeben habe. Diese Motive hätten bei Faschisten der Zwischenkriegszeit wie den Nazis, Mussolini, Franco oder den ungarischen Pfeilkreuzlern eine zentrale Rolle gespielt, und spielten weiterhin in Russland, Griechenland und einer Reihe osteuropäischer Staaten eine Rolle. Außerdem habe die Einwanderung im Osten kein so großes Gewicht, da Einwanderer an den osteuropäischen Ländern kaum Interesse zeigten. In einzelnen, ehemals kommunistischen Ländern wie Ungarn stelle sie hingegen einen Faktor dar, der allerdings auf der Prioritätenliste der Wähler nicht zuoberst stehe.

Wer erklären wolle, was im Westen vorgehe, müsse zwei einfache Fragen beantworten. Warum schneiden »Rechtspopulisten« besser ab als »Linkspopulisten«? Warum förderte die Migrationskrise, nicht jedoch die Wirtschaftskrise den »Rechtspopulismus« massiv?

Die Daten geben laut Kaufmann eine klare Antwort auf diese Fragen. Die »populistische« Bewegung könne nur aus der Demografie und der Kultur, nicht aus ökonomischen oder politischen Entwicklungen erklärt werden. Zentral sei für sie die Frage der Einwanderung. Der ethnische Wandel – die Größe und Beschaffenheit des Zustroms von Einwanderern und ihr Potential, ethnische Grenzen infrage zu stellen – stehe im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Wenn man sich an der geschichtlichen Entwicklung orientiere, so Kaufmann, müsse man sich nicht darüber wundern, dass der »Rechtspopulismus« zunehme, sondern warum er nicht schon früher in den USA oder in Schweden entstanden sei. Der schwedische Staat könne sich an jede ethnische Zusammensetzung anpassen, aber der ethnischen Majorität der Schweden falle dies nicht so leicht. Während der Staat Einwanderer an einem Nachmittag einbürgern könne, dauere es Generationen, bis diese durch Mischehen und Säkularisierung zu ethnischen Schweden würden.

Der »Wandel des Weißseins« betrifft nach Kaufmann zwei zusammenhängende Themen: »weiße ethnische Mehrheiten« und die »weiße Tradition nationaler Identität«. Bei der Diskussion solcher Themen kommt es allerdings darauf an, wie man die verwendeten Begriffe definiert.

Unter »Ethnien« versteht Kaufmann »Gemeinschaften, die an eine Abstammung von gemeinsamen Vorfahren glauben und sich von anderen durch kulturelle Merkmale unterscheiden, darunter Sprache, physische Erscheinung (»racial appearance«) oder Religion.« (An dieser Stelle, wie an anderen auch, unterscheidet Kaufmann nicht klar zwischen Natur und Kultur. Die »physische Erscheinung« ist gewiss kein »kulturelles« Merkmal, ebensowenig wie die Sprache ein physisches. Das Problem steckt im Begriff des Ethnos, der – im Unterschied zu jenem des Demos – immer schon eine diffuse Mischung aus beidem darstellt). Außerdem seien Ethnien mit einem unscharf definierten »Heimatland« verbunden.

Unter »Nationen« hingegen versteht er »politische Gemeinschaften mit klaren territorialen Grenzen und politischen Zielsetzungen«, über die ethnische Gruppen nicht unbedingt verfügen müssten. Ethnien, wie z.B. die Juden, seien durch gemeinsame Vorfahren verbunden, während Nationen – wie die Schweiz – multiethnisch sein könnten (folgt man diesen Erklärungen, wäre der Staat Israel keine »Nation«, sondern eine »Ethnie«). Weiße Mehrheiten im Westen seien genauso ethnisch wie Minderheiten, aber für viele sei ihr ethnisches und nationales Bewusstsein verschleiert. Wenn man weiß sei, könne man meinen, man identifiziere sich nicht als Weißer, sondern nur als Brite.

Das ist der springende Punkt! Was hat Deutschsein oder Schweizersein mit Weißsein zu tun? Wer sich als »Deutscher« oder »Schweizer« bezeichnet, meint damit in erster Linie seine Staatsangehörigkeit, in zweiter Linie seine kulturelle Zugehörigkeit, in den allermeisten Fällen aber nichts, was auch nur im entferntesten als »Weißsein« bezeichnet werden könnte. Ich beispielsweise lebe seit 40 Jahren in Deutschland, bin aber nach wie vor Schweizer, weil ich die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitze und nicht, weil ich Weißer bin.

Dass Weiße sich einbildeten, sie besäßen keine ethnische Identität, liegt laut Kaufmann darin begründet, dass »Weißsein« in einer überwiegend weißen Gesellschaft ebensowenig eine deutliche Unterscheidung konstituiere, wie »Heterosexualität« in einer überwiegend heterosexuellen Gesellschaft. Hier gilt jedoch derselbe Einwand: ich definiere meine Identität nicht über meine »Heteroexualität«, also eine Typeneigenschaft, sondern über das, was ich denke, fühle und will, über etwas also, was kein anderes Individuum sein eigen nennen kann. Würde ich mich in Marokko unter lauter Marokkanern bewegen, änderte dies nichts an meiner individuellen Distinktion, die ich mir selbst zuschreibe.

Sogar Minderheiten, wie z.B. die WASPs, fährt Kaufmann fort, könnten eine schwächere ethnische Identität besitzen, weil ihre Ethnizität das nationale Urbild geformt habe und deswegen mit ihm verwechselt werde. Das Problem ist nur: als jene sogenannten WASP’s das nationale Urbild formten, taten sie es nicht als WASP’s, sondern als etwas ganz anderes, das seinen Ausdruck in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fand, die gerade ein Manifest individueller Freiheitsrechte war (und ist) und nicht das Manifest eines Ethnoclans. Ebenso, glaubt Kaufmann, verlören jene ihre (ethnische) Identität, die sich »im kulturellen Zentrum« befänden: Wer den Dialekt der Themsemündung spreche, wie die meisten britischen Nachrichtenaufsager, glaube nicht, dass er einen Akzent habe, obwohl das Gegenteil der Fall sei. Andererseits unterscheide sich Großbritannien deutlich von den übrigen 195 Ländern der Welt, so dass ein Brite eindeutig als solcher erkennbar sei, wenn er sich im Ausland aufhalte. (Aber für Nichtkenner regionaler Unterschiede ist der Niederbayer nicht als Niederbayer erkennbar, sondern höchstens als Bayer oder Süddeutscher oder als Deutscher. Manche verwechseln ihn auch mit einem Österreicher oder Schweizer, weil sie sich in den Dialekten nicht auskennen. Der überzeugte Niederbayer legt Wert darauf, Niederbayer zu sein und nicht darauf, Weißer zu sein.)

Nationen, so Kaufmann, pflegten sich expliziter als solche darzustellen, als Ethnien. Die Tatsache, dass Großbritannien eine politische Einheit mit einem Budget sei, bedeute, dass die britische Nation Schritte unternommen habe, ihren Bürgern die nationale Identität auf eine Art aufzuprägen, wie es die ethnische Gruppe der Briten nicht getan habe. Schließlich vermöchten aber auch Normen weiße Identität zu schwächen: die Betonung einer weißen britischen Identität sei aufgrund der Ausdehnung der Bedeutung des Antirassismus seit den 1950er Jahren verpönt. In Summe heiße dies, dass die Ethnizität der Mehrheit im täglichen Leben in den Hintergrund gedrängt werde.

Wenn jemand sich von der Mehrheit der weißen Briten nicht unterscheide, dann verstecke sich seine Ethnizität im Zentrum der nationalen Identität. Sie sei jedoch in der Art gegenwärtig, wie er sich seine Nation vorstelle. Entsprechend erschienen ihm die nichtweißen Briten als Minderheiten. Das »rassische Bild«, das im Kopf erscheine, wenn Briten sich einen typischen Briten vorstellten, sei das eines Weißen, was für sie kein Problem darstelle, weil sie diesem Bild entsprächen. Sie hätten auch kein Problem damit, sich zu Menschen in Beziehung zu setzen, die vor 1945, vor 1745 oder sogar vor 1245 in diesem Land gelebt hätten. (Wenn ich mir einen typischen Schweizer vorstellen soll, dann stelle ich mir Schauspieler vor, die den Rütlischwur aus Schillers Drama rezitieren: »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr. Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben. Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen«. Wahrscheinlich handle ich mir damit den Vorwurf ein, ich sei ein Rassist und Sexist. Ich hätte aber auch kein Problem damit, wenn die Schauspieler lauter »Schwarze« oder »Frauen« wären, vorausgesetzt, sie brächten den Schweizer Akzent ordentlich zustande).

Da westliche Nationen, so Kaufmann weiter, in der Regel von einer dominanten weißen ethnischen Gruppe geformt und ihre Mythen und Symbole zu jenen der Nation erhoben worden seien, überschnitten sich die Begriffe (von Nation und Ethnie) im Bewusstsein der meisten. Weiße Mehrheiten besäßen ein »ethnisches« Modul, ein besonderes Band, das sie an ihre nationale Identität binde, das den (nichtweißen) Minderheiten fehle.

Welches »ethnische Modul« besitze ich als Angehöriger einer Schweizer Minderheit mit italienischem Migrationshintergrund in Deutschland bzw. in Bayern? Das italienische? Das schweizerische? Das weiße? Oder alle zusammen? Am liebsten aber wäre ich ein Sioux oder Cheyenne. Gibt es auch ethnische Wunschmodule?

Kaufmann glaubt, alle Menschen trügen »ethnische Brillen«, wenn es um die Wahrnehmung der Nation gehe. Die Brille der Minderheiten vermittle ihnen ein deutliches Bewusstsein davon, wo ihre ethnischen Symbole endeten und die nationalen begännen. Weiße Mehrheiten verfügten nicht über ein solches Bewusstsein, weil viele ihrer nationalen Symbole, wie Erntedank in den USA oder Jeanne d’Arc in Frankreich, zugleich die Bedeutung des Weißseins vermittelten. Wie verhält es sich mit meinem Wilhelm Tell, dessen Bild von einem schwäbischen Dichter in Weimar geformt wurde? Muss ich mich durch seine »kulturimperialistische Aneignung« beleidigt fühlen?

Da der Anteil der Weißen an den Nationen zurückgehe, so unser Autor weiter, bemühten sich die meisten westlichen Regierungen mittlerweile um die Verbreitung eines verdünnten, wertebasierten Nationalbewusstseins, das Symbolen, die viele Weiße bevorzugten, wie Christoph Kolumbus oder Robin Hood, zur Seite treten oder diese ersetzen solle (hierzulande als Verfassungspatriotismus bezeichnet). Hinzukomme, dass manche Minderheiten Aspekte der nationalen Erzählung wie »das Empire« oder die »westliche Kolonisation« kritisierten. Das lichte den Nebel für viele Weiße, und schärfe ihr Bewusstsein für die Exklusivität ihrer ethnischen Symbole, indem es sie von jenen unterscheide, die inklusiv seien wie z.B. die Freiheitsstatue. Zusammen mit dem Sinken des Anteils der Weißen an der Bevölkerung, lasse dies die weiße Identität sichtbarer werden, indem sie aus dem Schatten der nationalen Identitäten hervorgezogen werde.

Die ethnischen Mehrheiten im Westen unterlägen einem Wandel ihres Weißseins, einem Übergang von ungemischter zu gemischter Ethnizität. Die Geschichte Amerikas zeige ein Bild dessen, was dem gesamten Westen bevorstehe. Wir dürften, so Kaufmann, eine unsere ganze westliche Zivilisation umfassende Wiederaufführung der ethnischen Grenzziehungen erwarten, die die Vereinigten Staaten zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1960er Jahren bestimmt hätten, in einer Zeit, in der die angloprotestantische Mehrheit auf weniger als die Hälfte der Bevölkerung zurückgegangen sei, jedoch nach und nach die katholischen und jüdischen Einwanderer und ihre Kinder in eine rekonstruierte weiße Mehrheit aufgenommen habe, die sich am WASP-Urbild orientierte. Erreicht worden sei dies, als die Geschwindigkeit der Einwanderung zurückgegangen sei und die Mischehe die Grenzen zwischen den Ethnien überwunden habe, in einem Prozess, der noch immer nicht abgeschlossen sei.

Sich mit der weißen ethnischen Mehrheit zu identifizieren, bedeute jedoch nicht, einer weißen, christlichen Tradition des Nationalbewusstseins anzuhängen. Nur jene, die wenigstens einen europäischen Vorfahren hätten, vermöchten sich mit der weißen Mehrheit zu identifizieren. (Wo kommt auf einmal die christliche Tradition des Nationalbewusstseins her? Gibt es eine christliche Nationalität? Wurde das paulinische Wort: »Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal in Jesu Christo« außer Kraft gesetzt?)

Nun kommt Kaufmann auf ethnische Minderheiten zu sprechen, die sich weißen Mehrheiten akkomodieren. Minderheiten, meint er, seien durchaus imstande, die weiße Mehrheit als wichtigen Bestandteil ihrer nationalen Identität zu würdigen. Rachid Kaci beispielweise, ein französischer Säkularist algerisch-berberischer Herkunft, schreibe: »Die Gallier … sind unsere gemeinsamen Vorfahren, da sie die französische Geschichte begründeten, angefangen mit Chlodwig, Karl Martell … über die Revolution, Napoleon … Jemand, der als Franzose betrachtet werden will, wird diese Geschichte adoptieren, oder besser, sich von ihr adoptieren lassen.«

Und in den USA, so Kaufmann weiter, stimmten rund 30 Prozent der Latinos und Asiaten für Trump und viele beklagten den Niedergang des weißen Amerika. In Umfragen, die kurz nach den Unruhen in Charlottesville im August 2017 durchgeführt worden seien, hätten 70 Prozent der hispanischen und asiatischen Trumpwähler darin übereingestimmt, »dass Weiße in diesem Land angegriffen werden«, und 53 Prozent hätten gemeint, das Land müsse »sein weißes europäisches Erbe verteidigen und bewahren« – eine Zustimmung, die jener der weißen Trumpwähler entsprochen habe. Tatsächlich brächten nichtweiße Trumpwähler ein viel größeres Bedauern über das Dahinschwinden der weißen Mehrheit zum Ausdruck, als weiße Demokraten. Eine entscheidende Frage für die Zukunft der amerikanischen Politik sei, ob neue Generationen von Latinos und Asiaten sich der »weißen christlichen Tradition« des Landes weiter annäherten oder von ihr entfernten.

Kaufmann stellt die Frage, ob ein gemeinsames nationales »Wir« nicht die Lösung für all diese Probleme sei. Seine Antwort lautet »Nein«. Politologen unterschieden häufig zwischen »Bürgernationen«, die durch Loyalität gegenüber dem Staat und seiner Ideologie geprägt seien und »ethnischen Nationen«, die durch ihre gemeinsame Abstammung zusammengehalten würden. Alle westlichen Nationen hätten versucht, staatsbürgerliche Konzepte der nationalen Identität zu bewerben, um Einwanderer zu integrieren, aber die populistische Rechte belege, dass eine Beschränkung der nationalen Identität auf »britische Werte«, das »amerikanische Bekenntnis« oder die französische »republikanische Tradition« die Befürchtungen der konservativen Wähler nicht zerstreue. Diese universalistischen, bekenntnishaften Vorstellungen von Nationalität seien wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft, vermöchten aber keine Tiefenidentifikation im Alltagsleben zu vermitteln. Andererseits sei ethnische Nationalität, die Staatsbürgerschaft den Mitgliedern der Mehrheit vorbehalte, eindeutig ein verfehltes Konzept.

Aber es gebe eine dritte Möglichkeit, die Kaufmann als »ethnisch-traditionelle Nationalität« bezeichnet, eine Form des Nationalbewusstseins, die die ethnische Mehrheit als wichtigen Bestandteil der Nation ebenso wertschätze, wie Minderheiten. »Ethnisch-traditionelle Nationalisten« (man würde hier besser von »Souveränisten« sprechen) befürworteten eine Verlangsamung der Immigration, da die Drosselung des Tempos (oder der Menge) es mehr Einwanderern ermögliche, sich freiwillig an jene ethnische Mehrheit zu assimilieren, die die weiße ethnische Tradition aufrechterhalte. Es gehe ihnen nicht darum, alle Verschiedenheiten zum Verschwinden zu bringen, sondern ein Gleichgewicht zwischen lebendigen Minderheiten und einer fortbestehenden christlich-weißen Tradition zu finden. Diese Auffassung verträten die meisten konservativen weißen Wähler, auch wenn es einige unter ihnen gebe, die den exklusivistischen Traum einer Remigration träumten.

Wie man an den Trumpwählern sehen könne, sei es wichtig, anzuerkennen, dass ein bedeutender Teil der ethnischen Minderheiten ethnisch-national eingestellt sei, weil sie sich kulturellen Besonderheiten verbunden fühlten, die ihre Nation von allen anderen unterschieden. Auf den Unterschied komme es an: Sie gehörten nicht der ethnischen Mehrheit an, sondern der Nation, weil sie ihrer traditionellen ethnischen Zusammensetzung verbunden seien.

Dies lasse sich häufig an Fremden beobachten, die in stark ethnisch geprägte Gegenden gezogen seien, wie z.B. in das Cajoun-Siedlungsgebiet in Louisiana oder nach Cornwall, die sich vehement der rapiden Verminderung des französischen oder kornischen Anteils an der lokalen Bevölkerung widersetzten. Auf die nationale Ebene übertragen entspreche dies der Unterstützung, die Latinos und Asiaten in den USA der weißen Mehrheit und ihren Forderungen nach Begrenzung der Einwanderung oder Beendigung der »affirmative action« (der Bevorzugung von Farbigen, um deren »strukturelle Benachteiligung« auszugleichen) zukommen ließen. Wenn Minderheiten wüchsen, stelle sich die wichtige politische Frage, ob sie sich dem ethnisch-traditionellen Nationalismus oder dem Multikulturalismus zuwendeten.

Weitaus wichtiger als diese Frage, die von Grund auf fehlgeleitet ist, ist das Bewusstsein der Tatsache, dass Menschenrechte Individualrechte und nicht Gruppenrechte sind. Wer Menschenrechte konsequent umsetzt, braucht keine Sonderprivilegien für Gruppen. Er eint alle Menschen im Territorium, in dem diese Menschenrechte gelten, weil sie vor dem Gesetz gleich sind. Dies setzt allerdings ein starkes, souveränes, unabhängiges Rechtswesen voraus (und nicht ein von Parteien gegängeltes), das gewillt ist, die Respektierung dieser Rechte durchzusetzen und ein Exekutivsystem, das imstande ist, sie zu schützen.

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Anmerkungen:


Eric Kaufmann, Whiteshift: Populism, Immigration and the Future of White Majorities, New York, 2019

  1. https://quillette.com/2019/05/24/how-can-we-manage-the-process-of-western-whiteshift/
  2. Der Funktionär transatlantischer Think Tanks vertritt diese These schon seit längerem. So 2015 im SPIEGEL. Ähnlich 2018 in den Tagesthemen (ab 0:24:44) oder im Tagesspiegel: »Wir befinden uns in einem historisch einzigartigen Experiment. Es gibt in der Geschichte kein Beispiel für eine Demokratie, die monoethnisch begründet wurde und sich in eine liberale multiethnische Demokratie verwandelt hat. Wir sind auf halbem Weg, aber sicher noch nicht angekommen und müssen uns im Dunkeln durchtasten.«
  3. Den Begriff der »lyrischen Linken« prägte Edward Abrahams in seinem 1988 erschienenen Buch The Lyrical Left And the Origins of Cultural Radicalism in America im Hinblick auf Randolph Bourne und Alfred Stieglitz. Bourne kritisierte die Idee eines Amerika als Schmelztiegel der Rassen, in dem alles Nichtweiße verschwinde und wurde in den 1980er Jahren zum Vordenker des postmodernen Kosmopolitismus und Multikulturalismus stilisiert. Der Fotograf Stieglitz gehörte als Mäzen und Galerist zu den einflussreichsten Verbreitern der europäischen Avantgarde an der amerikanischen Ostküste.
  4. Dem letzten Auswuchs dieses Fanatismus fielen jüngst der afroamerikanische Starjurist und Juraprofessor der Universität Yale, Ronald Sullivan und seine Ehefrau Stephanie Robinson zum Opfer. Sullivan wurde zum Vorwurf gemacht, dass er es wagte, als Anwalt Harvey Weinstein zu verteidigen, der der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung beschuldigt wird. #MeToo-Aktivisten an der Universität behaupteten, sie würden durch Sullivans Einsatz für einen angeblichen Vergewaltiger traumatisiert. Inzwischen wird durch die Betroffenheitsidentitären nicht mehr nur die Redefreiheit in Frage gestellt, sondern die Grundlage des gesamten Rechtsstaates. Die Unschuldsvermutung gilt für vom Mob Angeschuldigte ohnehin nicht mehr, nun werden aber auch noch deren Rechtsanwälte von der ihren Mandanten unterstellten Schuld angesteckt. Das ist schlimmer als das Prinzip der Sippenhaft, die immerhin auf dem realen Zusammenhang der Verwandtschaft beruhte, was sie natürlich nicht besser machte. Das Postulat der Kontaktschuld (guilt by association) hat sich vom letzten Hauch einer Realbegründung gelöst und ist nur noch Ausdruck eines paranoiden Beziehungswahns. Zu Sullivan siehe den Artikel Wer den Rechtsstaat verteidigt, muss sich in Acht nehmen von Marc Neumann in der NZZ, 28.05.2019. 
  5. Wer für die Freiheitsrechte von Individuen eintritt, setzt sich dadurch nicht für Gruppeninteressen ein. Die Menschenrechte gelten nicht für Gruppen von Individuen, sondern für jeden Einzelnen als Einzelnen. Das Plädoyer für solche Rechte und gegen rassistisch grundierte Gruppeninteressen hat nichts mit Populismus zu tun.

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