Die offene Gesellschaft und ihre Anthroposophen

Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2021.

Von Verschwörungstheorien, dem »Kampf gegen Rechts« und anderen Unschärfen

Gastbeitrag von Ralf Sonnenberg (Auszug). Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift »Die Drei«.

Karl Popper in den 1980er Jahren. Schöpfer des Begriffs der »offenen Gesellschaft«

Karl Popper in den 1980er Jahren. Schöpfer des Begriffs der »offenen Gesellschaft«

Im Juli/August 2018 veröffentlichte das Magazin »Info3« eine von acht prominenten Repräsentanten der Anthroposophie in Deutschland unterzeichnete und wenig später von den Zeitschriften »Anthroposophie« und »Anthroposophie weltweit« nachgedruckte Erklärung, wonach Verschwörungstheorien mit liberalem respektive anthroposophischem Denken unvereinbar seien. Im Umfeld der Anthroposophie, so die Initiatoren, begegne man immer häufiger »Vertretern der krudesten Ideologien«: angefangen bei der »Holocaustleugnung« über »Theorien der Verschwörung durch Juden, Jesuiten, Bilderberger oder Freimaurer, spirituell verbrämte Deutschtümelei und Bekämpfung des längst überholten Vorwurfs der deutschen Alleinschuld für den Ersten Weltkrieg« bis hin zu »Mutmaßungen über von Geheimdiensten inszenierte Terroranschläge und Annahmen über die Manipulation des politischen Lebens sowie der Medien durch geheime Zirkel«. Der »gemeinsame Nenner« dieser auf den ersten Blick so unterschiedlichen Verschwörungsfabulate sei »die Fixierung auf ›das Böse‹ und sein Wirken in der Welt sowie die Auffassung des Weltgeschehens als einem von einer kleinen Gruppe manipulierten Marionettentheater.« Der Rekurs »auf das Wirken unheilvoller Mächte« und vermeintlicher Konspirationen, so die Erklärung weiter, bewirke eine »passive Zuschauerhaltung, die dem Entwicklungsimpuls der Anthroposophie« zuwiderlaufe.[1]

Karl Popper als Kronzeuge einer Imagekampagne

Der Beitrag ist mit »Die offene Anthroposophie und ihre Gegner« überschrieben, was an den Titel des Werkes »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« von Karl Popper[2] erinnert. Diese Anspielung geschah sicher nicht zufällig, sondern unterstreicht vielmehr den Stellenwert, den die Urheber ihrem Anliegen beimessen. Denn Poppers zweibändiger Klassiker, im Jahr des Untergangs des »Dritten Reiches« erschienen, war während des Zweiten Weltkriegs unter dem Eindruck des weitgehenden Versagens europäischer Demokratien, des Triumphzugs totalitärer Staatsformen und Ideologien sowie einer beispiellosen Eskalationsspirale von Gewalt entstanden. In seinem auch heute noch lesenswerten Werk wandte sich der Autor gegen die Feinde der parlamentarischen Demokratie, welche die Parteien- und Meinungsvielfalt bekämpfen und somit die Grundlagen des politischen Liberalismus zu destruieren versuchen.

Popper eignet sich allerdings denkbar schlecht dafür, ausgerechnet von Anthroposophen für eine der Imagepflege dienende PR-Kampagne herangezogen zu werden. Denn zum einen erblickte der »kritische Rationalist«, der das empirische Falsifikationsprinzip als Merkmal der Wissenschaftlichkeit in die philosophietheoretische Debatte einbrachte, in dem Begriffsrealismus eines Platon oder Hegel den Ursündenfall aller ideologisch-totalitären Versuchungen. Geradezu sprichwörtlich geworden ist der Slogan »Hegel, Marx und die Folgen«, der einer Kapitelüberschrift von »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« entlehnt ist und auf die weltanschaulich-politischen Desaster des 20. Jahrhunderts Bezug nimmt. Denn aus der Position, dass menschlichen Idealen eine substanzielle, auf sich beruhende, somit übersubjektive Realität eigne, deduzierte Popper alle späteren, auf Machtmissbrauch, Hybris und Dogmatismus hinauslaufenden Folgeübel, die in dem Auftreten der politischen Religionen des Nationalsozialismus und des Bolschewismus eine beispiellose Kulmination erfahren hätten. Ein Burgfrieden zwischen Anthroposophen, den dezidiertesten Fürsprechern des Begriffsrealismus in der Gegenwart sowie dem Nominalisten und Verfasser der Streitschrift »Das Elend des Historizismus«[3], in welcher dieser die Annahme einer von außermenschlichen Gesetzen geprägten Geschichte einer vernichtenden Kritik unterzieht, erscheint daher schwer vorstellbar.

Zum anderen war Popper kein Feind konspiratologischer Tatsachenpostulate per se, sondern sah, ähnlich wie Hannah Arendt in ihrem 1955 erschienenen Buch »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«[4], in dem Aufkommen totalitärer Tendenzen eine Melange von politischen Akteuren, Ideologien und Institutionen am Werk, deren Tendenz auf die Beseitigung demokratisch-egalitärer Freiräume und die Zerstörung zivilgesellschaftlicher Partizipation abzielte. Dessen ungeachtet fand seine kritische Analyse sowohl linker als auch rechter Verschwörungsmythen – zu letzteren zählte er vor allem die Paranoia einer jüdischen Weltverschwörung mit den bekannten realpolitischen Folgen – Eingang in den intellektuellen Diskurs der Nachkriegsjahre. Sie gilt seitdem als Indikator einer aufgeklärten Auseinandersetzung mit irrationalen Welterklärungskonzepten, deren Urheber der Komplexität der Gesellschaft mit monokausalen Erklärungsmustern zu begegnen und den langatmigen, Kompromisse erfordernden Prozess parlamentarisch-demokratischer Teilnahme zu delegitimieren versuchen.

Doch wohl noch aus einem weiteren Grund hätte sich Popper dagegen verwahrt, von Anthroposophen zum Kronzeugen eines gegen den »Verschwörungsglauben« erhobenen Generalverdachts gekürt zu werden. Ist doch die Anthroposophie eine Verschwörungstheorie par excellence, das – je nach Lesart – substanzmonistische oder -dualistische Urgewächs aller konspiratologischen Erklärungsversuche sozusagen. Denn »in« und »hinter« den Ereignissen einer vordergründigen Realität sieht sie geistige Prozesse und Wesen am Werk, deren Ursprung bzw. Absichten sich dem Blick des noch Uneingeweihten entziehen. Zugleich bietet sie das methodische Instrumentarium, um nicht nur im goetheanistisch bestellten Löwenzahnbeet, sondern auch auf dem Feld des gesellschaftlich-politischen Geschehens »offenbare Geheimnisse« im Sinne Goethes aufzuspüren, von denen die äußerlich zutage tretenden Symptome nur die aufgeworfenen Wellen eines noch der Entbergung Harrenden darstellen.

Wenn bekennende Anthroposophen sich also gegen »Verschwörungstheorien« in toto aussprechen und publikumswirksam deren Ächtung einfordern, dann ist das in etwa so überzeugend, als wenn US-Präsident Donald Trump eine Verlautbarung gegen Sexismus abgeben oder sich für Gendermainstreaming stark machen würde. Denn wer die Möglichkeit zubilligt, dass sich in menschliches Denken und Handeln die Inspirationen und Willensimpulse geistiger Entitäten hineinverweben, die mehr oder weniger menschenfreundliche Intentionen bis hin zur Manipulation einzelner Menschengruppen verfolgen, der wird sich nicht ohne Weiteres den pejorativen Jargon der »Frankfurter Acht« zu eigen machen können. Der künstliche, auf die Zustimmung der gesellschaftlichen Eliten abzielende Antagonismus von offener Aufklärungsanthroposophie (»Helldeutschland«) auf der einen und geschlossener Verschwörungsanthroposophie (»Dunkeldeutschland«) auf der anderen Seite erweist sich bei näherem Betrachten als eine Münchhausiade, welche, konsequent zu Ende gedacht, auf die weltanschauliche Selbstaufhebung ihrer Urheber hinausliefe.

»Mitteleuropa« als Projektionsfläche geschichtsrevisionistischer Heilserwartungen

An dieser Stelle soll nicht geleugnet werden, dass der in der Vergangenheit von einzelnen Autoren unternommene Versuch, historische Ereignisse »symptomatologisch« zu beleuchten oder durch den Rückgriff auf konspirativ arbeitende politisch-okkulte Interessensgemeinschaften zu erhellen, selten überzeugend verlief: In der extremsten, wenn auch rarsten Form mündeten solche, dem Ansehen der Anthroposophie schweren Schaden zufügende Irrfahrten in die trüben Gewässer des Holocaustnegationismus ein. Die Tatsache, dass die »anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft« trotz Erfolge der Tochterbewegungen bis heute kein nennenswerter Kulturfaktor geworden ist, wird von solchen Autoren verklausuliert oder ganz unverhohlen der »alliierten Umerziehung« Nachkriegsdeutschlands, der »Mainstreampresse« und/oder der »exzessiven« Holocaust-Gedächtniskultur angelastet. Die in statu nascendi noch unschuldige Metapher von »Mitteleuropa« als Synonym eines den Nationalstaat überwindenden, die europäischen Gegensätze ausgleichenden Sozialimpulses wird im Fortgang eines mehrere Stationen durchlaufenden Umwidmungsprozesses schließlich dahingehend pervertiert, dass die gegenwärtig noch unter Schuld- und Minderwertigkeitskomplexen leidende »Mitte« nur dann zu Selbstbewusstsein und spiritueller Stärke zurückfinden könne, wenn ihre Bewohner sich der »angloamerikanischen« bzw. »zionistischen Fremdherrschaft« und damit der »Auschwitzlüge« entledigten.[5]

In minder schweren Fällen erfüllte die einseitig-verkürzte Bezugnahme auf Rudolf Steiners zeitgeschichtliche Symptomatologie und dessen Andeutungen zu westlichen Interessensgemeinschaften, denen bei der Planung und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieg eine gehörige Mitschuld zukomme, Entlastungsfunktionen im Hinblick auf die Mitverantwortung der Zentralmächte am Zustandekommen der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie der Historiker George F. Kennan das Völkergemetzel bereits in den 1970er Jahren benannte.[6] Zugleich boten Steiners unsystematisch vorgebrachten Hinweise auf die nationalegoistischen Interessen dienende Wirksamkeit angloamerikanischer, französischer oder russischer Vereinigungen, denen einflussreiche Zeitgenossen wie Cecil Rhodes, Alfred Milner oder Gerard Encausse nachweislich angehörten,[7] in den Augen mancher Autoren eine Art Freibrief für die leichtgläubige Adaption antifreimaurerischer bis judenfeindlicher Verschwörungsideologien.

Das solchen Topoi zugrunde liegende Begründungsmuster ist, von graduellen Unterschieden abgesehen, fast immer dasselbe: Da die »offizielle Geschichtsschreibung« und die »Mainstreammedien« dazu tendierten, die Argumentation der Mächtigen zu stützen, müsse die Wahrheit vorrangig oder ausschließlich in den weitverzweigten Kanälen der inoffiziellen Berichterstatter, also in einschlägigen YouTube-Videos, Blogs, Publikationen oder Ausgaben des »Compact«-Magazins gesucht und gefunden werden – als ob die sogenannten alternativen Medien nicht ebenso von weltanschaulichen, politischen oder auch finanziellen Interessen ihrer Urheber infiltriert wären und der Umstand, dass jemand die Medienberichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen kritisiert oder ihr entgegenstehende Fakten oder Behauptungen präsentiert, ihn bereits automatisch gegenüber manipulativen Absichten immunisierte.

Die pauschale Kritik von Verschwörungstheorien greift zu kurz

Infolgedessen kann der Verdacht, dass die unkritische Beschäftigung mit Verschwörungstheorien die Gefahr gewisser Risiken und Nebenwirkungen birgt, durchaus nachvollzogen werden – vorausgesetzt, er wird nicht als Totschlagargument missbraucht. Genau diesen Vorwurf müssen sich jedoch die Unterzeichner der Erklärung »Die offene Anthroposophie und ihre Gegner« gefallen lassen: Was, so ließe sich beispielsweise einwenden, haben Publizisten wie der Schweizer Historiker Daniele Ganser, der die offizielle Version von 9/11 nach Unstimmigkeiten durchforstet und als dezidierter Kritiker der US-Außenpolitik von sich reden macht, mit Holocaustleugnern, völkischen Germanophilen oder Bilderberger-Konspiratologen zu tun? …

Die Fortsetzung des Artikels finden Sie auf der Webseite der Zeitschrift »Die Drei« (kostet 3 Euro)


Anmerkungen:


  1. Siehe ›Die offene Anthroposophie und ihre Gegner. Stellungnahmen‹, Info3, Juli/August 2018, S.14–17 sowie https://www.info3-verlag.de/blog/die-offene-anthroposophie-und-ihre-gegner-eine-stellungnahme/.
  2. Karl R. Popper: ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [The Open Society and Its Enemies]‹. Teil 1: ›The Spell of Plato‹. Routledge, London 1945.
  3. Karl Popper: ›Das Elend des Historizismus‹, Tübingen 1979.
  4. Hannah Arendt: ›Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‹, Frankfurt a. M. 1955.
  5. Vgl. Ralf Sonnenberg: ›Holocaust-Leugnung und der Umgang mit der deutschen Geschichte‹, in: Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1999, München 1999, S. 158–185 oder http://t1p.de/holocaustleugnung. In diesem Aufsatz wird die skizzierte antisemitische Denkfigur am Beispiel der ungekürzten russischen Originalausgabe eines Buches von Gennadij Bondarew idealtypisch durchdekliniert. Die Überlebenden der Shoa und ihre Nachkommen stehen für die Kontinuität eines historischen Gedächtnisses, das Bondarew zufolge keinem genozidalen Sachverhalt, sondern einer von »Jesuiten«, »Freimaurern« und »Zionisten« böswillig in die Welt gesetzten »Schimäre« gilt. Somit sei es nur folgerichtig, »dass, solange man die Deutschen mit Hilfe der ›Kinder Ahasvers‹ zur Erde niederbeugt, diese sich nicht werden aufrichten können.« Aus: Gennadij Bondarew: ›Anthroposophie auf der Kreuzung der okkult-politischen Strömungen der Gegenwart‹, Basel 1996, S. 252.
  6. George F. Kennan: ›The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875-1890‹, Princeton 1979, S. 3.
  7. Siehe Markus Osterrieder: ›Welt im Umbruch: Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg‹, Stuttgart 2014. Trotz Einseitigkeiten in der Gewichtung und Interpretation der historischen Quellen liefert der Autor ein anschauliches Bild der vor dem Ersten Weltkrieg in den USA und in Europa vorhandenen engen Verflechtungen von Politik, Nationalismus und Freimaurerbünden.

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