Die Aufgabe Europas

Zuletzt aktualisiert am 10. August 2023.

Dirk Pohlmann analysiert in seinem Gastbeitrag den historisch-politischen Kontext des Ukrainekrieges und erinnert an die eigentliche Aufgabe Europas.

Die Aufgabe Europas

Es gibt wieder Krieg in Europa. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg auf Jugoslawien, mit dem eine US-Regierung unter Nutzung der NATO die letzten Reste des Sozialismus und der Blockfreiheit in Europa beseitigte, um einen einheitlichen Großraum nach ihren Interessen zu schaffen, hat einen Nachfolger, den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.

Mit dem Jugoslawienkrieg nutzte die einzige Supermacht USA den von Charles Krauthammer in seinem berühmten Aufsatz so bezeichneten »unipolaren Moment« des Sieges über die UdSSR, um ihre Weltherrschaft auch in Europa zu zementieren.

Ist der Angriffskrieg Russlands nun ein imperialistischer Versuch Wladimir Putins, einen Großraum Russland zu schaffen, also die Leiche UdSSR wiederzubeleben, oder steht auch dieser Krieg im Zusammenhang mit der Katastrophe Europas, dem Aufstieg der USA und den sich abzeichnenden Machtverschiebungen des 21. Jahrhunderts?

Vor etwas mehr als 100 Jahren schlafwandelten die Mächtigen in Europa in die selbstverschuldete Katastrophe, die das Ende ihrer Bedeutung herbeiführte und das amerikanische Jahrhundert ermöglichte. So konnte man es zum 100. Jahrestag des 1. Weltkriegs in den westlichen Medien in vielen Artikeln lesen, denn mittlerweile wird die Frage nach der Kriegsschuld von Historikern überwiegend nicht mehr mit »Deutschland« beantwortet, sondern mit »irgendwie alle europäischen Mächte«. Warum brauchte diese Annäherung an die Wahrheit einhundert Jahre, obwohl die wesentlichen Akteure der damaligen Zeit schon lange nicht mehr die wesentlichen Akteure der Gegenwart sind? Offenbar gab es hemmende Kräfte, Interessen, die ein falsches Narrativ erst einführten und dann stabilisieren konnten? Sind diese Kräfte und Interessen mittlerweile selbst Geschichte, oder sind sie immer noch wesentlich und wirksam? War der Jugoslawienkrieg und ist der Ukraine-Krieg auch Ergebnis dieser Interessen? Sind wir so hellwach angesichts dieser Fragen, wie wir es sein müssen?

Die Geschichte wird zwar von den Interessen der wesentlichen Akteure angetrieben. Deren Pläne bestimmen aber oft nicht wie beabsichtigt die Wirklichkeit. Der 1. Weltkrieg ist ein Paradebeispiel dafür, denn er bedeutete das Ende Großbritanniens als Welthegemon.

Der Ukraine-Krieg ist ein wesentliches Ereignis, er ist ein Desaster, möglicherweise auch eine Katastrophe, die darauf wartet, geschehen zu können. Viele in den beteiligten Mächten schlafwandeln erneut, wie vor 100 Jahren, in eine Situation, die heute allerdings zum Nuklearkrieg werden könnte.

Die Möglichkeit des nuklearen Holocaust ist das Ergebnis des zweiten Weltkrieges, der eine Folge und Fortsetzung der europäischen Katastrophe war. Der Zivilisationsbruch des Holocaust zerstörte den Anspruch und die Möglichkeit Deutschlands, als Kulturnation wirksam zu sein, er beendete die Rolle Großbritanniens als Großmacht, die nach dem Ende des gewonnenen Krieges zur Mittelmacht abstieg, er war der Beginn der Supermachtrolle der Sowjetunion als Antagonist der Westmächte, er war der Beginn vom Ende des Kolonialismus der alten Mächte und des Kolonialismus der USA, er war der Beginn des Aufstiegs der USA zum Welthegemon. Mitteleuropa hatte sich abgeschafft.

Vor allem aber entstanden im 2. Weltkrieg zwei Erscheinungsformen des Bösen, die im Sinne des Schiller-Wortes »Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären«, bis heute wirksam sind.

Zum einen der Abgrund des Holocaust, ein erkanntes Böses, das jetzt Wirksamkeit im Umfeld der Lüge entwickelt, zum Beispiel als erlogene Begründung für Angriffskriege wie im Fall Jugoslawien. Erkanntes Böses, weil niemand, nicht einmal Neonazis behaupten, dass der Holocaust richtig war, Neonazis verteidigen ihn nicht, sie versuchen seine Existenz wegzulügen.

Das andere Böse sind die Nuklearwaffen. Ihre Nutzung am Ende des 2. Weltkrieges war ebenfalls ein Zivilisationsbruch, der weitgehend unerkannt ist und dadurch weiter direkte Wirksamkeit entfaltet, unser Schlafwandeln nutzend.

Die Abwürfe auf zwei absichtlich unversehrt gehaltene Städte waren ein Freilandversuch, um herauszufinden, wie zerstörend die beiden Bombentypen waren. Militärs erfassten die Schäden, Ärzte teilnahmslos das Sterben und Leiden der Opfer, ohne zu helfen. Die Abwürfe vernichteten Zivilbevölkerung, überwiegend Frauen und Kinder. Sie waren entgegen dem Begründungsmythos nicht der Grund für das Kriegsende, sie wurden auch nicht abgeworfen, um den Krieg zu beenden, sie wurden kurz vor dem drohenden Ende des Krieges noch als Machtdemonstration gegen den neuen Gegner UdSSR verwendet.

Seitdem sind Atomwaffen Massenvernichtungsmittel, mit denen Staatschefs die Bevölkerung anderer Länder als Geiseln nehmen und deren Ermordung androhen. Außerdem drohen sie die totale Vernichtung der Lebensgrundlage der Menschen an, die Vernichtung der Tiere, der Pflanzen, die Verstrahlung und Vergiftung ihres Lebensraumes und die Schädigung kommender Generationen. Zusammengefasst: die Vernichtung der Zivilisation und der Biosphäre.

Atomwaffen sind ein unerkanntes Böses, weil ihr Besitz nicht Ächtung und den Ausschluss aus der Gemeinschaft der zivilisierten Staaten bedeutet, sondern Macht. Ganz anders als beim Holocaust, wo eine unzureichende Verurteilung genau die Reaktion der Ächtung hervorruft. Sie sind ein unerkanntes Böses, weil die Drohung mit ihrer Nutzung als finstere, aber friedenstiftende Maßnahme bezeichnet werden kann. »Ohne die Atomwaffen hätte es längst wieder Krieg gegeben.«

Nun gibt es wieder Krieg, in dem Nazis beteiligt sind und er könnte zum Atomkrieg werden. Jeder Konflikt, vor allem in Europa, birgt diese Katastrophe als Möglichkeit in sich. Die Gefahr erhöht sich, denn die Generation, die Krieg noch erlebt hat oder die Atomwaffenversuche in der Atmosphäre, deren Zerstörungskraft die Beteiligten schockiert hat, stirbt aus und wird von Politikern, insbesondere in den USA, ersetzt, die gelernt haben, dass hoch pokern, Täuschung, Regime Change, psychologische Kriegsführung und trickreiche Herrschaft über die öffentliche Meinung zum Erfolg führen. Es beginnt jetzt die Ära der Hasardeure, die Vabanque spielen. Aber alles, was schiefgehen kann, wird irgendwann schiefgehen. Die atomare Abschreckung ist das Rezept für ein Desaster, das irgendwann Wirklichkeit werden wird.

Ich zitiere den ehemaligen Chef des SAC der US-Streitkräfte, des Strategischen Bomberkommandos, General Lee Butler, der sich seit seiner Pensionierung für die Abschaffung der Nuklearwaffen einsetzt, die er als »Feind der Menschheit« bezeichnet. »… wir sind dem Kalten Krieg ohne nuklearen Holocaust entkommen durch eine Mischung aus Können, Glück und göttlichem Eingriff, und ich vermute, dass letzteres den größten Anteil daran hatte.«

Ich zitiere John F. Kennedy. »Diese Kriegswaffen müssen abgeschafft werden, bevor sie uns abschaffen.«

Vernünftig betrachtet, müsste jeder Staatschef und Außenminister einer Atommacht am Flughafen wegen Staatsterrorismus verhaftet, vor Gericht gestellt und lebenslang sicherheitsverwahrt werden. Davon sind wir in der Realität weit entfernt, aber die Veränderung der Realität kann nur beginnen, wenn wir wahrhaftig denken. Jeder Gedanke kann Realität werden, aber nur wenn er tatsächlich gedacht und ausgesprochen wird.

Stattdessen kommt aus der Anthroposophie vom Dekan einer Kunsthochschule ein Gedanke mit dem Hashtag #killputin.[1] Als ob es sich um einen Tyrannenmord handeln würde, als wenn die Ursachen des Konfliktes nichts zu bedeuten haben, als ob das Gute triumphiert, wenn der Böse getötet ist. Das ist pubertär. Ein Gedanke, der aus der beschriebenen fehlgeleiteten Beschäftigung mit dem Holocaust erwachsen ist. In Deutschland gibt es Ideenwelten, die aus dem Wunsch entstehen, das 3. Reich rückwirkend zu verhindern. Je länger die NS-Herrschaft vergangen ist, um so absurder werden die Folgen dieser Denkart. Sie führen zur mikroskopisch genauen Suche nach vermeintlichen Ähnlichkeiten mit NS-Ideologie, Rassismus, rechtem Denken, die als Waffe gegen politische Gegner einsetzbar sind, sie führen zur Cancel Culture. Sie münden manchmal in den Wunsch, sich als neuer Stauffenberg inszenieren zu können, sich in vermeintlich moralischer Reinheit wähnen zu können. Obwohl man sich damit tatsächlich als nützlicher Idiot Mächten andient, die eigene, machtpolitische Ziele verfolgen, deren Verantwortungsethik sich in »right or wrong, my country« und der Idee eines »New American Century« erschöpft. Die olivgrünen deutschen Politiker, Vertreter einer Partei, die einst aus der Friedensbewegung entstand und sie in Parlamenten vertrat, die die Abschaffung aller Militärblöcke und den deutschen Austritt aus der NATO forderte, sind mittlerweile knietief in einen Widerspruchssumpf eingesunken.

Der Widerspruch entsteht nicht aus böser Absicht, aber die Konsequenzen sind absehbar eine Katastrophe. Ein Beispiel: während auch von anthroposophischer Seite vor der Teilnahme an Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen gewarnt wird, weil man dort »gemeinsam mit Rechten« demonstrieren könnte, wird die Eskalation eines Krieges betrieben, der echte Nazis in der Ukraine nutzt, die wie die arabischen Freiwilligen in Afghanistan als geopolitische Brandbeschleuniger eingesetzt werden.

Die Allianz mit Nazikräften wie dem Asow-Bataillon führt dazu, dass mit Zensur gegen »Hassrede und Desinformation« vorgegangen wird, aber Propaganda des Asow-Bataillons in Facebook wieder gestattet ist. In der Realität entsteht also eine groteske Situation, die politisch genutzt werden kann, einerseits, um Dissidenten der imperialen US-Politik mit dem Nazivorwurf medial mundtot zu machen und andererseits, um die gleiche Politik mit Nazis als Kampftruppe militärisch durchzusetzen.

Der Krieg in der Ukraine ist nicht im deutschen, nicht im europäischen und nicht einmal im russischen Interesse. Der neue Kalte Krieg und der neue Eiserne Vorhang, der daraus bestenfalls entsteht, vereitelt die Bildung eines eurasischen politischen und wirtschaftlichen Kooperationsraumes, er verhindert das chinesische Konzept der Neuen Seidenstraße, das ist in amerikanischem Interesse.

Der Angriffskrieg der Russen ist aus russischer Sicht die weniger katastrophale Variante angesichts noch bedrohlicherer Optionen. Nämlich der, zuzusehen, wie die NATO-USA nukleare und biologische Waffen in dem neuen NATO-Mitgliedsstaat Ukraine (und Georgien und Moldawien) stationiert, wie die Krim mit ihrem geostrategischen Hafen Sewastopol rückerobert wird, wie die Republiken Lugansk und Donetzk besiegt werden und wie letztlich an einem Regime Change in Russland gearbeitet wird. Der Krieg ist die Antwort Russlands, ein endgültiger Schlussstrich unter alle Verständigungsbemühungen mit dem Westen.

Der russische Angriffskrieg ist damit nicht gerechtfertigt, weil kein Angriffskrieg gerechtfertigt ist, aber er hat eine Vorgeschichte des Betruges und der wiederholten Provokationen, die unbedingt beachtet werden muss.

Zur Vorgeschichte des Ukraine-Krieges gehört, dass Gorbatschows Friedenstaten genutzt wurden, um einen geopolitischen Sieg für die USA zu erringen, statt die Weiterentwicklung der Zivilisation in Angriff zu nehmen. Diese Möglichkeit bestand, nicht in der Phantasie, sondern in der Realität, eine einzigartige Chance, von einer Dimension wie es die Abschaffung der Sklaverei war, die es bis dahin immer gegeben hatte, die also angeblich, wie der Krieg, zur menschlichen Natur gehörte. Gorbatschow, Palme, Brandt und Bahr entwarfen das Modell der gemeinsamen Sicherheitspolitik, des gemeinsamen Hauses Europa. 1989 hätte der Beginn einer Entwicklung sein können, die Immanuel Kant in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« skizziert hatte. Die Voraussetzungen waren gegeben! Aber diese Idee hatte mächtige Gegner in den USA.

Ronald Reagan wollte zwar die UdSSR besiegen, teilte aber mit Gorbatschow das Ziel Atomwaffen abzuschaffen; und die meisten sonst noch beteiligten Politiker wollten auch die Chance nutzen, eine neue Friedensordnung zu schaffen, aber im Hintergrund arbeiteten andere an der Idee einer unipolaren Weltordnung, dem Ende der Geschichte, dem Endsieg des US-Imperiums als einziger Supermacht.

Die politische Zukunftsvorstellung dieser Kräfte war kein gemeinsames Haus Europa, sondern den russischen Bären abzuschießen, ihn auszuweiden und sein Fell als Trophäe an die Wand zu hängen, während die Exxon-Fahne über den russischen Gasfeldern hochgezogen würde.

In der Diskussion um die Neuordnung Europas ging es 1989 um die Wiedervereinigung Deutschlands, die Befürchtungen vor einem neuen Großdeutschland wachrief. Gorbatschow wünschte deswegen ursprünglich ein neutrales Deutschland, England wollte gar keine Wiedervereinigung, Frankreich war skeptisch, aber die US-Regierung unter George Bush Sr. sah die Vorteile eines wiedervereinigten Deutschlands in der NATO und trieb diese Entwicklung voran. Gorbatschow akzeptierte diese Version schließlich, sie beinhaltete aber die Zusicherung, keine NATO-Streitkräfte in der ehemaligen DDR zu stationieren. Eine Osterweiterung der NATO war damals kein Thema, es gab aber sehr wohl die Zusicherung des Westens, dass sich die NATO »keinen Zoll nach Osten bewegen würde«. (Man kann die mündlichen Zusicherungen der westlichen Politiker, auch von NATO-Generalsekretär Wörner en detail auf der Webseite des National Security Archives der George Washington-University nachlesen: »What Gorbachev heard« und »What Jeltsin heard«.)

All das ist darüber hinaus selbsterklärend, trotz aller Sophistereien, die auch in Leserbriefen im Goetheanum angestellt werden, trotz der Lüge, dass diese Zusicherung nie gegeben wurde. Hätte Gorbatschow widerstrebend der Wiedervereinigung Deutschlands zugestimmt, wenn auch noch die NATO-Mitgliedschaft der Tschechoslowakei, Polens und der baltischen Staaten als Möglichkeit diskutiert worden wäre?

1989 bewegten sich die politischen Blöcke mit der Absicht einer friedlichen Ordnung aufeinander zu, aufatmend, weil der Kalte Krieg beendet werden konnte. Heute ist das Gegenteil der Fall, und das ist nicht die Folge einer russischen Expansion, sondern einer Art Westbank-Politik der US-NATO-Kräfte.

Bereits 1997 äußerte Jewgeni Primakov, ehemaliger Ministerpräsident, Außenminister und Chef des Auslandsgeheimdienstes Russlands auf einer Konferenz in Oslo, dass Russland vom Westen betrogen worden sei. Noch bis 2007 versuchten nacheinander die russischen Staatslenker Gorbatschow, Jelzin und Putin mit den USA und der NATO zu kooperieren, Jelzin wollte Russland sogar erst zum NATO-Mitglied machen, drohte dann aber 1995 mit Krieg, falls die NATO-Expansion weitergehen würde. Dass die USA 1996 mit einem massiven Eingriff in den Wahlkampf für seinen Sieg in der Präsidentschaftswahl sorgten, befriedete ihn wieder. Putin warb in seiner auf Deutsch gehaltenen Rede 2001 im Bundestag um Freundschaft. Seit 2007, seit dem Angebot der NATO an Georgien, NATO-Mitglied zu werden, einem Angebot, das letztlich zum Georgien-Krieg führte, hat Putin unmissverständlich erklärt, dass Russland keine weitere Osterweiterung der NATO in seine Interessensphäre akzeptieren wird.

Die US-NATO antworteten darauf, dass man Russland keine Interessensphäre zugestehe, so etwas gäbe es nicht, es widerspräche der Souveränität der Staaten. Das erinnert an Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker, entstammt aber nicht wie sein Vorschlag Naivität, sondern böser Absicht. Um diese Behauptung zu widerlegen, braucht man sich nur vorzustellen, Russland stationierte in Venezuela oder Mexiko Hyperschallwaffen.

Das Exempel dafür ist in der Kuba-Krise zu erinnern, die fast zum Atomkrieg führte: Russland installierte auf Kuba Atomraketen, nachdem die USA in der Türkei und Italien Atomraketen stationiert hatte. Die Kriegsgefahr wurde von Chruschtschow und Kennedy beigelegt, die dabei beide entdeckten, dass sie ohne ihre Militärs vernünftig verhandeln konnten. John F. Kennedy wollte danach sogar den Kalten Krieg beenden, was ihm die tödliche Feindschaft einiger seiner höchsten Militärs einbrachte. Die Abmachungen zur Beendigung der Kubakrise, nämlich der Abzug sowohl der US-Raketen als auch der sowjetischen, erfolgten übrigens mündlich! Hätte sich eine der Seiten nicht an die Abmachungen gehalten, wäre daraus ein Weltkrieg entstanden. Es galt in der Diplomatie die Regel, zynisch gesprochen bis zur NATO-Osterweiterung, dass mündliche Absprachen von Staatschefs oder ihren Beauftragten gültig sind. Auch das gehört zum Betrug der US-NATO an Russland.

Der Ukraine-Krieg ist das Ergebnis einer langen Kette von Demütigungen und Provokationen Russlands, die Lage hätte jederzeit entschärft werden können, wenn das gewollt gewesen wäre.

Hier wird es grotesk. Die Notfallmaßnahme zur Beendigung wäre eine Finnlandisierung der Ukraine gewesen, die wirkliche Lösung des Problems aber wäre die erstmalige Umsetzung der Dreigliederung. Die Dreigliederung, also die Trennung eines Staates in Funktionsebenen, nämlich die Sphäre der Freiheit, alles, was mit Debatte, Bildung und Kultur zu tun hat, es wird in den Originaltexten treffend als Geistesleben bezeichnet, die Sphäre der brüderlichen Wirtschaft und die Rechtssphäre der Gleichheit hätte das Grundproblem der Ukraine gelöst.

Sie ist kein Nationalstaat mit einer Sprache und einer Kultur, sondern ein Gebiet mit mittlerweile verfeindeten Bevölkerungsgruppen. Jack Matlock, der ehemalige Botschafter der USA in der UdSSR von 1987 bis 1991, hat die ukrainische Tragödie so klug und auf das Wesentliche reduziert wie niemand sonst in einem Aufsatz beschrieben. Wie überall auf dem Balkan und in Osteuropa besteht auch der ukrainische Staat aus Majoritäten und Minoritäten, Osteuropa ist ein Flickenteppich der Völker. Es ist sicher kein Zufall, dass Rudolf Steiner, der im Balkan aufgewachsen ist, die Idee der Dreigliederung entwarf und das von Woodrow Wilson propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker in aller Schärfe verurteilte. Wilsons Vorschlag mag aus guter Absicht entstanden sein, aber seine Konsequenzen waren verheerend. In einem Staat wie der Ukraine sind nationalistische Ideen der sichere Weg in einen Bürgerkrieg. So hat die ukrainische Regierung die russische Sprache verboten und führte 8 Jahre lang einen Zermürbungskrieg gegen die mit russischstämmiger Bevölkerung bewohnten abtrünnigen Republiken von Lugansk und Donetzk, was zu 14.000 Toten führte. Andererseits befinden sich in diesem Gebiet der größte Teil der Industrie und der Bodenschätze. Die Westukraine ist auf die Wirtschaftsleistung der Ostukraine angewiesen.

In knappen Worten skizziert, wäre also eine kulturelle Autonomie der unterschiedlichen Bevölkerungen, bei einer gleichzeitig von Sachfragen bestimmten wirtschaftlichen Kooperation und einer nüchternen Regelung dieser Verhältnisse die bestmögliche Lösung. Das ist nichts anderes, als was die Dreigliederung vorschlägt. Wäre die Ukraine militärisch neutral und würde sie sowohl mit Russland als auch der EU Handel treiben, wäre das die Lösung. Dazu muss man wissen, dass die ukrainische Führung die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit EU und Russland wollte, aber EU-Chef Barroso zwang ihr eine Entweder-Oder Entscheidung auf.

Gerald Häfner und Otto Schily haben das als eine Schweizer Lösung ins Gespräch gebracht. Tatsächlich ist die Formel Neutralität + Dreigliederung als Name für diesen Vorschlag treffender.

Interessant ist auch, dass Dreigliederung bedeutet, die Autonomie jedes Individuums zu wahren, mit dem Ziel einer menschlichen Entwicklung zu wahrer Humanität, in der jeder Mensch kulturelle Vielfalt als Reichtum erleben kann. Das ist das Gegenteil des Steiner oft unterstellten Rassismus.

Statt sich also der Cancel-Culture durch PR-Maßnahmen anzudienen, wie es derzeit die Waldorfschulen versuchen, inklusive Kündigung von Lehrern und vorauseilendem Gehorsam gegenüber den sie denunzierenden Kräften, statt das Prinzip der Geistesfreiheit aufzugeben, wäre die Ukrainekrise eine Möglichkeit, zu verdeutlichen, was Anthroposophie bedeuten kann.

Statt regalmeterweise exegetische Schriften über die Theorie der Dreigliederung zu verfassen, wäre hier die Gelegenheit zu praktischer Umsetzung.

Warum muss ein bloßer Nutznießer der tätigen Menschenfreundlichkeit der Anthroposophen wie ich, dessen 3 Kinder die Waldorfschule durchlaufen haben, mit dem wichtigsten Ergebnis, dass dort 3 selbstständige, lebensfähige, friedliche und menschenfreundliche Individuen erzogen wurden, der als Konsument die Ergebnisse ihrer Landwirtschaft genießt, der ihren einzigartigen Umgang mit Behinderten bewundert, ihre Verbindung zum Künstlerischen schätzt, an ihre grundlegenden Ideen erinnern?

Ich habe mir eigentlich mehr von »den Anthroposophen« erhofft. Ich erhoffte, dass sie sich einmischen, mit dem Verweis auf die seit mehr als 100 Jahren vorliegenden Früchte ihrer Arbeit, mit einem freundlichen Führungsangebot, das gerufen und wieder ausgeladen werden kann, in Freiheit, im Geiste ihres bei jeder Gelegenheit bis zur Ermüdung zitierten Rudolf Steiner, im Geiste von Joseph Beuys, des größten Schamanen der Gegenwart.

Ich erwarte außerdem ihre Initiative als wesentlichen Teil einer neuen Friedensbewegung, die so bitter nötig ist, nicht nur angesichts dieses Krieges, sondern auch um Frieden mit der Natur zu schließen, mit dem Planeten und um einen Ausblick in eine menschenfreundliche Zukunft jenseits des Great Reset zu ermöglichen. Eine Zukunft, die man nicht fürchten muss, auf die sich meine Kinder und Enkel freuen können, weil sie von ihnen gestaltet werden wird.

Ich erwarte, dass sie sich der Aufgabe Europas stellen, Mitteleuropas, des blutgetränkten Kontinents, der dazugelernt hat, dass sie sich, zusammen mit anderen Menschen guten Willens, allzeit strebend bemühen, Frieden zu schaffen, bei jeder Gelegenheit, die sich konkret bietet – statt sich an der Aufgabe Europas im Sinne seiner Abschaffung durch Anpassung an die Herrschenden und die herrschenden Verhältnisse zu beteiligen.


Die Aufgabe EuropasAutor: Dirk Pohlmann studierte in Mainz Publizistik, Philosophie und Rechtswissenschaft mit dem Abschluss Magister Artium. Er besaß eine Berufspilotenlizenz mit Instrumentenflugberechtigung. Seit 1986 ist er mit zahlreichen Beiträgen in mehreren Fernsehsendern als TV-Autor und Regisseur tätig. Seit 2004 beschäftigt er sich insbesondere mit Geheimdienstoperationen im Kalten Krieg. Er war Drehbuchautor/Regisseur (historischer) Dokumentationen u. a. für ARD, Arte, SpiegelTV und ZDF.

Der Beitrag wurde zuerst in KERNPUNKTE Nr. 3, 20.3.2022 veröffentlicht. Er erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.


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Anmerkungen:


  1. Anmerkung der Redaktion: Anspielung auf den am 8. März auf der Netzseite der Zeitschrift Info3 erschienenen Text von Jost Schieren. Der »Haager Kreis«, Internationale Konferenz für Steiner Waldorfpädagogik und die Pädagogische Sektion am Goetheanum, der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland sowie die Vereinigung der Waldorfkindergärten in Deutschland haben sich seither explizit von der Publikation Jost Schierens distanziert. Schierens Text wurde am 9. März von der Info3-Netzseite entfernt. Dokumentation dazu in Ein.Nachrichtenblatt, Nr. 7, vom 20. März 2020. Bezug: https://einnachrichtenblatt.org/bestellen/ausgaben-2022.

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Ein Kommentar

  1. Brillante Analyse mit Hinweisen auf wunderbare konkrete Lösungswege: Neutralität + Dreigliederung. Vielen Dank!

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