Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.
Wolfgang Janke, Ehrenpräsident der Internationalen Fichte-Gesellschaft und Emeritus der Philosophie an der Universität Wuppertal, setzt sich in seinem Buch »Die Sinnkrise des gegenwärtigen Zeitalters« mit dem Europäischen Nihilismus und seinen geistigen und sozialen Folgen auseinander. Wir Europäer leben nach seiner Auffassung infolge des Nihilismus »im Schatten der ungeheuersten Sonnen- und Gottesfinsternis«, in deren Dunkel die Angst vor einer totalen Sinnlosigkeit wächst. Sein Anliegen ist es, unserer »heillos entfremdeten und entgötterten Welt den verdeckten Sinnhorizont wieder zu eröffnen«.Janke unterscheidet drei Formen des Nihilismus: den unvollkommenen, den pathologischen und den vollkommenen. Der unvollkommene Nihilismus durchherrsche das Sinnverständnis der gegenwärtigen Welt latent in vielerlei Gedankenströmungen: im Positivismus, Darwinismus, Historismus, Wagnerianismus, Romantizismus usw. Diese Gedankenströmungen zerstören laut Janke die Sinngebungen des Platonismus und des Christentums, beerben sie jedoch zugleich, indem sie sich manche ihrer gedanklichen Motive auf verkehrte Weise aneignen. Am spektakulärsten, so Janke, geschehe dies im Darwinismus, der die Sinnstiftung der biblischen Genesis vernichte, nach der der Mensch als Bild Gottes geschaffen worden sei. Der Darwinismus stelle den Menschen unter die Tiere zurück, halte aber an der Idee der Perfektibilität und Zielgerichtetheit fest.
Der pathologische Nihilismus lehre die Kunst des Mißtrauens in alle überlieferten Sinngebungen und demaskiere sie als Versuch, dem sinnlosen Weltlauf eine Bedeutung unterzuschieben. Die Wahrheiten der platonischen Ideenwelt würden von ihm ebenso abgelehnt, wie das christliche Urvertrauen auf Erlösung im Jenseits. Für ihn stehe am Anfang nicht mehr der Logos, sondern der »Unsinn« (Nietzsche). Diese Form des Nihilismus münde in den Verzweiflungsschrei des »tollen Menschen«: »Gott ist tot – und wir alle sind seine Mörder!« Dem pathologischen Nihilisten erscheine die Welt sinnlos und verrückt. Die Konsequenzen dieser Pathologie habe Nietzsche formuliert: »Das größte neuere Ereignis – daß ›Gott tot ist‹ – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen … Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die uns bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik des Schreckens abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, deren Gleiches es wahrscheinlich noch nie auf Erden gegeben hat?«
Der vollkommene Nihilismus, der ebenfalls in Nietzsche zutage trat, habe keine neuen menschlichen Werte gestiftet, sondern den »Übermenschen« zum Sinn der Erde erklärt, der den furchtbaren Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen auszuhalten vermöge. Das Nichts, die Sinnlosigkeit, verewigt, ewig wiederkehrend: das ist die Vollendung des Nihilismus.
Diese trostlosen Perspektiven sind für Janke kein erledigtes Kapitel der Philosophiegeschichte oder die Ausgeburt der individuellen Pathologie eines Denkers, sie kennzeichnen vielmehr die »heillose Krise« unserer Gegenwart, die sich in vielerlei Symptomen zeige: in den Entstellungen der Erde durch moderne Maschinentechnik, Umweltzerstörungen und Klimakatastrophe, in der Entfremdung der Arbeitswelt, der Entwertung aller Werte, dem fanatischen Terrorismus, den Schrecknissen totalitärer Weltanschauung, des Rassenwahns und ethnischer Säuberungen, in Führerkult und Herrenmenschentum, schließlich in der heillosen Entgötterung, Entmythologisierung, Säkularisierung und Profanisierung der Weltwirklichkeit.
Jankes Blick auf das gegenwärtige Zeitalter ist der eines Traditionalisten und Perennialisten, für den der äußerliche Fortgang der Geschichte nichts als Niedergang und Verfall bedeutet. Rettung in dieser heillosen Welt des fortstürzenden Niedergangs kann nur aus der Rückbesinnung auf die Werte und Wahrheiten kommen, die einst gegolten haben und immer noch gelten, wenn man sich in der richtigen Weise auf sie besinnt. Allerdings betont er, dass die nihilistischen Zerstörungen nicht dadurch zu beheben seien, dass man verlorene Sinnstiftungen einfach restaurativ wieder zur Geltung bringe. Vielmehr müsse die philosophische Analyse in das nihilistische Denken eintauchen, seine falschen Voraussetzungen aufdecken und seine irrtümlichen Konsequenzen zurecht denken. Nur so könne der weltbeherrschende Nihilismus überwunden und das Ganze der zerstörten Sinnstiftung wieder aufgebaut werden. Dazu bedürfe es einer neuen Methodologie, Alethologie (Wahrheitslehre), Kosmologie und Theologie. Nur der Durchgang durch die Krise der Gottlosigkeit und Sinnlosigkeit kann zu einer Restitution (Wiederherstellung) des Sinnes der Welt führen, und dem gegenwärtigen »ehrfurchtslosen, danklosen, gebetslosen, verweltlichten, wissenschaftsgläubigen Menschengeschlecht« die »numinose Ehrfurcht« und das »feste Gottvertrauen« zurückbringen.
In vier großen Kapiteln: »Wege im Nihilismus«, »Existentiale Wahrheiten«, »Entfremdete Welten« und »Tote Gottheiten« geht Janke dem nihilistischen Geist unseres Zeitalters auf den Grund und entwickelt aus dessen Kritik seine »Restitutionsphilosophie«, eine »restitutio in integrum«, durch die jene Wahrheiten wieder zum Vorschein kommen können, die durch die neuzeitliche Sonnenfinsternis verdunkelt sind. Er setzt sich mit der Sprachphilosophie auseinander, mit unterschiedlichen Wahrheitstheorien, dem Problem des Todes, den Stimmungen und der Zeitlichkeit, den christlichen Befindlichkeiten Glaube, Liebe und Hoffnung, der Stellung des Menschen im Kosmos, der Entmythologisierung der Welt, der Umweltproblematik, mit Demokratisierung und Tyrannis, Ideologie und Terror und dem Geheimnis der Menschwerdung und Auferstehung Gottes. Auf all die verschlungenen Argumentationsgänge im Einzelnen einzugehen, sprengt den Rahmen dieser Besprechung. Als Beispiel sei Jankes Kritik der Entmythologisierung herausgegriffen.
Bultmann hatte bemerkt, dass das Weltbild des Neuen Testaments mythisch sei. Die christliche Verkündigung sei insgesamt in ein mythologisches Weltverständnis eingebettet, das die Wissenschaft inzwischen überwunden habe. Der Kosmos ist im Neuen Testament spirituell in Bereiche gegliedert, in denen Seelen- und Geistwesen nach Maßgabe ihrer Gottnähe oder Gottferne wohnen. Auch der Zeitverlauf ist von spirituellen Gesetzen durchdrungen. Es gibt ein apokalyptisches Untergangs- und Heilsgeschehen, eine Wiederkunft Christi am Ende aller Tage. Auch der Mensch hat Teil an der mythischen Seinsordnung, er wird von Dämonen verführt, aber auch von Engeln gerettet. All dies erscheint Bultmann vom Standpunkt des aufgeklärten Bewußtseins als sinnlos. Nach der kopernikanischen Revolution gibt es keinen Himmel mehr, in dem Gott thront, nach der Einführung des mechanischen Weltbegriffs keine Natur mehr, in der Dämonen wirken, selbst die »mythologische Weltgeschichte«, die die Parusie Christi erwartet, ist überlebt. Wenn die christliche Botschaft angesichts der neuzeitlichen Wissenschaft noch einen Sinn haben soll, dann muss sie von ihrer mythischen Einkleidung vollständig befreit werden.
Gegen die Bereitschaft Bultmanns, vor dem wissenschaftlichen Weltbild zu kapitulieren wendet Janke ein, sie erhebe den jeweiligen Forschungsstand der positiven Wissenschaft zur letzten Instanz, obgleich sich dieser Forschungsstand doch ständig wandle. Wer den Fortschritt der Wissenschaft gegen den Mythos ins Feld führe, müsse bedenken, dass die Idee des Fortschritts durch den Nihilismus selbst zu Fall gebracht worden sei. Außerdem habe die Mythenforschung die Abwertung des Mythos inzwischen revidiert. Es sei ebenfalls moderner Forschungsstand, dass die Welterschließungen von Mythos, Metaphysik und positiver Wissenschaft bei aller Verschiedenheit gleichursprüngliche Möglichkeiten menschlichen Weltverstehens seien. Die positive Wissenschaft fördere lediglich für begrenzte Zeiträume geltende faktische Wahrheiten zutage, was gegen ihre Verabsolutierung spreche. Der Mythos besitze seine eigene Ontologie, beruhe auf einem eigenen Erfahrungssystem, das nicht auf positivistische Paradigmen reduzierbar oder in diese übersetzbar sei. Die mythischen Denk- und Erfahrungssysteme seien als symbolische Lebensformen (Cassirer) mit den metaphysischen und physikalistischen gleichberechtigt. Statt das mythologische Weltbild des Neuen Testamentes, ja das mythische Weltbild überhaupt preiszugeben, sollte es vielmehr als hermeneutische Aufgabe erkannt und anerkannt werden. Mit Mircea Eliade argumentiert Janke gegen die Reduktion des Mythos auf rationale (euhemeristische, allegorische) Erklärungen: denn nur die symbolische Sprache des Mythos könne das christliche Gottes- und Weltbild angemessen zur Sprache bringen. Statt die Welt zu entmythologisieren, sollte sie remythologisiert werden. Der wissenschaftliche Positivismus sei in die Schranken zu weisen. Eine solche Remythisierung könne im Anschluss an Hölderlin, »den Deuter der mythischen Welt in unserer Nacht der Götterferne«, erfolgen.
Hölderlin kehre das Verhältnis zwischen wissenschaftlich-aufgeklärter und dichterisch-mythischer Welt um. Die »verwissenschaftlichte, entgötterte, undichterische Welt« sei für ihn »die falsche Wirklichkeit«. Sie verweigere dem Heiligen die Annahme, aus ihr seien die Götter entflohen und Christus habe sich aus ihr, als der letzte der Göttersöhne, in den Himmel zurückgezogen, nicht, ohne seine Wiederkunft anzukündigen. Die wahre Wirklichkeit dagegen sei im Heiligen und Göttlichen geborgen. Im Sehen des Dichters werde sie ins Wort gebracht. Der sehende Dichter beschwört die einigen Drei, den Äther, die Erde, das Licht, die ewig Himmel und Erde durchwalten. Vater Äther ist der Urgott, der allen Sterblichen den Odem des Lebens schenkt. Der allbeseelende Vater verbindet sich mit dem leuchtenden Licht und der Wärme der Sonne und mit der Erde, der allesnährenden, die im Atem des Äthers und dem Licht der Sonne aufblüht.
Mit dieser dichterischen »Wahrung mythischer Weltwirklichkeit« trete, so Janke, der postmetaphysische Denker Heidegger ins Zwiegespräch. Für den späten Heidegger wird die Welt zum »Geviert« von Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen, sie ist deren »einigendes Spiegel-Spiel« in Einfalt. Heidegger faßt die »unvernutzte Dingheit ureigener Dinge« ins Auge, die »Versammeltheit« eines Wasserkrugs, der den Sterblichen Wasser spendet, eine Quelle, die aus dem Dunkel als Licht strömt, einen Tempel, der einen heiligen Bezirk aus profaner Landschaft herausschneidet, um darin der Anbetung der Götter Raum zu geben. Das »versammelnde Ding« eröffnet einen Weltzusammenhang, der solch »zuhandenem Zeug« wie dem Werkzeug des Zimmermanns, das zum Nageln taugt, verschlossen bleibt. Die ureigenen Dinge, die nicht zu Werkzeugen menschlicher Zwecke entfremdet sind, versammeln in sich die ewige Vierheit: Erde und Himmel, Götter und Sterbliche.
Die Erde ist nicht bloß Baugrund, Ackerland, Wohnort, Ressource, sondern sie ist – als Gaia – Welt- und Lebensmacht, Nährerin der Früchte und des Getiers. Wir Sterblichen müssen sie voller Scheu schonen und ehrfürchtig pflegen. Aber die Erde ist allnährender Grund nur im Verein mit dem Himmel. Dieser wiederum ist nicht bloß Behälter für eine Unzahl von Sternen, Träger der Wolken und Spender des Regens, sondern, in ursprünglicher Sakralität erfahren, die Urmacht, die Sonne und Mond in Gang hält, die Jahreszeiten regelt, das Leben auf Erden befruchtet und erwärmt. Er ist kosmogonische Urmacht und erzeugt zusammen mit der Erde in heiliger Hochzeit Wachstum und Leben aller Dinge unter dem Himmel. Der Mensch, der sich Himmel und Erde rücksichtslos verfügbar macht, begeht einen Frevel an ihnen. Bei seinem Versuch, sie sich prometheisch zu unterwerfen, zerstört er das heilige Geviert und sich selbst.
Werden hingegen Himmel und Erde mythisch gewahrt, dann kommen die göttlichen Himmelsgestalten zur Sprache. Am Himmel erscheinen die Heerscharen der Engel, an griechischen Schicksalstagen Götterboten, um den Sterblichen von den Ratschlüssen der Götter Kunde zu bringen. Diese Götterboten sind keine fiktiven Gestalten der Phantasie. Der Mythos meint es ernst: es gibt Engel. Die »winkenden Boten der Gottheit« gehen den Menschen an und sie walten, wie Hermes, als Übersetzer des Göttlichen ins Menschliche.
Die »redenden und rufenden« Götter, um die Navaho zu zitieren, finden in unserer profanierten Welt kaum Gehör. Aber im Heiligen und Numinosen beginnen die Götter zu reden. Das Heilige ist der Ort, an dem Menschen von Göttern angesprochen werden und ihre Rede vernehmen. Im Mythischen und Sakralen erscheint die Klarheit des Göttlichen, in der Apophanie. In der profanen Säkularität ist das Göttliche verschlossen. Die Götter bedürfen der Menschen, die ihre Rede vernehmen. Daher gehört der Mensch zur Vierung hinzu. Der Mensch ist weder das autarke Vernunftwesen, noch das listigste der Tiere, er ist allein der Sterbliche, nicht weil sein Leben, wie das von Pflanze und Tier von begrenzter Dauer ist, sondern weil er allein vom Geheimnis des Todes angeweht wird. »Der Tod, als der Schrein des Nichts«, ist für Heidegger »das Gebirge des Seins.« Wir Sterblichen sind in der Feier des Todes in das Heilige, Überirdische, das sich im Geschick des Seins entbirgt, unlösbar verschränkt.
Das Welt-Geviert aber ereignet sich in »Einfalt«. Denn Himmel und Erde, Sterbliche und Unsterbliche sind nicht voneinander getrennt. In freiem Zusammenspiel falten sich die vier ineinander. In jedem einzelnen spiegeln sich die drei anderen: Erde, Himmel und Götter im Menschen und reihum, jeweils drei in einem. So betrachtet, erscheint die »mächtige, göttlichschöne Natur« als das Höchste, Allerschaffende, das alles Unheile, Profane, Ehrfurchtslose und Zudringliche von sich abweist.
Was durch diese kurze Erörterung deutlich wird: für Janke ist die Sprache das Haus des Seins. Sie ist nicht, wie für Wittgenstein, ein Mittel zur »Verhexung unseres Verstandes«, sondern das Medium, das die verschlossenen Geheimnisse des Seins aufschließt. Die »restitutio in integrum« unserer entgötterten Welt bedarf einer Sprache, die die vergessenen und verschütteten Dimensionen der Wirklichkeit wieder zum Vorschein bringt, die wohl vergessen, aber nicht vergangen sind. Nur: wer vermag diese Sprache noch zu verstehen? Und für wen schreibt Janke? Für die kleine Schar ausgewählter Esoteriker, die sich dem perennialistischen Paradigma verpflichtet fühlen? Denn die Vielen, die in den Strudel von facebook und youtube hineingesogen werden, erreicht wohl diese entbergende Sprache kaum. Ihnen geht ein neues Numen auf: das Numen der virtuellen Offenbarung, das alles Menschliche und Göttliche verschlingt. Für diese Vielen müssen wir eine Sprache finden, die sie verstehen.