Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2022.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion brachte nicht nur eine bestimmte Form der westlichen Moderne nach Russland, sondern auch eine eigenwillige Variante des Traditionalismus: das Eurasiertum. Diese politisch-esoterische Philosophie wurde von Alexander Dugin entwickelt und richtete sich zunächst an jenen Teil der Gesellschaft, der die Politik Boris Jelzins und die Umwandlung Russlands in eine nach westlichem Muster geformte liberale Demokratie ablehnte. Als sich das politische Klima unter Wladimir Putin wandelte, rückte das Eurasiertum vom Rand in die Mitte der Politik.
Traditionalistischer Untergrund
Auch wenn er bis zur Perestroika auf Dissidentenkreise beschränkt war, gab es bereits in den 1960er Jahren russische Anhänger des Traditionalismus. Dieser erreichte die Sowjetunion durch die Hintertür der Leninbibliothek in Moskau, die ungewöhnlich gut mit traditionalistischen Werken ausgestattet war. Der russische Dichter Jewgeni Golowin zum Beispiel wurde 1962 oder 1963 durch Hinweise in Louis Pauwels »Le matin des magiciens« auf sie aufmerksam.
Golowin steckte eine gleichgesinnte Gruppe von Dissidenten mit seinem Interesse an. Zu dieser Gruppe gehörten Gaydar Jamal und Alexander Dugin, die zu den zwei wichtigsten Traditionalisten Russlands heranwuchsen. Jamal, der dem Kreis 1967 beitrat, war aserbaidschanischer Herkunft, hatte aber eine säkulare Erziehung genossen. Als junger Mann vergrub er sich in die philosophische Bibliothek seines Großvaters, eines ottomanischen Türken, der nach Russland ausgewandert war, in der Oktoberrevolution auf Seiten der Bolschewiken gekämpft hatte und später am staatlichen Institut für Theater unterrichtete. Dugin, der sich dem Kreis um 1980 anschloss, war der Sohn eines Offiziers der sowjetischen Armee.
Golowin, Jamal und später Dugin versuchten den Traditionalismus aus den Büchern zu rekonstruieren, die sie in der Lenin-Bibliothek fanden. Manchmal erschlossen sie den Inhalt fehlender Bücher einzig aus ihren Titeln. Zwar befand sich Guénons »Symbolik des Kreuzes« in der geschlossenen Abteilung der Bibliothek, dafür war Evolas »Heidnischer Imperialismus« in der Ausgabe von 1933 seit 1957 öffentlich zugänglich – aus was für Gründen auch immer. Russische Traditionalisten, die sich in ihrer Sicht der Moderne Guénon anschlossen, reagierten auf sie nach den Vorgaben Evolas (zumindest nach 1991).
Der Traditionalismus bot eine intellektuell überzeugende Erklärung für die sowjetischen Zustände, die von den Dissidenten abgelehnt wurden, aber bewegte sie nicht zu irgendwelchen Aktionen. Dugin übersetzte Evolas »Heidnischen Imperialismus« 1981 ins Russische, aber seinem Versuch, das Buch in der Untergrundpresse zu verbreiten, war kein Erfolg beschieden. Weder die spirituelle Aktivität, zu der Guénon normalerweise im Westen anleitete, noch die politische Aktivität, die Evola nahelegte, war in Moskau in den 1960er und 1970er Jahren möglich. Bestehende traditionalistische Gruppen konnten aus der Sowjetunion nur schwer kontaktiert werden, auch wenn es Wladimir Stepanow, einem ehemaligen Studenten des Moskauer Instituts für Philosophie gelang, mit einem britischen Neosufi, dem bekannten Dichter Robert Graves (der allerdings kein Traditionalist war) Verbindung aufzunehmen. Und auch wenn sich Jamal 1980 in Tadschikistan dem Naqshbandiyya Sufi-Orden anschloss, scheint der Sufismus für ihn keine große Bedeutung gehabt zu haben. Als er Golowin und Dugin auf eine monatelange Reise in den Pamir mitnahm, besuchten sie nicht seinen Scheich, sondern nur Gräber von Sufiheiligen.
Am nächsten kam der Kreis Golowins konkreten Aktionen noch dadurch, dass sich seine Mitglieder regelmäßig betranken. Exzesse wurden als eine Form der Revolte betrachtet. Solche Exzesse kann man in manchen Erzählungen Jurij Mamlejews, eines anderen Mitglieds des Golowin-Kreises bewundern, der von einem Kritiker als »Meister der sexuellen und nekrophilen Groteske« bezeichnet wurde.
Golowins Kreis scheint wenig offizielle Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, auch wenn Jamal mehr als einmal in einer psychiatrischen Anstalt landete (in denen der KGB damals gewöhnlich die Dissidenten wegschloss). Aber meist wurden diese Zirkel innerhalb bestimmter Grenzen toleriert, die Dugin offensichtlich überschritt. Denn 1983 erfuhr der KGB von einer Party, die im Studio eines Malers stattfand, bei der Dugin Gitarre gespielt und »mystische antikommunistische Lieder« gesungen haben sollte. Er wurde daraufhin verhaftet. In seinem Zimmer fand der KGB verbotene Literatur (unter anderem Bücher von Solschenizyn und Mamlejew, der inzwischen nach Amerika ausgewandert war). Dugin wurde aus dem Institut für Luftfahrt geworfen, an dem er studierte. Er fand eine Anstellung als Straßenkehrer, setzte aber seine Studien in der Lenin-Bibliothek mit Hilfe eines gefälschten Ausweises fort.
Traditionalismus in der Zeit der Perestroika
Die Zeit der Perestroika (1986-1991) war in mancherlei Hinsicht eine goldene Ära für »unabhängige« Intellektuelle. Das zuvor Undenkbare war auf einmal denkbar, ja, es wurde sogar populär. Verbote wurden aufgehoben, neue Gebiete auch für Menschen zugänglich, die nicht der Partei angehörten, neue Ideen aussprechbar. 1988 veröffentlichte das Bulletin der estnischen orientalischen Gesellschaft sogar eine Übersetzung der »kosmischen Zyklen« Guénons.
Während der Perestroika begannen auch die russischen Traditionalisten aktiv zu werden. 1987 traten Dugin und Jamal der Organisation »Pamjat« (Erinnerung) bei, nach Einschätzung Dugins die reaktionärste Gruppierung, die es damals gab. Sie hofften, sie in Richtung Traditionalismus beeinflussen zu können, so wie Eliade einst gehofft hatte, er könne die Legion des Erzengels Michael beeinflussen oder Evola die Faschisten oder die SS.
Die Pamjat war das Sammelbecken einer populären Opposition gegen die Perestroika. 1974 von Restaurateuren und Historikern gegründet, strebte sie nach der Erhaltung des kulturellen Erbes Russlands und wurde 1987 zu einer Massenorganisation, möglicherweise dank der Förderung durch den KGB, der in der Bewegung ein Sicherheitsventil sah, das den Dampf ablassen sollte, den die Dissidenten erzeugten. Die Pamjat kritisierte die Reformen Gorbatschows und behauptete, das wahre Russland zu verteidigen: die Organisation griff die Russophobie, den Zionismus und die weltweite Verschwörung der Freimaurer an. Der Begriff Russophobie zielte auf die liberalen westlichen Werte, die angeblich den russischen Staat unterhöhlten.
Dugins und Jamals Versuche, die Pamjat zu infiltrieren, waren nicht erfolgreicher als die früheren Versuche Eliades oder Evolas. Zwar konnten sich Seminare, die sie veranstalteten, zahlreicher Besucher erfreuen und Dugin wurde 1988 sogar in den Zentralrat der Pamjat berufen, aber 1989 gaben sie auf und verließen die Organisation. Dugin bezeichnete deren Mitglieder später als »Hysteriker«, »KGB-Kollaborateure« und »Schizophrene«. Viele andere kamen zu ähnlichen Schlüssen und die Pamjat versank in der Versenkung. Ihre Bedeutung für die russische Opposition lässt sich mit jener der Theosophischen Gesellschaft im Westen vergleichen: sie förderte Personen, die später anderswo ihre Wirksamkeit entfalteten.
Nach 1989 verliefen die Aktivitäten Dugins und Jamals auf unterschiedlichen, aber parallelen Bahnen. 1990 begann sich in der Sowjetunion der Islamismus zu entwickeln. Jamal war einer der Gründer der Partei der islamischen Wiedergeburt. Nach dem Kollaps der Sowjetunion beteiligte sich Dugin an der Gründung der nicht ganz ernst gemeinten Nationalbolschewistischen Partei und trat in nähere Beziehungen zu zwei bedeutenden Figuren des politischen Lebens. Der eine war Gennadij Ziuganow, der Anführer der kommunistischen Partei der russischen Föderation. Der andere Alexander Andrejewitsch Prochanow, der Kopf einer Gruppe, die unter dem Namen »Patrioten« bekannt wurde. Prochanow war ein fleißiger Autor, dessen wichtigstes Werk das 1982 erschienene Buch »Ein Baum im Zentrum Kabuls« war. Dieses und andere Werke verschafften ihm den ironisch gemeinten Titel »Nachtigall des Generalstabs«.
Die neuen Eurasier
Dass Dugin, den der KGB einst verhaftet hatte, Kampfgefährte des Anführers der kommunistischen Partei wurde, war eine sonderbare Wandlung. Später sollte er eine weitere Wandlung durchlaufen, die nicht weniger sonderbar war und die ihn von der kommunistischen Partei in die Nähe Putins führte. Aber diese Wandlungen bedeuten nicht unbedingt Inkonsequenz. Wie Evola blieb auch Dugin in erster Linie seinen eigenen Überzeugungen treu und nicht den politischen Ideen anderer Leute.
Dugin gab für seine erste Wandlung zwei Gründe an. 1989 reiste er wiederholt in den Westen und sprach vor der Neuen Rechten in Frankreich, Spanien und Belgien. Diese Besuche waren wichtig, da sie zu einer grundlegenden Neuorientierung bei ihm führten. Nachdem er lange Zeit geglaubt hatte, die Sowjetunion sei das Schlimmste gewesen, das er je erlebt hatte, musste er nun erfahren, dass der Westen noch weit schlimmer war – eine Erfahrung, die für sowjetische Dissidenten nicht untypisch ist. Die Wandlung seiner politischen Position kam im August 1991 zum Abschluss, als ein Staatskomitee während eines schlecht geplanten Putsches dabei versagte, die Kontrolle über den Staat zu behalten und stattdessen die endgültige Auflösung der Sowjetunion einleitete. Das Dokument, das als das Manifest dieses Komitees betrachtet wird, erschien am 23. Juli 1991 in der »Sowjetskaja Rossija« (»Sowjetrussland«) unter dem Titel »Ein Wort an das Volk« und war von Dugins späteren Mitstreitern Gennadij Ziuganow und Alexander Prochanow verfasst worden. Dugin war von der Menge in Moskau, die nach Demokratie, Freiheit und dem Markt rief, so abgestoßen, dass er im Augenblick, als die Sowjetunion auseinanderfiel, seine prosowjetischen Gefühle entdeckte.
Dugin nahm allerdings auch Änderungen an der traditionalistischen Philosophie vor. Die erste Korrektur betraf Guénons Verständnis des orthodoxen Christentums und ist mit Coomaraswamys Korrektur der Ansichten Guénons über den Buddhismus vergleichbar. Deutlich kommt diese Korrektur in Dugins Buch »Metaphysik des Evangeliums: Orthodoxe Esoterik« zum Ausdruck. Guénon, so Dugin, habe nicht das Christentum, sondern den abendländischen Katholizismus verworfen. Insoweit sei er im Recht gewesen, nicht aber mit seiner Zurückweisung der östlichen Orthodoxie, von der er kaum etwas gewusst habe. Nach Dugin hat die Orthodoxie im Unterschied zum Katholismus ihren initiatischen Wert nie verloren und blieb demnach eine Tradition, der sich ein Traditionalist anschließen kann. Dugin übersetzt einen Großteil der traditionalistischen Philosophie in orthodoxe Begriffe und diese führt bei ihm daher nicht zum Sufismus, sondern zur russischen Orthodoxie als esoterischer und exoterischer Praxis.
Seine zweite Änderung bestand darin, dass er den Traditionalismus mit der Geopolitik oder dem Eurasiertum verknüpfte. Diese Denkrichtung ist mit jener verwandt, die Samuel Huntington durch sein Buch »Kampf der Kulturen« popularisierte. Sie betrachtet Konflikte zwischen Blöcken als unausweichliche Folge objektiver geographischer und nicht kultureller Faktoren, wie Huntington dies tut. Dugin stellt einen atlantischen Block, dem maritime Völker, die zum Freihandel und zum demokratischen Liberalismus bestimmt sind, einem eurasischen Block gegenüber, der dem Zentralismus und der Spiritualität zugewandt ist.
Das russische Eurasiertum hat viele Väter, darunter den Philosophen Konstantin Nikolajewitsch Leontjew im 19. Jahrhundert, der sich über den russischen Partikularismus ausließ. Man findet es auch bei russischen Emigranten der 1920er Jahre, die sich auf den britischen Geographen Sir Halford Mackinder stützten. Seine Hauptthese vom fundamentalen Unterschied zwischen dem eurasischen Herzland und der atlantischen Welt entwickelte er in seinem Buch »Demokratie als Idee und Realität«, das er während der Pariser Friedenskonferenz 1919 veröffentlichte. Die Absicht dieses konservativen Parlamentariers und strammen Imperialisten war, den atlantischen Block (Amerika und England) von der Notwendigkeit einer Intervention zu überzeugen, die einen Ausgleich zwischen den beiden kontinentalen Mächten Deutschland und Russland schaffen sollte. Ironischerweise wurde ihm in Eurasien mehr Aufmerksamkeit zuteil, als in der atlantischen Welt.
Wenn der Traditionalismus erst einmal von seinem Zusammenhang mit dem Hinduismus und dem Islam getrennt und auf die Orthodoxie orientiert ist, erweist er sich als nahezu perfekte Ergänzung zum Eurasiertum. Der atlantische Block lässt sich mit dem Kali Yuga, der Moderne, dem Fehlen wirklicher Spiritualität und der Demokratie identifizieren. Russland dagegen wird zum Reservoir einer mächtigen und ausgedehnten initiatischen Tradition und besitzt die beste spirituelle und metaphysische Rechtfertigung für seinen unausweichlichen Kampf gegen die Mächte der Finsternis, die sich in der atlantischen Allianz verkörpern. So wie es die historische Mission der Sowjetunion war, den Kommunismus zu realisieren, ist es jetzt die heilige Mission Russlands, den orthodoxen Traditionalismus zu realisieren. Laut Dugins »neuem Eurasiertum« muss die östliche Kirche »ihre Mission im planetarischen Kontext erfüllen«.
Quelle: Mark Sedgwick, Against the Modern World. Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century, Oxford 2004, S. 222 f.
Fortsetzung: Alexander Dugins politische Aktivitäten