Die Anthroposophie: ein »Rückfall« in den Mythos?

Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.

Steiner, Kritische Ausgabe Band 7Im November 2014 ist als zweiter Band der Kritischen Ausgabe (SKA) Band 7 mit Schriften Steiners zur Erkenntnisschulung erschienen. Darin enthalten sind »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«, »Die Stufen der höheren Erkenntnis« sowie einige Materialien aus Steiners erkenntniskultischer Arbeit. Das Vorwort zu diesem Band hat Gerhard Wehr verfasst.

Wie bereits der 2013 vorgelegte Band 5 – »Schriften über Mystik, Mysterienwesen und Religionsgeschichte« – bietet auch der vorliegende eine kritische Edition der unterschiedlichen Ausgaben der Schriften und einen – gegenüber Band 5 erheblich umfangreicheren – Stellenkommentar, für die Christian Clement verantwortlich zeichnet. Außerdem schickt Clement der Textedition eine rund 80seitige, äußerst gedankenreiche Einleitung voraus, die eine ganze Reihe von Forschungsfragen erörtert, deren Lektüre höchst anregend ist, obwohl man sie als Paradebeispiel jenes Ansatzes der Esoterikforschung betrachten muss, den Wouter Hanegraaff als »methodischen Agnostizismus« bezeichnet hat.

Charakterologie

Der Herausgeber arbeitet in seiner Einleitung zunächst den besonderen »Charakter der anthroposophischen Erkenntnisschulung« heraus, indem er diese in die lange Tradition mythischer, philosophischer und psychologischer Jenseitsreisen des Abendlandes stellt. Diese »lange Tradition« lässt er mit den platonischen Dialogen beginnen und über die verschiedenen spätantiken und mittelalterlichen Spielarten des Neuplatonismus, der Gnosis und der Mystik bis zu jenen neuzeitlichen Konzeptionen der Selbstoptimierung und Menschheitserziehung verlaufen, die vom 17. bis ins 20. Jahrhundert entwickelt wurden. Stellvertretend für andere nennt Clement Autoren wie Jakob Böhme, Lessing, Kant, Schiller, Marx, Wagner, Nietzsche, Freud und Heidegger. Sie alle hätten versucht, den Menschen durch unterschiedliche Methoden auf eine höhere Stufe des Wahrnehmens und Erkennens zu führen, sei es durch Ideenschau, religiöse Inbrunst, kritische Rationalität, Empfindsamkeit, ästhetische Erfahrung, dialektisches Denken, Klassenbewusstsein oder die Analyse des Unbewussten.

Steiner suchte im Unterschied zu diesen Autoren laut Clement nicht nur »den Anschluss an die mythischen Ursprünge« des abendländischen Denkens, sondern auch die »Anbindung des präreflexiven mythischen Bildbewusstseins an jene neuzeitlichen Errungenschaften des Geistes, in denen die Grundlage des modernen Selbstverständnisses des Menschen geschaffen wurde«. Steiners Ziel sei kein geringeres gewesen, »als die Tiefe, Konkretheit und Realitätsnähe des alten mythischen Bildbewusstseins mit der Klarheit, Schärfe und Logik des neuzeitlich-wissenschaftlichen Denkens zu einer Synthese zu bringen«. Und in der Tat: In einem kritischen Aufsatz über Oswald Spengler schrieb Steiner 1922: »Von traumhafter Bildlichkeit durch vollbewusste Abstraktion zur ebenso vollbewussten Imagination: das ist der Entwicklungsgang des menschlichen Denkens. Der Aufstieg zu dieser bewussten Imagination steht als Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit.« Aus Steiners Sicht sollte also dieser Entwicklungsgang zu jener »Tiefe, Konkretheit und Realitätsnähe« zurück- oder wieder hinaufführen, die das mythisch-imaginative Bewusstsein auszeichnete, ohne dass dabei das durch die Abstraktion errungene wache Ichbewusstsein verlorenging. Nimmt man diese Aussage Steiners Ernst, kann »die Anthroposophie insgesamt«, wie Clement in einem seiner Stellenkommentare schreibt, »als Versuch einer Erneuerung mythischen Denkens in der Moderne aufgefasst werden« (S. 321. – Ich komme darauf zurück).

Dieses Projekt ist nicht neu. Hegel, Hölderlin und Schelling konzipierten Ende 1795 im gemeinsamen Gespräch im Hinblick auf die Defizite der Aufklärung die Idee einer Philosophie, die wieder mythologisch werden sollte. Im von Hegel aufgezeichneten Text heißt es: »Zu gleicher Zeit hören wir oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen!

Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muss im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden.

Ehe wir die Ideen ästhetisch, d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse, und umgekehrt: ehe die Mythologie vernünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, um das Volk vernünftig, und die Philosophie sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer mehr der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte Werk der Menschheit sein.«

Was die drei von der Frühromantik beseelten Tübinger Freunde hier von einem »himmlischen Geist« erwarteten oder erhofften, suchte Steiner durch methodische Schulung von Erkenntniskräften zugänglich zu machen, die in jedem Menschen schlummern. Im Unterschied zu seinen Vorgängern sah er den Weg zu diesem Ziel in der Meditation. Sie sollte, systematisch gepflegt und von einer tiefgehenden Umwandlung der Seele flankiert, jene Ausbildung aller Kräfte und die allgemeine Freiheit der Geister herbeiführen, von der das Tübinger Dreigestirn mehr schwärmte, als besonnen redete.

Steiners Schriften zur Erkenntnisschulung spielten laut Clement bei der »Wiederentdeckung der Meditation im europäisch-abendländischen Kulturkreis eine wichtige Rolle«. In dieser Hinsicht hatte ihm die von H.P. Blavatsky begründete theosophische Bewegung bereits vorgearbeitet. Erst durch die von ihr initiierte »Entdeckung der östlichen Spiritualität«, so Clement, lernte das Abendland die Meditation als ein … eigenständiges Mittel der Vervollkommnung der Erkenntnis und des Charakters wieder kennen und schätzen«. Insofern lag Steiners Anschluss an diese theosophische Bewegung auf der Hand, war sie doch die einzige, die sich eine Erneuerung der erstarrten abendländischen Zivilisation von einer spirituellen Reformation erhoffte.

Nun ist aber die Meditation keineswegs ein exotischer Import aus dem Orient. Vielmehr ist sie »als systematische Arbeit des Bewusstseins an sich selbst« durchaus in der westlichen Tradition verankert, wenn auch durch die Entwicklung seit der Aufklärung aus ihr verdrängt worden. »Meditation im modernen Sinn«, schreibt Clement, »verbindet das in Wissenschaft und Philosophie gepflegte wache Beobachten und rationale Denken mit der in Mystik, Magie und Religion kultivierten Versenkung in Bilder, Gefühle und Stimmungen, in der das diskursive Denken systematisch ausgeschaltet wird, sie arbeitet mit subtilen Methoden der Introspektion und Selbstanalyse …, baut aber zugleich … auf das unser Vorstellen, Fühlen und Wollen transformierende Potential der Auseinandersetzungen mit den Produkten der menschlichen Einbildungskraft.«

Die anthroposophische Meditation ist insofern »tief verbunden mit religiösen und mystischen, aber auch philosophischen und wissenschaftlichen Kulturtechniken des Abendlandes.« Sie zielt nicht primär auf eine gefühlshaft-religiöse Vertiefung, sondern »auf die systematische und streng geregelte Hervorbringung neuer und verfeinerter Formen des klarbewussten Denkens, aus denen ebenso eigenständige Wahrnehmungs- und Erlebniswelten hervorgehen, wie die sinnlich-greifbare Welt unserer Alltagserfahrung aus dem an sinnliche Inhalte gebundenen Denken entspringt.« In der anthroposophischen Meditation geht es laut Clement weder um die Flucht in »ideale Parallelwelten«, noch um die Auflösung des Individuums im Absoluten, sondern darum, tiefer in die sinnlich-greifbare Welt hineinzuführen. »Der Mensch soll nach Steiner … die materielle Welt als Manifestation seines eigenen innersten Wesenskernes erkennen lernen und sich so mit ihr umso wesenhafter verbinden, um sie dann, gewissermaßen die traditionelle Rolle des Schöpfergottes übernehmend und weiterführend, mittels seiner Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen schöpferisch um- und weitergestalten zu können.« Ziel dieser Meditation ist nicht die Freiheit von der Welt, sondern die Freiheit in der Welt.

Steiners Erkenntnisschulung ist »modern« und »westlich«, weil sie den Meditierenden zur umfassenden geistigen Selbstbestimmung führen will, sie ist aber auch modern, weil sie die höhere Wirklichkeit nicht als statisches, vollkommenes Sein auffasst, in dem der Erkennende sich mystisch auflösen soll, sondern als dynamisches, nach Evolution drängendes Geschehen, das zu seiner Entfaltung und Vollendung der freien Tat des Menschen bedarf: der Mensch wird zum Vollender der Schöpfung. »Der Weltlenker hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: wirke weiter«, schrieb Steiner 1887 im zweiten Band der »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften«.

Obwohl also Steiners Verständnis der Meditation und Erkenntnisschulung denkbar »modern« ist, gibt es aus Clements Sicht nicht wenig an ihm zu bemängeln. Vor allem die Form ihrer Darstellung. Denn im Gegensatz zu seinen früheren philosophischen Schriften gab Steiner, wie Clement moniert, den in diesen gepflegten »argumentativen und analytischen Stil« in »Wie erlangt man …« gänzlich auf. Er sprach nicht mehr zu einem »kritischen« Publikum, sondern »als Wissender zu seinen Schülern«. Anstelle von »Argumenten und systematischer Theoriebildung« finde man in diesem Werk deshalb vor allem praktische Anweisungen zur Meditation und zur Transformation des Charakters.

Noch problematischer erscheint Clement die bildhafte Art der Darstellung. Die Schilderungen Steiners erinnern ihn in ihrer Bildlichkeit oft »an die Sprache des Mythos«, ja, Steiner adaptiere teilweise sogar vollständig »den mythischen Gestus«, zum Beispiel bei seiner Beschreibung der beiden Hüter der Schwelle, die er als geistige Wesen auftreten und Monologe halten lasse. Manche Meditationserlebnisse würden auch in die Symbolsprache traditioneller Einweihungsrituale gekleidet und zeichneten sich – leider meint er wohl – nicht durch »begriffliche Klarheit«, sondern durch »bildhafte Konkretheit und Plastizität« aus. Diese »in traditioneller mystischer und esoterischer Literatur nicht unübliche Veranschaulichung und Verdinglichung innerer Erlebnisse« besitze zwar den Vorteil der Konkretheit und Fasslichkeit, werfe aber doch beim kritischen Leser die Frage auf, ob Steiner nicht mit »seiner eigenen intellektuellen Vergangenheit« und »mit allen Gepflogenheiten eines kritisch-philosophischen Diskurses gebrochen« habe. Zwar weise er gelegentlich darauf hin, dass die von ihm geschilderten imaginativen und inspirativen Phänomene nichts als »Visionen und Halluzinationen« seien und das »sogenannte Geistige in diesen Bildern« so wenig stecke, wie der Begriff in den gedruckten Buchstaben, aber der Text tausche doch insgesamt den »im wissenschaftlichen Diskurs verlangten abstrakt-begrifflichen und kritischen Duktus« gegen den »bildhaft-anschaulichen«, mitunter auch »autoritär-dogmatischen Ton des spirituellen Lehrers« aus. »Damit«, so Clements Fazit, »traf Steiner eine Grundsatzentscheidung, die seinen Aufstieg zur führenden Gestalt der modernen abendländischen Esoterik begründete, sich aber fatal auf die akademische und öffentliche Rezeption seiner Schriften nach 1904 auswirkte«.

Diese Bemerkungen sind vor allem auf die ersten Fassungen von »Wie erlangt man …« gemünzt, sie sollen aber in abgeschwächter Form auch für die revidierten Versionen gelten. Selbst diese vermittelten »dem flüchtigen Leser« den Eindruck, in der Meditation würden »reale Dinge und Wesen« erlebt, die sich in einer außerhalb des Ich liegenden transzendenten Welt befänden. Nur aufmerksamen Lesern – zu denen sich Clement offenbar zählt – werde deutlich, dass es auch in »Wie erlangt man …« »nicht um Metaphysik im vorkritischen« (vorkantischen) Sinn gehe, sondern »um eine bewusstseinsphilosophische Darstellung im Geiste Kants und Fichtes, d.h. um eine Phänomenologie der Inhalte des menschlichen Bewusstseins. Das einzige Wesen, dem der Mensch in der Meditation begegnet, ist nach Steiner letztlich das eigene, und zwar als zugleich individuell-persönliches und universell-absolutes.« Es gibt also, nach Clements kritischer Lesart, keine vom Menschen unabhängig existierenden Geistwesen, diese sind stets seine eigenen Schöpfungen.

Ist Clement tatsächlich dieser Auffassung? Es scheint so, denn in einer Anmerkung zu diesen Ausführungen entgegnet er auf den naheliegenden Einwand: Steiner habe doch eine »ausgearbeitete Hierarchienlehre« entwickelt – das treffe zwar zu, aber er habe diese »getreu seiner monistischen Grundhaltung wieder in das Wesen des Menschen hineingenommen«. Als Beleg für dieses Argument zitiert er eine Aussage Steiners, die durch Walter Johannes Stein überliefert wurde:

»… durch die ›Philosophie der Freiheit‹ erhebt sich der Mensch zur Wahrnehmung des Menschen als rein geistigen Wesens. Und obwohl die ›Philosophie der Freiheit‹ nur diesen schildert, so ist es doch wahr, dass der, welcher sich zu dem Freiheitserlebnis durchringt, dann in der Umgebung des geistigen Menschen, den er dann wahrnimmt, die Hierarchien findet. Denn sie [die Hierarchien] sind alle im Menschen und im geistigen Schauen erscheint, was im Menschen ist, als geistige Umgebung.«

Aber besagt diese mündliche Überlieferung tatsächlich, was Clement aus ihr ableitet? Dass die Hierarchien nur im Menschen existieren und keine von diesem unabhängige objektive Daseinsform besitzen – keine substantiae separatae sind, wie es in der Scholastik hieß? Oder handelt es sich nicht vielmehr um eine Umschreibung des hermetischen Grundsatzes »wie unten, so oben«, der Erkenntnis also, dass sich der Makrokosmos auch im Mikrokosmos findet, wenn auch zunächst diesem unbewusst? Schließlich sagte Steiner laut dieser mündlichen Überlieferung nicht: »die Hierarchien sind in Wahrheit nichts anderes als der Mensch« oder: »die Hierarchien sind eine Projektion des inneren Wesens des Menschen nach außen«, sondern er sagte, das, was im Inneren des Menschen anwesend sei, das erscheine dem Schauen in dessen Umgebung.

Dass Clement tatsächlich der Auffassung ist, Steiner sei mit »Wie erlangt man …« gewissermaßen hinter den »wissenschaftlichen Standard« zurückgefallen, den er mit seinen philosophischen Werken erreicht hatte, geht auch aus manchen seiner »Stellenkommentare« hervor, insbesondere solchen, die sich auf Schilderungen Steiners beziehen, in denen es »so richtig mythisch« wird. Sehen wir uns einen solchen Kommentar näher an.

Über die beiden »Hüter der Schwelle« schreibt Clement folgendes:

»Die Figur eines ›Hüters‹ an den beiden Schwellen zum Himmel bzw. zur Unterwelt ist ein in nahezu allen Mythologien zu findender Archetyp … Die Darstellung dieser ›Hüter‹ darf also nicht als bloße Erfindung Steiners interpretiert, sondern muss im Sinne von dessen ›ideogenetischer‹ Deutung des mythischen Bewusstseins verstanden werden, wie er sie in der Christentums-Schrift von 1902 … entwickelt hatte. Dort hatte Steiner die Mythen und Jenseitsschilderungen der verschiedenen Zeiten und Völker als Bilder der fortschreitenden menschlichen Innenerfahrung und als Illustrationen von Meditations- bzw. Einweihungserfahrungen gedeutet. Während Steiner also 1902 vorhandene Mythen aus bewusstseinsphilosophischer Perspektive nur interpretierte, kreiert er hier gewissermaßen selbst einen Mythos, um das seelisch-geistige Erleben des menschlichen Selbst im übersinnlichen Bewusstsein anschaulich und lebendig werden zu lassen …«. (S .319)

Wenig später fährt er fort:

»Schon an früherer Stelle hatte Steiner die inneren Gesetzmäßigkeiten der geistigen Welt durch den Gebrauch einer mythologischen Redeweise zu verdeutlichen gesucht und von ›höheren Wesenheiten‹ gesprochen … In der Geheimwissenschaft von 1910 werden diese vereinzelten Versuche dann zur grundlegenden Methodik, indem Steiner in seiner Schilderung der Kosmogenese unter Rückgriff auf christliche und theosophische Hierarchienmodelle ein ganzes System geistiger Wesen einführt, mit deren Hilfe er die am evolutiven Geschehen im Kosmos beteiligten Kräfte und Prozesse zu konkret-greifbaren Vorstellungen verdichtet. In dieser Hinsicht kann die Anthroposophie insgesamt als Versuch einer Erneuerung mythischen Denkens in der Moderne aufgefasst werden [diesen Satz habe ich bereits zitiert]. An anderer Stelle hat er jedoch diese mythologisierende Sprechweise zurückgenommen und etwa das karmische Geschehen als nicht von ›Wesen‹ und ›Mächten‹, sondern von unpersönlichen ›Kräften‹ bzw. ›Gesetzen‹ geleitet beschrieben … So schwankt die anthroposophische Darstellungsart oft zwischen mythisch-bildlicher und wissenschaftlich-abstrakter Rede«. (S. 321)

Und kurz darauf kommentiert Clement Ausführungen Steiners über das Karma:

»Was vorher in einer mythologisch-verdinglichenden Weise als ›Wesen‹ oder ›Mächte‹ dargestellt worden war …, erscheint hier in einer moderneren und wissenschaftlichen Form, nämlich als ›Kräfte‹ bzw. ›Gesetze‹, welche hinter dem menschlichen Karma stehen.« (S. 328)

Was Clement hier verfolgt, scheint ein Entmythologisierungsprogramm eigener Façon zu sein. Steiner: – ein in den Zaubergärten des Mythos verirrter Philosoph? Wie ist dann aber Steiners programmatische Aussage zu verstehen, die Clement ebenfalls zitiert:

»Von traumhafter Bildlichkeit durch vollbewusste Abstraktion zur ebenso vollbewussten Imagination: das ist der Entwicklungsgang des menschlichen Denkens. Der Aufstieg zu dieser bewussten Imagination steht als Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit.«

Wozu bedarf es überhaupt dieses Ganges von der »vollbewussten Abstraktion« zur »vollbewussten Imagination«, wenn letztere nichts anderes zu bieten hat, als »weniger wissenschaftliche« oder gar »unwissenschaftliche« Veranschaulichungen von etwas, das man auch in abstrakt-begrifflicher Form verständlicher und ohne mystisches Raunen ausdrücken kann?

Wenn Clement über den »Hüter« sagt, es handle sich um einen »in nahezu allen Mythologien zu findenden Archetyp«, den Steiner »nicht bloß erfunden« habe, um ihm im gleichen Atemzug dessen »Mythologisierung« vorzuwerfen, dann muss man allerdings bedenken, dass es sich bei Steiners Figur des Hüters um keine Gestalt des mythischen Bewusstseins, sondern um eine Gestalt des aus der vollbewussten Abstraktion hervorgegangenen imaginativen Bewusstseins handelt. Und ist eine solche qualitativ dasselbe, wie ein mythischer Archetypus bzw. eine besondere Erscheinungsform dieses Archetypus in einer lokalen Mythensprache? Und ist etwa der »abstrakte Begriff« das Endstadium der »Ideogenese«? Oder stellt dieser nicht lediglich ein Durchgangsstadium dar, über das zwar nicht die »Ideo-«, wohl aber die Ontogenese, an der das menschliche Bewusstsein beteiligt ist, hinausschreiten wird? Zumindest in der anthroposophischen Deutungstradition wurde Steiner auf diese Weise verstanden. Ist der Weg von der Abstraktion zur Imagination ein Rückfall in ein vorwissenschaftliches Bewusstsein, oder nicht vielmehr eine Weiterentwicklung der Wissenschaft?

Wenn man etwas als anthroposophische Grundeinsicht bezeichnen kann, dann ist es Erkenntnis, dass die Welt, die Wirklichkeit, eine Welt von Wesenheiten ist und dass Gedanken Ausdruck der Beziehungen dieser Wesenheiten sind. Warum sollte es »wissenschaftlicher« sein, Phänomene als Ausdruck von anonymen »Kräften und Gesetzen« zu beschreiben, wenn es sich in Wahrheit um geistige Wesensbeziehungen handelt, die sich durch sie manifestieren? Handelt es sich dann nicht vielmehr um einen willkürlichen Reduktionismus, der aus was für Gründen auch immer bei den scheinbaren Erklärungen stehenbleibt, obwohl die wirklichen ihm – zumindest als Denkangebot – bekannt sind? Steiner hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei Naturkräften und Naturgesetzen um die Manifestation geistiger Wesenheiten handelt, zum Beispiel 1905:

»Wenn in der Physik etwas von einem Naturgesetz steht, so können wir uns sagen: das sind Gedanken eines Wesens, das auf dem Astralplan seinen Körper hat. Die Naturkräfte sind schaffende Wesenheiten und die Naturgesetze sind ihre Gedanken.« (30.10.1905, 93a)

Ähnlich 1912: »Für den Okkultisten sind die Naturkräfte nichts Wirkliches, sondern sie sind die Maja, sie sind die Abprägung der Naturgeister, die hinter der Sinneswelt wirken. Der Abdruck wiederum der Geister der Umlaufszeiten ist das, was man gewöhnlich für das normale Bewusstsein die Naturgesetze nennt. Alle Naturgesetze sind im Grunde genommen dadurch vorhanden, dass die Geister der Umlaufszeiten dirigierend als Mächte wirken. Naturgesetze sind nichts Wirkliches für den Okkultisten.« (4.4.1912, GA 136)

Ich sehe keinen Weg, solche Äußerungen Steiners als mythologisierende Redewendungen wegzuraisonnieren, zu denen er nur gegriffen hätte, weil sein Publikum zu dumm war, die Sprache der Aufklärung zu verstehen. Vielmehr erscheint mir dieser Rationalisierungsversuch seinerseits als eine Art Rückfall in den Feuerbachschen Anthropomorphismus.

Die aus dem imaginierenden Bewusstsein hervorgehende bildliche Darstellungsform als Rückfall in ein vorwissenschaftliches Bewusstsein zu bezeichnen, widerspricht der gesamten Logik und Systematik der von Steiner nach 1900 entwickelten Anthroposophie.

Was hätte es für einen Sinn, überhaupt von »höherer Erkenntnis«, von »höheren Erkenntnisstufen« zu sprechen, wenn es sich bei diesen um einen Rückfall in eine Bewusstseinsform handelte, die gegenüber dem wissenschaftlich-rationalen Bewusstsein der Neuzeit defizitär ist? Wenn Steiner im Anschluss an die Schilderung der Begegnung mit dem kleinen Hüter schreibt:

»Was hier, in eine Erzählung gekleidet, angedeutet ist, hat man sich nicht etwa als etwas Sinnbildliches vorzustellen, sondern als ein im höchsten Grade wirkliches Erlebnis des Geheimschülers«, dann widerspricht diese Aussage diametral der Interpretation Clements, Steiner habe in der Gestalt des Hüters »gewissermaßen« einen Mythos »kreiert«, »um das seelisch-geistige Erleben des menschlichen Selbst im übersinnlichen Bewusstsein anschaulich und lebendig« zu machen, er habe also Beobachtungen von Seelenzuständen, die auch rein abstrakt hätten beschrieben werden können – etwa im Stil der Husserlschen »Logischen Untersuchungen«, die kaum jemand verstanden hat, außer Husserl selbst –, bloß verbildlicht. Bei aller Freiheit des Interpreten gegenüber dem Interpretandum sollte eine Interpretation doch nie dem ausdrücklichen Selbstverständnis eines Autors und dem manifesten Wortlaut widersprechen.

Auch in den »Stufen der höheren Erkenntnis«, die Clement ja ebenfalls herausgibt und kommentiert, spricht Steiner deutlich aus, dass es sich bei der durch die Imagination erreichbaren Welt – die deswegen keine dualistisch gedachte metaphysische Hinterwelt sein muss – um eine höhere Wirklichkeit handelt, als jene, die dem gegenständlichen Bewusstsein der gewöhnlichen Wissenschaft zugänglich ist.

Von den vier Erkenntnisstufen, die er hier schildert, ist die erste die des »gewöhnlichen Bewusstseins« in der Sinneswelt. »Auch in dem, was zunächst ›Wissenschaft‹ genannt wird, hat man es nur mit dieser ersten Erkenntnisstufe zu tun.« Über die Imagination heißt es: »Man muss erst die Quellen der Phantastik ganz verstopfen, dann kann man erst zu der Imagination kommen. Ist man so weit, dann wird man allerdings sich klar darüber, dass die Welt, in die man in solcher Art eintritt, nicht nur so wirklich ist wie die sinnliche, sondern eine viel wirklichere« (Clement, SKA 7, S. 167, 170), – Ausführungen, die Clement interessanterweise nicht kommentiert.

Nach Steiners Auffassung hat man es in objektiven Imaginationen also nicht nur mit symbolischen oder allegorischen Einkleidungen dürrer (herabgelähmter) Begriffe zu tun, sondern mit Wesensäußerungen, mit einer Form des Begriffs, in die jenes Leben zurückgekehrt ist, das durch die Wirkungen der Leibesorganisation – an der das Denken im gewöhnlichen Bewusstsein erscheint – zurückgedrängt worden ist.

Noch größer ist naturgemäß der Abstand des inspirativen und intuitiven Bewusstseins als höherer Erkenntnisarten vom gegenständlichen Bewusstsein der gewöhnlichen Wissenschaft – auch wenn Steiner bereits in seinen philosophischen Werken den Begriff der »Intuition« verwendet, wie Clement richtig bemerkt. Aber es besteht doch wohl ein Unterschied zwischen der Begriffsintuition des Engels und der Wesensintuition eines Engels.

In der begrifflichen Intuition wird der Denkende eins mit dem Begriff des Engels, in der Wesensintuition wird er eins mit dem erkannten Wesen.

Clement zitiert in seinen Kommentaren zu den »Stufen der höheren Erkenntnis« sogar den zweiten Zusatz zur Neuausgabe der »Philosophie der Freiheit« 1918, in dem Steiner auf diesen Unterschied hinweist, ohne jedoch näher über ihn zu reflektieren:

»Was als Wahrnehmung auftritt«, so schreibt Steiner 1918, »das muss der Mensch auf seinem Lebenswege schlechterdings erwarten. Es könnte sich nur fragen: darf aus dem Gesichtspunkte, der sich bloß aus dem intuitiv erlebten Denken ergibt, berechtigt erwartet werden, dass der Mensch außer dem Sinnlichen auch Geistiges wahrnehmen könne? Dies darf erwartet werden. Denn, wenn auch einerseits das intuitiv erlebte Denken ein im Menschengeiste sich vollziehender tätiger Vorgang ist, so ist es andererseits zugleich eine geistige, ohne sinnliches Organ erfasste Wahrnehmung. Es ist eine Wahrnehmung, in der der Wahrnehmende selbst tätig ist, und es ist eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird. Im intuitiv erlebten Denken ist der Mensch in eine geistige Welt auch als Wahrnehmender versetzt. Was ihm innerhalb dieser Welt als Wahrnehmung so entgegentritt wie die geistige Welt seines eigenen Denkens, das erkennt der Mensch als geistige Wahrnehmungswelt. Zu dem Denken hätte diese Wahrnehmungswelt dasselbe Verhältnis wie nach der Sinnenseite hin die sinnliche Wahrnehmungswelt. Die geistige Wahrnehmungswelt kann dem Menschen, sobald er sie erlebt, nichts Fremdes sein, weil er im intuitiven Denken schon ein Erlebnis hat, das rein geistigen Charakter trägt.

Von einer solchen geistigen Wahrnehmungswelt sprechen eine Anzahl der von mir nach diesem Buche veröffentlichten Schriften. Diese ›Philosophie der Freiheit‹ ist die philosophische Grundlegung für diese späteren Schriften. Denn in diesem Buche wird versucht, zu zeigen, dass richtig verstandenes Denk-Erleben schon Geist-Erleben ist. Deshalb scheint es dem Verfasser, dass derjenige nicht vor dem Betreten der geistigen Wahrnehmungswelt haltmachen wird, der in vollem Ernste den Gesichtspunkt des Verfassers dieser ›Philosophie der Freiheit‹ einnehmen kann.

Logisch ableiten – durch Schlussfolgerungen – lässt sich aus dem Inhalte dieses Buches allerdings nicht, was in des Verfassers späteren Büchern dargestellt ist. Vom lebendigen Ergreifen des in diesem Buche gemeinten intuitiven Denkens wird sich aber naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt ergeben.«

Steiner spricht hier vom Denken insofern es Begriffsintuitionen vermittelt, nicht Wesensintuitionen. Die einzige Wesensintuition, die dem Menschen im gewöhnlichen Bewusstsein zugänglich ist, ist die Intuition seines eigenen Ich, und selbst diese bezieht sich nur auf das Ich als Subjekt des Denkens, nicht als Subjekt des Fühlens oder gar des Wollens, das den Leib bewegt. Davon handeln Ausführungen Steiners in einem seiner Schlüsselvorträge (»Philosophie und Anthroposophie«, 1908), den er zu einem Aufsatz verarbeitet hat (GA 35):

»Das Ich lebt in sich, indem es seinen reinen Begriff hervorbringt und im Begriff als Realität leben kann. Für das Ich ist es nicht gleichgültig, was das reine Denken tut, denn das reine Denken ist der Schöpfer des Ich. Hier fällt der Begriff des Schöpferischen mit dem Materiellen zusammen [= die Intuition im Sinne der philosophischen Werke Steiners], und man braucht nur einzusehen, dass wir in allen anderen Erkenntnisprozessen zunächst an eine Grenze stoßen, nur beim Ich nicht: dieses umfassen wir in seinem innersten Wesen, indem wir es im reinen Denken ergreifen …

Das Denken verbürgt nicht die Wirklichkeit des ›Ich‹. Aber ebenso gewiss ist, dass durch nichts anderes das wahre Ich erlebt werden kann als allein durch das reine Denken. Es ragt eben in das reine Denken, und für das gewöhnliche menschliche Bewusstsein nur in dieses, das wirkliche Ich herein. Wer bloß denkt, der kommt nur bis zu dem Gedanken des ›Ich‹; wer erlebt, was im reinen Denken erlebt werden kann, der macht, indem er das ›Ich‹ durch das Denken erlebt, ein Wirkliches, das Form und Materie zugleich ist, zum Inhalte seines Bewusstseins [= die Intuition im Sinne der philosophischen Werke Steiners]. Aber außer diesem ›Ich‹ gibt es zunächst für das gewöhnliche Bewusstsein nichts, was in das Denken Form und Materie zugleich hereinsenkt. Alle anderen Gedanken sind zunächst nicht Bilder einer vollen Wirklichkeit. Doch indem man im reinen Denken das wahre Ich als Erlebnis erfährt, lernt man kennen, was volle Wirklichkeit ist. Und man kann von diesem Erlebnis weiter vordringen zu anderen Gebieten der wahren Wirklichkeit. Dies versucht die Anthroposophie.«

Das heißt, die Anthroposophie versucht die Intuition, die im Ich an diesem Ich erlebt wird, auf den gesamten Weltinhalt auszuweiten und dadurch diesen Weltinhalt so zu erkennen, wie sich das Ich selbst erkennt.

Was für den Menschen als geistige Wahrnehmung möglicherweise auftritt, das muss er schlechterdings erwarten. Mit diesen geistigen Wahrnehmungen betritt er jedoch erst das Gebiet der Geistesforschung (siehe dazu weiter unten die Ausführungen über Fichte und den Okkultismus). Logisch ableiten lässt sich der Inhalt der Geistesforschung nicht aus den Begriffsintuitionen, mögen sie noch so rein sein.

Darin liegt zugleich die Begründung der Notwendigkeit, in der Darstellung der Ergebnisse dieser Geistesforschung zu einer anderen Form als der abstrakt-begrifflichen überzugehen. Denn »der Inhalt des geistig Geschauten lässt sich nur in Bildern (Imaginationen) wiedergeben, durch die Inspirationen sprechen, die von intuitiv erlebter geistiger Wesenheit herrühren. …«

Dass sich der Darsteller der Imaginationen dennoch der Form des abstrakten Begriffs bedient, ist durch die Beschaffenheit des zeitgenössischen Bewusstseins bedingt, an das er sich wendet, nicht durch die Beschaffenheit seiner Bewusstseinsinhalte:

»Aber der Darsteller der Imaginationen aus der Geist-Welt kann gegenwärtig nicht bloß diese Imaginationen hinstellen. Er stellte damit etwas dar, das als ein ganz anderer Bewusstseinsinhalt neben dem Erkenntnisinhalt unseres Zeitalters, ohne allen Zusammenhang mit diesem, stünde. Er muss das gegenwärtige Bewusstsein mit dem erfüllen, was ein anderes Bewusstsein, das in die Geist-Welt schaut, erkennen kann. Dann wird seine Darstellung diese Geist-Welt zum Inhalte haben; aber dieser Inhalt tritt in der Form von Gedanken auf, in die er hineinfließt. Dadurch wird er dem gewöhnlichen Bewusstsein, das im Sinne der Gegenwart denkt, aber noch nicht in die Geist-Welt hineinschaut, voll verständlich.« (»Geheimwissenschaft im Umriss«, Vorrede Januar 1925)

Historisierung

Clement verortet die Anthroposophie in einer Epoche des historischen Aufbruchs, die durch Unbehagen an der modernen Kultur gekennzeichnet war. Die Wahrnehmung der Defizite der Moderne führte zur Entstehung spiritistischer, okkultistischer und neomystischer Bewegungen, die diese Defizite auszugleichen versuchten. Da diese Bewegungen jedoch nicht an die »intellektuellen Impulse« des deutschen und europäischen Denkens des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts angeknüpft hätten, sondern den verloren gegangenen spirituellen Weltinhalt in der vormodernen Mystik, in den Praktiken des Mesmerismus und der Magie oder in fernöstlichen Traditionen suchten, habe die westliche Esoterik dieser Epoche ein spezifisches Gepräge erhalten. Im Hinblick auf Blavatsky spricht Clement von einer »Orientalisierung der Esoterik«. Immerhin verdankten wir es den Pionieren dieser Bewegung – Blavatsky, Besant und Steiner – »dass der Gang zum Yoga-Studio, zum Meditationskurs oder zur Akupunktur« heute so selbstverständlich zu unserer »säkularen Alltagskultur gehört, wie der Weihnachtsmarkt oder der geschäftsfreie Sonntag.« Ob wir diese Selbstverständlichkeit ausgerechnet Steiner verdanken, darf man natürlich hinterfragen, denn mir ist nicht bekannt, dass er den Yoga oder die Akupunktur propagiert hätte. Gleichzeitig mit dieser spezifischen Form der Esoterik entstand, wie Clement zutreffend bemerkt, auch die Tiefenpsychologie, die durch eine ähnliche Wende nach innen gekennzeichnet war. Allerdings suchte sie in den Tiefen der Seele nicht nach mystischer Erfahrung, sondern nach der Erkenntnis des unbewussten Seelenlebens.

Die Schriften Steiners zur Erkenntnisschulung nehmen laut Clement zwischen der »neomystischen Esoterik« und der »wissenschaftlich betriebenen Tiefenpsychologie« eine »eigentümliche Mittelstellung« ein (die »Wissenschaftlichkeit« der Tiefenpsychologie ist umstritten – insofern erscheint es problematisch, der anthroposophischen Erkenntnisschulung eine mittlere Position in diesem scheinbaren Gegensatz von »Mystik« und »Wissenschaft« zuzuweisen).

Indem Steiner von höheren Welten, Auren und Engeln spricht, so Clement weiter, scheint es um den »Versuch einer Wiederbelebung prämoderner unkritischer Metaphysik« zu gehen, gleichzeitig finden sich in Steiners Texten »bemerkenswert moderne bewusstseinsphilosophische, psychologische und psychotherapeutische Aspekte«. Steiner habe wie Freud oder Jung die »Antwort auf seine Fragen« nicht in einem »hypostasierten Jenseits« gesucht, sondern in den halb- und unbewussten Schichten der menschliche Seele. Wie Freud habe er versucht, Traum- und Schlaferlebnisse ins Bewusstsein zu heben, er habe die Identität von Seele und Bewusstsein bestritten, von einem unbewussten Denken und Wollen und von unbewussten seelischen Ursachen seelischer und körperlicher Krankheiten gesprochen. Wie Jung habe er von einem kollektiven Unbewussten (den »Gruppenseelen«) geredet, die »Archetypen« der aktiven Imagination in seine Arbeit einbezogen und sogar ein gesellschaftliches Unbewusstes in Gestalt der »Volks- oder Familienseelen« gekannt.

Dennoch hätten sich Psychotherapie und Anthroposophie distanziert gegenüber gestanden. Angeblich ignorierten Freud und Jung Steiner, während dieser sich über die beiden nur oberflächlich abfällig geäußert habe, da sie aus seiner Sicht mit »unzureichenden Erkenntnismitteln« arbeiteten. Leider versäumt Clement an dieser Stelle den eigentlich interessanten Punkt zu erwähnen: dass Jung (den er als »zweiten deutschen Esoteriker neben Steiner mit Weltgeltung« bezeichnet, obwohl Steiner Österreicher und Jung Schweizer war) nämlich selbst im Spiritismus und Mesmerismus wurzelte, und sich durchaus, wenn auch verklausuliert über Steiner äußerte (in seinem Aufsatz »Die Identifikation mit der Kollektivpsyche oder der Prophet und seine Schüler«), während sein Bruch mit Freud darauf zurückzuführen war, dass dieser von ihm verlangte, er solle an seiner Sexualtheorie als »Bollwerk gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus« festhalten. Hier wäre auch auf Jungs führende Rolle in den Eranoskonferenzen hinzuweisen, die aus Lehrveranstaltungen Alices Baileys in Ascona hervorgingen.

Aber bei der Tiefenpsychologie hat man es lediglich mit Parallelen oder Synchronizitäten zu tun, nicht mit Abhängigkeiten, während die unmittelbaren Vorbilder von Steiners Meditationspraxis nach Clement im praktischen Okkultismus Blavatskys und dem von Annie Besant formulierten Erkenntnispfad zu suchen seien. Clement sieht vor allem Besants Buch »The Path of Discipleship« (1895/96) als Vorbild und Quelle für Steiners Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« Zwar weist er in einer Anmerkung darauf hin, dass Steiner 1905 in einer Rezension dieses Buches explizit Besants Schulungsmodell als ungeeignet für den Abendländer erklärt habe, das hinderte ihn aber offenbar nicht daran, massiv aus ihm zu schöpfen. So soll Steiner in ihm nicht nur das »Modell eines dreiteiligen Erkenntnispfades« gefunden haben (Reinigung, Vorbereitung, Einweihung), sondern auch die »vier Seelengewohnheiten« (Unterscheidung des Wahren von der Erscheinung, richtige Schätzung des ersteren, Ausübung der sechs Eigenschaften und Liebe zur inneren Freiheit), die »sechs Eigenschaften« (Gedankenkontrolle, Kontrolle der Handlungen, Beharrlichkeit, Duldsamkeit, Glaube und Gleichmut), die Chakren, die Kundalini-Kraft und die Meister. Schließlich stammten auch Metaphern für Stufen der inneren Entwicklung wie »Wanderer, Hüttenbauer oder Schwan« aus Besants Schrift. Für Schilderungen der Inhalte des seelischen und geistigen Wahrnehmens dagegen seien eine Reihe von Schriften Charles W. Leadbeaters ein »wichtiger Bezugspunkt« Steiners gewesen. Quellen für Übungsanweisungen stellten darüber hinaus Blavatskys »Voice of the Silence« und Mabel Collins »Light on the Path« dar.

Diese Feststellungen werfen die Frage auf, »wie groß Steiners eigene originäre Leistung ist und in welchem Maß er vorhandene Praktiken und Theoreme nur übernahm bzw. modifizierte«, auf die Clement sowohl in seiner Einleitung als auch in seinen Stellenkommentaren wiederholt zurückkommt. Für Clement ist offensichtlich, dass Steiner »zu Beginn seiner Tätigkeit als esoterischer Lehrer nachweislich auf diejenigen Texte und Praktiken zurückgriff, die in der Theosophischen Gesellschaft in Gebrauch waren und diese erst nach und nach durch eigene Formulierungen und Meditationsformen ersetzte.« Er hält dies nicht für überraschend, schließlich habe Steiner »als führender Vertreter der Theosophie in Deutschland deren Lehre und Praxis gemäß der vorhandenen mündlichen und schriftlichen Tradition vertreten müssen«. Allerdings muss er zugestehen, dass die Frage, welche theosophischen Texte Steiner denn nun tatsächlich kannte oder nicht, bis heute weitgehend unerforscht sei. (S. LXXXIII)

Worauf aber stützen sich dann die weiteichenden Behauptungen, Steiner habe aus theosophischen Quellen geschöpft? Gleichzeitig betont Clement an anderer Stelle, die anglo-indische Theosophie habe sich aus der östlich-indischen Mystik, dem Spiritismus, dem Mesmerismus und der zeremoniellen Magie bedient, und Steiner habe sich von den meisten der mit diesen Strömungen verbundenen Techniken »in Theorie und Praxis distanziert und sie sogar heftig bekämpft«. (S. XXXVIII) Was nun? Übernahme oder Distanzierung oder beides zugleich? Parallelen, strukturelle Verwandtschaften, Analogien: sind sie Ausdruck direkter Übernahmen oder verweisen sie auf etwas Drittes, das jenseits der vergleichbaren Texte liegt, aus denen all diese Texte und ihre Verfasser geschöpft haben? Würde man einem Mathematiker, der einen Beweisgang für den Satz des Pythagoras entwickelt, vorwerfen, er habe diesen von seinen Vorgängern plagiiert? Oder ist dieser Beweisgang nicht vielmehr die Erscheinungsform einer Gesetzmäßigkeit des Denkens, die unabhängig von jenen, die sie zum Ausdruck bringen, Bestand hat? Der sich aus der Durchdringung der mathematischen Gesetzmäßigkeit von selbst ergibt und stets von neuem gefunden werden kann?

Wie auch immer, Clements Untersuchungen, insbesondere seine ausführlichen Stellenkommentare machen deutlich, dass der Teufel im Detail steckt. Hier zeigt sich nämlich, dass Steiner zum Beispiel Bezeichnungen für Stufen der spirituellen Entwicklung, die Besant verwendete, wie der »Wanderer« oder der »Hüttenbauer« ebenfalls benutzte, dass er ihnen aber eine andere Deutung gab. »Den Ausdruck ›Wanderer‹ zur Kennzeichnung bestimmter Stadien der Initiation übernahm Steiner aus Annie Besants Darstellung der vier Stufen der Initiation, deutete jedoch den Begriff teilweise anders als die britische Theosophin …«, so Clement in einem Stellenkommentar (S. 311). »Das Motiv des ›Hüttenbauers‹ wird Steiner … bei Besant kennengelernt haben … Ein westlich gebildeter Leser würde für das Motiv des ›Hüttenbauens‹ vielleicht eher abendländische Quellen vermuten, etwa in der maurerischen Tradition oder in biblischen Texten. Auf letztere hat Steiner sich denn auch in der Tat bezogen, allerdings erst Jahre nach der Abfassung von ›Wie erlangt man …‹ in seinen Evangelienvorträgen. Dort verwies er etwa auf die Geschichte von der Verklärung Jesu und deutete den Topos derart, dass Petrus, Jakobus und Johannes als Eingeweihte dargestellt würden …« (S. 312)

Steiner übernahm also ein Wort und deutete es (teilweise) anders? Steiner übernahm ein anderes und bezog es – allerdings erst später – auf etwas anderes? Und ein westlich gebildeter Leser würde vermuten? Offenbar hängt die Quellenvermutung von der Belesenheit und dem Bildungshintergrund des jeweiligen Lesers ab: je nachdem in welchen Referenzrahmen sein eigenes Bewusstsein eingebettet ist, tauchen in diesem andere Assoziationen auf. Hierzu fällt mir eine Bemerkung Michel Foucaults ein:

»Dass zwei Äußerungen völlig identisch sind, dass sie sich aus denselben Wörtern zusammensetzen, die in derselben Bedeutung gebraucht werden, berechtigt, wie man weiß, nicht, sie absolut zu identifizieren … Die vollständige Identität ist kein Kriterium; erst recht nicht die partielle Identität, wenn also die Wörter nicht jedes Mal in der gleichen Bedeutung gebraucht werden oder wenn derselbe Bedeutungskern in verschiedenen Wörtern erfasst wird … In der großen Anhäufung des bereits Gesagten den Text herauszusuchen, der ›im vorhinein‹ einem späteren Text ähnelt, herumzustöbern, um in der Geschichte das Spiel der Vorwegnahmen oder der Echos wiederzufinden, bis auf die ersten Keime zurückzugehen oder bis zu den letzten Spuren hinabzusteigen, um bei einem Werk … die Traditionsverbundenheit oder seinen Teil irreduzibler Einzigartigkeit hervorzukehren …, das alles sind liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen« (Michael Foucault, Archäologie des Wissens).

Letztlich ist dieses Spielchen doch vollkommen uninteressant, wenn es um die Frage geht, was ein Autor zu sagen hat. Man kann einen Autor nicht verstehen, wenn man ihn aus anderen zu erklären versucht, dieser Versuch muss unweigerlich in einen regressus ad infinitum führen.

Nun weist Clement aber auch noch auf andere ideengeschichtliche Kontexte hin, die zwar nicht so sehr für die anthroposophische Meditationspraxis, dafür um so mehr für deren Konzeption und ihren anthropologischen Hintergrund von Bedeutung seien: die Weimarer Klassik und den deutschen Idealismus nämlich. Steiner hatte ja bekanntlich in seiner Jugend intensiv die Autoren des deutschen Idealismus rezipiert, die sich um eine »intellektuelle Anschauung« bemühten, die nicht nur die Produkte der denkenden Tätigkeit, sondern auch diese Tätigkeit selbst und das in ihr zur Erscheinung kommende Absolute erfassen sollte. Insbesondere J.G. Fichte habe auf diesem Weg Einfluss auf »Steiners Konzept« der Erkenntnisschulung genommen. Clement erinnert an das »neue Sinneswerkzeug«, das der Mensch sich durch die Selbstanschauung des Denkens bei Fichte aneigne, an Schellings Vorstellung, die philosophische Spekulation sei eine Nachschöpfung des Weltgeschehens, in der das Absolute zum Bewusstsein seiner selbst gelange.

In den Werken der deutschen Idealisten, so Clement, sei nicht nur Steiners Idee einer systematischen Erkenntnisschulung, sondern auch seine Vorstellung, die Initiation sei eine individualisierte Kosmogonie (ein Nachvollzug der Kosmogonie im erkennenden Bewusstsein), »ganz konkret vorgebildet«. Daneben spielten auch Goethes Ansicht, die menschliche Imaginationskraft lasse sich zu einem anschauenden Denken steigern und Schillers Ideen über die ästhetische Erziehung des Menschen eine herausragende Rolle. »Die Anthroposophieforschung der Zukunft«, so Clement, »wird sich der Frage intensiver zuzuwenden haben, in welchem Maße Steiners Vorstellungen über ›höhere Erkenntnis‹ ihre Stufen und ihre systematische Ausbildung als ein Kapitel der Rezeptionsgeschichte des Idealismus und Ästhetizismus der Goethe-Zeit aufzufassen sind.« (S. XLI)

Nun, sie könnte vielleicht auch der Frage nachgehen, inwiefern sie eine systematische Weiterentwicklung all der genannten Ansätze darstellen. Steiner zumindest hat seine Methoden der Erkenntnisschulung explizit zu einer solchen erklärt, zum Beispiel in seinem programmatischen Vortrag auf dem Pariser Theosophischen Kongress 1906 »Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren«, der als Autoreferat vorliegt. Steiners Ausführungen über Fichte in diesem Vortrag sind für sein Selbstverständnis als Okkultist oder Esoteriker von zentraler Bedeutung, sie werfen nebenbei auch ein Licht auf Clements Grundproblem der Verhältnisbestimmung von Wissenschaft und Mythos:

»Nun ist es richtig, dass seine [Fichtes] Domäne diejenige des Gedankens ist, und dass derjenige, welcher solche spirituelle Höhen aufsuchen will, die über der Gedankenwelt liegen, sie bei Fichte nicht finden kann. Wer eine Beschreibung ›höherer Welten‹ haben will, wird sie bei ihm vergeblich suchen. Von einer astralischen oder mentalen Welt hat Fichte keine Erfahrung. Dem Inhalte seiner Philosophie nach, hat er es nur mit solchen Ideen zu tun, welche zu der physischen Welt gehören. – Ganz anders aber stellt sich die Sache dar, wenn man auf seine Behandlungsweise der Gedankenwelt sieht. Diese Behandlungsweise ist keineswegs eine bloß spekulative. Sie ist vielmehr eine solche, die vollständig der okkulten Erfahrung entspricht. Fichte betrachtet nur die auf die physische Welt bezüglichen Gedanken; aber er betrachtet diese so, wie sie ein Okkultist betrachtet

Das Okkulte beginnt da, wo der Mensch anfängt, sich selbst durch die in ihm liegenden schlummernden Kräfte höhere Wahrnehmungsorgane aufzubauen. Innerhalb des gewöhnlichen Erlebens vermag sich der Mensch nur als Geschöpf zu fühlen. Beginnt er, sich als Schöpfer seiner Wesenheit zu fühlen, so betritt er das Gebiet des sogenannten okkulten Lebens.

Die Art, wie Fichte das ›Ich bin‹ charakterisiert, ist durchaus im Sinne des Okkultismus. Wenn er auch im Felde des reinen Gedankens verbleibt, so ist doch seine Betrachtung keine bloße Spekulation, sondern wahres inneres Erlebnis. Aber gerade aus diesem Grunde ist auch die Verwechselung seiner Weltbetrachtung mit bloßer Spekulation so leicht. Wen die Neugierde in die höheren Welten hinauftreibt, der wird durch die Vertiefung in Fichtes Philosophie eben nicht auf seine Rechnung kommen. Wer aber an sich arbeiten will, um die in der Seele schlummernden Fähigkeiten zu entdecken, dem kann gerade Fichte ein guter Führer sein. Er wird gewahr werden, dass es bei ihm nicht auf den Inhalt seiner Lehre oder seiner Dogmen, sondern auf die Kraft ankommt, die in der Seele wächst, wenn man die Gedankenwege Fichtes hingebungsvoll nachwandelt.

Man möchte diesen Denker mit dem Propheten vergleichen, der nicht selbst das gelobte Land betreten hat, aber die Seinigen bis zu einem Gipfel führt, von dem aus sie die Herrlichkeiten desselben schauen konnten. Fichte führt das Denken bis zu dem Gipfel, von dem aus der Eintritt in das Land des Okkultismus vollzogen werden kann.

Und die Vorbereitung, welche man durch ihn erlangt, ist die denkbar reinste. Denn sie hebt völlig über das Gebiet der Sinnesempfindung und über den Bereich dessen hinweg, was aus der Wunsch- und Begierdennatur des Menschen (aus seinem Astralleib) stammt. Man lernt durch Fichte leben und sich bewegen in dem ganz reinen Elemente des Denkens. Man behält nichts von der physischen Welt in der Seele, als was dieser physischen Welt aus höheren Regionen eingepflanzt ist, nämlich die Gedanken. Und diese bilden eine bessere Brücke zu den spirituellen Erlebnissen, als die Ausbildung anderer psychischer Fähigkeiten. Denn der Gedanke ist überall derselbe, ob er nun in der physischen, astralischen oder mentalen Welt auftritt. Nur sein Inhalt ist in jeder dieser Welten ein anderer. [Die Dieselbigkeit, die Steiner dem Gedanken zuspricht, bezieht sich also auf dessen Gesetzesform]. Und die übersinnlichen Welten bleiben dem Menschen nur so lange verborgen, als er aus seinen Gedanken den sinnlichen Inhalt nicht ganz entfernen kann. Wird der Gedanke sinnlichkeitsfrei, dann ist nur noch ein Schritt zu vollziehen, und die übersinnliche Welt kann beschritten werden. …

Nun musste aber gerade bei den schärferen Geistern, die auf solchen Wegen wandelten wie Fichte, eine Grenze der Erkenntnis eintreten. Das reine Denken ist nämlich bloß eine Betätigung der Persönlichkeit, nicht der Individualität, welche in immer wiederkehrenden Reinkarnationen durch die verschiedenen Persönlichkeiten hindurchgeht. Die Gesetze auch der höchsten Logik werden niemals anders, auch wenn in der Stufenfolge der Wiederverkörperungen die menschliche Individualität bis zur Etappe des höchsten Weisen hinaufsteigt. Die geistige Anschauung steigert sich, das Wahrnehmungsvermögen erweitert sich, wenn eine Individualität, die in einer Inkarnation hoch stand, wieder verkörpert wird, die Logik des Denkens aber bleibt dieselbe auch für eine höhere Bewußtseinsstufe.

Daher kann dasjenige, was über die einzelne Inkarnation hinausgeht, auch niemals durch ein noch so feines Gedanken-Erlebnis erfasst werden, selbst wenn sich dieses zu den höchsten Stufen erhebt.

Darin ist der Grund zu suchen, warum die Betrachtungsart Fichtes und auch diejenige seiner Zeitgenossen, welche in seinen Bahnen wandelten, sich nicht zur Erkenntnis der Gesetze von Reinkarnation und Karma durchringen konnten. Wenn auch verschiedene Hinweise bei den Denkern dieser Epoche zu finden sind – sie gehen mehr aus einem allgemeinen Gefühle hervor und stehen nicht in einem notwendigen organischen Zusammenhang mit ihren Gedankengebäuden. Man darf vielmehr geradezu sagen, dass die geistesgeschichtliche Mission dieser Persönlichkeiten darin bestanden hat, die reinen Gedankenerlebnisse einmal darzustellen, insofern sich diese innerhalb einer Inkarnation abspielen können, mit Ausschaltung alles dessen, was vom Wesen des Menschen über diese eine Verkörperung hinausreicht.« (GA 35)

Die Beschäftigung mit Fichtes Philosophie ist also eine ideale Propädeutik, das reine Denken, das sich an ihr erlernen lässt, ist die beste Brücke zu den spirituellen Erlebnissen, ja es ist – wie Steiner des öfteren bemerkt, selbst die erste Stufe der Hellsicht – aber eben nur die erste Stufe. Fichte führt das Denken bis zu dem Gipfel, von dem aus der Eintritt in das »Land des Okkultismus« vollzogen werden kann, aber er tritt nicht selbst in dieses Land ein.

Dieses Land liegt jenseits des reinen Denkens und der ihm zugänglichen Erlebnisse (nicht in einem Kantschen Jenseits). Und das reine Denken, zu dem es der abendländische Geist in seinen hervorragendsten Vertretern, in Fichte, Schelling, Hegel, gebracht hat, ist bloß eine Betätigung der irdischen Persönlichkeit, nicht der geistigen Individualität, die sich reinkarniert. Was über die einzelne Inkarnation hinausgeht, kann niemals durch ein noch so feines Gedanken-Erlebnis erfasst werden, selbst wenn es sich zu den »höchsten Stufen« erhebt. Steiner spricht hier von der prinzipiellen Grenze der diskursiv-rationalen Form der Wissenschaft, die sich des abstrakten Begriffs bedient, nicht von den Grenzen der Wissenschaft als solcher.

Der Eintritt in das Land des Okkultismus beginnt, wenn der reine Gedanke zur Imagination, zum Mythos umgeschmolzen wird. Steiners Esoterik ist also nicht bloß eine »Verbildlichung philosophischer Konzeptionen« (Clement, S. LX), der »sogenannte Astralleib« und die sich in ihm bildenden Chakren sind nicht bloß »Visualisierungen bzw. Imaginationen, in denen seelische und geistige … Phänomene in sinnliche Bilder gekleidet und so dem Meditierenden und dem Leser vorstellbar gemacht werden« (Clement, S. LVII), sondern sie sind reale Wahrnehmungen im »Lande des Okkultismus«, das derjenige betritt, der über das bloße Denken hinausschreitet.

Neben Idealismus und Klassik verweist Clement noch auf weitere ideengeschichtliche Hintergründe der anthroposophischen Erkenntnisschulung, nämlich das »Paradigma der aristotelischen Psychologie«, insbesondere das trichotomische Menschenbild, das den Geist nicht lediglich als eine Funktion der Seele betrachtet, den ontologischen Stufenbau der aristotelischen Anthropologie, der den einzelnen Naturwesen unterschiedliche Seelenformen zuerkennt, die im Menschen zu einer höheren Einheit zusammengefasst werden, sowie den Begriff des »Habitus« in der nikomachischen Ethik. Von noch größerer Bedeutung, so Clement, »ist vielleicht die aristotelische Naturphilosophie und Metaphysik, in welcher sich der Welt- und Naturprozess als spannungsvolles und dennoch teleologisch gerichtetes Wechselspiel zwischen möglichem und verwirklichtem Sein abspielt«.

Schließlich stellen »ein weiteres wichtiges Bezugsfeld« für Steiner »die verschiedenen platonischen, neuplatonischen und christlichen Mystiktraditionen des Abendlandes« dar, mit denen er sich in seinen Schriften von 1901 und 1902 auseinandergesetzt hatte. Die anthroposophische Erkenntnisschulung bewegt sich demnach in einem hochkomplexen historischen und ideengeschichtlichen Bezugsfeld und wer ihr gerecht werden will, muss im Grunde die gesamte Geistesgeschichte des Abendlandes als Annotationsfonds benutzen. Man kann diese Beobachtung auch so ausdrücken, dass diese Erkenntnisschulung die Synthese und Gipfelung dieser Geschichte ist. Insofern ist es nicht weiter überraschend, wenn man in ihr eine schier unerschöpfliche Fülle möglicher historischer Assoziationen und Querverbindungen findet, weil dies in der Natur einer Synthese liegt.

Genese und weiteres

Nun verdienten auch die weiteren Kapitel von Clements Einleitung eine ebenso ausführliche Würdigung, aber diese würde den Rahmen dieser ohnehin schon überlangen Rezension hoffnungslos sprengen. Daher nur einige kurze Hinweise. Im Kapitel über die »Genese des Schulungswegs« weist Clement zu Recht darauf hin, dass die grundlegenden Motive dieses Weges sich bereits in Steiners philosophischen Schriften finden lassen. Schon hier vermag der Mensch sein gewöhnliches Erkenntnisvermögen umzubilden. Steiners »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« sprechen davon, dass sich der menschliche Geist so auszubilden habe, dass ihm »die gegebene Wirklichkeit als von der Idee ausgehend« erscheine und die »Philosophie der Freiheit« formuliert: »der Mensch bleibt in seinem unvollendeten Zustande, wenn er nicht den Umbildungsstoff in sich selbst aufgreift und sich durch eigene Kraft umbildet.«

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit den zentralen Inhalten des Schulungswegs: seiner Methodik, den Organen des übersinnlichen Erkennens, den konkreten Übungsformen, den Stufen und Inhalten der übersinnlichen Erkenntnis und den Konsequenzen der Schulung. Das daran anschließende Kapitel erörtert Forschungslage und Problemfelder. Hier setzt sich Clement mit Fragen wie »Autonomie und Autorität« (Lehrer und Meister), »Esoterik und Öffentlichkeit«, »Originalität und Homogenität« sowie »Meditation und Suggestion« auseinander. All diese Kapitel verdienten eine ausführliche kritische Würdigung.

Die Ausführungen zur Forschungslage schließen mit einem beachtlichen Fazit:

»Der Versuch einer Verwandlung der traditionell auf Autorität, Geheimhaltung, Institutionalisierung und Elitenbildung aufbauenden europäischen Einweihungstradition in eine allgemein zugängliche, überkonfessionelle, individuell und autonom zu gestaltende und somit den Bedingungen modernen Lebens angemessene Methode menschlicher Selbsterziehung; dieses gewaltige Unternehmen, das intellektuelle und spirituelle Erbe der Mystiker und Idealisten des Abendlandes mit den Traditionen der östlich-asiatischen Welt und beide mit der kritisch-analytischen Bewusstseinsverfassung und den konkreten Gegenwartsproblematiken des modernen Menschen zu vermitteln – das sind beachtliche Originalitätsleistungen Steiners, die bei aller Problematik im Einzelnen eine Würdigung und eine sorgfältige Untersuchung ihres Selbstanspruchs verdienen«. Diese Würdigung ist in der Tat eine der zentralen Aufgaben der künftigen akademischen Anthroposophieforschung, denn woanders hat sie schon längst stattgefunden.

Auf die genannten Kapitel folgen vier weitere, die sich mit den Themen »Schulungsweg und Psychotherapie«, »Inszenierung der Einweihung« (Erkenntniskult und Mysteriendramen), der »sprachlichen Form der erkenntnisschulischen Texte« und der »Wirkung und Relevanz« dieser Schulung im 20. Jahrhundert beschäftigen. Die Einleitung schließt eine Darstellung zur Textentwicklung von »Wie erlangt man Erkenntnisse …« ab, die weitere 20 Seiten umfasst, in der die wesentlichen Änderungen, die Steiner von Auflage zu Auflage vorgenommen hat, analysiert werden. Das Augenmerk liegt hier insbesondere auf der 5. Auflage von 1914, für die Steiner den Text erstmals umfassend bearbeitete. Hier zeichnet Clement vier Grundtendenzen nach: vom Einweihungsritus zum individuellen Schulungsweg, vom Hellsehen zur Phänomenologie des übersinnlichen Bewusstseins, von der Theosophie zur Anthroposophie und schließlich eine »Rekalibrierung« der anthroposophischen Meditationspraxis.

Rudolf Steiner, Schriften – Kritische Ausgabe (SKA), Band 7, Schriften zur Erkenntnisschulung. Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten | Die Stufen der höheren Erkenntnis. Herausgegeben und kommentiert von Christian Clement. Mit einem Vorwort von Gerhard Wehr. 497 S. frommann-holzboog, Stuttgart 2014 (2015), Eur 108,–

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Zum Thema »Imagination« siehe auch folgende Beiträge im Anthroblog:

Die Realität der imaginativen Welt

Imagination. Theosophie XI

Die Macht der Imagination

Webseite von Christian Clement:

http://byu.academia.edu/ChristianClement

Webseite der Kritischen Steiner-Ausgabe:

http://www.steinerkritischeausgabe.com/

2 Kommentare

  1. Nun ja, als Auseinandersetzung hat Herr Clement sich ein grosses Verdienst errungen; da wir im Persönlichkeitszeitalter uns befinden, werde ich also mich durchaus persönlich ausdrücken: mir erweckt’s eine recht grosse Sehnsucht, und zwar nicht nach dem Altvergangenen, sondern nach dem Zukünftigen, das der mystisch verirrte Philosoph Steiner so schön voraussagt, im sechsten Kulturzeitraum wird das, was heute ganze Bibliotheken von unten bis oben anfüllt, mit ganz schlichten Sätzen gesagt werden. Ohne Zweifel, das sei Weisheit und ihre göttliche Kunst bis zur Tat gewandelt; und mal ganz ehrlich: Anthroposophen sollten sich mehr Mühe dazu geben, diesen Gang zu entwickeln, als sich dermassen für sterile Kritik hingebungsvoll zu betätigen. Man lasse Steiner einfach in Ruhe, da – bislang – kein Kritikgymnast nicht mal einen Viertel davon erlangt hat, was der sog. “mystische Gondelier” für die ganze Menschheit durch Opferung zur Verfügung stellte. Eher sollte man sich kühner (nicht bescheidener, weil das gibt es heute gar nicht mehr) gestehen, als Mensch erhebe man sich kaum genug, um dem erwünschten Zustand zu erreichen, und die Frustration kleide sich schwer mit Kritikmaschinerie; wenn die Maske abfällt, ist kein Gesicht dahinter. Das ist Gegenwart, das setzt karmische “Kraft” in Bewegung.
    Schreibverfehlung sei entschuldigt, da Deutsch nicht meine Muttersprache ist!
    Vielen Dank

  2. Sirpa Honko-Linde

    Sehr geehrter Herr Ravagli,

    herzlichen Dank für Ihre sachliche und sauber durchgeführte Rezension. Diese Gedankengänge können wirklich hilfreich sein bei der Auseinandersetzung mit den Schriften von Herrn Clement.

    mit freundlichen Grüßen
    Sirpa Honko-Linde

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