Zuletzt aktualisiert am 24. November 2024.
Das philosophische Denken hat sich, seit es aus dem Dämmer des Mythos und der Mysterien herausgetreten ist, auch dem Wesen der Gemeinschaft und der Gesetze zugewandt. Auf der Suche nach Gerechtigkeit sann schon Heraklit über die Beziehung der Vielen zum gesetzgebenden Denken – dem Logos – nach, über die Ungerechtigkeit und Anmaßung der Amtsträger, über die Verkennung des Guten und den Verfall der politischen Kultur.
Insofern könnte bereits im Hinblick auf einen der ersten Philosophen des Abendlandes von Politikverdrossenheit gesprochen werden. Politikverdrossenheit ist Ausdruck der Unzufriedenheit mit den Zuständen eines Gemeinwesens, sie ist vor allem auch Ausdruck der Unzufriedenheit mit jenen, die dieses Gemeinwesen zu repräsentieren beanspruchen.
Wer der Politikverdrossenheit erliegt, findet sich in der öffentlichen (Schein-)Repräsentation seines Willens nicht wieder und resigniert angesichts der Ohnmacht, sowohl seiner eigenen, als auch der Ohnmacht der Mächtigen. Nicht immer geht diese Unzufriedenheit und Resignation mit einem deutlichen Bewusstsein der Form einher, wie dem Wollen, das seiner angemessenen Repräsentation entbehrt, besser Ausdruck verliehen werden könnte. Das gilt für die großen Fragen des Gemeinschaftslebens ebenso wie für engere zwischenmenschliche Beziehungen.
Furcht und Gewohnheit (Trägheit) hindern uns daran, zuzugestehen, dass Veränderung nötig wäre. Denn Veränderung ist immer auch drohender Untergang. Andererseits ist Untergang notwendiger Bestandteil des Lebens. Geprägte Form, die lebend sich entwickeln soll, muss umgeprägt werden, sonst gerät der Strom des Lebens in Erstarrung und die Fortdauer des Lebens selbst in Gefahr. Trotz der naheliegenden Einsicht, dass Goethes Aperçu von der Umgestaltung als des ewigen Sinnes ewiger Unterhaltung nicht nur Unterhaltung des ewigen Sinnes, sondern auch das ist, was das Leben des Endlichen erst ermöglicht, zieht vielfach das Endliche daraus nicht die richtige Konsequenz. Zu groß ist die Angst davor, die Veränderung könnte das eigene Dasein aufheben.
Dieses Bedürfnis, am Gewordenen festzuhalten, statt neue Formen zu prägen, die Ausdruck der eigenen Wandlung sind, drückt sich in seiner Summierung auch im großen Ganzen aus, das die Summe der Einzeltaten der Individuen ist: im Gemeinwesen, das sie bilden. Wenn die einzelnen Menschen schon davor zurückschrecken, sich selbst zu ändern oder aus ihrer inneren Wandlung die nötigen Konsequenzen zu ziehen und jene Schlangenhaut abzulegen, die ihrem Wesen längst nicht mehr entspricht, wie soll denn diese Einsicht sich im Gemeinwesen geltend machen, das aus dem Willen der Vielen gebildet wird, die sich vor Veränderungen fürchten?
Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch die Inspiratoren der Menschheitskultur, die Gesetzgeber und Religionsstifter mit dieser Frage gerungen haben. Deswegen sind sie ja Gesetzgeber geworden. Denn das Gesetz will nichts anderes, als dem Wechselnden Dauer verleihen. Die Welt des Werdens und Vergehens, das sind wir selbst. Wir stehen in der Flut der Veränderungen, sind umströmt von Kaskaden von Augenblicken, die je neu und unwiederbringlich an uns vorüber und durch uns hindurch gleiten. Jeder Mensch, dem wir begegnen, trägt uns dieses Neue, dieses Andere entgegen. Aber wir könnten uns nicht als Selbst bezeichnen, wenn es in uns nicht etwas gäbe, das all diesem Wechsel und Wandel widersteht, oder besser: in diesem Wandel mit sich selbst gleichbleibt. Denn keine Zeit und keine Macht zerstückelt, geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Wären wir nur Veränderung, gäbe es schlechterdings nichts, das diese Veränderung als solche erkennen könnte. Zumindest müssen verschiedene Tempi von Veränderungen – oder Richtungen von Veränderungen – gleichzeitig existieren, damit Veränderung als solche wahrnehmbar ist. In einem Strom sind einzelne Wassermassen, die in derselben Geschwindigkeit und Richtung fließen, nicht als solche wahrnehmbar: ändern sie aber ihre Richtung oder Fließgeschwindigkeit, treten sie erkennbar hervor. Das war schon immer das Problem der Revolutionäre: dass sie zu heftige Wellen geworfen haben.
Platonisches Erbe
Wer Gesetze erlässt oder Verfassungen begründet, erhebt stets den Anspruch, das sich Wandelnde in bleibende Formen zu fassen oder den Wandel aufzuhalten. Soll die Einsicht, die der Verfassung eines Gemeinwesens zugrunde liegt, nicht despotisch sein, muss sie mit der Einsicht der Vielen korrespondieren, für die sie gelten soll.
Deswegen ist es kein Zufall, dass bei den Griechen nicht nur die Philosophie der Politik, sondern auch die Philosophie der Bildung ihren Anfang nimmt. In Auseinandersetzung mit dem aufklärerischen Impetus der Sophisten – von ihnen angeregt und zugleich sich von ihnen abgrenzend – entwickelte Plato, durch das sokratische Vorbild entflammt, einen Bildungsgedanken (paideia), in dem Erziehung im Heiligen Hain ein Dienst an den Göttern und an der menschlichen Gemeinschaft zugleich war. Der Hain des Akademos, in dem Plato die erste europäische Akademie errichtete, war abgesonderte Insel und geheimer Mittelpunkt des politischen Lebens seines Heimatstaates. Der Intellektuelle vermochte in der Polis keinen Elfenbeinturm zu bewohnen. Er wirkte als öffentliche Institution, so oder so. Die Griechen dachten allesamt politisch, selbst ihr idyllisches Programm verstanden sie, wie Hesiod oder Demokrit, noch als Beitrag zur Gestaltung des Gemeinwesens.
Die paideia, die Plato vorschwebte, umschrieb in einer bis heute kaum übertroffenen Form die Totalität der menschlichen Bildungsmöglichkeiten im Dienste eines Zieles: der Verwirklichung der idealen Gemeinschaft, die zusammenfällt mit der Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit. Er spannte den Horizont des Menschseins vom vorgeburtlichen Aufenthalt im Ideenhimmel über das vorübergehende Diesseits, dessen Würde in der Abbildung der geistigen Ordnung des Kosmos bestand, bis zu der Gottwerdung der einzelnen Individualität, die in Freiheit und Weisheit sich selbst zur Lenkung der Gemeinschaft beruft.
Aber die platonische paideia war nichts weniger als demokratisch. Sie war in hohem Grade elitär – sie beruhte auf einer starren sozialen Ordnung, auf Ausgrenzung und Ausbeutung, auf Sklaverei, Despotie und Zensur. Die Bildung und politische Gestaltungsmacht wollte Plato einigen Wenigen, einigen Auserwählten vorbehalten. Dem Rest sollte zuteilwerden, was er für die Erfüllung der praktischen Aufgaben benötigte. Die Handwerker waren Banausen, die Bauern Sklaven. Wozu brauchten sie eine Bildung zum freien Menschen? Das schadete nur der sozialen Ordnung, gefährdete die streng hierarchisch gegliederte Gemeinschaft.
Und trotzdem, auch wenn diese Vorbehalte gelten, hat Plato urbildlich die Bildung der Individualität zur Erkenntnis und Freiheit beschrieben und die Totalität ihrer Entwicklungsmöglichkeiten, die erst in der Folgezeit nach und nach ausgeschöpft werden sollten, ideell entfaltet. Was über die damalige Schau Platos hinaus führt, ist die Vervielfältigung des Königtums, seine Demokratisierung, die erst in der Neuzeit möglich wurde. Denn das Urbild des souveränen Menschen-Ich hat im Lauf der vergangenen Jahrtausende unzählige Abbilder gefunden. Die Neuzeit denkt den Gedanken der individuellen Souveränität zu Ende, indem sie jedem Einzelnen Souveränität und damit Partizipation an der Gestaltung des Gemeinwesens zubilligt.
Dreifaltige Erziehung des Menschen
Plato sieht eine dreifaltige Erziehung des Menschen vor. Erst in ihrer Totalität vermögen die vereinten Bildungsanstrengungen den ganzen Menschen und damit die gerechte Gemeinschaft zu fördern.
Dem leiblichen Menschen denkt er die gymnastische Erziehung zu, dem seelischen die Bildung und Erziehung durch die sieben Künste, die später zu den »freien Künsten« wurden und den geistigen will er durch die Philosophie bis zur Schau des Ideenhimmels führen.
Die Gymnastik gliedert sich in die Disziplinen des Fünfkampfs. Sie ist die Formung, der sich der (männliche) Jugendliche zu unterwerfen hat – nicht nur wegen ihrer militärischen Bedeutung, sondern auch weil sie in den Männerbund der Gemeinschaft initiiert. Sie fördert im Jugendlichen die Besonnenheit und den Starkmut (die Tapferkeit), Tugenden des leibgebundenen Seelenteils, durch den der Mensch in der ersten Lebenshälfte bestimmt ist. Dabei wirkt die Gymnastik durch ihre Disziplinen Laufen, Springen, Ringen, Diskus und Speerwurf auf den ganzen Menschen. Sie entwickelt nicht nur die Kraft des Körpers und seine Beweglichkeit, sondern veranlagt auch seelische Fähigkeiten des Denkens und Wollens (Laufen, Springen – Gedankenkontrolle, Kontrolle der Emotionen, Kontrolle der Willensimpulse) des dialogischen Miteinanders (Ringen), der Selbstüberwindung (Diskus) und der geistentsprungenen Zielgebung (Speerwurf).
Zu den gymnastischen Disziplinen gesellt sich bei denen, die nicht bloß zu Kriegern (Wächtern) bestimmt sind, die musische Bildung, die die Organe der Seele entzündet und sie auf die Schau der Ideen vorbereitet. Der Kanon des späteren Quadrivium, den schon Plato beschreibt, die Fächer Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie erweckt den Zögling in seinen Seelentiefen, wirkt harmonisierend auf thymos und epithymetikon (seinen Willen und sein Gemüt) und schult in ihm das vorstellende Denken, das es zwar nur zum Meinen, zur Doxa bringt, das aber doch Voraussetzung für alle spätere geistige Entwicklung ist. Durch die Fächer des späteren Trivium: Grammatik, Rhetorik und Dialektik, deren erste beide nicht so explizit genannt werden, dafür um so klarer in der Form und auch in der Themenstellung mancher platonischen Dialoge präsent sind (Sophistes, Kratylos), bildet sich der Verstand und reift zur Tugend der Weisheit – zur Vernunft – heran.
Die Dialektik leitet zur Philosophie über. Sie übt den Dialog. Der Dialog ist zunächst die sprachliche Umsetzung eines inneren Dialoges, in dem sich der Logos der Seele in sich selbst entzweit, um sich mit sich erkennend zu vereinen. Platonische Texte, die das Selbstgespräch des Logos schulen, enden in der Aporie. Texte, die zum Erfassen der Idee hinführen, gehen über die Aporie hinaus und setzen an deren Stelle den Mythos. Der platonische Mythos wird falsch verstanden, wenn man ihn als Lückenbüßer oder als ironische Floskel auffasst. In Wahrheit ist er die Überleitung des dialektischen Logos zur imaginativen Schau.
Wo sagt denn Plato, dass die Ideen, die vom Philosophen geschaut werden, denselben abstrakten Charakter haben, wie die Begriffe, um die die Dialektik ringt? Die Ideen sind Wesen, die den Überfluss des Guten in sich aufnehmen und in vervielfältigter Form dem Seienden einflößen, das aus dem Quell alles Seins hervorgeht. Die Philosophie ist die Schule der Könige, deren höchste Tugend die Gerechtigkeit ist. Gerecht ist, wer sich selbst zu einer Offenbarung des Urquells der Welt, des Guten macht. Wer durch seine Intuition die Sonne der Wahrheit, Güte und Schönheit schaut, wird dadurch, dass sich das Geschaute seinem Wesen einbildet, zu ihrem individuellen Abbild. Er wird ein harmonisch gebildeter Mensch sein, in dem nicht nur die drei Seelenkräfte, sondern auch Leib, Seele und Geist ihrem Wesen gemäß zusammenwirken, weil – vom Licht der Güte geleitet – jedes das seinige zur Vollendung des Ganzen beiträgt. Ein solcher Mensch ist nicht nur weise und gut, er ist auch schön. Seine Schönheit ist nicht nur abbildlich, wie Diotima, die Priesterin des Eros lehrt, sondern urbildlich, weil im König das Urbild lebendig wird, weil er mit ihm eins wird.
Plato schildert das Urbild eines Menschen und einer Menschenbildung, deren Verwirklichung noch bevorsteht. Hinzu kommt die Vervielfältigung dieser Uridee durch die Dissemination der Weisheitssonne, die in den folgenden 2000 Jahren der europäischen Geschichte erfolgt.
Zwar leuchtete das individualistische Ethos schon im Wirken der Sophisten auf (für Protagoras war der individuelle Mensch das Maß aller Dinge), doch sah sich Plato gerade durch ihren zersetzenden Relativismus veranlasst, die Notwendigkeit unumstößlich geltender Gesetze zu betonen. Bei Plato ist die Intuition der moralischen Individualität, deren Moralität im Handeln aus Erkenntnis des Weltzusammenhangs besteht, deswegen in die Idee einer Sozialform eingebettet, die eher an altorientalische oder asiatische theokratische Staatsgebilde (Ägypten, Japan, China) erinnert, als dass sie auch auf die demokratiewillige Wirklichkeit seiner eigenen Tage zugeschnitten wäre. Das veranlasste Popper auch dazu, ihn als Vater des Totalitarismus zu verkennen. Das theokratische Ideal setzte sich in der europäischen Geschichte durch. Es lebte im christlichen Staatsverständnis, im mittelalterlichen Feudalismus, im Absolutismus der Neuzeit und wirkt bis heute im staatlichen Zentralismus und in den modernen Formen des allzuständigen Verwaltungs- oder Parteienstaates fort.
Mittelalter
Unter dem Einfluss einer metaphysischen Umdeutung der christlichen Theophanie begann sich im Mittelalter das Heil der Seele zum herrschenden Interesse zu entwickeln. Der für Plato keineswegs bedeutungslose menschliche Leib, mit dem alle Bildung beginnt, die in der Gottwerdung (theosis) des Menschen endet, wurde nach dem Untergang des hellenischen Geistes verteufelt. Er gehörte nunmehr dem weltlichen Reich an, er war – seit Augustinus – der Träger der Erbsünde und verantwortlich für alle Sittenverderbnis. Die dem Leib und damit dem Teufel verfallene Menschheit fiel der Verdammnis anheim (massa damnata); am Vorgang der Zeugung und Geburt, der im Hellenismus zu den gefeierten Mysterien gehörte, schien Augustinus nur hervorhebenswert, dass der Mensch »zwischen Kot und Urin geboren wird.« Die Empfängnis und selbst die Geburt gingen nur dadurch in die kirchlichen Mysterien ein, dass sie sich zu Wundern verklärten (in der »unbefleckten Empfängnis«, der Geistempfängnis durch die Taufe oder die Kommunion und der »jungfräulichen Geburt«).
Aber auch der Geist des Menschen, der noch für Plato Träger der höchsten Bildung war, kam für das christliche Mittelalter – im Gegensatz zum heidnischen Mittelalter – nicht als Bestandteil des individuellen Strebens in Betracht. Denn der Geist war die Domäne des transzendent gewordenen Gottes. Der Gott, der einst Mensch geworden war, verflüchtigte sich in einem schier unerreichbaren Jenseits. Er zog in sich die Gesamtheit des menschlichen Geistes zusammen und entzog ihn zugleich dem einzelnen Menschen. Von diesem Gott sollte Feuerbach später als dem Gott gewordenen Menschen sprechen.
So wenig der Leib des Menschen – die Domäne des Teufels – im Mittelalter formbar war, so wenig war es der Geist – die Domäne Gottes. Der Geist war der göttlichen Gnade vorbehalten. Jeder Versuch, dem Menschen durch menschliche Anstrengung Geist zu verleihen, musste als Vermessenheit, als Ketzerei erscheinen, war doch, wenn überhaupt, das Walten mit dem Geist den kirchlichen Instanzen vorbehalten. Die Kirche, als die Verwalterin der göttlichen Gnadengaben, war auch die Verwalterin des Geistes. Sie teilte ihn aus und entzog ihn, aber sie bildete ihn nicht. Ihre Universalmacht der Menschenschöpfung war ihr zwar auch nur verliehen, zumindest in der Theorie. In praxi beanspruchte die Institution aber die Macht, zu binden und zu lösen, die Macht über Leben und Tod, ja selbst noch über den Tod hinaus. Denn wer von der Kirche verdammt wurde, der blieb in alle Ewigkeit verdammt.
So blieb der mittelalterlichen Bildungsanstrengung nur die menschliche Seele übrig. Auf sie konzentrierten sich alle Bemühungen. Die Seele war bildsam, formbar – sie war das Objekt der Mission. Sie bedurfte der Lenkung, denn sie konnte sich nicht selbst lenken, hatte man ihr doch den der Selbstlenkung fähigen Geist entzogen.
Das karolingische Bildungsprogramm sah deswegen in den septem artes das Instrument aller Erziehung. Die gymnastische Bildung war entfallen. Das Ideal der Leibesbildung hatte sich zur Weltentsagung, zur Askese als imitatio Christi metamorphosiert. Es gehörte schon zu esoterischem Wissen, die imitatio spirituell zu verstehen und war entsprechend okkult. Die Kirche musste durch ihre magischen Rituale, angefangen mit der Taufe und endend mit der letzten Ölung, den menschlichen Leib versiegeln, um ihn halbwegs ertragbar zu machen. Durch die Sakramente baute sie ihn in ihr System der Lebenslenkung ein, raubte ihm aber zugleich seine heidnische Heiligkeit. Die Dialektik und die Philosophie wandelten sich zur logischen Propädeutik, die auf die theologische Beschäftigung mit den Offenbarungslehren vorbereitete. Die Theologie kam aber bis Anselm von Canterbury und Abailard über den narrativen Stil der Reproduktion von Glaubensinhalten kaum hinaus. Sie war im übrigen keineswegs ein Instrument zur Bildung des Geistes – sie war ein Werkzeug zur Erziehung einer anima, die naturaliter christiana sein sollte. Und wo sie es nicht war oder sein wollte, musste sie dazu gemacht werden.
Bildungsideal war für diesen historischen Abschnitt der europäischen Entwicklung der vollkommene Mensch. Der vollkommene Mensch war der Christ. Er fand seine vollendete Verwirklichung allein im Mönch, der die imitatio bis zum »Exzess«, d.h. zum freiwilligen Austritt aus dem Leib treiben konnte. Der Laie hingegen musste sich den Reinigungsriten der Kirche unterziehen und durfte weder lesen noch schreiben lernen, weil das seinem Seelenheil nicht förderlich und ihrer politischen Macht abträglich gewesen wäre. Andererseits stellt das (koinonitische) Mönchstum bereits einen Fortschritt vom platonischen Monarchismus zu einer aristokratischen Gesellschaftsverfassung dar. Macht übt nicht ein einziger aus, sondern einige, die die christliche Idee der Vollkommenheit in sich verwirklichen. Gleichzeitig setzt aber die Verwirklichung dieser Vollkommenheit durch einige Wenige ein Unmaß an Unvollkommenheit frei, das auf den Rest der Menschheit, insbesondere ihren nicht dem Christentum erschlossenen Teil abgewälzt wird.
Die andere Seite des Mittelalters erschließt sich in den esoterischen Bestrebungen, die nach einer Vertiefung des Christentums, nach einer innerseelischen Geisterfahrung suchten. Sie bilden einen Strom der Gegenkirche, der den Schatten Christi im Verborgenen begleitet und in lebendigem Zusammenhang mit den geistverbundenen Strömungen der Neuzeit steht. Der Strom des esoterischen Christentums, in dem sich durch die spirituell verstandene Nachfolge Christi der Einzelne zur Aufnahme des Logos in seine Geistseele vorbereitete, floss zum Teil auch durch die Institutionen und bildete in ihnen (im Osten, wie im Westen) eine Art spirituelle Gegenwelt zur politischen Machtkirche. Angefangen mit der Gnosis des Paulus über die manichäischen Formen des Christentums, über die Gralsritterschaft und die früh- bis spätmittelalterlichen, ja neuzeitlichen »Ketzer«strömungen, lebten in und neben der Kirche, ja gegen sie, solche Geistsucher. Sie erlebten das Walten des Geistes im Bilden der Seele und strebten auf mystischen Wegen des Sterbens zu der Auferstehung, die dem Menschen als diesseitigem Wesen versagt blieb. In solchen esoterischen Bestrebungen, die auch die Neuzeit vorbereiteten, lebte der Gedanke der Urchristen vom Laienpriestertum, also von der Heiligungsfähigkeit jedes Individuums und damit der Grundgedanke weiter, der in seiner weltlichen Metamorphose in den modernen Demokratiebewegungen wieder an der Oberfläche der Geschichte erschien.
Renaissance
Die Renaissance entdeckte den Menschen neu. Sie kann als gigantische Bildungsoffensive zugunsten der Menschwerdung der europäischen Kultur begriffen werden.
Sie entwickelte ein Gemeinschaftsideal, in dessen Mittelpunkt der Mensch stand. Ihr ging es um den »uomo universale«, beispielhaft verkörpert in Genien wie Michelangelo oder Leonardo da Vinci, einen Menschen, der aus persönlicher Handlungskompetenz sein Leben in all seinen Anforderungen durch Selbstbildung und Selbstvervollkommnung meistert. Bei dieser Selbstvervollkommnung kann er neben dem christlichen, auch auf das gesamte geistige (vorchristliche) Erbe der Menschheit und auf das Buch der Natur zurückgreifen.
Aber auch die Funktion der Freundschaft ist nicht zu unterschätzen. Aus dem Geist der Renaissance entsprang der Gedanke der Akademie neu, die als zur Menschenbildung verschworener Freundesbund verstanden wurde, der die Gottwerdung im christlich-platonischen Sinne anstrebte. Die Renaissance ergriff somit zum ersten Mal die Bedeutung des Sozialen für den Erkenntnisprozess. Sie begriff Wissenschaft und Forschung als Gemeinschaftswerk von Gelehrten, die im Rahmen einer paneuropäischen Akademie sich auf die Suche nach der Wahrheit begaben. Das Zugeständnis, dass die Wahrheit gesucht werden könne und müsse – die Ketzerei Abailards – setzte die universelle Bildungsoffensive der Renaissance erst in Gang. Die Einsicht in die Bildsamkeit des Wissens und der Wahrheit – negativ ausgeprägt in Machiavellis Instrumentalisierung des Wissens zur Machterweiterung oder in Bacons Ideologiekritik – setzte die Energien frei, die die abendländische Menschheit in einen bis heute andauernden Forschungsprozess investierte.
Die Entdeckung des Eigenwertes des Menschen führte auf der Gegenseite auch zur Entdeckung der Natur. Sowohl das Altertum als auch das Mittelalter waren für »die Natur« blind. Erst in der Renaissance wurde sie als ein dem menschlichen Subjekt gegenüberstehendes Phänomen wahrnehmbar, paradigmatisch durch Petrarca auf dem Mont Ventoux in der Provence. Der Mensch stand ihr mit einem Mal gegenüber und zwischen beiden tat sich ein Abgrund auf, ein Abgrund, der noch in der Grenzbestimmung des Descartes nachklingt.
Aber in der Renaissance traten auch die Kulturen auseinander, die sich im Altertum durchdrangen, deren Spannung das Mittelalter nicht wahrgenommen, bzw. durch das magische Ritual gebannt hatte: die Kultur des Quadrivium und jene des Trivium. Dadurch wurde auch die Einheit des Menschen zerrissen. Das geisteswissenschaftliche Kulturideal formulierte exemplarisch der frühverstorbene Genius der florentinischen Akademie, Pico della Mirandola. Das naturwissenschaftliche der dämonische Propagandist der naturwissenschaftlich-technischen Weltrevolution: Francis Bacon.
Pico della Mirandola: naturloser Geist
Aus der Orientierung an der Geistbezogenheit des Menschen ging der humanistische Kulturentwurf der Akademie von Florenz hervor. Sie verstand den Menschen in erster Linie als Wesen, das sich durch Sprache und Erinnerung politisch verwirklicht. In ihr steht der Mensch im Mittelpunkt, der über sich selbst hinauswächst, indem er die vom Schöpfer in ihn gelegten Möglichkeiten frei ergreift und sich aufs Universum hin übersteigt. Die Selbstentwicklungsfähigkeit des Menschen gründet bei Pico auf seiner Unvollendetheit, auf seiner Instinktfreiheit. Gerade weil ihn der Schöpfer – im Gegensatz zu den Tieren – unvollkommen aus seinen Händen entlassen hat, erwächst ihm die Pflicht sich selbst zu vollenden. Pico erlebte die Idee der Selbsterziehung als moralische Intuition, die ihn in die höchsten Höhen trieb. Der Mensch hat die Pflicht, das Beste aus sich zu machen. Das Beste ist aber – platonisch – das höchste Gut, von dem alles ausgeht, der Schöpfergott, oder – aristotelisch – das höchste Gut, zu dem alles hinstrebt, der kosmische Nus. Der Mensch kann laut Pico della Mirandola werden wie Gott: sicher und fest im moralischen Urteil wie die Throne, auf denen der Schöpfer ruht, indem er sich der Schulung durch die Moralphilosophie befleißigt. Er kann werden wie Gott: einsichtsvoll und weise im Erkennen wie die Cherubim durch die Dialektik und die Naturphilosophie. Die eine lehrt ihn den Weg von oben nach unten (Dialektik), die andere den Weg von unten nach oben (Naturphilosophie). Und er kann wie Gott werden, indem er, wie die Seraphim, in Liebe zum höchsten Gut entbrennt und schließlich mit diesem eins wird. Diese Liebe wird in ihm entzündet durch die philosophische Theologie.
Bacon: geistlose Natur
Anders Bacon, der Programmatiker der nominalistischen Naturwissenschaften der Neuzeit. Aus der Orientierung an der Naturgebundenheit des Menschen entwickelt er den Entwurf einer Experimentalwissenschaft, die das magische Gesetz der Natur erforscht, um sie dem menschlichen Egoismus nutzbar zu machen. Er wird damit zum Begründer der naturwissenschaftlich-technischen Bildung und Kultur.
Bacon glaubt, der Mensch bedürfe keiner Selbstvervollkommnung, sondern könne sich, so wie er ist, der wirkenden Kräfte der Natur bemächtigen. Dadurch wird das alttestamentliche Konzept des Menschen als Herrn der Natur pragmatisch, ohne religiösen Bezug, uminterpretiert. Während die alttestamentliche Seele den Menschen als gefallenen Engel empfand, der zwar zur Herrschaft über alle Geschöpfe bestimmt, aber von seinem Schöpfer abgefallen war und deswegen des göttlichen Gesetzes bedurfte, um sich mit jenem wieder zu versöhnen, hielt Bacon den Menschen in seiner Gefallenheit für fähig, sich zum Herrn über die Erde aufzuschwingen.
Bacons Grundlegung der Experimentalwissenschaften ist in obszöner Weise usurpatorisch. Der Mensch soll sich der Natur bemächtigen, sie durch das Experiment zerschneiden, ihr ihre Geheimnisse entreißen und herausfinden, wie sie es macht, dass sie Leben aus Leben hervorgehen lässt und in ungeheurer Fruchtbarkeit stets selbst erneuert. Gentechnologie ist die gegenwärtig fragwürdigste Weiterführung dieses Baconschen Projektes. Wissen allein verleiht dem Menschen die Macht, die ihm der Cherub geraubt hat, als er ihn aus dem Paradies vertrieb. Die Macht (power, potestas) geht mit Bacon von Gott auf den Menschen über. Erkenntnis und Forschung ist eine konzertierte Aktion zur Entdeckung des geheimen Mechanismus der Natur. Wenn der Mensch das innere Wesen der Substanzen kennt, dann kann er aus Blei Gold machen, ja aus Steinen Brot.
Bacon konzipiert eine Technologie der Erfindungen, um das menschliche Wohlbefinden – den Lebensgenuss –, um Wohlfahrt und Reichtum unbegrenzt zu optimieren. Adam Smith hat sein Programm ins Wirtschaftliche übersetzt. Bei Pico optimiert sich der Mensch selbst, bei Bacon bleibt er wie er ist und optimiert lediglich die Ausbeutung der Natur um seiner Bequemlichkeit willen.
Aus Picos Programm sind die kraftlosen Geisteswissenschaften hervorgegangen, deren Repräsentanten ihren Lebenssinn darin sehen, das Wissen anzuhäufen, um es zu reproduzieren, oder, wie es heute unter dem Einfluss des Dekonstruktivismus üblich ist, das Wissen zu zerstören. Der Dekonstruktivismus ist die letzte Frucht des vergifteten Baumes, die mit ihrer Fäulnis den Baum zerstört, an dem sie gewachsen ist.
Aus Bacons Programm sind die harten Naturwissenschaften entsprungen, die sich auch in der dritten wirtschaftlichen Revolution, der Revolution des digitalen Zeitalters, als die große Gestaltungsmacht der Neuzeit erweisen.
Hinter Picos Begeisterung zur Selbstvervollkommnung steckt die individuelle moralische Intuition. Hinter Bacons Bemächtigungswillen die grenzenlose Macht der menschlichen Bedürfnisse.
Das Vehikel des florentinischen Bildungsprogramms ist die Reproduktion der gesamten Bildungsgeschichte der Menschheit im individuellen Bewusstsein, durch die alle Überlieferungen eine persönliche Beseelung erfahren. Das Vehikel des Baconschen Bemächtigungsprogramms ist die technologische Interpretierbarkeit und Verwertung (Konsummierung) der Welt. Eingeleitet wird sie durch die Ideenkritik des englischen Philosophen, der der gesamte überlieferte Bildungsinhalt der Menschheit zur Ideologie zerfällt. Bereits hier werden die Grundlagen der späteren Selbstzerstörung des abendländischen Geistes gelegt.
Reformation und Aufklärung
Die Reformation ist im Zusammenhang mit der Aufklärung zu sehen. Im Grunde ist sie ein religiöses Anhängsel der Renaissance. Auch in ihr bricht sich das Individualitätsprinzip mächtig Bahn. Wonach schon die Mystiker des Spätmittelalters in ihrer »Abgeschiedenheit« gesucht hatten, das wird durch die Reformatoren zu einer historischen Gestaltungsmacht. Nicht erst Luther betont die Unbeirrbarkeit des Gewissens gegen die Macht der Autorität. Das tun auch seine mystischen Vorgänger. Aber die individuelle Evidenz, das Wahre erkannt zu haben, entfesselt erst durch die Reformation ihr weltumwälzendes Potential.
Drei große Revolutionen der Neuzeit sind auf diese Ermächtigung des individuellen Gewissens als politische Gestaltungsmacht zurückzuführen: die niederländische (1581), die amerikanische (1776) und die französische (1789). Der Krieg um die Vorherrschaft zwischen dem Individual- und dem Kollektivprinzip tobte Jahrhunderte. Auf den Thron setzte sich ersteres (indem es sich zugleich pervertierte) durch Napoleon, der sich selbst die Kaiserkrone aufsetzte (1804) und die Kirche entmachtete. Während frühere Kaiser ihre Krone demütig vom Papst entgegengenommen hatten, war der Papst (Pius VII.) nun nur demütiger Zuschauer der Selbstinthronisation der absoluten Individualität, von der Hegel sagte, er habe den Weltgeist zu Pferde gesehen.
Vom Grundgedanken her könnte man in der Reformation einen Versuch der Versöhnung der humanistischen und der utilitaristischen Kultur vermuten. Einen Versuch, der allerdings misslingt. Luther bekämpft zwar den mittelalterlichen Dualismus von Leib und Seele, indem er den Menschen als Ganzen, mit Leib und Seele der Sünde und dem Teufel verfallen und durch die Gnade Gottes erlöst glaubt. Der Mensch ist als Ganzer, auch in seiner leiblichen, irdischen, bürgerlichen, lebenspraktischen Existenz durch Gott geheiligt, wenn er seine praktische Arbeit, seine wirtschaftliche Tätigkeit als Gottesdienst begreift. Gottgefällig ist er, wenn er in seiner Berufsarbeit eine religiöse Verpflichtung zu sehen vermag. Luther heiligt die Arbeit und sanktioniert zugleich die Verweltlichung der gesamten Kultur, ein Zusammenhang, der von Max Weber in seinen Studien über den Einfluss des Protestantismus auf die Entwicklung des Kapitalismus aufgezeigt worden ist. Die Reformation bereitet das technokratische Verständnis von Bildung und Erziehung vor, von dem die Aufklärung geprägt ist. Insofern ist die Reformation, ob in Calvin oder Zwingli, in Melanchthon oder Erasmus, lediglich eine besondere Ausformung des neuzeitlichen Geistes, der auch in Bacon manifest wird.
Die Aufklärung schließlich vollendet den Gang der abendländischen Menschheit in die Endlichkeit. Sie vollendet die Diesseitsorientierung der gesamten Kultur. In ihr kommt der menschliche Intellekt zu sich selbst und erwacht in einem völlig geistentleerten Kosmos. Die Welt ist für die Aufklärer, mögen sie nun Hume oder Voltaire oder Kant heißen, nach den Gesetzen des menschlichen Verstandes geordnet und was sich der unendlichen Trivialität entzieht, den der Esprit dieses Jahrhunderts zum Weltideal erhebt, kann nicht mit seinem Wohlwollen rechnen. Die Errungenschaften der Aufklärung heißen Entmythologisierung, Planbarkeit der Welt, mechanistisches Bild des Kosmos, universeller Utilitarismus. Bildung ist für die Aufklärung nichts als Aufklärung des Verstandes. Der Verständige beherrscht die Welt. Diese Welt ist zwar unendlich trivial und entzaubert, aber mitten in der Trivialität und Entzauberung wird auch das erste Mal der Gedanke einer allgemeinen Menschenbildung ausgesprochen.
In der Demokratisierung der Bildung wird das Recht eines jeden auf Trivialität festgeschrieben. Rousseau, der Apostel der Empfindlichkeit, der der Trivialität des Verstandes in die nicht minder große Trivialität des Gefühls entflieht, wird zum Verkünder der allgemeinen Menschenbildung, von der er aber das weibliche Geschlecht vorerst ausnimmt.
Klassik und Humanismus
Erst der deutsche Idealismus und die deutsche Klassik entdecken die menschliche Individualität im Geist, um die sich im neuen Jahrtausend alles drehen wird. Angefangen mit Herder, über Wilhelm von Humboldt, Jean Paul, Goethe, bis zu Schiller und Pestalozzi wird ein Entwurf des Menschseins formuliert, der auch für die kommenden Jahrhunderte noch leitend sein könnte, wenn die Erinnerung daran nicht endgültig von der Seelenverödung einer multimedialen Technomagie und ihrer Helfershelfer weggeschwemmt würde.
Die humanistisch-klassische Epoche erforscht zwischen 1770 und 1830 die existentiell-menschliche Singularität und ihr Verhältnis zur Geschichte. Sie entwickelt das Humanitätsideal, prägt einen organischen Bildungsbegriff, emanzipiert das einzelne Individuum von allen pragmatischen, auch staatlichen, Verwertungsinteressen und macht den ganzen Menschen in seiner historischen Einmaligkeit zum Mittelpunkt des Erdenlebens.
Herder fasste den Individualitätsgedanken, um den die gesamte Klassik kreist, in der einprägsamen Formel zusammen: Werde der Du bist! Er entdeckte den in der gesamten Menschheit verwurzelten Einzelmenschen mit seiner unantastbaren Würde, der noch der Text des deutschen Grundgesetzes verpflichtet ist, in all seiner geschichtlichen, biografischen Endlichkeit und Bedingtheit und ließ aus dieser Entdeckung, die er mit einer Würdigung der Kollektivindividualitäten der Völker verband, eine neue Epoche der abendländischen Geistesgeschichte hervorgehen. Er entwickelte in seinen »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« den Sinn für die Einzigkeit und Einmaligkeit geschichtlicher Ereignisse. Nach der Vorarbeit von Leibniz bearbeitete er die Gesamtheit der kulturellen Überlieferungen der Menschheit von ihren Anfängen und versuchte die einzelnen Ethnien und Kulturkreise, sowie die einzelne Individualität als besonderen Zweig oder besondere Blüte am Menschheitsbaum zu begreifen. Sein Bestreben war, sowohl der Ganzheit, dem Strom der sich bildenden Geschichte, als auch dem Einzelnen, der an der sich bildenden Geschichte wirkt und seine eigene Lebensgeschichte in ihren Strom verwebt, gerecht zu werden. Jede einzelne Gestalt, das ist die durchgehende Überzeugung der Klassik, kann nur aus sich selbst verstanden werden. Das heißt, die Individualität ist sich selbst ein absoluter Maßstab und kann nicht auf vorgeformte Normen zurückgeführt werden. Herder bildete diese Überzeugung mehr im Hinblick auf die Menschheitsgeschichte aus, Humboldt im Hinblick auf die einzelne Individualität, Jean Paul im Hinblick auf die Entfaltungsstufen der menschlichen Biographie.
Im Humanitätsideal flossen all diese Motive der Klassik, das morphologische, das organologische, das historische und das individualistische in eine Idee zusammen. Es stellt die Synthese von Freiheit und Gesetzlichkeit, von Individuellem und Überindividuellem dar. Im ens humanum, wie es die Klassik sieht, bedingen und durchdringen sich der Dienst am Selbst und der Dienst an der menschlichen Gemeinschaft. Die Humanität, die ein Einzelner erwirbt, ist seine höchst individuelle, nur ihm allein mögliche Ausgestaltung der allgemeinen Idee des Menschseins, die aber keine normative Größe, sondern ein unausschöpfbares, schöpferisches Potential der Durchdringung von Form und Stoff darstellt. Aus dem Gedanken der Humanität geht auch der klassische Bildungsgedanke hervor, der das von der Aufklärung kreierte Ideal der allgemeinen Menschenbildung aufgreift, aber zugleich zur Steigerung bringt.
Bildung ist letztlich immer Selbstbildung. Ein Wesen, das nicht der Selbstbildung fähig ist, kann nicht von außen gebildet werden. Das zeigen bereits die primitivsten organischen Wesen, die Pflanzen. Ihr Wachstum, ihre Gestaltbildung kann nicht aus der Summe der Umgebungswirkungen erklärt werden. Genauso wenig kann die Bildung der Individualität als die Summe der Umgebungswirkungen betrachtet werden. Bildung und Erziehung sind kein mechanischer Vorgang, sondern ein organisches Geschehen, in dem sich Inneres und Äußeres wechselseitig durchdringen, sich gegenseitig umformen und in der lebendigen Wechselwirkung eine individuelle Gestalt entstehen lassen. Bildung kann nicht einseitige Verstandesbildung sein, aber auch nicht Aneignung wirtschaftlich oder gesellschaftlich optimal verwertbarer Fertigkeiten. Der Mensch ist an sich selbst ein Wert. Erst in zweiter Linie kann gefragt werden, wieviel er der Gesellschaft oder dem Produktionsprozess einbringt, wenn das überhaupt gefragt werden kann. Die menschliche Individualität lässt sich weder rationalisieren noch wegrationalisieren. Der volkswirtschaftliche Gesamtwert, den ein Wirtschaftsraum hervorbringt, wird durch den unendlichen Wert des einzelnen Menschen vollkommen aufgewogen. Der einzelne Mensch ist zur harmonischen Ausbildung all seiner Kräfte veranlagt.
Bildung bedeutet Formung der Seele, bedeutet Entwicklung der seelisch-geistigen Individualität, bedeutet Erweckung des in jedem Menschen veranlagten schöpferischen Potentials. Jeder Mensch ein Künstler – das ist klassisches Bildungsideal.
Mitten in dieser Epoche wurde von Humboldt auch der Akademiegedanke neu formuliert. Grundlage seiner Neuformulierung ist die Überzeugung von der Selbstbildungsfähigkeit des Menschen. Sein erstes Gesetz hieß: »Bilde Dich selbst«, sein zweites: »Wirke auf andere durch das, was Du bist.« Der Mensch besitzt für Humboldt in seiner Innenwelt, seiner unergründlichen, seelisch-geistigen Individualität ein verhangenes Allerheiligstes, das durch keinen gesellschaftlichen oder sozialen Anspruch enteignet werden kann. Alles, was der Einzelne für das Ganze leistet, vollbringt er letztlich um seiner selbst willen. Entscheidend ist nicht das Werk, entscheidend ist die Formung der Individualität, die mit der Gestaltung und Verwirklichung ihres Werkes einhergeht. Jede Handlung hat nicht nur ihre manifeste Außen-, sondern auch ihre verborgene Innenseite. In ihr ist die Welt individuell repräsentiert. Von allen Objektivierungen bleibt dem Menschen nur, was er aus sich selbst gemacht hat. In der Bildung kann es nicht um die Anhäufung von Wissen gehen, sondern allein darum, dass sich die einzelne Individualität mit ihrer seelisch-geistigen Signatur möglichst vollkommen ausprägt. Was daraus wird, das ergibt sich aus dem Zusammenwirken der freien Persönlichkeiten. Aber sicher ist das Ergebnis dieses Zusammenwirkens kein Gewaltstaat, sondern ein Gebilde, das sich dem ästhetischen Staat Schillers annähert. Deswegen bestand Humboldts vordringlichstes Interesse auch darin, die »Grenzen der Wirksamkeit des Staates« zu bestimmen.
Die Zukunft Europas
Die Zukunft Europas bestünde im Zusammenschluss des in der deutschen Klassik erreichten Ideals mit seinem Ursprung. Denn in der platonischen Intuition ist der sich selbst bildende Mensch an den geist-erfüllten Kosmos angeschlossen. Was bei Plato Urbilderwelt heißt, das heißt heute: Welt des bildenden und gestaltenden Geistes. Indem das in Automorphose begriffene Menschen-Ich sich mit dem Kosmos erkennend zusammenschließt, findet es zu jener Lebensform, die der gewachsenen Freiheit und dem gewachsenen Bedürfnis nach Vereinigung gerecht wird. Das »World-Wide-Web«, um das es eigentlich geht, ist nicht das Internet, es ist vielmehr der lebendige Zusammenhang des Geistes, an dem die erkennende und handelnde Individualität Anteil hat, wenn sie ihn sich selbsttätig gibt. In dieser Form der Zusammenhangsstiftung allein liegt der Weg zum sozialen Frieden.
In der Konjunktur der sozialen Netzwerke und der Künstlichen Intelligenz drückt sich das Bedürfnis der Menschheit aus, zu einem großen sozialen Organismus mit einem gemeinsamen Bewusstsein zusammenzuwachsen. Die gegenwärtige Symptomatologie der Kulturentwicklung spricht eine deutliche Sprache, auch wenn die aktuelle politische Weltlage das Gegenteil zu sagen scheint. Die Menschheit möchte eins werden. Die Stunde Platos ist gekommen. Denn er hat bereits das Urbild der Sozialform beschrieben, die dem der theosis fähigen Individuum angemessen ist. Das Individualitätsprinzip dem Geiste, das Prinzip des Wächtertums der Seele und das Prinzip der Nährung und Erhaltung dem Leib.
Die Königsnatur des Menschen liegt in seiner geistigen Individualität, die sich erkennend und liebend mit dem Kosmos und den ihn bevölkernden Wesen zusammenschließen kann. Geisteswissenschaft für den Geist. Der Geist ist auch Wächter der Seele und des Leibes. Er wacht über seine eigene Freiheit wie über die der anderen. Allein der wachende Geist, dessen Heiligstes die Freiheit ist, vermag wahre Toleranz zu üben. Freiheit für die Seele. Er wacht aber auch über das Leben und die Existenz seiner Brüder und Schwestern und wendet sich in Liebe ihrer Bedürftigkeit zu. Brüderlichkeit für den Menschen in seiner leiblichen Existenz. Nur wenn der Geist über sich und andere wacht, wird der Mensch als Ganzer gerecht und kann die Gemeinschaft die Idee der Gerechtigkeit verwirklichen, die die höchste Idee ist, weil sie jedem das seinige in seiner höchsten Form zuteilwerden lässt. Darin besteht die menschliche Würde. Wacht der Geist nicht, verfällt der Einzelmensch in Torheit, Mut- und Maßlosigkeit und das Sozialwesen im Chaos. Wenn die von Plato beschriebene Staatsform nicht von oben, vom besten Einzelnen, sondern von den vielen Einzelnen verwirklicht wird, die das Beste in sich erfasst haben, metamorphosiert sie sich in den dreigegliederten sozialen Organismus, der jedem einzelnen Menschen in seiner dreifachen Würde gerecht wird: der geistigen (Freiheit), der seelischen (Zuwendung) und der leiblichen (Unverletzlichkeit).
Bedroht ist diese unübertreffbare Synthese einmal mehr von vielen Seiten. Von Ideologien und Technologien, die darauf abzielen, die Einzigartigkeit des Menschen zu zerstören, indem sie ihn der Diktatur des Kollektivs oder der Herrschaft einer Intelligenz zu unterwerfen versuchen, die nicht die seinige ist. Wer bereit ist, dem Individuum um eines angeblich höheren kollektivistischen Zieles willen seine Freiheit abzusprechen, verletzt seine Würde. Er wird danach streben, die Autonomie des Gewissens und der Urteilsbildung zu unterminieren, da sie angeblich die Interessen des höherstehenden Kollektivs gefährden, möge dies nun der Staat oder »die Menschheit« sein. Wer das Individuum dem Diktat einer göttlichen Autorität unterwerfen will, möchte die gesamte kulturelle Entwicklung des Abendlandes revidieren oder auslöschen. Es ist nur folgerichtig, wenn er christliche Kirchen anzündet. Wer behauptet, die Erlösung von seiner Fehlbarkeit finde das Individuum in einer kollektiven Intelligenz, die sich von der Menschlichkeit befreit, verfällt den Verlockungen Bacons und wird über kurz oder lang den Menschen zermalmen oder für obsolet erklären.
All diesen Mächten, die sich heute auf dem gesellschaftlichen Schlachtfeld tummeln, muss entgegnet werden: Ecce homo! Ihr seht den Menschen nicht, um den es geht. Ihr möchtet ihn optimieren oder deformieren, ummodeln oder auslöschen, jedenfalls wollt ihr ihn für subhumane oder transhumane Zwecke instrumentalisieren, weil ihr sein Wesen verkennt. Ihm müsst ihm dienen und nicht er euch. Weichet zurück vor dem Allerheiligsten, dessen ihr doch nicht habhaft werden könnt, da ihr es nicht einmal zu sehen vermögt. Ihr versucht ihn zu ergreifen und haltet doch nur sein Gewand in den Händen. Sein Reich ist nicht von dieser Welt und doch umfasst er alle Welten. Der Mensch mit seiner individuellen Würde ist es, der euch widersteht. An ihm werden all eure Lügen und Verlockungen, all eure Drohungen und Verleumdungen zerschellen. Er ist die Achse und der Mittelpunkt des Universums. Mit ihm steht und fällt die Geschichte. Geht er zugrunde, geht ihr es auch. Und all euer Streben war eitel.
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