Die Botschaft der Göttin

Zuletzt aktualisiert am 15. Januar 2025.

Die Botschaft der Göttin ist aktueller denn je. Sie hat auch uns Heutigen etwas zu sagen. Wir müssen nur auf ihren Ruf hören.

Die Botschaft der Göttin

Caspar David Friedrich, Winterlandschaft mit Kirche.

Im August des Jahres 1796, im Alter von 26 Jahren, weilte Hegel auf einer Reise im Berner Oberland. Von dort schrieb er an seinen Freund Friedrich Hölderlin – seinen Studiengenossen aus dem Tübinger Stift – einen Brief, der lediglich aus einem Gedicht, einer Elegie bestand. Das Gedicht erschließt die tiefgründigen Quellen seines Philosophierens. Ein Schleier wird vom verhangenen Allerheiligsten weggezogen und lässt den Blick auf Geheimnisse zu, die der Philosoph öffentlich nie mitteilte. Die Elegie, die Wunder vergessener Mysterien beschwört, deutet auf den Seeleninhalt, aus dem Hegel die Inspiration seines epochalen Denkens schöpfte.

Das Gedicht handelt von der inneren Ruhe und dem, was die Hingabe des Menschen an sie mit sich bringt. Hier ist es eine Reminiszenz an eine frühere Inkarnation oder wenigstens die Anmutung einer solchen. In seiner Elegie offenbart Hegel eine besondere Liebe zur Nacht und zur Herrscherin der Nacht, der freundlichen Göttin, die mit ihrem Silberlicht den See, an dem er weilt, mit einem kühlen Schimmer übergießt, die ungewissen Grenzen der Landschaft mit feinem Nebelflor verhüllt und die Natur in ein mystisches Dämmerlicht taucht. Doch bleibt der Autor nicht an den Naturbildern haften, sondern dringt auch in die Tiefen der eigenen Seele und findet dort die Erinnerung an jene Große Göttin, die in dreifacher Gestalt als Jungfrau, Mutter und Königin den Mysterien von Eleusis ihren sagenumwobenen Gehalt verlieh.

Die Seele muss sich erst vorbereiten, bevor ihr die Offenbarungen, die in ihr verborgen sind, zuteil werden können. Die Sorge und das aus ihr hervorgehende emsige Treiben müssen schweigen. Erst nachdem des Tages »langweiliges Lärmen« im Vergessen versunken ist, kehrt in des Dichters und Denkers Seele die Ruhe ein, in der sich ihm Gestalten nahen können, die in den verborgenen Schächten seiner Erinnerung darauf warteten, von ihm gesehen zu werden.

So kann die Nachtseele eines jeden zu seiner Tagesseele sprechen:

»Wenn du dein emsiges Treiben vollendet hast, gibst du mir die Freiheit und Muße, mich mit den Dingen zu beschäftigen, die über den Tag und das irdische Dasein hinausreichen.«

Die Geschäftigkeit der nie müden Sorge ist jener Teil der Seele, der sich um den ihr anvertrauten Leib, seine Nährung und Erhaltung sorgt. Es ist die Seele, die sich mit ihren Kräften dem Alltag hingibt, ihn gestaltet und durchdringt, aber auch von ihm auf- und ausgezehrt wird. Die nach Befriedigung an einem Ort sucht, wo sie sie nur vorübergehend finden kann, weil die Bedürftigkeit dessen, worum sie sich sorgt, nie gestillt werden kann. Erst wenn sie sich von jener Welt des steten Wandels, die ihre Sorge nährt, wenigstens vorübergehend abwendet oder dem im Wandel zuwendet, was Gleichnis des Ewigen ist, kann sie in sich selbst zur Ruhe kommen. Drei Mächte suchen sie daran zu hindern. Dazu weiter unten.

Wenn denn die Ruhe einkehrt und die Interessen des Tages schweigen, dann tauchen vielleicht in der Besinnung Bilder auf, die auch noch mit dem Tag zu tun haben, aber ihn wie dauerhafte Leitbilder durchleuchten: Bilder von Menschen, deren Freundschaft und Liebe einem das Leben lebenswert erscheinen lässt, deren Zuwendung, deren Begeisterung und Aufmerksamkeit es ist, die einen durch den Trubel des Alltags und seine Widrigkeiten trägt.

So ist es auch bei Hegel. Das Bild des fernen Freundes taucht in ihm auf und »der entfloh’nen Tage Lust.« Er denkt zurück an das, was er mit Hölderlin zusammen erlebte. Doch schon tritt an die Stelle der Erinnerung die Hoffnung auf das baldige Wiedersehen, auf das Gespräch, den Austausch über die inzwischen erfolgten Wandlungen des anderen. Und aus der Mitte der Hoffnung, aus den Bildern, in denen Hegel sich das künftige Wiedersehen ausmalt, spricht ihn die Gewissheit eines leuchtenden Gedankens an, dem die Freunde sich verschworen haben: so klar und rein ist dieser Gedanke, als ob eine höhere Macht die Stirn des versonnenen Betrachters berührte und sein Herz mit Zuversicht und Kraft erfüllte. Aus ihm ergießt sich in die zur Ruhe gekommene Seele das Feuer und die Macht des Geistes und sie erinnert sich an jenen »Bund, den kein Eid besiegelte«: Es war ein Bund, den das Ich im Angesicht des Ewigen mit sich selber schloss. Das Licht, das von ihm ausgeht, kann nicht erlöschen, es wird immer heller, je mehr es leuchtet. Der Bund, den Hegel zusammen mit Hölderlin geschlossen hat, ist auf die Intuition der Freiheit gegründet. Es ist der Bund freier Geister, die sich eins wissen in einer gemeinsam erlebten, moralischen Intuition. Deren Inhalt schließt den bedingungslosen Dienst an der Wahrheit ein: »der freien Wahrheit«, der Wahrheit, die frei macht, nur »zu leben und Frieden mit der Satzung, die Meinung und Empfindung regelt, nie, nie einzugehen!« So heißt die Losung, mit der sich die Freunde der »unsichtbaren Kirche«, dem »Reiche Gottes« in uns geweiht haben.

Doch nun tritt eine Wendung im inneren Erleben ein. Die träge Wirklichkeit ruft Hegel zurück aus dem Zwischenzustand zwischen Wachen und Träumen und mit einem Seufzer kehrt die Seele, die sich leicht exkarnierte, wieder in den Leib ein. Jetzt erst, durch das Gedenken an die Grundintuition des eigenen Lebens, durch die Besinnung auf die höchste Idee, der sie sich hinzugeben vermag, kann sie sich – mit gereinigtem und geklärtem Blick – erneut der Wahrnehmung der Natur zuwenden.

Das Auge erhebt sich »zu des ewigen Himmels Wölbung« und zu dem »glänzenden Gestirn der Nacht«. Der Blick der Göttin streift den Suchenden und wie mit einem Zauberhauch tilgt sie alle Wünsche und Phantasien aus seinem Herzen und ein tiefer Friede erfüllt die Brust. Aus der stillen Ewigkeit des Zauberlichtes, mit dem die Göttin die Landschaft übergießt, strömt Vergessen, der Schauende verliert sich im Geschauten; was er sein nannte, schwindet; vollständige Hingabe, tiefe, selbstvergessene Versenkung tritt ein. Des eigenen Wünschens und Wägens Wogen glätten sich und er wird mit dem Geschauten eins.

»Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es«, schreibt Hegel.

Dem Unermesslichen gibt er sich hin und vergisst für einen Augenblick sich selbst. Doch schon kehrt der analytische Verstand zurück, ihm graut vor dem Unendlichen, ist es doch ein unfassbarer Abgrund, ein skandalon, eine Grenze, die er nicht zu übersteigen vermag, und »staunend fasst er dieses Anschauns Tiefe nicht«. Zu schauen vermag das geistige Auge der Seele, aber nicht der zergliedernde Verstand. Da kommt Hegel die Imagination zu Hilfe und hüllt die Gestaltlose, die er schaute, in ein Gewand, in dessen Falten, in dessen schillerndem Gewebe sich das Licht verfängt, das von ihrer Stirne strahlt.

Erhabene Geister tauchen vor seinem inneren Blick auf, deren Antlitze von der Vollendung ihres Wesens zeugen. Rätselhaft spricht der aus sich herausgehobene Dichter sie an: »Erschrecket nicht!« – Wie eine Übertragung klingt es, als wolle er zu sich selbst sagen: »Erschrecke nicht, fürchte dich nicht …«, so wie die Engel sagen, wenn sie den Sterblichen erscheinen. Und nun spricht er sie an, die Göttin, die in Eleusis thronte, dem »Ort der glücklichen Ankunft« (Kerényi), mit ihrem lateinischen Namen: Ceres (Demeter), deren Weihen er einst empfing und deren Weisheit er in seiner Gegenwart unter den Lehrern vergeblich sucht. Denn die Hallen der Göttin sind verfallen, die Altäre zertrümmert, die Götter geflohen vom Grab der Menschheit, die sich selbst entweihte, als sie die Mysterien vergaß. Der Neugier der Forscher ist nichts geblieben als das Verlangen nach der Weisheit (die Philosophie), das heißt, der Mangel und nicht der Überfluss. Zwar behaupten die »Sucher«, die Liebe zur Weisheit zu besitzen, gleichzeitig verachten sie aber die Göttin, weil sie nicht erkennen, dass Zutritt zu ihr nur jene «heilige Trunkenheit« gewährt, die den von ihr Begeisterten zuteil wird. Nicht das Graben nach Worten, nicht die mühsame Exegese bringt die Wiedergeburt, sondern nur der Aufschwung der Seele in die Region des Lichts, aus der sie jene Kraft des Geistes zu schöpfen vermag, aus der sie selbst Gestalt gewinnt und mit ihr das verlorene Wissen. Nur Staub und Asche erhaschen jene, die glauben, aus Buchstaben lasse sich der lebendige Geist schöpfen. Unter Moder und Entseeltem, so Hegel, gefallen sich die Ewigtoten! Selbst er fühlt sich von dieser heiligen Trunkenheit ausgeschlossen, spricht er doch nur im Konjunktiv von ihr. Später wird er sagen, »die Eule der Minerva« beginne erst bei einbrechender Dämmerung ihren Flug, wenn »eine Gestalt des Lebens« bereits alt geworden sei.

Aber, fährt er fort, die heilige Weisheit, die nur geschaut werden konnte und stets nur geschaut werden kann, wurde nie dem Wort anvertraut. Wer sie schaute, verbot sich selbst, sie in Worte zu kleiden (sie war das arrheton Platos, das unaussprechliche Geheimnis) und wer nicht begriff, dass sie sich nicht aussprechen lässt, dem wurde das Schweigegebot auferlegt (das aporrheton). Schon der Gedanke, der doch dem Geiste nähersteht als das Wort oder gar der Buchstabe, fasst die Seele nicht, die Seele, die »außer Zeit und Raum in Ahnung der Unendlichkeit versunken, sich vergisst und wieder zum Bewusstsein nun erwacht.« Spräche dennoch vom Geheimnis, wer es erfahren hat, wie sehr drückte ihn das Bewusstsein seiner Schuld, das Wissen von der Unangemessenheit seiner Worte an das Unaussprechliche! Selbst wenn wir mit Engelszungen redeten, wie der Dichter, Paulus zitierend, fortfährt, graute uns doch vor der Profanierung des Heiligen, die im Aussprechen des Unaussprechlichen besteht. Dabei liegt diese Profanierung nicht etwa darin, dass etwas Aussprechbares ausgesprochen würde, sie liegt in dem von vorneherein zum Scheitern verurteilten Versuch, etwas seinem Wesen nach jeder Rede Unzugängliches in Worte zu kleiden.

Im Heiligtum der Brust verwahrten die Söhne und Töchter der Göttin ihr Geheimnis, handelten und lebten ihrem Wissen, ihrer Schau gemäß, profanierten aber nicht das Arcanum im Geplapper des Alltags. Nicht dem Wörterkram, nicht dem Gedächtnis überlassen, konnte das heilige Geheimnis auch nicht zum Spielzeug der Heuchler und Sophisten werden, die sich selbst nur zu erhöhen trachten durch den Glanz der leeren Worte, die sie von anderen geborgt. Auch jetzt noch lebt die Göttin in den Taten und im Leben der Wissenden, der Schauenden, die sich, frei von der Satzung, »die Meinung und Empfindung regelt«, zum Dienst an der freien Wahrheit zusammenfinden. Und an ihren Taten erkennen sie einander, nicht an ihren Worten. Mehr an dem, was sie nicht sagen, als an dem, was sie sagen.

Auch diese Nacht, so klingt Hegels Entrückung aus, hat er die Stimme der Göttin vernommen. Sie raunte ihm die Geheimnisse zu, die er nur im vertrauten Gespräch mit seinem engsten Freund zu erahnen vermochte. Die Spuren ihres Wirkens werden ihm auch in ihren Kindern anschaubar, im hohen Sinn, im treuen Glauben, der nicht wankt.

Eleusis

(Hegel an Hölderlin, August 1796)

Um mich, in mir wohnt Ruhe. Der geschäft’gen Menschen
Nie müde Sorge schläft. Sie geben Freiheit
Und Muße mir. Dank dir, du meine
Befreierin, o Nacht! – Mit weißem Nebelflor
Umzieht der Mond die ungewissen Grenzen
Der fernen Hügel. Freundlich blinkt
Der helle Streif des See’s herüber.

Des Tags langweil’gen Lärmen fernt Erinnerung,
Als lägen Jahre zwischen ihm und jetzt.
Dein Bild, Geliebter, tritt vor mich,
Und der entfloh’nen Tage Lust. Doch bald weicht sie
Des Wiedersehens süßern Hoffnungen.
Schon malt sich mir der langersehnten, feurigen
Umarmung Szene; dann der Fragen, des geheimern,
Des wechselseitigen Ausspähens Szene,
Was hier an Haltung, Ausdruck, Sinnesart am Freund
Sich seit der Zeit geändert; – der Gewissheit Wonne,
Des alten Bundes Treue fester, reifer noch zu finden,
Des Bundes, den kein Eid besiegelte:

Der freien Wahrheit nur zu leben,
Frieden mit der Satzung,
Die Meinung und Empfindung regelt, nie, nie einzugehn!

Nun unterhandelt mit der trägern Wirklichkeit der Wunsch,
Der über Berge, Flüsse leicht mich zu dir trug.
Doch ihren Zwist verkündet bald ein Seufzer und mit ihm
Entflieht der süßen Phantasien Traum.

Mein Aug‘ erhebt sich zu des ew’gen Himmels Wölbung,
Zu dir, o glänzendes Gestirn der Nacht!
Und aller Wünsche, aller Hoffnungen
Vergessen strömt aus deiner Ewigkeit herab.
Der Sinn verliert sich in dem Anschau’n,
Was mein ich nannte, schwindet.
Ich gebe mich dem Unermesslichen dahin.
Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es.
Dem wiederkehrenden Gedanken fremdet,
Ihm graut vor dem Unendlichen, und staunend fasst
Er dieses Anschauns Tiefe nicht.

Dem Sinne nähert Phantasie das Ewige,
Vermählt es mit Gestalt. – Willkommen, ihr,
Erhab’ne Geister, hohe Schatten,
Von deren Stirne die Vollendung strahlt!
Erschrecket nicht. Ich fühl‘, es ist auch meiner Heimat Äther,
Der Ernst, der Glanz, der euch umfließt.

Ha! Sprängen jetzt die Pforten deines Heiligtums von selbst,
O Ceres, die du in Eleusis throntest!
Begeist’rungstrunken fühlt‘ ich jetzt
Die Schauer deiner Nähe,
Verstände deiner Offenbarungen,
Ich deutete der Bilder hohen Sinn, vernähme
Die Hymnen bei der Götter Mahlen,
Die hohen Sprüche ihres Rats.

Doch deine Hallen sind verstummt, o Göttin!
Geflohen ist der Götter Kreis in den Olymp
Zurück von den entheiligten Altären,
Gefloh’n von der entweihten Menschheit Grab
Der Unschuld Genius, der her sie zauberte.
Die Weisheit deiner Priester schweigt.

Kein Ton der heil’gen Weih’n
Hat sich zu uns gerettet, und vergebens sucht
Der Forscher Neugier mehr, als Liebe
Zur Weisheit. Sie besitzen die Sucher und verachten dich.
Um sie zu meistern, graben sie nach Worten,
In die dein hoher Sinn gepräget wär.
Vergebens! Etwa Staub und Asche nur erhaschen sie,
Worein dein Leben ihnen ewig nimmer wiederkehrt.
Doch unter Moder und Entseeltem auch gefielen sich
Die Ewigtoten, die Genügsamen! – Umsonst, es blieb
Kein Zeichen deiner Feste, keines Bildes Spur.

Dem Sohn der Weihe war der hohen Lehren Fülle,
Des unaussprechlichen Gefühles Tiefe viel zu heilig,
Als dass er trock’ne Zeichen ihrer würdigte.
Schon der Gedanke fasst die Seele nicht,
Die, außer Zeit und Raum in Ahnung der Unendlichkeit
Versunken, sich vergisst und wieder zum Bewusstsein nun
Erwacht. Wer gar davon zu andern sprechen wollte,
Spräch‘ er mit Engelzungen, fühlt der Worte Armut.
Ihm graut, das Heilige so klein gedacht,
Durch sie so klein gemacht zu haben, dass die Red‘ ihm Sünde deucht,
Und dass er bebend sich den Mund verschließt.

Was der Geweihte sich so selbst verbot, verbot ein weises
Gesetz den ärmern Geistern, das nicht kund zu tun,
Was sie in heil’ger Nacht geseh’n, gehört, gefühlt,
Dass nicht den Bessern selbst auch ihres Unfugs Lärm
In seiner Andacht stört, ihr hohler Wörterkram
Ihn auf das Heil’ge selbst erzürnen machte, dieses nicht
So in den Kot getreten würde, dass man dem
Gedächtnis gar es anvertraute, dass es nicht
Zum Spielzeug und zur Ware des Sophisten,
Die er obolenweis verkaufte,
Zu des beredten Heuchlers Mantel, oder gar
Zur Rute schon des frohen Knaben, und so leer
Am Ende würde, dass es nur im Widerhall
Von fremden Zungen seines Lebens Wurzel hätte.

Es trugen geizig deine Söhne, Göttin,
Nicht deine Ehr‘ auf Gass‘ und Markt, verwahrten sie
Im innern Heiligtum der Brust.
Drum lebtest du auf ihrem Munde nicht.
Ihr Leben ehrte dich. In ihren Taten lebst du noch.

Auch diese Nacht vernahm ich, heil’ge Gottheit, Dich.
Dich offenbart oft mir auch deiner Kinder Leben,
Dich ahn‘ ich oft als Seele ihrer Taten!
Du bist der hohe Sinn, der treue Glauben
Der, einer Gottheit, wenn auch alles untergeht, nicht wankt.

Blicken wir, nachdem die Elegie auf uns gewirkt hat, noch einmal zurück. Welches sind die Mächte, die die Seele daran zu hindern trachten, dass sie zur inneren Ruhe findet? Haben wir uns dem Ruf: »Eingeweihte ins Meer«, der einst in der Mitte des September, am 16. Boedromion, in der Bucht von Eleusis erklang, angeschlossen und sind ausreichend in die Tiefen des Seelenmeeres eingetaucht, dann bringen wir aus ihm das Wissen um die Mächte mit, die uns vom Vollzug des Wandels abzuhalten suchen, den uns die dreigestaltige Göttin, die despoina (Herrin), ermöglichen will.

Die Sorge wurde bereits erwähnt. Aber die Sorge ist nur die Erfüllungsgehilfin einer größeren Macht, genauer gesagt, einer drei-einen Macht, die sich den Gaben der drei-einen Göttin entgegenstellt und zu verhindern strebt, dass die Saat, die sie gesät hat, aufgehen kann.

Verblendung, Gier und Hass

Hinter der Sorge – diese Einsicht verdanken wir Buddha – stehen die drei großen Dämonen der Gier, des Hasses und der Verblendung. Die Verblendung beschleicht unser Denken und gaukelt uns vor, das Vergängliche sei unvergänglich, das Sterbliche unsterblich, das Wertlose wertvoll, das Böse gut. Sie zieht die Seele von der naheliegenden Einsicht ab, dass allein das Unvergängliche dauert, allein das Wertvolle trägt und das Unsterbliche den Tod übersteht. Mit ihr zieht die Lüge in unsere Seele ein und lässt uns glauben, Unrecht sei Recht, Krankheit Gesundheit, Zerstörung Aufbau. Sie fesselt die Energie unseres Geistes an Unwesentliches und ruft durch diese Verstrickung die Gier und den Hass hervor.

Vor der Verblendung kann uns nur die Einsicht bewahren, die die Herrin des Todes, Persephone, die Tochter der De-Meter, der Göttin-Mutter, vermittelt, denn der Tod scheidet das Vergängliche vom Unvergänglichen, den Schein vom Wesen. Die Meditation des Todes, die Anrufung der Persephone, der Jungfrau, die in die Unterwelt steigt und lebend wieder aus ihr hervortritt, kann uns von der Verblendung befreien. Jeder muss in seinem eigenen Leben zu unterscheiden versuchen, was wirklich Wert in sich trägt, unvergänglichen Wert, Wert, der die Seele nach dem Tode nicht mit der Verstrickung in das Vergängliche belastet, sondern Wert, der sie leicht macht und durch die Finsternisse zu einem neuen Leben geleitet. Nicht in der pauschalen Abwendung vom Leben, nicht in dessen hochmütiger, asketischer Abwertung, kann dieser Wert gefunden werden, denn wozu wären wir dann inkarniert? In der Inkarnation selbst steckt das Geheimnis. Verborgen im endlichen und fleischlichen Dasein liegt ein unvergänglicher Schatz, den es aus der Erde, dem Fleisch (aus den Tiefen der Erde) zu schöpfen gilt. Aus dieser Einsicht erwächst uns auch der Mut, das Leben in all seinen Erscheinungsformen zu verteidigen, denn es ist, trotz seiner Vergänglichkeit, die Grundlage, aus der unsere Unsterblichkeit erwächst. Verteidigen müssen wir es vor irdischen Übeltätern, die sich anmaßen, Vollstrecker des Todes zu sein, in Wahrheit jedoch als Opfer ihrer eigenen Verblendung dem Seelentod verfallen.

Hass ruft hervor, was unsere Gier zurückweist. Gier lockt an, was uns die Verblendung als erstrebenswert vorgaukelt, wo es doch in Wahrheit nur vergänglicher Tand ist. Vor der Gier kann uns allein die Jungfrau bewahren, die Kore, das Mädchen-Kind, das auf der nysischen Ebene Narzissen pflückt. Zwar wird es von Dionysos geraubt, aber es trägt dennoch die reinen Kräfte der Kindheit in sich, die nach dem Gang in den Hades in verwandelter Gestalt wieder auferstehen. Die Unschuld ist, auch wenn sie ins Leben stirbt, nicht unrettbar verloren. Niemand ist berechtigt, sie anzutasten. Sich selbst überlassen, kann sie sich in die Weisheit verwandeln, die aus der Schuld erwächst, die sie selbst wählt. Durch Leid wird sie wissend. Wer sich jedoch an ihr vergreift, versündigt sich an der Weisheit und wird durch sie gerichtet. Wer er auch sei, er entkommt nicht der Gerechtigkeit, entweder der irdischen oder der himmlischen.

Die Kräfte des Willens bedürfen der Unschuld, der Reinheit, die sie besitzen, wenn wir noch Kind sind, der Unschuld, die sie nur durch den Gang in den Hades wiedererlangen können, wenn wir sie scheinbar verloren haben (nur wer sich selbst bezwingt, ist sein eigen, sagt Goethe). Der Gang in den Hades (der Gang zu den Müttern) ist der Gang in das schöpferische Ideenreich, aus dem alles Seiende hervorgegangen ist und immerdar hervorgeht. Allein die Anschauung, die aus der Stille geboren wird, in der die nie müde Sorge schweigt, kann uns in dieses Reich führen. Es ist kein Reich der Leere, sondern ein Reich der Fülle, der Lebensfülle, Liebesfülle und Gestaltenfülle, es ist wie ein ewig-gebärender Schoß, nicht wie ein alles verschlingendes Grab.

Vor dem Hass bewahrt uns die Große Mutter, De-Meter, die Göttin Mutter. Sie ist das Urbild der umsorgenden Liebe, die hingegebene Herrin aller Lebewesen und aller Geschöpfe im Wasser, auf dem Lande und in der Luft, sie ist die alles nährende, schützende und hegende Göttin, die mit ihrem Weltenmantel alle Wesen umschließt. Sie wird zwar von Trauer und Zorn erfasst, als ihre Tochter von Hades-Dionysos geraubt wird, und droht, aus Rache für den Raub den gesamten Vegetationszyklus zu unterbrechen, bis die Menschheit verhungert ist. Aber sie bezwingt diesen Zorn und findet in sich die Kraft, zu verhandeln. Wenn der Zorn schweigt, kann die Einsicht sprechen. An die Stelle von Zorn und Rache tritt das Recht. Indem sie ihr Rachebedürfnis überwindet und Hermes, dem Götterboten, dem Seelenführer folgt, vermag sie ihre Tochter vom Thron des Totenreiches zu holen und auf die Erde zurückzuführen. Das Ergebnis der Verhandlung erscheint ihr gerecht und sie lässt von ihrer zerstörerischen Drohung ab. Sie wird die Vermittlerin zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, sie wandelt sich.

Der Zorn wurzelt in der Verweigerung der Wandlung. Wer sich dem Wandel widersetzt, empfindet ihn als Zumutung und verfällt in Zorn und Hass. Er wird früher oder später zerbrechen, denn nur die lebendige Form, die lebend sich entwickelt, widersteht der zerstückelnden Macht der Zeit. Der Hass verzehrt sich selbst, er schafft sich seine eigene Hölle auf Erden. Mag er auch zerstörerisch um sich schlagen, er kann nicht als Sieger aus der Schlacht hervorgehen. Zorn und Hass machen blind, die Liebe macht sehend. Die Liebe ist stärker als der Hass, sie allein dauert, sie allein erlöst. Sie ist stärker als der Tod, denn sie gründet in der Güte, aus der alles hervorgegangen ist, die alles im Dasein erhält. Sie schenkt uns die Bereitschaft, auf das zu verzichten, was wir geworden sind, das Errungene loszulassen, damit es in neuer Gestalt auferstehen kann. Sie lehrt uns jedoch auch, dass wir ohne die Besinnung auf das, was wir geworden sind, das Errungene verlieren. Nur wer sich selber treu bleibt, vermag sich zu wandeln. (»Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt, geprägte Form, die lebend sich entwickelt.« [Goethe]) Nur in der Liebe zu uns selbst finden wir die Kraft, unsere Nächsten zu lieben, sie zu umsorgen und zu schützen. Wir handeln nicht aus Zorn, wie die, die hassen, sondern aus Liebe. Deswegen siegen wir.

Die Auferstehung schließlich ist keine eitle Hoffnung. Die Gewissheit, dass sie geschieht, ist Frucht der Anschauung des Geistes, von der Hegels Elegie zeugt. Wer mit wachem Blick in das Geschehen der Gegenwart sieht, wird bemerken, dass sich ein gewaltiger Paradigmenwechsel vollzieht. Wie von Wehen einer globalen Geburt wird dieser Paradigmenwechsel von großen Schmerzen begleitet, aber die Freuden sind um so größer, wenn die neue Gestalt der Welt sichtbar wird. Die Völker der Erde seufzen dem Licht entgegen, das aus den Äthermeeren, in denen die Erde schwimmt, »aus unsrer Heimat Äther«, hervortritt. Es ist ein strahlendes Antlitz, das uns entgegenleuchtet, von Vollkommenheit zeugend, aus Leiden geboren, mit der Kraft allumfassender Liebe erfüllt: das Antlitz der Göttin, der weiblichen Imago Christi. Ihr dürfen wir uns anvertrauen. Aus ihr fließt die Gewissheit, dass wir dem Hass widerstehen können, die Verblendung durchschauen und die Gier überwinden. Sie stattet uns mit der nötigen Waffenrüstung des Geistes aus, zu der auch das Recht gehört. So werden wir zu Kriegern des Lichtes, nicht der Finsternis.


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