Arier, Atlantis und Akasha

Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2011.

31.07.2006 (Erstveröffentlichung)

Wieder einmal hat die Süddeutsche Zeitung sich als Forum für ausgewogenen Journalismus dargeboten, indem sie den Bericht Alexander Kisslers über eine Tagung von erklärten Gegnern der Anthroposophie, die jegliche kritische Distanz des Berichterstatters zu seinem Gegenstand vermissen läßt, abdruckte (am 25.7.2006, auf S. 12). Die Tagung zeichnete sich durch die gewollte Abwesenheit aller Betroffenen oder wirklichen Experten aus und war als nichts anderes denn als Forum für ideologische Verunglimpfung konzipiert. Indem der Autor sich die Extrempositionen der Mitwirkenden aneignet, eignet er sich ihre fragwürdigen Interpretationen der Anthroposophie an, die mit dem Selbstverständnis ihres Schöpfers wenig bis gar nichts zu tun haben. Nehmen wir die »Akasha-Chronik«, wie Steiner das »Buch des Lebens« nennt, das aus der christlichen Tradition durchaus bekannt ist. Geht man davon aus, daß die Welt aus einem schöpferischen Bewußtsein hervorgegangen ist, eine dem Christentum keineswegs fremde Annahme, dann ist auch die Vorstellung nicht absurd, daß dieses schöpferische Bewußtsein die Schöpfung durchdringt. Die katholische Theologie hat für dieses Verhältnis Gottes zur Schöpfung den Begriff der »creatio continua« geprägt. Wenn aber die göttliche Schöpfermacht die Schöpfung mit ihrem Bewußtsein durchdringt, ist es abwegig, anzunehmen, daß die gesamte Geschichte dieser Schöpfung im göttlichen Bewußtsein präsent ist, das die gesamte Zeit in sich begreift?

Ausgehend von dieser Annahme, kann man sich einen Zugang zum Verständnis der religiösen Offenbarungen erschließen, die von dieser Schöpfung in bildhaft-symbolischer Form berichten. Die Schöpfungsberichte der verschiedenen Offenbarungsreligionen sind dann ebenso aus einem Eintauchen ihrer Stifter in Teile dieses göttlichen Bewußtseins hervorgegangen, wie die entsprechenden Mythen, die sich in allen Religionen und Mythologien der Erde finden. Der Eintritt der Aborigines in die Traumzeit ist nichts anderes als ein Eintauchen in dieses Bewußtsein, ebenso die Erfahrung des Schamanen, der Kosmogonie und Anthropogonie in seinem Trancezustand rekapitulierend durchlebt. Andere spirituelle Techniken, die zu vergleichbaren Erfahrungen führten, haben diverse Mysterien der Antike ausgebildet. Die gesamte Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart bietet einen unerschöpflichen Fundus von Anschauungsmaterial dafür, wie Menschen durch Herbeiführen anderer Bewußtseinszustände zu Beobachtungen, Erfahrungen und Wissen gelangten, das unserem Alltagsbewußtsein unvertraut ist. In vielen Mythen und Offenbarungsreligionen finden sich Schilderungen symbolischer Art, die ein sukzessives, evolutiv-kreatives Hervorgehen der Welt aus dem Geist Gottes, dem Schoß der Urmutter oder einer abgestuften Götterwelt usw. beschreiben. Der Aufklärung verdanken wir die abendländische Schizophrenie, die dieses mythische Bewußtsein und die Realität, aus der es schöpft, vollkommen verdrängt hat. Die Verdrängung dieser mythischen Realität hat sich am Abendland im 19. und 20. Jahrhundert schrecklich gerächt, indem sich die aufgeklärten abendländischen Gesellschaften säkulare Ersatzmythen wie den Nationalismus oder den Rassismus schufen, von deren Schlund die aufklärerische Nüchternheit in Orgien der Brutalität verschlungen wurde. Warum sollte es nicht auch in der Neuzeit möglich sein, unter den Bedingungen einer wissenschaftlichen Erfahrungsart, die auf Beobachtung und Denken beruht, die mythische Realität wieder einzuholen, die auch der Quell der Offenbarungsmythen ist?

Steiner hat keineswegs den Anspruch erhoben, der einzige zu sein, der Zugang zum »Buch des Lebens« hat. Er hat sich vielmehr in den Strom der gesamten Überlieferungsgeschichte der Religionen gestellt, in der es von Sehern geradezu wimmelt. Nur wenn man solche Erfahrungen von vorneherein für Schwachsinn hält, weil man die bornierte Verstandesrationalität als einzige Garantie der Wirklichkeit betrachtet, kann man diesen Grundgedanken jeder spirituellen Weltsicht generell verwerfen. Der Hochmut der Aufklärung hat aber auch dazu geführt, die Völker, die zu Opfern der europäischen Kolonisation geworden sind, als unterentwickelt zu betrachten, gerade, weil sie solche Erfahrungsformen bewahrt haben. Das Bewußtsein zivilisatorischer Überlegenheit, das das Abendland der Aufklärung verdankte, war die Wurzel des Kolonialismus und Imperialismus. Steiner hingegen betrachtete diese Bewußtseinsformen gänzlich anders. Er sah in ihnen Spiegelungen eines Wirklichkeitsbezugs, der in den kolonisierten Völkern lebendig war, durch den sie auf einer der abendländischen Zivilisation überlegenen spirituellen Stufe standen. Er war der Auffassung, das Abendland müsse sich von seiner Schizophrenie und seinem Überlegenheitsdünkel befreien, um die Katastrophen zu vermeiden, die es in der Weltgeschichte hervorgerufen hat. In dieser Beziehung hätte das Abendland von den kolonisierten Völkern zu lernen und nicht umgekehrt. Steiner hat auch stets betont, daß seine symbolischen Erzählungen aus einer prinzipiell fehlbaren Forschung hervorgingen, die der Überprüfung unterliegen. Nur kann man die Wahrheit des Mythos nicht mit dem Maßstab der Verstandesrationalität messen. Aus dieser ergibt sich auch die Ansicht, Tod und Auferstehung Christi seien nichts als absurde, fromme Märchen.

Kommen wir zur »arischen Wurzelrasse«. In Steiners Kulturphilosophie umschreibt dieser Begriff keine anthropologische Rasse, sondern einen bewußtseinsgeschichtlichen Horizont, der von den letzten Steinzeitmenschen bis weit über die Gegenwart hinausreicht. In dieser Geschichtsepoche haben alle Völker, die nur irgendwie in Erscheinung getreten sind, an einer Entwicklung teil, die darauf hinzielt, das neuzeitliche autonome Individuum hervorzubringen, das unter seinesgleichen gleichberechtigt und gleichwürdig am sozialen Geschehen Anteil hat. Die Quintessenz seiner esoterischen Lehren ist keine andere als die seiner »Philosophie der Freiheit«: das menschliche Individuum mit seiner Freiheit ist Quell aller Sittlichkeit und Mittelpunkt des Erdenlebens. Die menschliche Freiheit erhebt den Einzelnen über alle generativen, kollektiven Bestimmungen und Abhängigkeiten. Es gibt nur drei wesentliche moralische Maximen, die sich aus der freiheitsförmigen Sittlichkeit des Menschen ergeben: die Vermehrung des Gesamtwohls der Menschheit, rein um dieses Wohles willen, die Beförderung des Kulturfortschritts in Wissenschaft, Bildung und Kunst und die Verwirklichung der individuellen Freiheit selbst. Das ist der sittliche Kern der sog. »arischen Wurzelrasse«. Wer darin etwas Verwerfliches sehen will, dem ist nicht zu helfen.

Das Weltbild Steiners ist mitnichten rassistisch. Im Gegenteil, durch seine unablässige Betonung des jedem Menschen eingeborenen Würdekerns, der jedem zukommt, gleichgültig, welche Hautfarbe er trägt, in welchem Kulturkreis er geboren wird, ob er behindert ist oder hochbegabt, eignet es sich sogar vorzüglich als Mittel zur Überwindung des Rassismus. Deswegen ist es auch besonders abwegig, wenn Kissler im Anschluß an Lichte behauptet, Waldorflehrer reproduzierten ein rassistisches Menschenbild. Das Gegenteil ist der Fall. Nichts ist weniger empfänglich für Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit als die Waldorfpädagogik. Das hat erst jüngst eine empirische Untersuchung des Kriminologen Prof. Christian Pfeiffer ergeben. Nach dieser Untersuchung schneiden die Waldorfschüler, was ihre Neigung zu Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus betrifft von allen Schulformen (Haupt-, Realschulen, Gymnasien) weitaus am besten ab. Sind es bei Hauptschülern 24,7 % bzw. 9,5 %, fallen die Anteile bei Gymnasiasten auf 8,3 % bzw. 1,9 %, während nur 2,8 % der Waldorfschüler als fremdenfeindlich und 1,2 % als rechtsextrem einzustufen sind. Würden die Waldorflehrer in ihrem Unterricht einen (nicht vorhandenen) Rassismus aus Steiners Werk reproduzieren, dann könnte man diesen Lehrern lediglich attestieren, daß sie bei ihren Versuchen absolut erfolglos wären. Aber sie versuchen es ja gar nicht.

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