Zuletzt aktualisiert am 24. Juli 2011.
Im Zeitalter der Glaubenskriege hielt ein Kompositum in die deutsche Sprache Einzug, das zuvor unverbundene Begriffe miteinander verknüpfte: den Begriff der Ehre und den Begriff der Furcht.
Das Ehrgefühl war immer schon ein gesellschaftliches Gefühl. Es bezog sich auf den sozialen Status des Menschen, seine Anerkennung durch andere und die Spiegelung dieser Anerkennung im Selbstbild. So unterschiedlich die Ehrbegriffe in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten auch ausgeprägt sein mochten, gefehlt haben dürften sie nirgends. Adlige und Geistliche, Bürgerliche und Bauern besaßen ihre je eigene Ehre, Männer und Frauen ebenso. Die Ehre war ein hohes Gut. Verletzungen der Ehre konnten die Ächtung, die Ausstoßung aus der Gemeinschaft nach sich ziehen. Verbunden war das Ehrgefühl mit Selbstachtung und Achtung vor anderen, seine Verletzung mit Scham. Die Ehre war keine rein äußerliche Angelegenheit, sie stützte sich auf innerliche Moralvorstellungen. Noch Goethes Gretchen zerbricht an der Verletzung ihrer Ehre. Sie wird wahnsinnig vor Scham und Gram über die Verbrechen, die sie begangen hat.
Im Gegensatz zum Ehrgefühl besaß die Furcht keine ausgeprägte soziale Komponente. Furcht konnte in jeder Lebenslage auftreten, sie nahm keine Rücksicht auf Rang oder Status. Sie war immer schon ein universelles Grunderlebnis des Menschen, in dem die empfundene Gefährdung seiner Daseinssicherheit zum Ausdruck kam. Natürlich konnte sich die Furcht auch auf die Ehre beziehen, etwa, wenn jemand fürchtete, er könnte sie verlieren, das heißt, er könnte die soziale Achtung und Anerkennung verlieren und mit diesen seinen Rang, seinen Status. Aber die Furcht war (und ist) viel umfassender. Sie konnte sich auf alles beziehen: auf das Leben (Todesfurcht, Furcht vor Krankheit), auf den Besitz (Furcht vor Verarmung, Hunger), auf das Leben nach dem Tode (Furcht vor Höllenstrafen), auf andere Menschen (Furcht vor Feinden), auf die Obrigkeit (Furcht vor Strafen und Willkür).
Nun aber verbanden sich diese beiden Begriffe zu einem neuen. Die Rede ist von der Ehrfurcht. Wir dürfen das Auftauchen des Wortes in der deutschen Sprache nicht dahingehend mißverstehen, als ob das damit bezeichnete Gefühl zuvor nicht vorhanden oder nicht möglich gewesen wäre. Das christliche Mittelalter kannte die »devotio«, als eine Form der Nachfolge Christi, die »reverentia« oder »veneratio« einschloß, das griechische Altertum die Göttin »Aidos«, die neben Zeus thronte, und Scheu, Schonung, Scham vor der reinen Natur und der Unschuld der Menschen gebot. Aber indem Furcht und Ehre in einem Wort zusammentraten, setzte eine neue Interpretation dieses alten Erlebnisses ein, die es veränderte und die beiden Empfindungen, als deren Resultante es nunmehr erschien, modifizierte. In der Ehrfurcht wird das Ehrgefühl, das sich auf das empfindende Selbst bezog, zu einem Gefühl der Verehrung anderer und die Furcht wird abgemildert zu Scheu und Zurückhaltung. Präzise beschreibt Wolfgang Janke in seinem Buch »Die Sinnkrise des gegenwärtigen Zeitalters« den gedanklichen Gehalt der neuen Interpretation: sie verbindet »hingebungsvolle Verehrung des Heiligen, Überwältigenden, Transzendenten« mit der »zurückhaltenden Scheu vor dem Reinen, Jungfräulichen, Unantastbaren.« »Ohne Ehrfurcht«, fährt Janke fort, »gibt es keine rechte Wahrung des Sakralen, Transzendenten, Geheimnisvollen, Unverfügbaren, Unergründlich-Unerforschlichen. Aber ohne Ehrfurcht kommt auch keine Rücksicht auf die Mitgeschöpfe der Umwelt zustande, keine Schonung des Lebens überhaupt, kein Ehren von Vater und Mutter, keine Achtung vor Alter und Weisheit, keine ergriffene Scheu vor Sterbenden und von Wahnsinn Geschlagenen, und kein Einhalten vor dem Wunder der Liebe, vor dem Geheimnis des Todes, vor der Verborgenheit Gottes.«
Mag die Ehrfurcht in der deutschen Sprache auch keine lange Wortgeschichte haben, ist sie doch als existentielle Befindlichkeit dem Menschen seit Anbeginn vertraut. Ja, wir möchten behaupten, dass die Ehrfurcht von entscheidender Bedeutung für die Entstehung jeder Religion ist. Ohne die hingebungsvolle Verehrung des Heiligen kann es keine Religion geben. Und aufgerufen wird sie durch eben dieses Heilige, das sich als solches an den Menschen wendet, der, indem er es wahrnimmt und vernimmt, mit dem Gefühl der Ehrfurcht antwortet. Nicht das Wort oder das Gefühl schafft das Heilige, sondern der Gegenstand der Ehrfurcht ruft das Gefühl und den dazugehörigen Begriff hervor. Aber während das Heilige und Numinose das Gefühl erweckt, führt das Versiegen dieses Gefühls zu einem Verschwinden des Heiligen und Numinosen im Zeitalter der Aufklärung und Kritik. Die Ehrfurcht wird zu einem Opfer der »Furie des Verschwindens«. Nicht die Welt hat sich verändert, sondern der Mensch in seiner Einstellung gegenüber der Welt. Und mit der Zunahme des kritischen Bewußtseins und der Autokratie des neuzeitlichen Selbstes ist das Heilige aus dem Blick des Menschen entschwunden, weil er gewissermaßen das Organ in sich abgetötet hat, das es bis dahin wahrnahm: eben die Ehrfurcht. Als ein solches Organ hat Max Scheler 1954 diese Seelenregung beschrieben: »Die Welt wird sofort ein flaches Rechenexempel, wenn wir das geistige Organ der Ehrfurcht ausschalten. Sie allein gibt uns das Bewußtsein der Tiefe und Fülle der Welt und unseres Ich.« »Nicht nur Gott und die Welt« so Scheler weiter, »unser eigenes Ich und das der Unsrigen erscheint in seiner Tiefendimension erst in der Ehrfurcht.« (»Zur Rehabilitierung der Tugend«, zitiert nach Janke, S. 244). Das Furchtelement in der Ehrfurcht deutet nach Janke auf das schamerfüllte »Innewerden unseres Ungenügens, die tiefe Wahrheit von Sein und Welt, Leben und Natur« zu umfassen, das Verehrungselement auf das »Innewerden einer Teilhabe, mit der wir an einem geheiligten Leben partizipieren.«
Hesiod, der eingeweihte Sänger des kosmogonischen Mythos der Hellenen, hat in seinen »Werken und Tagen« vom Ehernen Zeitalter, dem Äon der Menschen mit eisernem Herzen gesagt, es sei durch die Pervertierung und das Schwinden der Ehrfurcht (Aidos) charakterisiert. »Nicht ist der Vater dem Kind, das Kind dem Vater gewogen, nicht dem Wirte der Gast, Gefährte nicht dem Gefährten, nicht ist der Bruder lieb, wie er doch früher gewesen; bald versagen sie selbst den greisen Eltern die Ehrfurcht.« (181-185). »Frevler! Sie wissen nichts vom Blick der Götter, sie geben nicht den greisen Eltern zurück die Pflege der Kindheit. Faustrecht gilt, – der eine verheert des anderen Wohnsitz. Keiner wird mehr geschätzt, der wahr geschworen, und keiner, der gerecht und gut. Den Übeltäter, den Frevler ehrt man weit höher, es … mangelt an Ehrfurcht und Scham.« (187-194) Stattdessen breiten sich haßerfüllter Neid und schadenfrohe Mißgunst aus. Schließlich »verlassen Ehrfurcht und Gerechtigkeit (Nemesis, die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit) die Menschheit; was bleibt ist trauriges Elend.« (198-201) Von welchem Zeitalter, wenn nicht von dem unsrigen hat Hesiod gesprochen? Selbst wenn es schon zu früheren Zeiten Menschen mit eisernen Herzen gab: so allseitig verbreitet wie heute dürfte das eiserne Herz noch nie gewesen sein, so ganz und gar durchdrungen von Ehrfurchtslosigkeit wie unsere gegenwärtige Epoche der Säkularität, war noch keine Kultur oder globale Zivilisation.
Kein geringerer als Goethe hat die Heraufkunft eines Geschlechtes der eisernen Herzen vorausgesehen und in »Wilhelm Meisters Wanderjahren« eine pädagogische Therapie gegen den Verlust dieser urmenschlichen Gemütsregung vorgeschlagen. »Eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei. … Ehrfurcht! … Allen fehlt sie«, doch alle bedürfen ihrer. »Das erste ist Ehrfurcht vor dem, was über uns ist … Das zweite, Ehrfurcht vor dem was unter uns ist.« Das dritte, Ehrfurcht vor dem was neben uns, was uns gleich ist. »Aus diesen drei Ehrfurchten entspringt die oberste Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor sich selbst … so dass der Mensch zum Höchsten gelangt, was er zu erreichen fähig ist, dass er sich selbst für das Beste halten darf, was Gott und Natur hervorgebracht haben, ja, dass er auf dieser Höhe verweilen kann, ohne durch Dünkel und Selbstheit wieder ins Gemeine gezogen zu werden.« (Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 1. Kapitel).
Auch wenn wir die Auffassung Goethes nicht teilen, Ehrfurcht sei keine Naturanlage, sondern meinen, sie sei eine natürliche geistige Anlage des Menschen, so stimmen wir doch mit ihm überein, dass diese Anlage verkümmert, wenn sie nicht gepflegt wird, wenn ihr keine Nahrung zugeführt wird. Die Ehrfurcht vor dem Göttlichen und Unergründlichen über uns, den himmlischen Mächten, die uns väterlich überwölben und tragen, die Ehrfurcht vor der alles Leben zeugenden, mütterlichen Erde unter uns mit all ihren Kreaturen, und die Ehrfurcht vor dem unergründlichen Geheimnis das jeder Mensch in sich trägt, sie schließen unsere Seele für die Liebe und Erkenntnis auf, eine Erkenntnis, die über die operationalen Aspekte des Daseins und die technologische Vernutzung der Dinge hinausgeht. Und aus ihnen wächst die höchste aller Ehrfurchten hervor, die Ehrfurcht vor dem Göttlichen in uns, das imstande ist, das Göttliche in allen Dingen und Wesen um uns zu erkennen oder zumindest die Ahnung davon hervorzurufen. Ehrfurcht vor der Sakralität der Natur wäre ein Remedium gegen die objektivierende Entwürdigung der Erde und ihrer Geschöpfe, die sie zu auszubeutenden Ressourcen und zu verschlingenden Nahrungsmitteln herabsetzt, die in industriell-technologischem Zugriff zerstörerisch vernutzt werden. Ehrfurcht vor dem »gestirnten Himmel über uns« wäre ein Heilmittel gegen die Krise der Sinnlosigkeit, in die uns eine Wissenschaft gestürzt hat, deren äußerlicher Blick das Universum in eine gähnende Leere verwandelt hat, aus der die Götter ausgezogen sind. Sie könnte uns an das Höhere erinnern, auf das unser Dasein bezogen sein muss, wenn es nicht unter seine menschlichen Möglichkeiten herabsinken soll. Und Ehrfucht vor dem sakralen Geheimnis, das jeder Mitmensch in sich trägt, könnte die Krankheiten heilen, an denen unser soziales Leben leidet: die Verrohung der Umgangsformen, den Verlust der Pietät, die schwindende Achtung vor den Älteren, das Versiegen des Vertrauens, die wachsende Beziehungsunfähigkeit, die Kälte und Rationalisierung, die all unsere sozialen Beziehungen zunehmend lähmt.
Nicht zuletzt dürfen wir auch an Rudolf Steiner erinnern, der dem Gefühl der Ehrfurcht eine zentrale Bedeutung für die allseitige Entfaltung des Menschen zusprach. Die Ehrfurcht und heilige Scheu der Kinder vor Erwachsenen geht später über in die Verehrung vor Wahrheit und Erkenntnis. Lange vor Scheler schrieb er in »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten«: »Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird.« Jedes in der Seele entwickelte Gefühl von »wahrer Devotion« entwickelt eine Kraft, die die Erkenntnis erweitert. Und »jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben die Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt.« Zwar geht es nicht um kritiklose Ehrfucht vor Menschen, aber wie sollen wir einen Menschen erkennen ohne Ehrfurcht? Was sehen wir an ihm, wenn wir nicht zu ihm auf, sondern auf ihn herabblicken? Da es die menschliche Seele ist, die erkennt, und da das Erkennen mit allen übrigen Kräften der Seele in Verbindung steht, nehmen die Gefühle der Seele einen Einfluss auf das Bild, das sie durch ihr Erkennen von der Welt formt. Die Gefühle sind Nahrung für die Seele. »Für sie sind Verehrung, Achtung, Devotion nährende Stoffe, die sie gesund, kräftig machen; vor allem kräftig zur Tätigkeit des Erkennens. Mißachtung, Antipathie, Unterschätzung des Anerkennenswerten bewirken Lähmung und Ersterben der erkennenden Tätigkeit.«
Wie sähe unser Weltbild heute aus, wenn seine Entwicklung in den vergangenen Jahrhunderten nicht nur vom kalten Intellekt, sondern auch von Verehrung und Achtung beeinflußt worden wäre? Wie sähe unsere soziale Umwelt aus und unsere Beziehung zur Natur? Wie wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts verlaufen, wenn mehr von dieser Ehrfurcht, der bedingungslosen Achtung vor dem Menschen, vor den Mitgeschöpfen, vor den sakralen, unverletzlichen Geheimnissen des Daseins in ihr gewaltet hätte? Vieles von dem Schrecklichen, das in dieser Geschichte zutage trat und noch heute zutage tritt, ist auf einen Mangel an Ehrfurcht, an Achtung und Liebe zurückzuführen. Könnten wir unsere Mitgeschöpfe als »Untermenschen«, als »minderwertig« betrachten, wenn wir ihnen die bedingungslose Achtung entgegenbrächten, die sie als Geschöpfe Gottes, als Träger eines unaussprechlichen und unausforschlichen Geheimnisses verdienen? »Die Potenzierung des Grauens resultiert anthropologisch aus dem nihilistischen Bewußtsein vom Menschen«, sagt Janke. Die Kritik ist es, der unsere Zivilisation ihre äußere Größe verdankt. »Aber was wir an äußerer Kultur gewonnen haben, mußten wir mit einer entsprechenden Einbusse an spirituellem Leben bezahlen«, meint Rudolf Steiner. »Verfinsterung des Himmelslichtes, Gottesfinsternis ist in der Tat der Charakter der Weltstunde, in der wir leben«, schreibt Martin Buber.