Zuletzt aktualisiert am 9. August 2013.
Während Evola in der Zeit des II. Weltkriegs eine hektische Aktivität entfaltete, versanken die übrigen Traditionalisten in eine Art Schlafzustand. Guénon lebte in Ägypten, das von britischen Truppen besetzt war, viele der übrigen Traditionalisten in Frankreich, das die Deutschen besetzt hielten. Schuon hielt sich in der neutralen Schweiz auf, Vâlsan fungierte als sein Beauftragter in Paris. Die Korrespondenz, die all diese Traditionalisten verbunden hatte, unterbrach der Krieg, allenfalls Diplomaten des neutralen Brasilien ermöglichten bis 1942 eine gewisse Kommunikation. Die »Studien zum Traditionalismus« stellten ihr Erscheinen ein und Guénons Werke waren in Frankreich nicht mehr erhältlich. Alle maurerischen Aktivitäten lagen still und Freimaurer wurden verfolgt.
Aber selbst während des Kriegs fand Guénon neue Anhänger. Der bedeutendste unter ihnen war Martin Lings, ein junger Engländer, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten traditionalistischen Sufis werden sollte. Lings, der nach der Lektüre von Guénons Schriften im Baltikum 1938 der Alawiyya beigetreten war, weilte beim Ausbruch des Krieges bei Guénon in Ägypten zu Besuch. Da er nicht nach Litauen zurück konnte, nahm er eine Anstellung an der Englischfakultät der Universität Kairo an und wurde während des Kriegs zu Guénons engstem Vertrauten, wenn auch nie zu seinem Freund.
Guénon gewann während des Krieges auch einige neue Leser, darunter Alain Daniélou, einen französischen Musiker, der zum Hinduismus übergetreten war, in Benares lebte, und einige Werke Guénons in Hindi zu übersetzen begann. Sein älterer Bruder, Jean Daniélou, der am Ende seines Lebens katholischer Kardinal und Mitglied der Académie française war, interessierte sich zumindest so sehr für den Traditionalismus, dass er gelegentlich Artikel über ihn schrieb. Der berühmteste der neuen Leser war der französische Romanautor André Gide. Dieser brachte den Großteil des Krieges in Marokko zu, wo ihm ein französischer Sufi-Traditionalist einige Bücher Guénons auslieh. »Was wäre aus mir geworden, wenn ich sie schon in meiner Jugend gefunden hätte?« fragte sich Gide in seinem Tagebuch. Aber 1943 war es spät, sich noch zu ändern: »Mein sklerotischer Geist biegt sich nur mühsam«, schrieb Gide. Stattdessen rief seine Lektüre in ihm das Bewusstsein seiner »Okzidentalität« wach und warum er auf der Seite von Descartes und Bacon stand. Trotzdem konnte er die Herausforderung nicht ganz ignorieren. In einem Gespräch mit Henri Bosco meinte er: »Wenn Guénon Recht hat, dann bricht mein ganzes Werk zusammen … Es gibt nichts, absolut nichts bei Guénon, dem man widersprechen könnte. Er ist unwiderlegbar.« Dennoch wurde er kein Traditionalist, denn, so fügte er hinzu: »Ich liebe das Leben leidenschaftlich – ein vielfältiges Leben. Ich kann aus ihm nicht die Freude entfernen, die es bedeutet, an dieser Vielfalt teilzunehmen – und warum auch? Um es einer Abstraktion zu opfern – der Einheit, der undefinierbaren Einheit? … Begrenzte Wesen, vergängliche Kreaturen allein interessieren mich und rufen meine Liebe hervor, nicht das Sein, das ewige, unbegrenzte Sein.‹«
Wiederaufleben nach dem II. Weltkrieg
Der Traditionalismus lebte in Frankreich nach dem Krieg schnell wieder auf und entwickelte sich bald in neue Richtungen. Die erste war maurerisch. Der Großmeister der französischen Großloge, Michel Dumesnil de Gramont und einige ältere Maurer schätzten das Werk Guénons ebenso wie das von Wirth und erlaubten 1947 einem russischen Traditionalisten, Alexandre Mordiof, der in Paris lebte, die Gründung einer neuen traditionalistischen Loge, der »Grande Triade«. Dazu bedurfte es einer Ausnahmegenehmigung, da es ein generelles Verbot zur Gründung neuer Logen gab; die Maurerei hatte die Besatzung kaum überlebt, die Zahl der Freimaurer, die der französischen Großloge angehörten, war von etwa 124.000 im Jahr 1939 auf rund 3.000 im Jahr 1945 gesunken. Statt neue Logen zu gründen, sollten alte wiederbelebt werden.
Der Versuch, das traditionelle maurerische Ritual durch Reinigung wiederzubeleben, zog in Maurerkreisen großes Interesse auf sich. Neben einigen Traditionalisten befanden sich unter den elf ersten Mitgliedern der Grande Triade der damalige Großmeister der Obödienz (de Gramont) und ein künftiger Großmeister. Der Andrang der Besucher war anfangs so groß, dass häufig nicht genug Sitzplätze für alle vorhanden waren.
Die Rückkehr des Friedens erlaubte es auch den einzelnen Traditionalisten, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Einer von ihnen war Henri Hartung. Er gehörte der protestantischen Minderheit in Frankreich an und war der Sohn des Kommandanten einer Militärakademie. 1938 war er durch Olivier de Carfort, den Vater eines Freundes, in Guénons Werk eingeführt worden. Die ganze Nacht las er im Buch, das er erhalten hatte (der »Allgemeinen Einführung«) und diese Leseerfahrung veränderte sein Leben. 1942 schloss er sich der Resistance an, floh 1943 zusammen mit seinem Freund Francis de Carfort in die Schweiz und kehrte 1944 nach Frankreich zurück, um in die französische Armee einzutreten. Nachdem er im Elsass verwundet worden war und einen Tapferkeitsorden erhalten hatte, wurde er zum Assistenten General de Gaulles ernannt. Aber erst als er 1945 auf einer Mission in Indien unterwegs war, konnte er seine traditionalistische Suche wieder aufnehmen.
1947 verbrachte er zehn Tage in Tiruvannamalai im Ashram Ramana Maharshis, der zu den bedeutendsten Hindugurus des 20. Jahrhunderts gehörte. Dieser Besuch war die entscheidende spirituelle Erfahrung seines Lebens. Er beschrieb Ramana Maharshi als die »lebende Inkarnation der göttlichen Realität, die jedem Menschenwesen innewohnt, die Maharshi wieder entdeckt hat« – aber seine Sehnsucht nach Initiation befriedigte dieses Erlebnis nicht. Wieder in Paris, traf er Vâlsan und begann im Februar 1949 eine Korrespondenz mit Guénon. Zuerst diskutierten sie über Ramana Maharshi und andere zeitgenössische Hindugurus sowie über ein Buch Maharshis, das Hartung hoffte, in den »Studien zum Traditionalismus« veröffentlichen zu können. Es dauerte jedoch nur vier Monate und Hartung und seine Frau wurden Muslime und schlossen sich der Alawiyya an.
Auch die Alawiyya bewegte sich in eine neue Richtung. Sie hing mit Schuons langgehegtem Interesse an den amerikanischen Ureinwohnern zusammen. Dieses Interesse nahm 1946 konkretere Gestalt an, als Schuon zahlreichen Anhängern und Bewunderern schrieb, er würde gerne mit einem indianischen Weisen Kontakt aufnehmen. Daraufhin sandte Joseph Epes Brown, ein Anthropologe an der Universität von Indiana und bereits ein Alawi, ihm John Neihardts Buch »Der Schwarze Hirsch spricht« (»Black Elk Speaks«, 1932). In diesem Buch erzählte Black Elk, ein Siouxhäuptling, der an den Schlachten von Little Big Horn und Wounded Knee teilgenommen hatte und ein Heiliger Mann war, sein Leben. Dieses Buch beeindruckte Schuon sehr; 1948 war es eines der ersten Bücher, die er seiner künftigen Frau Catherine Ferr, die der Alawiyya beigetreten war, zu lesen gab. Nachdem er das Buch gelesen hatte, begann er in seiner Korrespondenz mit Guénon über die Spiritualität der Ureinwohner zu diskutieren und empfahl Brown, Black Elk aufzusuchen. Brown folgte dem Vorschlag und verbrachte 1947-48 ein Jahr mit dem Heiligen Mann. Die Frucht seiner einjährigen Recherche wurde 1953 unter dem Titel »The Sacred Pipe: Black Elks Account of the Seven Rites of the Oglala Sioux« veröffentlicht.
Viele Jahre war die »Heilige Pfeife« neben Neihardts Buch eine Hauptquelle für das Studium der Religion der amerikanischen Ureinwohner, erreichte aber nie die außerordentliche Verbreitung des Buches von Neihardt. Die »Heilige Pfeife« wurde zu einem großen Teil in Lausanne in einem Zeitraum von sechs Monaten verfasst. Schuon las in wöchentlichem Abstand die Entwürfe Browns und ließ seine traditionalistische Sichtweise in das entstehende Buch einfließen. Die »Heilige Pfeife« stellt damit ein Beispiel für das unbemerkte Eindringen eines sanften Traditionalismus in den allgemeinen akademischen Diskurs dar.
Der Bruch zwischen Guénon und Schuon
Diese Wiederaufnahme der traditionalistischen Aktivitäten wurde 1948 von einer zunehmend öffentlich werdenden Auseinandersetzung zwischen Schuon und Guénon überschattet. Dabei ging es um den spirituellen Wert der christlichen Initiation. Schuon hatte eine Zeit lang privat die Auffassung vertreten, Taufe und Konfirmation seien eine Art esoterischer Initiation. Diese Ansicht brachte er im Sommer 1948 in einem Artikel über »Christliche Mysterien« in den »Studien zum Traditionalismus« zum Ausdruck. Guénon war weniger wegen dieser Ansichten beunruhigt, die er bereits kannte, aber klar verwarf, als deswegen, weil der Artikel in einer Zeitschrift erschien, die er immer noch als die seinige betrachtete.
Im Disput zwischen Schuon und Guénon ging es nicht nur um Autorität, sondern auch um den Charakter eines traditionalistischen Sufi-Ordens. Nach Guénons Auffassung musste die esoterische Praxis nicht nur in einem orthodoxen Rahmen stattfinden, sondern Inhalt und Rahmen mussten in eins zusammenfallen. Ein traditionalistischer Sufiorden in Europa durfte sich von einem solchen in der islamischen Welt nicht unterscheiden und der exoterische Islam seiner Anhänger nicht vom orthodoxen Islam. Alles andere hätte Guénon als »Synkretismus« betrachtet. Schuon war nicht so streng: ihm kam es auf die esoterische Praxis an und der exoterische Rahmen erschien ihm als sekundär.
Das war keine bloß theoretische Frage. Seine Haltung führte dazu, dass er seinen Anhängern in Lausanne manche Verstöße gegen die Scharia erlaubte. Vor dem Krieg scheint dies, abgesehen vom Verzicht auf die sunna-Gebete, nicht der Fall gewesen zu sein. Die ersten Berichte über solche Verstöße erreichten Guénon 1948. Angeblich fasteten Schuons Anhänger nicht länger am Ramadan. 1950 bestätigten Vâlsan und Hartung dieses Gerücht unabhängig voneinander. Letzterer meinte, Schuon habe nur einzelnen erlaubt, Gebote der Scharia zu missachten, nicht allen, was auch der Fall gewesen zu sein scheint. In Basel hielten von Meyenburg und die anderen den Ramadan bei.
Verstöße gegen die Scharia rechtfertigte Schuon mit dem Argument, ein gewisser Verzicht auf »exoterische Formalitäten« sei wegen der Anpassung an die Lebensbedingungen des Westens nötig. Er hatte seine Gründe, warum er die strengen Vorschriften der Scharia lockerte. Die rituellen Waschungen und das Fasten fallen in der islamischen Welt leicht, Moscheen haben Waschgelegenheiten und es wird erwartet, dass sich die Aufmerksamkeit beim Ramadan auf den Abend richtet. Im Westen ist dies selbst heute nicht so leicht. 1940 war es noch schwieriger, als es noch keine muslimischen Immigranten gab. Es existierten keine Moscheen und Menschen, die ihre Arme und Füße in öffentlichen Wachräumen reinigten, zogen unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich.
Zwar wurden die strengen Vorschriften der Scharia für westliche Bekenner des Islam gegen Ende des 20. Jahrhunderts vielerorts aus pragmatischen Gründen gelockert. Aber entscheidend ist die Begründung: erlaubt man einem westlichen Konvertiten, das rituelle Gebet aufzuschieben, damit er seinen Arbeitsplatz nicht verliert, oder begründet man diesen Aufschub, wie Schuon es tat, mit den »gegenwärtigen zyklischen Bedingungen« oder weil man den Zeitpunkt des Gebetes lediglich als exoterische Formalität betrachtet? Die meisten Muslime würden die erste Begründung verstehen. Für die zweite hätten sie keinerlei Verständnis. Manche würden sich an die Geschichte des Scheichs erinnern, der mit seinen erschöpften Anhängern während des Ramadan in der Wüste unterwegs ist. Plötzlich erscheint aus dem Nichts eine Oase mit einem kühlen Teich und Palmen, die voller reifer Datteln hängen. »Helft euch selbst!« sagt die Stimme Gottes, »ihr seid mir so ergeben, dass ihr nicht länger auf Formalitäten achten müsst.« »Ich nehme meine Zuflucht bei Gott vor Satan, dem verfluchten«, ruft der Scheich aus. »Woher wusstest Du, dass ich es bin?« fragt Satan. »Zum Teil wegen des Klangs deiner Stimme«, antwortet der Scheich, »zum Teil, weil ich weiß, dass Gott niemals jemanden von der Beachtung der Scharia befreit.«
Eine andere Abweichung von der Scharia erlaubte den Alawis, während Familienfeiern oder Geschäftsessen Bier zu trinken, offenbar, um den Verdacht zerstreuen, sie seien Muslime. Für diese Abweichung gibt es keine Parallelen. Die Scharia erlaubt Muslimen zwar angesichts einer Todesdrohung, ihren Glauben zu verleugnen, von keinem einzigen Scheich aber ist bekannt, dass er jemals verbotene Handlungen erlaubt hätte, um eine Fiktion aufrecht zu erhalten.
Obwohl in den folgenden Jahren weitere Abweichungen dazukamen, gab Schuon die Scharia nie gänzlich auf. Er erinnerte seine Anhänger stets daran, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr absolut verboten sei. Einem alten französischen Freund Guénons, Roger Maridort, der um Aufnahme in die Alawiyya nachsuchte, verweigerte er diese, weil er mit einer verheirateten Frau zusammenlebte. In diesem Fall hielt sich Guénon nicht an die Scharia, sondern schickte Maridort nach Marokko, wo er in die Darqawiyya aufgenommen wurde. Später erteilte der Anführer der Darqawiyya die Erlaubnis, andere in diesen Orden aufzunehmen und so entstand ein zweiter traditionalistischer Sufiorden.
Schuons Betonung der esoterischen Praxis und seiner Missachtung der exoterischen Vorschriften der Scharia entsprach seine Bereitschaft, die christlichen Sakramente als initiatisch zu betrachten und damit Anhänger zu akzeptieren, die Christen waren. Zwar nahm er nie Nichtmuslime in die Alawiyya auf, aber sie durften als Zuschauer an der dhikr-Zeremonie teilnehmen. 1950 kam das Gerücht auf, Schuon habe christliche Anhänger, darunter einen katholischen Priester, der in die Bruderschaft des Göttlichen Parakleten eingeweiht war. Nach dem Tod Charbonneau-Lassays war die Leitung dieser Gemeinschaft 1946 auf Guénons alten Mitstreiter aus dem Templerorden, Alexandre Thomas übergegangen. Auch wenn die Geschichte der Bruderschaft zwischen 1946 und ihrer Stilllegung 1951 dunkel ist, scheinen die Gerüchte wahr gewesen zu sein, da der betreffende Priester Schuons Meditationen bis in die 1960er Jahre verwendete, als er Lausanne das erste Mal besuchte, missbilligte, was er sah und daraufhin mit Schuon brach.
Guénon war nicht nur wegen Schuon und der Bruderschaft beunruhigt, sondern auch wegen der »Grande Triade«. Die Popularität dieser Loge brachte ihre eigenen Probleme mit sich. Keine Loge darf die Mitgliedschaft auf eine bestimmte Gruppe von Menschen beschränken, daher musste sich die Grande Triade bald mit Mitgliedern auseinandersetzen, welche die esoterische Arbeit durch eine exoterische Praxis ergänzen wollten. Andererseits gab es Traditionalisten, die sich nicht für die Maurerei interessierten. Außerdem musste sich die Loge im Rahmen bewegen, den die französische Großloge festgelegt hatte, was manche als Einengung empfanden. Seit 1949 äußerte Guénon seine Zweifel an dieser Logenarbeit, auch wenn er sich bis zu seinem Tod für die Weiterentwicklung ihrer Rituale interessierte. 1950 sorgte Jean Reyor für Aufregung, als er die Loge kritisierte, weil sie ihre Ziele nicht erreicht habe. Er wurde gebeten, auszutreten und kam dieser Bitte nach.
Daraufhin wurde ein zweiter traditionalistischer Versuch unternommen, eine maurerische esoterische Arbeit zu etablieren. Reyor und Jean Tourniac gründeten die »wilde« Loge »Trois Anneaux«. Als Loge außerhalb jeder Obödienz war sie weniger eingeengt als die Grande Triade und konnte die Rituale von Clement Stratton übernehmen, einem Engländer, der behauptete, er habe die ursprünglichen Maurerrituale wieder entdeckt. Aber trotz ihrer größeren Freiheit zog diese Loge wenig Interesse auf sich. Sie gewann nur wenige Mitglieder und litt unter Spannungen zwischen ihren muslimischen und christlichen Angehörigen. Diese Spannungen scheinen in den Personen begründet gewesen zu sein, denn in der Grande Triade arbeiteten Muslime und Christen ohne Probleme zusammen, ebenso wie in vielen Logen des Nahen Ostens.
Aber die Probleme mit seinen maurerischen Projekten waren nicht die gravierendsten, mit denen Guénon zu kämpfen hatte. Anfang der 1950er Jahre kam es zum endgültigen Bruch mit Schuon. Guénon und Reyor begannen, Suchende nicht mehr an Schuon, sondern an Vâlsan in Paris oder an Maridort zu verweisen. Schuon schlug vor, Guénon in Kairo zu besuchen. Aber dieser weigerte sich, ihn zu empfangen. Die beiden trafen sich nie wieder.
Schuon musste Mitte der 1950er Jahre seine ersten Abtrünnigen hinnehmen. Zu ihnen gehörten Cuttat, Reyor und Hartung. Cuttat und Reyor wandten sich im Juli 1950 gegen Schuons »Entislamisierung« der Alawiyya, gegen seine Lockerung der Scharia und die Einführung von Praktiken, »die nichts als die Frucht seiner Imagination« seien. Diese Klage bezog sich vermutlich auf die von Schuon eingeführten sechs Meditationsthemen. Bereits 1948 hatte sich Reyor über diese beklagt.
Cuttat und Reyor verließen gemeinsam die Alawiyya. Albert Cuttat wandte sich 1951 einem christlich-orthodoxen Priester zu. 1955, als er Schweizer Botschafter in Kolumbien war, traten er und seine Frau (die zusammen mit ihrem Mann die Alawiyya verlassen hatte) in die katholische Kirche ein. Sein Interesse am Traditionalismus behielt er jedoch bei und gab 1957 an der Sorbonne Vorlesungen über Guénon. In Indien setzte er sich als Schweizer Botschafter Anfang der 1960er Jahre für die Aufnahme tibetischer Flüchtlinge durch die Schweiz ein.
Hartungs Frau dagegen blieb in der Alawiyya (was allerdings nicht der einzige Grund ihrer baldigen Scheidung war), er selbst war aber bis zu seinem Tod 1988 ein strenger Moslem. Sowohl sein Eintritt in die Alawiyya als auch sein Islam blieben bis fast zu seinem Tod sein Geheimnis.
Im September 1950 forderte Guénon Vâlsan auf, seine Alawiyya von derjenigen Schuons zu trennen. Guénon begründete diesen Schritt damit, dass Schuon das Ritual auf ein Minimum reduziert habe und das Fasten am Ramadan nicht mehr einhalte. Dieselbe Begründung gab Vâlsan für seinen Schritt in einem langen offenen Brief. Er warf Schuon vor, sich einem seichten Universalismus zugewandt zu haben, in dem er selbst die zentrale Rolle spiele. Der Unterschied zwischen Universalismus und Perennialismus bestand für Vâlsan darin, dass der erstere die Religionen vermischt, während der letztere die Einheit in der primordialen philosophia perennis findet.
Cuttat und Hartung hatten Schuon bereits im Juli 1950 »Selbstvergottung« vorgeworfen. Dieser Vorwurf und die Behauptung Vâlsans, Schuon schreibe sich eine universelle Bedeutung außerhalb des Islam zu, stellen ein chronologisches Rätsel dar. Laut seiner Autobiografie sah sich Schuon mit dem Vorwurf, er schreibe sich eine universelle Bedeutung zu, erst Mitte der 1960er Jahre konfrontiert und tatsächlich scheint er sich erst in den 1980er und 1990er Jahren als eine Art Erscheinung Gottes betrachtet zu haben. Möglicherweise hatten seine Kritiker die ersten Anzeichen einer späteren Entwicklung bemerkt. Reyor jedenfalls entdeckte solche Anzeichen bereits 1947, als er Guénon berichtete, einer von Schuons Anhängern habe diesen als seinen »göttlichen Meister« bezeichnet. Ein anderer habe gefragt, ob es nicht bedeutsam sei, dass der Mann, der das Christentum derzeit am besten verstehe, den Namen Jesus trage (Isa, die arabische Form von Jesus, war Schuons muslimischer Name). Reyor bezog sich nicht auf Schuons Selbstbild, sondern auf die Ansichten seiner Anhänger. In der islamischen Welt entwickeln Sufis manchmal solche Ansichten über ihre Scheichs, manchmal akzeptieren Sufischeichs auch solche Ansichten: ein gleiches mag Schuon widerfahren sein.
Der Bruch mit Schuon und andere Prüfungen forderten von Guénon ihren Tribut. Seine älteste Freundin in Kairo, Valentine de Saint-Point, schrieb später über Briefe, die die lächerlichsten Gerüchte kolportierten, ihn aber glauben ließen, er werde verfolgt. Diese Briefe hätten sein Leben verkürzt und aus dem lächelnden, glücklichen, friedfertigen Autor einen nervösen, reizbaren Mann gemacht, der trotz seines beständigen Lächelns unglücklich gewesen sei.
Saint-Point scheint nicht übertrieben zu haben. Guénons Gesundheit hatte so sehr gelitten, dass ein Journalist, der ihn 1950 besuchte, schrieb, sein Gesicht sei eingefallen und seine Hände fast durchsichtig. Im Spätherbst 1950 steckte sich Guénon bei seinen Kindern mit einer Grippe an und musste das Bett hüten. Er erholte sich nicht mehr und starb am 5. Januar 1951 mit 64 Jahren. Am nächsten Tag wurde er auf Kairos Südfriedhof begraben, begleitet von Lings und einem amerikanischen Alawi, Whitall Perry, der seit 1946 in Kairo lebte.
Guénon hinterließ einen Sohn, zwei Töchter und eine schwangere Frau. Zum Glück für seine Familie wurde die französische Gemeinde in Kairo durch seinen Tod auf etwas aufmerksam, was sie bis dahin kaum wahrgenommen hatte. Das französisch-ägyptische Gymnasium bot an, seine Kinder umsonst zu unterrichten. Alle wuchsen zweisprachig auf, der älteste Sohn, Ahmad, wanderte später nach Frankreich aus, wo er Arzt wurde, während die drei anderen Kinder in Kairo blieben, um das Leben der ägyptischen Mittelklasse zu führen.
Kurz vor seinem Tod hatte Guénon seine Frau gebeten, sein Studierzimmer nicht anzutasten, weil er sonst nicht imstande sein würde, sie und seine Kinder zu sehen. Sein Wunsch wurde respektiert und noch Ende des 20. Jahrhunderts sah sein Zimmer so aus, wie er es hinterlassen hatte.
Der Traditionalismus in Kairo überlebte Guénons Tod nicht lange. Lings musste Ägypten nach der Revolution 1952 verlassen, als britische Staatsangehörige massenhaft von der Universität entfernt wurden. Die Perrys hatten sich kurz vor der Revolution entschieden, auszuwandern und nach Lausanne zu ziehen. Guénons ägyptischer Partner Muin al-Arab, der ohnehin nie ein überzeugter Traditionalist gewesen war, schloss sich dem Hinduguru Krishna Menon an, auf den ihn der Arzt S. Katz hingewiesen hatte, der Guénon in seinen letzten Tagen behandelte. Krishna Menon war auch der Guru John Levys, des jüdischen Konvertiten, der Guénon sein Haus geschenkt hatte, Katz, ebenfalls Jude, war ein Bekannter von Lings. Obwohl Menon einige Traditionalisten für sich gewann, war er alles andere als ein Traditionalist.
Abgesehen von einigen wenigen Ägyptern, die eine französische Erziehung genossen hatten, erinnerte sich in seiner Wahlheimat bald niemand mehr an Guénon.
Der Traditionalismus war Guénons Schöpfung. Ohne ihn und seine Schriften hätte er als Bewegung nie existiert. Keiner seiner frühen Mitstreiter schuf etwas, was Menschen wie Coomaraswamy, Evola, Eliade und Schuon gleichermaßen hätte anziehen können. Seine Anziehungskraft fußte nicht nur auf seinen Schriften, sondern auch auf dem Ernst, mit dem er sich seiner Aufgabe widmete, besonders seiner Korrespondenz. Dieser Ernst und diese Hingabe blieben ein Charakteristikum des Traditionalismus. Aber dieser erbte von Guénon auch zwei problematische Eigenschaften: seine Geheimhaltung und seine Isolation. Guénon schrieb über den Hinduismus, ohne jemals mit dem gelebten Hinduismus in Verbindung gestanden zu haben und über den Islam, ohne nennenswerte Beziehungen zu den islamischen Kennern dieser Religion. Darunter litt nicht nur sein Werk, sondern auch der Traditionalismus als Ganzes.