Zuletzt aktualisiert am 15. Januar 2016.
Vom »Hüter der Schwelle« handelt die vierte Meditation des Buches »Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen«. Erst diese Betrachtung führt an die ganze Dramatik der tiefgreifenden Umwandlung der Seele heran, die sich auf die spirituelle Wanderschaft begibt.
Sobald sie nämlich außerhalb des Leibes zu beobachten vermag, verändert sich das Verhältnis von Innen- und Außenwelt grundlegend. Während ihr die sinnliche wahrnehmbare Außenwelt »äußerlich« gegenübersteht, werden die Landschaften und Szenerien der Seelenwelt von ihr als kosubstanziell und koessenziell erlebt – sie beobachtet ihr eigenes Wesen, was sie beobachtet, ist aus ihrer eigenen Substanz gewoben. Naturgemäß verändern sich auch die Erlebnisse des Denkens, Fühlens und Wollens grundlegend.
Während das gewöhnliche Bewusstsein die Seelenkräfte nur in einer abgeblassten Form erlebt, beginnen diese nun wesenhaft zu werden und sich zu verselbständigen. Wenn Denken, Fühlen und Wollen »wesenhaft« werden, bedeutet dies, dass sie sich als selbstständige Wesen, als »Personen« individuellen Charakters aus der Substanz der beobachtenden Seele erheben und dieser gegenüberstellen. Gleichzeitig erlebt der spirituelle Wanderer diese selbstständigen Personen, die unabhängig von ihm wollen, fühlen und denken, als mit seinem eigenen Wesen verbundene Kraftäußerungen, als Spiegelungen seiner selbst. (Wir finden diese selbstständig werdenden Seelenkräfte in den Gestalten der Philia, Astrid und Luna der Mysteriendramen wieder).
In dieser Gestaltwerdung der Seelenkräfte kündigt sich eine vom Menschen »unabhängige Wirklichkeit« an: die Wirklichkeit der objektiven Geistwelt. Allerdings erlebt der spirituelle Wanderer zunächst vor allem sein Unvermögen, in diese Wirklichkeit einzudringen. Es ist, als sähe er den nahen Gipfel, aber ihm fehlte die Kraft, ihn zu erklimmen. So wie die fehlende Kraft als beschämender Mangel erlebt werden kann, so empfindet der Wanderer die Tatsache, dass die »Beschaffenheit seines eigenen Wesens« diese Wirklichkeit daran hindert, sich in seinem Bewusstseinshorizont zu entfalten, als beschämend, ja »außerordentlich bedrückend«. Denn gleichzeitig verspürt er, dass dieser »nahe Gipfel« die »wahre Wirklichkeit« in sich birgt, einen Reichtum an Wahrheit und Weisheit, der all seine bisherigen Erlebnisse »unendlich überragt«.
Der Wanderer steht an der Passage zu einer anderen Welt, die sich in schattenhaften Umrissen verheißungsvoll vor ihm abzeichnet, an der Schwelle zu einem »gelobten Land«, einer »Insel der Seligen« und erlebt sich selbst als Hindernis, das ihm den Übergang in jene Welt verwehrt. Er selbst ist die unüberwindliche Barriere, die sich vor ihm auftürmt und er weiß, dass er in jenes andere Land nur gelangen kann, wenn er diese Barriere, also sich selbst, beseitigt. Er erlebt den Widerstand, der sich in ihm gegen den Wandel seines Wesens aufbäumt, der Voraussetzung für den Übertritt ist, die Summe jener Trägheitskräfte, die ihn an seine eigene Schwere fesseln, während er doch leicht werden müsste, um jenen gleißenden Gipfel des »Weltberges« erklimmen zu können.
Einerseits erlebt er die Notwendigkeit, andererseits die Unmöglichkeit der erforderlichen Wandlung. Die Wandlung erscheint ihm wie eine »Selbstvernichtung«. Und in der Tat muss er jenen Teil seines Wesens, das ihn am »Aufstieg« hindert, vernichten, ablegen, umwandeln, läutern, verbrennen, töten, opfern, erlösen – die mystisch-mythische Literatur der Jahrtausende prägte in ihren Heroengeschichten für diesen unausweichlichen Vorgang der Transmutation die vielfältigsten symbolischen Begriffe, deren Verankerung in realen Erfahrungen ihre paradigmatische, zeitlose Bedeutung ausmacht. Die »Selbstvernichtung« ist zugleich die Geburt eines höheren Selbstes, aber nur wer sich aufgibt, wird sich finden. Diese Dialektik von Vernichtung und Verwesentlichung, von Tod und Wiedergeburt drücken die Mystiker der imitatio Christi aus, die das Kreuz auf sich genommen und im Tod ein neues Leben gefunden haben.
Meister Eckhart spricht von vollständiger »Umformung« und »Verwandlung« (Transsubstantiation): »Wir werden völlig in Gott umgeformt und in ihn verwandelt; auf gleiche Weise, wie im Sakrament das Brot verwandelt wird in den Leib Christi, so werde ich in ihn verwandelt, dass er selbst mich hervorbringt als sein Sein als eines, nicht als gleiches.« Tauler von »Vernichtung« und »Vergottung«: »Da geht die Sonne in lichtem Glanz auf und enthebt aller Not; der Mensch fühlt sich wie einer, der vom Tod zum Leben zurückkehrt. Da führt der Herr den Menschen aus seinem Selbst heraus in sich – den Herrn – hinein. Und nun entschädigt ihn Gott für all sein Elend, all seine Wunden heilen, und so zieht Gott den Mensch aus seiner menschlichen in eine göttliche Art … Und jetzt wird der Mensch so vergottet, dass alles, was er ist und wirkt, Gott in ihm wirkt und ist … In diesem Stand fühlt sich der Mensch wie verloren: Er weiß, noch empfindet, noch fühlt er etwas von sich selbst … Dahin wahrlich zu gelangen heißt den tiefsten Grund rechter Demut und Vernichtung erreicht zu haben; das überschreitet alles, was man in Wahrheit mit den Sinnen erfassen kann. Hier nämlich haben wir die allerwahrste Erkenntnis des eigenen Nichts; und hier ist das allertiefste Versinken in den Grund der Demut; denn je tiefer man sinkt, desto mehr steigt man: Höhe und Tiefe ist hier ein und dasselbe«.
Der Wanderer zwischen den Welten steht vor einer Aufgabe, die er nicht bewältigen kann, weil er so ist, wie er ist, er wird von der geistigen Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht aufgenommen und von ihr zurückgestoßen. Er erlebt sich im Gegensatz zu jener Welt, die doch seine wahre Wirklichkeit enthält, er fühlt sich von seiner eigenen wahren Wesenheit abgetrennt. Immer mehr wird dieses Erlebnis zu einer existentiellen Entscheidungsfrage: der spirituelle Wanderer erlebt sich als existentiellen Irrtum, als Lüge, während seine Wahrheit sich außer ihm befindet und er zu dieser nicht vorzudringen vermag, solange er nicht zu etwas völlig anderem wird. Und dieser Irrtum wird erlebt, er ist in seine eigene Existenz hineingeflochten, er ist Bestandteil seiner ontologischen Bestimmtheit. Es handelt sich nicht um einen gedachten, sondern um einen gelebten Irrtum, man selbst ist der Irrtum, den man nicht einfach ins Rechte zu denken vermag, da man ja selbst dieser Irrtum ist. Es käme darauf an, den Irrtum ins Rechte zu leben.
Ein solches Erlebnis, so Steiner, »hat etwas Vernichtendes für das eigene Selbst«. »Schmerzvoll zurückgestoßen« erlebt man sich von allem, was man ersehnt. Der Schmerz »überragt alles«, was man bisher an Schmerzen erfahren hat. Er kann geradezu »betäubend« sein.
Eine eindrucksvolle Darstellung solcher Erlebnisse bietet das zweite Bild des ersten Mysteriendramas (»Die Pforte der Einweihung«, 1910), das den Künstler Johannes Thomasius während der Meditation im dramatischen Zwiegespräch mit sich selbst inmitten seiner Seelenlandschaft zeigt.
Gegend im Freien, Felsen, Quellen; die ganze Umgebung ist in der Seele des Johannes Thomasius zu denken; das Folgende als Inhalt seiner Meditation; (später Maria.)
(Es tönt aus Quellen und Felsen: O Mensch, erkenne dich!)
Johannes:
So hör’ ich sie seit Jahren schon,
Die inhaltschweren Worte.
Sie tönen mir aus Luft und Wasser,
Sie klingen aus dem Erdengrund herauf,
Und wie ins kleine Samenkorn geheimnisvoll
Der Rieseneiche Bau sich drängt,
So schließt zuletzt sich ein
In dieser Worte Kraft,
Was von der Elemente Wesen,
Von Seelen und von Geistern,
Von Zeitenlauf und Ewigkeit
Begreiflich meinem Denken ist.
Die Welt und meine Eigenheit,
Sie leben in dem Worte:
O Mensch, erkenne dich!
(Aus Quellen und Felsen tönt es: O Mensch, erkenne dich!)
Und jetzt! – es wird
Im Innern mir lebendig fürchterlich.
Es webt um mich das Dunkel,
Es gähnt in mir die Finsternis;
Es tönt aus Weltendunkel,
Es klingt aus Seelenfinsternis:
O Mensch, erkenne dich!
(Es tönt aus Quellen und Felsen: O Mensch, erkenne dich!)
Es raubt mich jetzt mir selbst.
Ich wechsle mit des Tages Stundenlauf
Und wandle mich in Nacht.
Der Erde folge ich in ihrer Weltenbahn.
Ich rolle in dem Donner,
Ich zucke in den Blitzen.
Ich bin. – O schon entschwunden
Dem eignen Wesen fühl’ ich mich.
Ich sehe meine Leibeshülle;
Sie ist ein fremdes Wesen außer mir,
Sie ist ganz fern von mir.
Da schwebt heran ein andrer Leib.
Ich muss mit seinem Munde sprechen.
»Er hat mir bittre Not gebracht;
Ich habe ihm so ganz vertraut.
Er ließ im Kummer mich allein,
Er raubte mir die Lebenswärme
Und stieß in kalte Erde mich.«
Die ich verließ, die Arme,
Ich war sie eben selbst.
Ich muss erleiden ihre Qual.
Erkenntnis hat mir Kraft verliehn,
Mein Selbst in andres Selbst zu tragen.
O grausam Wort!
Dein Licht verlöscht durch eigne Kraft.
O Mensch, erkenne dich!
(Es tönt aus Quellen und Felsen: O Mensch, erkenne dich!)
Du führst zurück mich wieder
In meines eignen Wesens Kreise.
Doch wie erkenne ich mich wieder!
Mir ist verloren Menschenform.
Ein wilder Wurm erschein’ ich mir,
Aus Lust und Gier geboren.
Und klar empfinde ich,
Wie eines Wahnes Nebelbild
Die eigne Schreckgestalt
Bisher verborgen mir gehalten hat.
Verschlingen muss mich eignen Wesens Wildheit.
Ich fühle als verzehrend Feuer
Durch meine Adern rinnen jene Worte,
Die mir so urgewaltig sonst
Der Sonnen und der Erden Wesen offenbarten.
Sie leben in den Pulsen,
Sie schlagen mir im Herzen;
Und selbst im eignen Denken fühle ich
Die fremden Welten schon als wilde Triebe lodern.
Das sind des Wortes Früchte:
O Mensch, erkenne dich!
(Es tönt aus Quellen und Felsen: O Mensch, erkenne dich!)
Da, aus dem finstern Abgrund, –
Welch Wesen glotzt mich an?
Ich fühle Fesseln,
Die mich an dich gefesselt halten.
So fest war nicht Prometheus
Geschmiedet an des Kaukasus Felsen,
Wie ich an dich geschmiedet bin.
Wer bist du, schauervolles Wesen?
(Es tönt aus Quellen und Felsen: O Mensch, erkenne dich!)
O, ich erkenne dich.
Ich bin es selbst.
Erkenntnis schmiedet an dich verderblich Ungeheuer
(Maria tritt ein, wird von Johannes zunächst nicht bemerkt.)
Mich selbst verderblich Ungeheuer.
Entfliehen wollt’ ich dir.
Geblendet haben mich die Welten,
In welche meine Torheit floh,
Um von mir selber frei zu sein.
Geblendet bin ich wieder in der blinden Seele:
O Mensch, erkenne dich!
(Es tönt aus Quellen und Felsen: O Mensch, erkenne dich!)
Woher soll der spirituelle Wanderer die Kräfte beziehen, um dieser erschütternden Prüfung standzuhalten? Es bedarf schon eines Heros, um ihn vom Kaukasus, an den er geschmiedet ist – von sich selbst –, zu befreien. Aber der Heros ist der innere Heros, es ist jener Teil der Seele, der durch die Einweihungsprüfungen geht bzw. gegangen ist und im Durchgang durch diese Prüfungen, durch die Bezwingung des nemäischen Löwen, die Tötung der Hydra, das Ausmisten das Augiasstalles usw., eben jene Kräfte in sich heranzieht, deren sie bedarf, um sich selbst vom Felsen des Kaukasus zu befreien. Diese Kräfte müssen aus ihr selbst kommen; es handelt sich um Kräfte des Mutes, der Furchtlosigkeit, der Standhaftigkeit, der Selbstüberwindung. Sie können nur durch »wahre Selbsterkenntnis« entwickelt werden.
Diese wahre Selbsterkenntnis zeigt, wie wenig der Wanderer zwischen den Welten sich in seinem bisherigen Leben wirklich erkannt hat (»Wie eines Wahnes Nebelbild«; »entfliehen wollt’ ich dir; geblendet haben mich die Welten, in welche meine Torheit floh; geblendet bin ich wieder in der blinden Seele«). Er muss lernen, sich wie etwas zu betrachten, dem er äußerlich gegenübersteht, obwohl er doch sich selbst in sich selbst gegenübersteht. Und die »Bedrückung«, die er angesichts seiner existentiellen Verfasstheit empfindet, ist schon der Beginn wahrer Selbsterkenntnis.
Aber diese Selbsterkenntnis ist schmerzvoll. Denn die Sehnsucht ist groß, sich so wie man ist, als »wertvoll und bedeutsam« zu empfinden. Die Selbstliebe, der Narzissmus der eigenen Mediokrität, zeigt sich in seiner abstoßendsten Fratze, als »wilder Wurm, aus Lust und Gier geboren«. Die »psychische Urbevölkerung«, von der Sigmund Freud gesprochen hat, sie tritt dem spirituellen Wanderer als reale Anschauung, als »Schreckgestalt« entgegen. Allerdings handelt es sich nicht um »ererbte psychische Bildungen«, wie Freud in seinem naturalistischen Missverständnis vermeinte, sondern um die vielfältigen Bindungen an die irdische Welt, die der Mensch im Verlauf seiner Reinkarnationen entwickelt und an sich selbst vererbt hat. Und in diesem dramatischen Geschehen der »wahren Selbsterkenntnis« wird ihm klar, dass er genau das an sich liebt, was er als hässlich empfinden sollte. »Die Gewalt der Eigenliebe zeigt sich in ihrer vollen Größe«. Und zugleich zeigt sich die Abneigung dagegen, diese Eigenliebe zu überwinden.
Wahre Selbsterkenntnis führt zu vernichtenden Einsichten: man glaubte, einem Menschen gegenüber Wohlwollen zu empfinden, nun stellt man fest, dass sich in diesem scheinbaren Wohlwollen Neid oder Hass verbargen. Und mit der Einsicht ist es nicht getan, sie beseitigt weder Hass noch Neid. Wie Naturgewalten stellen sich die niederträchtigen Neigungen der Seele dar und es scheint schier unausweichlich, dass sich diese auch irgendwann auswirken.
Diese Einsichten sind schmerzvoll, bedrückend. Und doch sind sie nicht zu vermeiden.
Mit gebieterischer Dringlichkeit stellt sich die Forderung des gnothi seauton (γνῶθι σεαυτόν) vor die Seele. All ihr bisheriges Vorstellen, Urteilen, Fühlen und Denken wird in Frage gestellt. Wenn sie, so wie sie ist, einen gelebten Irrtum darstellt, dann fällt ihre gesamte Existenz ins Nichts zusammen. Vor diesen Abgrund sieht sich nicht nur etwa der gewöhnliche, ungebildete Mensch gestellt, sondern auch der Gebildete, Kultivierte, denn auch er schöpft seine »Kultur« lediglich aus den Inhalten der Sinneswelt. Und die Gesamtheit dieser Inhalte wird von der übersinnlichen Welt zurückgestoßen. Die ganze Seele, das bisherige Ich muss »ablegen«, wer die übersinnliche Welt betreten will.
Dagegen rebelliert der Selbsterhaltungstrieb. Denn dieses Ich ist doch das eigene Wesen, das, womit man sich identifiziert, das Urteile über die Welt bildet, das Fundament der irdischen Existenz. Aber an der Schwelle, an welcher der Wanderer jetzt steht, muss er all das zurücklassen: nicht nur diesen oder jenen liebgewonnenen Besitz, sondern sich selbst. Er muss sich sagen können: »Was dir bisher als deine stärkste Wahrheit zu gelten hatte, das muss nun jenseits der Schwelle zur übersinnlichen Welt dir als der stärkste Irrtum erscheinen können«.
Was Steiner hier in der Gedankensprache des inneren Dialogs der Seele mit sich selbst beschreibt, fasst der Mythos seinerseits in dramatische Bilder, zum Beispiel in die Erzählung von der Bezwingung des Minotaurus. Jenes Unwesen, das die im physischen Leib Gestalt gewordene, lebenzeugende Kraft des Ätherleibes (der Stier des Poseidon) zusammen mit der an ihn gebundenen, in Begehren entbrannten Mutterseele (Pasiphaë) zeugte, das Zwitterwesen des Minotaurus (der Doppelgänger, dessen Stierhaupt die Domination der Seele durch vegetative Kräfte symbolisiert), muss von Theseus, dem Heros der esoterischen Erkenntnis bezwungen werden. Zum dritten Mal im Turnus von neun Jahren soll diesem Geschöpf einer unheiligen Ehe die Blüte der athenischen Jugend, die Totalität der integralen Menschennatur, sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge, geopfert werden. Theseus, der in das Labyrinth seines eigenen Ätherleibes hinabsteigt, um seinem Doppelgänger gegenüberzutreten, bedarf nicht nur des Mutes (der geläuterten Willenskraft), sondern auch der Liebe der Ariadne, seiner jungfräulichen Seele, und der Erkenntniskraft ihres Zauberfadens, die ihn davor bewahrt, sich in diesem Labyrinth zu verlieren. Mit dieser dreifachen Waffenrüstung ausgestattet, vermag er den Doppelgänger zu bezwingen, die Totalität seiner integralen Natur zu retten und noch in der Nacht mit Ariadne und den befreiten Opfern übers Meer gen Athen davon zu segeln.
Es ist nachzuvollziehen, dass der Mensch vor einer solchen Forderung, ins Labyrinth hinabzusteigen und seinen inneren Minotaurus zu bezwingen, »zurückschaudert«, muss er das von ihm verlangte Opfer seiner bisherigen existentiellen Gewissheiten doch wie eine »Nichtigkeitserklärung« empfinden.
Und dieses Erlebnis kann zum Eingeständnis der eigenen Ohnmacht führen. Nicht jeder gesteht sich diese Ohnmacht ein. Manchmal verkehrt sie sich nach dem Gesetz der psychischen Inversion in ihr Gegenteil: in das Gefühl der Allmacht, das diese Ohnmacht verschleiert. Dann ist vom »Richterstuhl der Vernunft« die Rede, vor den die Delinquenten der »Irrationalität«, der »Vormoderne«, der »Pseudowissenschaft« geschleppt werden, um notfalls in peinlichem Verhör ihrer Gedanken- oder Gesinnungsverbrechen überführt zu werden. In der »rationalen« Kritik an der übersinnlichen Erkenntnis bäumt sich die Verstandesseele gegen die Zumutung auf, über sich selbst hinauszuwachsen und sich über die Bedürfnisse der Empfindungsseele zu erheben, in deren Dienst sie steht. So rational ihre Kritik auch scheinen mag, wenn sie sich auf die Summe selbstreferentieller »sozialer Konstruktionen« stützt, aus welchen das Subjekt dieser Rationalität zusammengesetzt ist, liegt ihr doch nur die geheime Furcht vor den übersinnlichen Wahrheiten zugrunde, die allem widersprechen, was dieses Subjekt liebgewonnen hat. Das Quantum an seelischer Energie, das mitunter aufgewandt wird, um jene Realität hinwegzurationalisieren, aus welcher diese Ratio ihre Existenz schöpft, kann staunenerregend sein. Ganze Biografien scheinen sich manchmal in diesem quichottesken Kampf gegen Windmühlen zu erschöpfen.
Der Mensch muss also die Fähigkeit erlangen, das, was er im gewöhnlichen Leben als Wahrheit empfindet, abzulegen und sich auf eine »andere Art des Urteilens« vorbereiten. Diese andere Art des Urteilens ist aber nur für das Erleben der geistigen Welt gültig, nicht für das Erleben der Sinneswelt. Denn die Gesetze der geistigen Welt sind andere als jene der Sinneswelt. Dort gilt das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten nicht, die Zeit ist aufgehoben, die Räume durchdringen sich usw. Der Geistesschüler muss daher lernen, in zwei Welten zu leben und diese nach ihren je eigenen Voraussetzungen zu beurteilen. »Er darf sich für das gewöhnliche Stehen in der Sinnes- und Verstandeswelt das gesunde Urteil nicht beeinträchtigen, weil er für eine andere Welt zur Anwendung einer anderen Urteilsart gezwungen ist«. Er muss sich in jene römische Gottheit verwandeln, deren zwei Antlitze in entgegengesetzte Richtungen blicken.
Wer an diese Schwelle gelangt, wird empfinden, wie segensreich es ist, dass das gewöhnliche Bewusstsein an sie nicht im Wachzustand herantreten muss, dass es nicht urplötzlich dem Minotaurus oder einer anderen »Schreckgestalt« seines Inneren gegenübersteht. Eine »wesenhafte Macht« schützt dieses Bewusstsein vor der Gefahr, die »Schrecken der Selbstvernichtung« an der Schwelle zu erleben. Ein strenger Hüter steht vor ihr, der verhindert, dass es von den Gesetzen der übersinnlichen Welt berührt wird. Denn die Anschauung dessen, was es zurücklassen muss, ist »weit schwerer zu ertragen«, als die Zweifel und Ungewissheiten, die sich aus der mangelnden Bekanntschaft mit der geistigen Welt ergeben.
Erzählungen von den Erlebnissen an dieser Schwelle können aber auf sie vorbereiten, auch wenn sie an den notwendigen Erfahrungen selbst nichts ändern. Auch für solche Erlebnisse bietet die mythisch-mystische Epopöe der Weltliteratur zahllose Beispiele, angefangen mit dem Gilgamesch-Epos und der Bhagavad-Gita, über die Odyssee, die verschiedenen Offenbarungsschriften der monotheistischen Religionen, die Mythentraditionen der »Naturreligionen«, den »Goldenen Esel« des Apuleius und Wolframs »Parzival«, bis hin zu den großen Einweihungserzählungen der Neuzeit und des 20. Jahrhunderts. Entscheidend ist jedoch nicht das abstrakte Wissen, sondern die konkreten Erfahrungen, die jeder einzelne an seiner individuellen Schwelle mit seinem individuellen Hüter macht. Und zu diesen Erfahrungen gelangt nur, wer sich auf den Weg begibt, wer das sichere Ufer des Alltagsbewusstseins verlässt und sich auf das Abenteuer der Nachtmeerfahrt einlässt.
Wie es einem »Gebildeten«, der die Summe akademischer Gelehrsamkeit in sich aufgenommen hat, an der Schwelle ergehen kann, zeigt das Beispiel des Capesius im ersten Bild des zweiten Mysteriendramas (»Die Prüfung der Seele«, 1911), der insbesondere dem Erleben der eigenen Nichtigkeit Ausdruck verleiht (»Empfinden muss ich, wie wenn alles, was bis hierher im Leben mich umgab, zusammenstürzen und in seinen Trümmern zum Nichts mich wandeln müsste«).
Capesius (lesend in einem Buche):
»Ins Wesenlose blickend mit dem Seelenauge
und in des Denkens Schattenbildern
nach selbstgemachten Regeln träumend –:
So forschet oft des Menschen irrend Wesen
nach Sinn und Ziel des Lebens.
Aus Seelentiefen will es Antwort holen
auf Fragen, die nach Weltenweiten zielen.
Doch solches Sinnen lebt im Wahne schon
bei seinen allerersten Schritten
und sieht zuletzt die Geistesblicke
ohnmächtig sich nur selbst verzehren.«
(Das Folgende sprechend):
So prägt in ernsterfüllte Worte
des Benedictus Sehergeist
die Seelenbahn gar vieler Menschen.
Vernichtend trifft mich jedes dieser Worte – –,
des eignen Lebensweges Bild,
sie malen mir es grausam wahr.
Und wenn ein Gott in dieser Stunde
aus wilder Stürme Macht
im Zorne sich mir nahen wollte,
es könnten seine Schreckgewalten
entsetzensvoller mich nicht quälen,
als dieser Schicksalsworte Kraft.
In einem langen Menschenleben
hab ich gewoben nur in Bildern
die schattenhaft sich zeichnen
im Seelentraum, der wahnbefangen
Natur und Geistestaten spiegelt,
und der aus seinem Traumgewebe
gespenstig Weltenrätsel lösen will.
Ich wandte nach so manchem Ziel
die suchende Seele rastlos hin –;
Doch klar muss ich erkennen:
ich selbst – ich lebte nicht in meiner Seele,
wenn wahnbetört in Weltenfernen
des Denkens Fäden hin sich spinnen wollten.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – –
So blieb ein leeres Sinnen nur,
was ich in Bildern selbstgefällig malte.
…
Einst glaubte ich, mit Leichtigkeit
Gedanken aus dem Hirn zu pressen,
die Wirklichkeiten greifen sollten.
Doch jetzt, da ich den Lebensquell
im Wahrheitslicht erfassen will,
erscheint des Denkens Werkzeug stumpf –,
und machtlos quäl’ ich mich,
Gedankenbilder klar zu formen
aus Benedictus’ ernsten Worten,
die mir die Geisteswege weisen sollen:
(Das Weitere wieder lesend):
»In deine Seelentiefen dringe ruhig,
und Starkmut lass dir Führer sein.
Verliere frühern Denkens Formen,
wenn du versinkst in dich,
um dich aus dir zu führen.
Ertötend alles Eigenlicht
erscheint dir Geisteshelle.«
(Das Folgende wieder sprechend):
Es ist, als ob der Atem mir versagen wollte,
wenn ich erstrebe, solcher Reden Sinn zu fassen.
Und eh’ ich fühle, was ich denken soll,
ergreifen Angst und Schrecken meine Seele.
Empfinden muss ich, wie wenn alles,
was bis hierher im Leben mich umgab,
zusammenstürzen und in seinen Trümmern
zum Nichts mich wandeln müsste.
O, hundertmal hab’ ich gelesen
Die Worte, die nun folgen – – –:
Mit einem Male ist
Nur finstrer die Finsternis
Um mich hereingebrochen.
(Wieder lesend):
»In deinem Denken leben Weltgedanken,
in deinem Fühlen weben Weltenkräfte,
in deinem Willen wirken Weltenwesen.
Verliere dich in Weltgedanken,
erlebe dich durch Weltenkräfte,
erschaffe dich aus Willenswesen.
Bei Weltenfernen ende nicht
Durch Denkentraumesspiel – – –,
beginne in den Geistesweiten,
und ende in den eignen Seelentiefen: –
du findest Götterziele
erkennend dich in dir.«
(Ohnmächtig durch eine Vision in sich versinkend.)
(Zu sich kommend, das weitere sprechend):
Was war dies?
(Drei Gestalten, als Seelenkräfte, umschweben ihn.)
Luna:
Die Kraft, sie fehlt dir nicht
zum edlen Geistesflug.
Sie ist gegründet
im Menschenwollen.
Sie ist gehärtet
von Hoffnungssicherheit.
Sie ist gestählet
von Zukunftsferneblicken.
Der Mut nur fehlet dir,
ins Wollen zu ergießen
die Lebenszuversicht – – –.
Ins weite Unbekannte
zu wagen nur, erkühne dich!
Astrid:
Von Weltenfernen
aus Sonnenfreudelicht –
von Sternenweiten
aus Weltenzaubermacht –,
vom blauen Himmelsäther
aus Geistes Höhenkraft –,
erstrebe Seelenmacht
und lenke ihre Strahlen
in Herzensgründe;
erwarmend wird Erkenntnis
erzeugen sich in dir.
Die andre Philia:
Sie täuschen dich
die bösen Schwestern;
Sie wollen dich umspinnen
mit Lebensgaukelspiel.
Es wird zerfließen
der Gaben eitler Trug,
den sie dir reichen,
wenn du mit Menschenkraft
ihn halten willst.
Sie führen dich
zu Götterwelten,
und werden dich zerstören,
wenn du in ihrem Reich
das Menschenwesen
ertrotzen willst.
Capesius:
Es war ganz deutlich – – –
es sprachen Wesen hier – –
und doch, es ist gewiss – –
kein Mensch ist außer mir
an diesem Ort – – – –
– – – – – – – – – – – – – – –
So habe ich zu mir nur selbst gesprochen – – – ?
Auch das ist möglich nicht,
denn nimmer könnte ich ersinnen,
was ich zu hören meinte – –
– – – – – – – – – – – – – – –
Bin ich denn noch,
der ich vordem war?
(An seinen Gebärden ist zu bemerken, dass er sich unfähig fühlt »Ja« zu antworten.)
O – ich bin – ich bin es nicht –
– – – – – – – – – – – – – – –
(Geistesstimme, das geistige Gewissen)
Es steigen deine Gedanken
in Menschenwesens Tiefen.
Was als Seele dich umhüllt,
was als Geist in dich gebannt,
entschwebet in Weltengründe;
von deren Fülle
die Menschen trinkend
im Denken leben;
von deren Fülle
die Menschen lebend
im Scheine weben.
Capesius:
Zu viel . . . . zu viel – –
Wo ist Capesius?
Ich fleh’ zu euch,
ihr unbekannten Mächte,
wo ist . . . . . Capesius?
Wo bin ich selbst?
(Er versinkt neuerdings brütend in sich.)