Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.
Lässt sich die Tatsache der Wiederverkörperung und das Walten eines mit ihr verbundenen Schicksalsgesetzes philosophisch beweisen? Nein, denn Tatsachen müssen erfahren, in der Beobachtung aufgewiesen und als solche erkannt werden. Auch wenn man, wie der Autor, die Philosophie als Erfahrungswissenschaft auffasst, reichen die ihr zugänglichen Beobachtungen nicht aus, die Tatsache der Reinkarnation zu beweisen. Bedingung eines solchen Tatsachenbeweises wäre das Vorhandensein eines Bewusstseins, das imstande ist, das vor der Empfängnis und nach dem Tode existierende ewige Wesen des Menschen – vorausgesetzt, es gibt ein solches – zu beobachten und den Weg, den es von einer Inkarnation zur nächsten zurücklegt, lückenlos aufzuzeigen. Eine solche Beobachtung geht weit über die Erkenntnisinstrumente hinaus, die der Philosophie in der Regel zur Verfügung stehen. Die Philosophie kann allerdings etwas anderes: sie vermag die Existenz eines solchen ewigen Wesens des Menschen nachzuweisen und damit eine wesentliche Bedingung für die Möglichkeit der Reinkarnation sicherzustellen. Ja, sie vermag sogar die Denknotwendigkeit der Reinkarnation durch den Aufweis der Existenz und der spezifischen Beschaffenheit dieses ewigen Wesens hinreichend zu begründen. Und dies ist laut Verfasser möglich, ohne sich auf Prämissen oder Dogmen irgendwelcher Art zu stützen, die ihrerseits nicht durch die Empirie des Denkens überprüfbar wären. Eine »bewusstseinsempirisch« fundierte Theoriebildung strebt der Autor an, die in ihrem Erfahrungshorizont genauso prüfbar und widerlegbar ist, wie naturwissenschaftliche Theorien. Einen durch sich selbst begründeten Denkweg versucht er aufzuzeigen, der anhand erfahrbarer Phänomene des menschlichen Bewusstseins zu den notwendigen Vorbedingungen der Idee der Wiederverkörperung führt, auch wenn deren Wirklichkeit nicht aus ihm ableitbar ist.
Da es dem Autor um die philosophische Begründung bzw. Rekonstruktion der anthroposophischen Auffassung von Wiederverkörperung und Schicksal geht, enthält seine Untersuchung zugleich eine Auseinandersetzung mit den zentralen anthropologischen Voraussetzungen dieser Auffassung. Ohne einen umfassenden Begriff des Menschen, der dessen komplexer Konstitution gerecht wird, ist der Weg zur Reinkarnation von vorneherein verbaut. Reduktionistische Vorannahmen können zu einem materialistischen oder spiritualistischen Menschenbild führen, nicht aber zu einer holistischen Auffassung, die dessen ganzes Wesen erfasst. Den Kern dieser holistischen (anthroposophischen) Anthropologie bilden die umfassende Erkenntnisfähigkeit, die ursprüngliche Freiheitsfähigkeit und die generelle Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Mit diesem ideellen Kern der Anthropologie verbunden sind drei Grundeinsichten, auf denen die anthroposophische Auffassung der Reinkarnation fußt: die Sonderstellung des Menschen innerhalb der Naturreiche, die Einzigartigkeit des sich wiederverkörpernden Ich und die Unwiederholbarkeit der verkörperten Person.
Die Sonderstellung des Menschen innerhalb der Natur gründet in seiner einzigartigen Erkenntnis- und Freiheitsfähigkeit. Die spezifische Beziehung dieser Erkenntnis- und Freiheitsfähigkeit zu ihrer Möglichkeitsbedingung, dem menschlichen Leib, schließt eine Verkörperung oder Wiederverkörperung des Menschen-Ich in anderen Naturreichen aus. Die Unwiederholbarkeit der verkörperten Person fußt auf der Tatsache, dass jede Inkarnation des Menschen-Ich eine unverwechselbare Ganzheit aus geistigen, seelischen und leiblichen Komponenten darstellt. Da kein Lebenslauf ersetzbar oder reproduzierbar ist, kommt jeder personalen Existenz eine einzigartige Bedeutung zu. Eine (sinnlose) Wiederholung des Gleichen oder die Abwertung individueller Verkörperungen ist mit der anthroposophischen Idee der Reinkarnation ebensowenig vereinbar, wie die Vorstellung der Wiederkehr der Person in aufeinanderfolgenden Inkarnationen. Nicht die Person mit ihren individuellen Eigenschaften unterliegt der Wiederverkörperung, sondern das Menschen-Ich, das durch die Verkörperung erst zur Person wird. Dieses Menschen-Ich schließlich ist einzigartig. Es bildet das geistige Wesenszentrum des Menschen, durch das er sich aktuell von jedem anderen verkörperten Menschen unterscheidet. Es ist in den verschiedenen Verkörperungen präsent, gestaltet diese und entwickelt sich in ihnen und bleibt werdend doch sich selbst gleich. Die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Menschen-Ich, die denkempirisch erlebbar und erkennbar ist, schließt seine Ungeborenheit und Unsterblichkeit ein und seine Auflösung in einer wie auch immer gedachten Gottheit aus.
Zieglers denkempirischer Nachweis der Ungeborenheit und Unsterblichkeit des Menschen-Ich sei hier etwas näher referiert. Das geistige Wesenszentrum des Menschen ist weder durch die leibliche noch durch die seelische Erfahrung zugänglich. Die sinnlich-leiblichen Erfahrungen bieten sich in stetiger Veränderung dar, etwas Bleibendes, mit sich selbst Identisches, ist an ihnen gerade nicht erlebbar. Auch die seelischen Erlebnisse kommen und gehen. Die Erinnerung scheint dem Erlebten zwar Dauer zu verleihen; was Dauer verleiht, ist aber nicht das Erinnerte, sondern das sich Erinnernde; gäbe es das Bleibende nicht, das alle Erinnerungen auf seine ursprüngliche, unableitbare Identität bezieht, wären diese Erinnerungen bloß auf- und abwogende Bilder ohne inneren Zusammenhang. Dieses sich erinnernde Wesen, das die Inhalte der Erinnerung miteinander in Zusammenhang bringt und auf sich bezieht, ist der sich seelisch offenbarende, mit sich selbst identische geistige Wesenskern des Menschen. Unmittelbar tritt dieses geistige Wesen des Menschen erst durch eine autonome geistige Aktivität in Erscheinung. Eine solche stellt das reine Denken dar. Im reinen Denken ist nicht nur der Denkinhalt erlebbar, sondern auch die Denktätigkeit. Während die Inhalte des Denkens übersubjektiv und überindividuell sind, manifestiert sich in der Tätigkeit des Denkens der eigentliche Wesenskern der individuellen Person, das Menschen-Ich. Es verwirklicht sich selbst und anderes, bezieht sich auf sich selbst und anderes. Es stellt eine ursprüngliche Kraft der Verwirklichung, Bewusstwerdung und Beziehungsbildung dar, die nicht anderes bedingt oder bewirkt ist und seine Präsenz allein durch seine Tätigkeit bezeugt. Das Ich erweist sich in der Beobachtung des Denkens als ursprüngliche Quelle der Denktätigkeit. Dieses Ich als Zentrum und Ursprungsort einer rein geistigen Tätigkeit ist raum- und zeitlos, verwirklicht sich jedoch in Raum und Zeit.
Die Erfahrung der Denktätigkeit und der Verwirklichung des Ich in dieser Denktätigkeit ist der bewusstseinsempirische Nachweis der ewig-lebendigen geistigen Existenz, der von jeder individuellen Person hervorgebracht und eingesehen werden kann. »Das wahrhaft Unsterbliche ist die allen einzelnen Akten zugrunde liegende ewige Lebendigkeit, die daueraktuelle Potenz des Akteurs.« Diese daueraktuelle Potenz ist innerhalb des Leibes und der Seele, also innerhalb der Inkarnation, in der jeweiligen Gegenwart erlebbar. Durch seine ursprüngliche Gegenwärtigkeit, seine Selbstvergegenwärtigung, die durch nichts bedingt und aus nichts ableitbar ist, bezeugt sich das ewige Leben. Nur durch ein solches unmittelbares, gegenwärtiges Zeugnis kann Unsterblichkeit und Ungeborenheit bewiesen werden. Jeder Hinweis auf vergangene oder künftige Erfahrungen macht dagegen das Ewige vom Zeitlichen abhängig und hebt dessen Ewigkeit auf. Die im Hervorbringen eines Denkaktes und seiner Beobachtung erlebbare Zeit ist dagegen ein »Kind der lebendigen Ewigkeit«, der Ich-Aktualität.
Die Kernsätze des philosophischen »Unsterblichkeitsbeweises« finden sich in Kapitel 5.2 über »Notwendigkeit und Wirklichkeit der Wiederverkörperung«: »Jeder Mensch, der aktuell denkt, denkt selbst und wird nicht von jemand anderem oder durch anderes gedacht. Er bringt zwar aktuell schaffend seinen Denkakt hervor, sein Ich-Kraftquell beginnt aber weder durch noch mit ihm, endet weder durch noch mit ihm, geht ihm voraus, ist seine eigene ursprüngliche Vor- und Nachbedingung und hat demzufolge ewig-aktuelles Leben. Für diese aktuelle Einsicht muss die Ewigkeit des Lebensquells des Denkens nicht ›abgewartet‹ werden – was ohnehin nicht möglich ist: Es genügt, denkempirisch festzustellen, dass innerhalb des Denkens eine durch und in sich selbst bestehende ursprüngliche Tätigkeit stattfindet, die in ihrer Erscheinung als konkreter Akt beginnt und endet, deren Quelle als kraftend-gesetzmäßiges Ich-Wesen jedoch den Akt zugleich hervorbringt und somit jenseits von dessen Ende und Anfang steht. Diese Tatsache konstituiert die Einzigartigkeit und damit die ewig-lebendige Identität des Ich – und im selbständigen empirischen Vollzug kann jeder Mensch die Tatsache seines Ich bei sich und mit sich selbst belegen.« Solche von Wärme durchdrungenen kristallinen Denkvollzüge zeichnen Zieglers Untersuchung aus.
Warum aber, könnte man fragen, bedarf dieses ewig-lebendige Ich in seiner Einzigartigkeit überhaupt der Inkarnation und Reinkarnation? Eine Einsicht in diese Notwendigkeit ergibt sich, wenn man von den Denkakten, in denen sich seine Einzigartigkeit bezeugt, zu den Denkinhalten und damit zu den konkreten Welttatsachen und den Mitmenschen übergeht. Schon der reinen Idee des Ich ist die Beziehungsfähigkeit und der Bezug auf anderes eingeschrieben, da es nicht nur sich selbst verwirklicht, sondern durch sich auch anderes, – ja, es könnte sich selbst gar nicht verwirklichen, wenn es nicht zum universellen Gesetz des Denkens und damit zum universellen Weltinhalt in Beziehung stünde. In der Art seiner Zuwendung zu den Weltinhalten, in den aktuell erzeugten Bezugskonstellationen bezeugt sich die Individualität des Menschen-Ich und sein jeweiliger Entwicklungszustand. Sein unendliches Potential des Erkennens und Handelns kann dieses Ich nur entfalten, indem es sie in konkreten Bezügen auf die Mitwelt, durch individuelle Zuwendung zur Welt und in seiner Begegnung mit ihr verwirklicht. Die Verwirklichung dieses Potentials ist Wesensentwicklung, sie ist aber auch Erscheinungsentwicklung, da sich mit dem Wesen auch seine Erscheinung in der jeweiligen Person mitentwickelt. Die Persönlichkeit wird immer reicher und inhaltsvoller, je mehr das Ich seine Fähigkeiten in ihr und durch sie entfaltet, es kann sogar an der Person, an der leiblichen und seelischen Organisation individualisierte Fähigkeiten in sich aufnehmen und sein Wesen durch sie erweitern. Der Unterschied zwischen dem unendlichen Potential des Ich und seinem konkreten Entwicklungsstand »verbürgt bereits die praktische Notwendigkeit der Reinkarnation«. Nur durch die Vermittlung des Leibes und der Seele, durch deren Widerstand und Hilfestellung, kann das Ich sein Potential an Beziehungsstiftung im Erkennen und Handeln ausschöpfen. Sein Potential ist unendlich, die Inkarnation jedoch endlich, durch Raum und Zeit begrenzt. Daher ergibt sich als logische Folge der Entwicklungsfähigkeit des Ich der Durchgang durch aufeinanderfolgende Inkarnationen. Deswegen muss jedoch die Reihe der Inkarnationen keineswegs unendlich sein, denn die Möglichkeit einer Entwicklungsstufe ist denkbar, auf der die Gesamtheit der durch das eigene Handeln hervorgerufenen Wirkungen unmittelbar gegenwärtig in das aktuelle Handeln einbezogen wird, was deren Verarbeitung in einer Folgeinkarnation erübrigen würde.
Eine ähnlich konzise Behandlung wie die Reinkarnation erfährt durch Ziegler auch die Idee des Schicksals, welche die »Ordnungsprinzipien der Erscheinungsentwicklung« der seelischen Organisation des Menschen und deren Interaktion mit der Umgebung sowie anderen Menschen von einer Verkörperung zur anderen umfasst. Ausgehend von einer Untersuchung der »immanenten Seelenbildung« während einer Inkarnation, bei der Erkenntnisvorgänge in Fähigkeiten und Handlungen in Aufgaben umgewandelt werden, entwickelt der Autor die Idee einer »transzendenten Seelenbildung«, die auf analogen Vorgängen beruht, jedoch erst nach dem Tode erfolgt. Sowohl Fähigkeiten als auch Aufgaben stellen Keime dar, die über das jeweilige Leben in ein künftiges verweisen, in dem diese Fähigkeiten und Aufgaben zu Schicksalstatsachen metamorphosiert wieder in Erscheinung treten.
Schließlich setzt sich Ziegler auch mit der Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Schicksal auseinander. Hier findet sich der wichtige Hinweis, dass sich die durch die Schicksalsgesetze bedingten Notwendigkeiten nicht auf die freie Motivbildung auswirken können (da dies eine kausale Bedingtheit dieser Motivbildung zur Folge hätte), sondern nur auf den Bereich der Verwirklichung dieser Motive: die genannten Notwendigkeiten ermöglichen, erleichtern, erschweren oder beschränken die Umsetzung der frei intuierten Handlungsziele, nicht jedoch diese selbst.
Einige aphoristische Ausblicke bietet das letzte Kapitel »Lebenskunst«, das sich mit den Stufen der Freiheitsentwicklung, mit dem Kunstschaffen als Übungsfeld der Freiheit, mit dem Leben als Kunstschaffen und dem Zusammenhang von Freiheit und Liebe befasst.
Noch einige Worte zum Aufbau und Charakter des Buches. Zieglers Untersuchung wendet sich nicht an Leser mit anthroposophischen Vorkenntnissen oder in erster Linie an die anthroposophische Diskursgemeinschaft. Im Gegenteil – obwohl der Verfasser im Vorwort bemängelt, dass es kaum eine wissenschaftliche Diskussion zum Thema Reinkarnation gibt, setzt er sich doch auf zweifache Weise mit einer solchen Diskussion auseinander. Im zweiten Kapitel des Buches, »Kontrapunkte und Parallelen«, das 68 Seiten umfasst, unternimmt er den Versuch, mögliche oder tatsächliche Einwände gegen die anthroposophische Auffassung von Wiederverkörperung und Schicksal systematisch zu widerlegen und verwandte Auffassungen bei Aurobindo und Roy Bhaskar zu würdigen. Und im 100 Seiten langen Anmerkungsapparat, der für sich betrachtet schon fast ein eigenes Buch darstellt, setzt er seine kritische Auseinandersetzung mit einer Fülle von Publikationen zu zahlreichen Einzelfragen und Spezialproblemen fort. Dass es sich bei Reinkarnation und Schicksal keineswegs um exotische Themen handelt, darauf deutet auch das 65 Seiten umfassende Literaturverzeichnis, das überwiegend nichtanthroposophische Autoren aufführt.
Renatus Ziegler, Freiheit und Schicksal: Eine Philosophie der Wiederverkörperung Stuttgart 2015, 487 S. 22 Euro